5. DEMONSTRATION DER METHODE: EIN INTERPRETATIONSBEISPIEL. ZU C F MEYER: DER MARMORKNABE Wir versuchen, den Grundriß einer strukturen Textanal y* am Beispiel eines lyrischen Textes vorzuführen. Die metnsJi-^mpliliihc Ebene lassen wir beiseite; unsere Kompetenz der primären Spradie setzen wir voraus und stützen sie im Zweifelsfalle dunh /cit»cnös-Wörterbücher ab; uns interessiert nur die semanusihu Org.mi-sekundären Bedeutungssystems. Der ge- sische .. — sation des Textes als eines ---------- „ . wählte Text stammt von C. F. Meyer und wurde 1882 pm.lizimi; Wanite lexi suuiiuii v<->u ^. ........ , .....^ damit wird die Menge der in Betracht kommenden, möeJidierwcise vom Text benützten, sprachlichen und kulturellen Kodcs/Zudien-systeme eingeengt. (1) DER MARMORKNABE I In der Capuletti Vigna graben Gärtner, finden einen Marmorknaben, Meister Simon holen sie herbei, Der entscheide, welcher Gott es sei. II 5 Wie den Fund man dem Gelehrten zeigte, Der die graue Wimper forschend neigte, Kniet' ein Kind daneben: Julia, Die den Marmorknaben finden sah. III IV 10 15 "Welches ist dein süßer Name, Knabe? Steig ans Tageslicht aus deinem Gnhe! Eine Fackel trägst du? Bist beschwingt? Amor bist du, der die Herzen zwingt?" Meister Simon, streng das Bild betrachtend, Eines Kindes Worte nicht beachtend. Spricht: "Er löscht die Fackel. Sie verlobt.. Dieser schöne Jüngling ist der Tod." jSfach der quantitativen Verteilung an der Textoberfläche zu urteilen, Steht offenbar der Prozeß der Deutung des Marmorknaben im Vor-, dergrund, womit auch — keineswegs selbstverständlich!2 — der Titel übereinstimmt. Da die Wahl des Ausgangspunktes eine rein heuristische Frage ist, können wir mit der Analyse dieses Prozesses einsetzen, I wenngleich sich natürlich erweisen könnte, daß, entgegen dem Augen-I scheini weder der Knabe noch seine Deutung der zentrale Gegenstand 4 des Textes sind. Aber welcher Art auch die zentralen Strukturen des i Textes sein mögen, sind sie doch in jedem Falle nur von der Text- * obürfläche abstrahierbar, so daß deren inhaltliche Besetzung notwen-1 ^mindestens als Bedeutungsträger eine wichtige Funktion erfüllt. t Um das zu deutende Objekt herum sind zwei deutende Figuren, 1 yia und Simon, gruppiert. Sie werden vom Text in doppelter Hin- ■ ,;jit korreliert, da sie einerseits syntaktisch — hier sogar im lingui- ■ jtjsch-grammatischen Sinne — verknüpft sind (II) und andererseits • eine '.naloge syntaktische Funktion — hier im allgemeinen semio-■ tischen Sinne — erfüllen: denn beide unterhalten eine Relation zu ' einem dritten Term,. indem sie ein — und sogar dasselbe — Objekt ([eutcii. Insofern handelt es sich übrigens um eine Homologie: i • [2) Julia : Objekt : : Simon : Objekt * QJS lc;;t ihren Vergleich nahe: vergleichen können wir etwa ihre .% persönlichen Prädikate, ihre Deutungsverfahren, ihre Deutungsergeb- ■ sä* - Ali? dem Paradigma der möglichen Kategorien zur Personenbe-*Z sjircibung und -klassifikation, das dem 19. Jhdt. zur Verfügung steht, > ».te'J™ n'ct* offenbar nur einige wenige Merkmale selegiert: so sind IilcJFiguren etwa nicht hinsichtlich ihrer Gesichtsform, ihres morali-■ 404 "Julia 405 kann, eine neue Fragestellung gefunden werden. Wir versuchen also, von den wahrnehmbaren lexikalischen Termen solche Terme zu abstrahieren, die im System des Textes als relevante semantische Terme fungieren und deren geordnete Menge eine paradigmatische semantische Teilordnung des Textes darstellt. Von bestimmten Termen lassen sich nun sehr leicht solche — schon sprachlich oder erst kulturell gegebenen — semantischen Terme abstrahieren: wenn wir freilich aus der Menge der potentiellen Merkmale eines Terms nur eine Teilmenge als relevant selegieren, müssen ' .....-u ——Miel-, "Mädchen" besetzt werden köni "Kind" weitere 1 inen-' d'e Hn>°these liegt nahe, daß fere denkbL O ^ SemtnÜsche Ter™ "-fassen muß. Weitere denkbare Oppositionen, z. B. "unerfahren" vs «erfahren» «ungelehrt» vs «gelehrt» usw., die mit «jung» vs «alt» hier Wehm se»n konnten, werden teils ohnedies durch andere lexikalische Terme ausgedruckt oder würden teils php „1 ,. j .. i """""ll-a UU1L" anaere lexikalische ckt oder wurden teils ebensogut durch «Mädchen" oder >ng" ausgedrückt: «Kind» muß also etwas implizieren was wir von "Madchen» noch von >ng» impliziert wird, JuLTisHbri ™ zwar mcht gelehrt (das wird durch «Kind» ebenso wie - Jedenfalls in dem dargestellten Kultursystem - durch «weiblich» au gesllo „> aber sie « doch nicht ungebildet. Stünde sie im RufT der Gele «hat, bedurfte es Meister ( = Magister) Simons zur Deutung nicht (V. 3); andererseits aber kennt sie " • - - - maie eines iciim um v.ijii>, ------0 wir den Nachweis leisten, daß gerade diese auch tatsächlich relevant« ist. Nehmen wir z. B. "Kind". Da wir keinen Grund haben, eine irgendwie metaphorisierende Verwendung dieses Terms im Kontext anzunehmen, kommen also alle seine sprachlich oder kulturell möglichen Merkmale in Betracht. Wenn wir etwa "jung" ableiten, finden wir aber bei Simon sofort eine entsprechende Charakterisierung: aus der "grauen Wimper" läßt sich "alt" ableiten. Denn Haare Kuben j sich normalerweise erst nach Erreichung eines bestimmten Alters grau8 • und grau scheint in dieser Kultur eng mit "greis" korreliert zu .sein, Freilich könnte Simon, etwa durch großes Unglück iubr durch ausschweifende Existenz4, vorzeitig ergraut sein: beide Varianten wären verfügbare, kulturelle und literarische Topoi. In diesem Falle wäre zwar über sein Alter praktisch nichts auszusagen, doch wäre, eine solche Annahme völlig unmotiviert, da unser Text keinerlei Indfe zu ihrer Stützung enthält. Sie wäre eine bloß subjektive Kunnotation, die zudem unökonomisch ist, da es ihrer nicht bedarf, um ein sonst nicht deutbares Faktum zu deuten, was allein sie legitimieren könnte-. Folglich können wir die Relevanz einer Opposition "jung" vs "alt* als gesichert annehmen. Wir können freilich die Argumentation nid$ in dieser Ausführlichkeit weiterführen; der Leser wird *ie sich aber jeweils leicht rekonstruieren können. . Z. Nun ist ferner Simon ebenso eindeutig männlich, wie Julia weiblich • ist — warum also wird Julia mit dem geschlechtsncuualen. Teriä o-------- ^„^Je sie im Rufe der Ge- i_es Meister ( = Magister) Simons zur Deutung nie - -ms aber kennt sie antike Kunst und Mythologie \ immerhin in solchem Ausmaße, daß - ------- ' - .... j.:. o... - - . j ti.............-----^ ^uoiiuiic, uaiä sie es wagen kann, aus den IAttributen der Statue auf die Identität des Knaben zu schließen — die Gärtnt. v ihrerseits unternehmen diesen Versuch jedenfalls nicht, ob-wolil sie nicht unwissend sind, da sie den Knaben immerhin als Gott -erkennen. Nicht nur dieser Wissensstand Julias, sondern auch ihr :g '-gewisses erotisches Interesse (V. 9 und 12) erlauben jedenfalls die * Folgern ng, daß sie ein Kind immerhin fortgeschrittenen Alters sein * ' Nun gilt fraglos nicht nur, daß "Kind" sprachlich einen vorpuber-täten Zustand bezeichnet, sondern zudem, daß in der kulturellen -♦■Semantik des vorfreudianischen 19. Jhdts "Kind" normalerweise *t,;iilierhaupt nicht mit Sexualität verknüpft wird: ein "Kind" gilt ^ ^.idcaliter als "rein" in dem Sinne, daß ihm weder Interesse noch Er-ifrhlitunj; und Wissen hinsichtlich des Sexuellen zugestanden werden. ^J\?epii Julia einerseits Kind ist, andererseits ein fortgeschrittenes Alter -rJIÄm muß, ist sie demnach Kind an der Schwelle zum Nicht-Kind, rau an der Schwelle zur Frau und diesem Zustand ist das "•Jjjrknul "noch nicht (ganz) sexuell" äquivalent. Dieser Folgerung ~is kulturellen Wissens (kW 1) entspricht aber umgekehrt iKS•":"-<;" Simons, daß, T,ro- ~-----"----- ' lSt - warum also wird Julia mit uem b»u»^-..........^ffl,| .iVl?■ kuhurellen Wissens (kW 1) entspricht auer um2 "Kind" bezeichnet? Denn wäre allein «jung» ein relevantes MeikoJ , ^Scten S.mons, daß, wer graue Haare hat, an der S hwdl so hätte dies ebensogut durch das Lexem «jung» selbst oder d«^,^|c„enal d , in diesem System an ^ ^/^f ■ ■' rglkh, t Merkmal "^fast) »ehr sexuell» .... -s^O^";' Jie Sexualität des Greises ist im 1Q Tl,^. . e zum Nicht- 3 Eberhard/Maass/Gruber 1971, Bd. I, S. 4<>2. 4 Solche kulturellen Topoi hat u. a. J'huheit in seinem "Djfillfl.il1 des idees recues" gesammelt; ähnliches k.*.nn nun leicht bei Albredit nachlesen. Auch Eberharil/Maass/Grubor, Bd. i, s. 43 _ - - r * j- , ______np*Irf;H-j: SpiClen 2eigen lleße' ebenso verpönt wie die des Kir Hufcland oi» * ^Vl^- •'I'-Maass/Gruber, Bd. I, S. 44. 406 407 des: wenn er Liebesbeziehungen intendiert, strebt er seinem Alter Unangemessenes an und kann nur scheitern; er wird zur komischen oder tragischen Figur, zum Gegenstand der Verachtung oder des Mitleids. Wir haben damit "Kind" als determiniert erwiesen: nun müssen wir logischerweise umgekehrt fragen, warum "alt" durch "giauc Wimper" statt etwa durch "graue Haare" oder andere Attribute des Alters besetzt ist. Nun repräsentiert "Wimper" in V. 6 synekdochiscli erstens beide Wimpern und zweitens vor allem das ganze Ainv. "Graue Wimper" ist zwar eine sehr ökonomische Kombination aus Altersmerkmal und Verweis auf Simons Augen — aber doch nur dann, wenn gezeigt werden kann, daß "Auge", in Opposition zu den nicht genannten alternativen Merkmalen, etwa dem Kopfhaar, seinerseits funktio-nalisiert ist. Das Auge ist zwar Voraussetzung, die Statue zu betrachten; solche Betrachtung ist zwar Voraussetzung, sie zu identifizieren.1 Doch fragt sich, warum uns diese trivialen Bedingungen überhaupt mitgeteilt werden müssen, zumal sie ebenso für Julia gelten, bei der sie aber nicht explizit thematisiert werden. Warum also wird uns erstens die Erfordernis der Betrachtung bei Simon, nklit aber bei Julin mitgeteilt; warum wird sie uns zweitens gleich zweimal (V. 6 und 13), vor und nach einer direkten Rede (III), die durch V. 14 nachträglich als solche Julias identifiziert wird, mitgeteilt; warum wird sie uns drittens beim ersten Auftreten mittels des Senkens des Blicks statt einer anderen paradigmatischen Alternative (etwa Senken des Kopfes, oder beliebigen Verben der optischen Wahrnehmung wie z. B.: ansehen, betrachten, mustern,...) mitgeteilt? Am einfachsten ist die Frage nach der Funktion einer Verdoppelung der Mitteilung zu beantworten: Simon betrachtet das Bild fdiön, wenn Julia noch nicht spricht, und betrachtet es noch immer, werin ' '"■!-- t\—„,;„, | nffnnlvir ein Unter- rung in V. 10 nicht gerechtfertigt wäre. Um ihn überhaupt ln eine optische Korrelation m,V ;u~.™ älul lnm aurcn eine Beweguns zuwonJlmussen bewegt nur das Auge bzw. die Wimper, nicht ei^al cL J^cSim™ read Julia dem Knaben mit dem ™,w„ v« ' ™al den KoPf> wäh- \ die Deuter sich ihm durch uge bzw. ( Lnaben mi u einer Be liegt auf um einen Unterschied auf einer Skala" der . um "gen, müssen rer Formulierung liegt auf der Hand und handelt sich also um einen Unterschied — liehen Entfernung: Simon macht die absol ; wischen Simon und dem Knaben, J hen", herzustellen und beide Größen nicht ; verharren zu lassen; Julia hingegen red ■ jdwn dem Knaben und sich um viel« zu betrachten, ation mit ihm zu gelangen, . vkw'O"----- Aber i Kopf ?enkor Station igewol. —.a der räum-ut minimale Bewegung, d. h ,m ----- ' —jr — j "'"Ji wjiiiiai den xr . . ... , • ,-t:fetl mit dem ganzen Körper enteew„1 ■reih* mcht bls zu einer Berührung (die erotische iCnl^T™ ~ ist Kopf, enkomi . ■—-tation unse-C nicht ungewollt). Es Bewegung, deren es minimal bedarf, um überhaupt eine Korrelation durch das""Se einen Kontakt in völliger Getrennthe uziert die Entfer fieit ------rnung zwi- ----------vieles mehr, ohne sie indes gänzlich I m reduzieren. Wir können also das Verhalten beider als "maximale ■f Entfernung" vs "Reduktion von Entfernung" benennen. ■■ Mit diesen Ausführungen wäre nun zugleich die Frage beantwortet, y warum das Sehen bei Simon scheinbar hervorgehoben, bei Julia hin-' Mgcn [i.ir nicht genannt wird: es geht also nicht um die Trivialität, ; daß Sellen Voraussetzung einer Identifikation ist, sondern um den AusuWk einer Differenz im Verhalten der Deuter, die sich einerseits ■■'iuf die zeitliche Entfernung 7wic4,pn \v/~u—i------- * — ,ngj ■zeitliche Entfernung zwischen Wahrnehmung und Deutung >ndere''seits auf die räumliche Entfernung zwischen Deuter und Deu !'(ungsobj^Kt bezieht. ;4 h'un finden sich leicht weitere Unterschiede zwischen den Deutern tsjulia spricht mit der Statue wie i$(r sie wie über ein Objekt. Ji ^bdidom Knaben, sondern forde 'i ~" wie mit einem Subjekt, Simon sonVhr l™ KL eei' mn ?bje,f- JUl\nähm SicH nktt ™ Ä V P si \S°rdemuf°rdert ihVUch ZU dner Annäherung auf wenn Julia noen num spau^, „_________ sie schon zu sprechen aufgehört hat. Damit wird offenbar ein .Unter-'. .......... schied im Deutungsverhalten impliziert, den wir als eher ' impulsiv»/.wMIr audi an inden spontan" bei Julia, als eher "abwartend-abwägend" bei Simon, b«: J-^JS^inJcbt ur' Cm nennen können. Schwieriger ist die Frage nach dem .-clcvanten ,Merfc"-*-4»*rShen läßt, mal, das die Wahl des Neigens des Auges — ansielle anderer M^gliiiGjj: * benennt den Verben der Wahrnehmung eine Bewegung impliziert: das **^£f§'» ihre IHtun»* p JimaJ d^ Belebth freilich auch für das Neigen des ganzen Kopf« gölten. -B^|?^t||f0iviVh-konst ul j agesätZen (V. 11,,,, 5lmon . wird jedenfalls ebenso von Julias "Knien" vorausgesetzt. Zqitt Z«ifshrf^*(»rSsich ajs() , eren,den Sätzen (V. 15 f). <}:P . le^elne ln punkt der Handlung in Strophe II befindet s.di nun o^M^Sa*».« J,*£,7?°'hedfh> d^ andere als definitiv R ?-T?ng Knabe noch unterhalb der Erdoberfläche, da sonst Julias A^f^^L^-u/e (abgesehen von V. 9, der Z Tv ^ ha' äl^ml. > %en«chkeit: forma, ^ - ---- erung. Julia nähert den Knaben sich sie ihn anthropomorphisiert: sie behandelt ihn .belebt und menschengleich, indem sie diese Aufforderung an ihn " Von Simon läßt sich dergleichen nicht aussagen: wenn er tttt "Tüngling" spricht, benennt er nur, was die Statue lerkmal der Belebtheit zuzuschreiben. Julia Fragesätzen (V. 11 f.), Simon die seine in den r'J~ ---- " 408 - .1 .<•-« 1 409 sie ebensogut Aussagesätze sein und nur die Zeichensetzung signalisiert eindeutig ihren Charakter als Fragen — doch davon später, Julia wendet sich ihrem Objekt auch emotional zu, wenn sie nach seinem "süßen Namen" fragt: dem entspricht asymmetrisch seitens Simons das Adverb "streng", das mit seinen Konnotationen von Unnahbarkeit/Distanz/Askese solche Zuwendung ausschließt. Julia interpretiert die Statue als Gott der Liebe, Simon als Gott des Todes. Nun geht aber Julia als Nicht-Frau an der Schwelle zur Frau potentiell der Erfahrung der Liebe, Simon als Greis hingegen faktisch dem Tode entgegen. Jeder Deuter liest aus dem Objekt heraus, was ihm selbst bevorsteht: es gibt also eine Korrelation zwischen existentieller Situation des Deuters und Deutungsergebnis, die sidi als Homologie formulieren läßt: (3) weibliches Kind : Liebe : : männlicher Greis : Tod. Resümieren wir zunächst schematisch die Menge der erschlossenen semantischen Terme: (4) Kategorie Figur Geschlecht: Alter: Sexualität: Deutungsergebnis: Relation zur Auffindungssituation: Deutungsmotivation: Räumliches Verhalten: JULIA weiblich jung noch nicht (ganz) sexuell Nicht-Frau an der Schwelle zur Frau ?a (potentiell) vor der Erfahrung der Liebe Gott der Liebe präsent bei Auffindung ungefragt räumliche Annäherung SIMON Zeile männlich alt (fast) nicht mehr sexuell Mann an der Schwelle zum Nicht-Mann (=» (faktisch) vor der Erfahrung des Todes Gott des Todes absent bei Auffindung auf Befragen maximal möglicher Abstand Kategorie Figur JULIA Spontaneität: Emotionales Verhältnis: Redeform: Einbeziehungsgrad des Knaben: Von Gärtnern unterstellter Kompetenzgrad: Wissensbasis: Deutungsgewißheit des Sprechers: 6 H 8 ■Ii SIMON impulsiv-spontan emotionale Zuwendung "Reden mit" «s(wieder-)be-lebend/anthropo-morph Aufforderung zu Annäherung inkompetent ungelehrt, aber gebildet hypothetisch abwartend-abwägend emotionale NichtZuwendung "Reden über" «=> nicht belebend/ nicht anthropo-morph Keine Aufforderung zur Annäherung kompetent gelehrt und akademisch definitiv-kon-statierend Zeile 10 11 12 13 14 15 16 17 Demnach handelt es sich um ein recht hohes Ausmaß an Ordnung, das sich allein schon aus der Analyse der Merkmale der Deuter ergibt. In alL-n Aspekten, hinsichtlich derer wir die beiden Figuren verglichen haben, erweisen sie sich als oppositionell, wobei die Opposition bald juf Negation, bald auf Antonymie beruht, bald ohne weitere Analyse der komplexen Merkmale die Bestimmung des genauen Typs schwielig ist. Jedenfalls läßt sich sofort von einer Teilmenge dieser primären senüiiuschen Terme, die (4) darstellt, ein sekundäres Termenpaar abstuhieren, d. h. es läßt sich eine Klasse bilden, der mehrere der Kategorien subsumiert werden können und die zwei oppositionelle Werte umfaßt: ..(5) Reduktion von Abstand vs maximaler Abstand. Unsere Benennung dieses Merkmalspaars bedient sich einer räum- 410 Al 1 liehen Metaphorik; auch hat uns ja die Analyse des räumlichen Verhaltens der Figuren (Z. 9) zu dieser Hypothese angeregt. Doch mih[ die Begriffe keineswegs nur räumlich gemeint: "Reduktion von Abstand" läßt sich ebenso von Julias Merkmalen in Z, 10, II, 12, 13, 14 wohl auch 7 und 8, "maximaler Abstand" ebenso von Simons Merkmalen in diesen Zeilen abstrahieren. Kehren wir zu unsern Deutern zurück. Wir haben ihr jeweiliges methodisches Verfahren bei der Analyse des semiotischen Objektes:' "Marmorknabe", des "Textes" also, den sie zu deuten suchen, noch nicht betrachtet. Denn ob sich jemand seinem Objekte /. 15. imotional zuwendet oder nicht, konstituiert offenbar keine Deutungsmethode und präjudiziert nicht den Wahrheitswert seiner Deutung. Obgleich unsere beiden Deuter sich so verhalten, daß jeder aus djin Objekt herausliest, was ihm selbst bevorsteht, impliziert solche Korrelation zwischen Deutungsergebnis und existentieller Situation des Deuters doch keineswegs, daß beide Deutungen hinsichtlich ihres Wahrhei«-wertes äquivalent sein müßten oder daß unentscheidbar wMiv, welcher unserer Deuter recht hat. Nun ist freilich signifikant, d.iß der Text diesbezüglich weder eine explizite Aussage enthält iu\ii auch die Ableitung einer eindeutig nachweisbaren, aber nur implizierten folge--rung erlaubt. Wäre uns also nur der isolierte Text gegeben, konnten wir nur den Sachverhalt interpretieren, daß aus dem Text allein kein5 Entscheidungskriterium ableitbar ist: wenn wir hingegen aufgrund extratextuellen kulturellen Zusatzwissens (kW 2) v.-Usen, ob der Streit der Deuter im 19. Jhdt. als intersubjektiv unentscheidbar oder als entscheidbar gilt, und zudem wissen, welcher der beiden Deuter, falls ihr Streit entscheidbar ist, recht hat, können wir diiws Wissen mit der textinternen Unentscheidbarkeit korrelieren und diese Korrelation ihrerseits interpretieren. Nach dem archäologischen Wissen des 19. Jhdts0 gilt nun, daß es in der Antike tatsächlich eng verwandte Darstellungen des Gottes der Liebe und des Gottes des Todes gab, wobei beide als männlich und jung dargestellt werden, beide Flügel haben können, beide eine Fackel tragen: nur hebt der Gott der Liebe die Fackel und der des Todes senkt sie, um sie auszulöschen. Wir finden somit auch das von andjgrs-., artigen Sachverhalten in (4) abstrahierte Paar "maximaler Abstand" 6 Hist.-Krit. Ausgabe, Bd. 2, S. 172. j vs "Reduktion von Abstand" (= 5) wieder. Denn der Knabe, den ' die Statue darstellt, ist ein Zeichen besonderer Art: eine minimale ' Veränderung nur eines einzigen Attributes des Signifikanten (geho-1 bene vs gesenkte Fackel), die die Mehrheit seiner Merkmale in-i variant läßt, führt zu einer maximalen Veränderung des Signifikats ^ (Liebe vs Tod). Zwischen den Signifikanten wird also der Abstand auf ; jenes Minimum reduziert, dessen es bedarf, um überhaupt zwei Zei-i chen als verschiedene zu unterscheiden: eine Differenz hinsichtlich ' genau einer Kategorie von Merkmalen. Dem entsprechen aber zwei » Signifikate mit maximalem Abstand, die einander als oppositionelle ! ausschließen und zugleich auf einer Ebene der fundamentalsten an-t thropologischen Kategorien, auf der Ebene der Opposition von j "(Liebe~>Leben) vs Tod", liegen. Nun charakterisierte sich Julias 4 Verhalten durch Reduktion von Abstand, das Simons durch Auf's • rechterhaltung des maximalen Abstands: Julias Verhalten zum Zei-I dien entspricht also der Relation der Signifikanten, Simons Verhaken ' 7ü!ii Zeichen der Relation der Signifikate. Es gilt folglich die Homo- • ((>) (Ju^a '• Zeichen) : (Signifikant 1 : Signifikant 2) : : (Simon : Zei- chen) : (Signifikat 1 : Signifikat 2), \ wobei es gleichgültig ist, welcher Signifikant bzw. welches Signifikat ■ ah Loder 2 interpretiert wird. Julias Deutungsverhalten ist also einer ', Rehtion auf der Ebene der Signifikanten, das Simons einer Relation ■' auf der Ebene der Signifikate äquivalent. ~ Julias Deutung ist jedenfalls die falsche, Simons Deutung die rich-i lige, wie sich aufgrund von kW 2 leicht zeigen läßt. Der Text wider-I sjiridit weder den deskriptiven Feststellungen Julias noch denen Si-•+ nons, und die Feststellungen beider widersprechen einander ebenso-\ wenig. Julia konstatiert Flügel am Objekt, Simon geht auf dieses * Merkmal überhaupt nicht ein, da es nicht signifikant ist und keine ' Entäiheidung zwischen den Alternativen "Amor vs Tod" erlaubt. "Julia behauptet, der Knabe trage eine Fackel; Simon behauptet, er •lösche eine Fackel. Die Behauptung, daß der Knabe die Fackel lösche, _ :H Im gestischen Kode unseres Kontextes äquivalent mit der Behaup-$ -tung, daß er die Fackel senke. Julia behauptet nur, daß er eine Fackel i.Wgt, da er aber die Fackel in jedem Falle trägt, ob er sie nun hebt •bUss senkt, behauptet Julia somit etwas, was wiederum keine Ent-i jöieidung zwischen Amor und Tod erlaubt, und Simons Aussage, die S«ni gegenüber hyponym, also spezifischer ist, zwar nicht bestätigt, *J^*f jedenfalls ermöglicht und nicht widerlegt. Da der Text keine 412 413 Signale enthält, die eine Identifizierung eines bestimmten extratextu-ellen Referenten der Statue nahelegen oder gar ermöglichen würden, haben wir über die Statue genau nur das Wissen, das der Text bietet; aufgrund dieses Wissens, und da ferner der Text in keiner Weise Simons Behauptung, die Fackel werde gesenkt, widerlegt, folgt also unter Hinzuziehung von kW 2 demnach eindeutig die Richtigkeit von Simons Interpretation. Damit läßt sich auch die jeweilige Deutungsmethode einigermaßen genau beschreiben. Denn Julia registriert am Objekt Merkmale, die zwar tatsächlich intersubjektiv gegeben sind, aber nicht signifikant sind, da sie zwei verschiedenen Klassen von Objekten gemeinsam sind, um deren! Unterscheidung es gerade geht: diese Merkmale konstituieren nur die gemeinsame Oberklasse, differenzieren jedoch nicht die beiden oppositionellen Klassen dieser Oberklasse untereinander. Simon hingegen interessiert sich nur für genau jenes einzige Merkmal, das die beiden oppositionellen Klassen unterscheidet. Julia folgert zwar aus richtig beobachteten Daten, aber sie folgert Falsches: sie schätzt offenbar die Relevanz dieser Daten falsch ein, da sie als bedeutungsdifferenzierend annimmt, was dieses keineswegs ist; sie kennt offenbar das System def paradigmatischen Alternativen des antiken Kunstkodes zu wenig. Aus dem, was der ganzen Klasse zukommt, schließt sie fälschlich auf das einzelne Glied: sie folgert, als ob die hyperonyme Klasse die hyponv-me impliziert, während jene diese doch nur inkludiert. Simons»Aren-' mentation impliziert Julias Wahrnehmungen, da diese die Klasse, der das Objekt angehört, identifizieren; aber er bedient sich logisiherwuisc zusätzlicher und spezifischerer Kriterien, um innerhalb dieser Klasse das Glied, um das es sich tatsächlich handelt, zu identifizieren. ('Während also Julia aufgrund tatsächlicher Daten aus diesen — petsonali-stisch motiviert und konnotativ — folgert, argumentiert Simon systembezogen-strukturell; eine heute noch relevante Opposition!) Julia war bei der Auffindung der Statue präsent und deutet ungefragt; Simon war absent und deutet auf Verlangen. Simon ist demnach ein von außen — aus einem Raum jenseits des Handlungsschauplatzes — herbeigeholter Fremder, Julia hingegen gehört dem Raum der Handlung von vornherein an. Denn nicht nur war Sie immer anwesend, vor allem ist sie die Tochter des oder der Besitzer des Weinbergs. Wenn in einem Text der Weinberg einer Famiiis "Capuletti" und ein Mädchen namens "Julia" zusammen auftreten, handelt es sich eindeutig um einen Verweis auf Julia Capuletti, die Titelheldin von Shakespeares "Romeo und Julia". Wiederum stellt 414 dieses Wissens (kW 3) an sich eine Konnotation dar, aber wiederum eine objektive, die zudem, wie im folgenden gezeigt werden soll, funktionalisiert wird. Es gibt eine und nur eine kulturell-pragmatisch bekannte Korrelation der Namen "Julia" und "Capuletti" im 19. Jhdt. Sie nicht zu kennen, verändert nicht die Bedeutung des Textes, sondern heißt nur, daß man mangels Kenntnis von Kodes bzw. Referenten eine bestimmte Bedeutungsebene des Textes übersieht. (Das j Problem ist zwar ein pragmatisches: vorausgesetzt ist, daß es im 1 19. Jhdt. keine zweite alternative Korrelation dieser beiden Eigen-' namen gibt und daß man die Korrelation der Namen bei Shakespeare zu diesem Zeitpunkt kennen kann. Aber obgleich pragmatisch, ist das Problem doch, wie immer paradox das scheinen mag, kein solches '■ der Rezeption: denn ob nun der einzelne konkrete Rezipient des l 19, Jhdts den referentiellen Rahmen "Shakespeare" kennt oder nicht, t ist zwar relevant für die von ihm jeweils vorgenommene Deutung * des Textes, nicht aber für dessen Bedeutung, da man im Prinzip den ■ Kontext "Shakespeare" kennen kann und da dieser Kontext eindeu- * tig angespielt ist.) ' Julias Mitdeuter, Simon, hat nun freilich ebenfalls einen Namen, ', dir aber nicht (literar-)historisch vorgegeben ist: "Julia" ist pseudo-historisch, "Simon" ist fiktiv. Wenn es schon im Text eine weibliche tr mit pseudohistorischem Namen gibt, warum muß diese Stelle ide durch Julia Capuletti besetzt sein? Was determiniert also die i Wahl genau dieses Namens? ; Klären wir zunächst, wie sich Meyers zu Shakespeares Julia verhüll. Meyers Julia, die noch von den Gärtnern wie von dem Gelehr-. .tun auf ihrem eigenen Grund ohne soziale Folgen ignoriert werden ' lunn. ist, sagten wir, Kind an der Schwelle zur Frau: "Kind" kann ^Shakespeares Julia jedenfalls nicht mehr sein, da sie, wenn auch noch nicht lange, in heiratsfähigem Alter («Frau) ist. Der Zeitraum ihrer * Dioyaphie, den Meyer darstellt, liegt also kurz vor dem Zeitraum, * den Shakespeare darstellt. Was Julia bei Shakespeare erlebt, steht ihr «ibeiMeyer unmittelbar bevor. Das hat eine wichtige Folge: im Unter- * iihitd zu den im Text agierenden Figuren kennt der Rezipient schon i Julias weiteres Schicksal. Was ihr aber bevorsteht, ist die Erfahrung '* ihrer Liebe zu Romeo und deren tödlicher Ausgang. Wie bei Meyer ^sin'd also auch bei Shakespeare' die Terme "Liebe" und "Tod" korre-:'lieft. Aber bei Meyer stehen sie als synchrone, einander ausschließende .-^Alternativen zur Wahl, bei Shakespeare folgen sie diachron, und zwar ^Uftmittelbar, aufeinander. Bei Meyer sind beide Terme auf verschie- 415 dene Figuren aufgeteilt (Julia — Liebe, Simon — Tod), bei Shakespeare kommen sie denselben Figuren als sukzessive Zustände zu. Bei Meyer sind sie auf einer Ebene theoretischer Deutung eines Fremden (des Knaben), bei Shakespeare auf einer Ebene praktischen eigenen Erlebens (Julias) korreliert. Was also in der Deutung der Statue oppositionell ist, scheint in der Biographie Julias fast äquivalent. Denn Julias Liebe zu Romeo und ihr Tod sind auch kausal eng korreliert: ihre Liebe ist — freilich nicht allein — die Ursache ihres Todes; nur im Tod, der sie von Romeo definitiv trennt, wird sie mit ihm definitiv vereinigt. Die Menge der systematisch-symmetrischen Entsprechungen zwischen Meyers und Shakespeares Text belegt aber zuglekh, daß Meyers Text nicht nur die Identifizierbarkeit Julias als Figur Shakespeares, als literarische Figur also, sondern auch das Wissen ihrer weiteren Biographie voraussetzt und funktionalisiert. Dem maximal reduzierten Abstand zwischen den Signifikanten bei Meyer entspricht der maximal reduzierte Abstand der Signifikate bei Shakespeare. Damit haben wir zugleich eine erste Funktion (Determination) des Sachverhalts gefunden, daß Signifikate mit scheinbar maximalem Abstand bei Meyer durch Signifikanten mit optimal reduziertem Abstand repräsentiert werden. Freilich darf daraus keines der beliebten interpretatorischen Bonmots des Typs, Liebe und Tod seien letztlich eins, abgeleitet werden. Denn unser Text identifiziert niemals tat- : sächlich Liebe und Tod: er nähert sie einander nur an, indem auf der ■■ Ebene des faktischen Textes (= Meyer), wo Liebe und Tod als < überindividuell-generell abgehandelt werden, der Abitand der Signifikanten, auf der Ebene des implizierten Textes (= Shakespeare), wo Liebe und Tod als individuell-einmalig abgehandelt werden, der Abstand der Signifikate verringert wird. Bei diesem Grad symmetrischer Korrelation fällt die einzige nicht-symmetrische Beziehung der überhaupt vergleichbaren Größen besonders auf: die Relation zwischen Abstand und Reduktion von Abstand, die zwischen dem faktischen Text und dem implizierten Tex: auf derselben Ebene (Signifikate) besteht, wiederholt sich im faktischen Text als Relation zwischen zwei Ebenen (Signifikanten-Signifikate)!»-"- "* ■ (7) Maximaler Abstand der Signifikate in Meyer : Reduktion Von -Abstand der Signifikanten in Meyer : : Maximaler Abstand der -~ Signifikate in Meyer : Reduktion von Abstand der SigninLite in s Shakespeare. *l Die aus dem Vergleich beider Texte gewonnene paradigmatische Teil- 4 Ordnung halten wir wiederum auch schematisch fest: t .j (8) 416 LIEBE bei Meyer und C. F. Meyer s=a faktischer Text äs späterer Text frühere Lebensphase Julias Liebe/Tod synchron-alternativ semiotisch verknüpft theoretisches Problem von Zeichen + Deutung überindividuell-generell beide Terme mit verschiedenen Figuren korreliert maximaler Abstand ohne Aufhebung der Korrelation vs TOD bei Shakespeare Shakespeare j=a implizierter Text s=a früherer Text spätere Lebensphase Julias Liebe =* Tod diachron-sukzessiv kausal verknüpft praktisches Problem von Realität + Erleben individuell-einmalig beide Terme mit denselben Figuren korreliert minimaler Abstand ohne Aufhebung der Differenz I)ank der Asymmetrie von "Liebe" und "Tod" entspricht nun eigentlich der "Liebe" die Nicht-Liebe oder, da dieser Term sprachlich nicht besetzt ist, das Antonym "Haß". "Tod" seinerseits hat sprachlich einen doppeldeutigen Status: dem "Tod" als Ereignis und Ursache entspricht die "Geburt", dem "Tod" als Zustand und Wirkung entspricht das "Leben", das seinerseits von "Liebe" und "Haß" logisch impliziert wird und selbst "Geburt" voraussetzt, die wiederum nicht selten eine Folge von "Liebe" ist. In dieses normalsprachliche System ist also die Asymmetrie "Liebe" vs "Tod" eingebettet: wir versuchen dieses System graphisch (dreidimensional) darzustellen: W Lieh Haß Geburt HMÜ 417 (Die Beziehungen zwischen Leben und Geburt, Liebe und Geburt sind deutlich von denen zwischen Haß/Liebe und Leben verschieden und werden daher auch graphisch von ihnen abgehoben.) Der Text scheint von den Termen dieses normalsprachlichen lexikalischen Systems zunächst nur Liebe und Tod zu verwenden; Liebe impliziert aber zugleich logisch das Merkmal Leben (während es mit Geburt nur empirisch und fakultativ korreliert ist). Nach unserem Postulat ist Asymmetrie bedeutungsgenerierend: welche Merkmale erhalten dann "Liebe" und "Tod" in unserem Text? Die Stelle von "Haß" als der eigentlichen und einzigen normalsprachlichen Alternative zu "Liebe" wird von "Tod" eingenommen: "Tod" substituiert somit "Haß". Welche Korrelation besteht also zwischen "Haß" und "Tod"? Die Stelle der eigentlichen Alternative zu "Tod" Ui durch "Liebe" besetzt. Da "Geburt" nur fakultativ mit "Liebe" verknüpft« ist, "Leben" hingegen von "Liebe" impliziert wird, lassen i\ir "Geburt" einstweilen beiseite. "Liebe" substituiert also "Leben"; v.elihe Korrelation besteht dann zwischen "Liebe" und "Leben"? "Haß" tritt nun zwar in unserem faktischen Text nicht auf, ist aber im implizierten Text von zentraler Relevanz: denn der Hadder ihre beiden Familien trennt, ist es, der Romeos und Julias Liebesgeschichte zu einer problematischen und letztlich tödlichen macht. Dieser Haß macht ihre definitive Vereinigung im Leben praktisch unmöglich; er ist potentiell todbringend und wird erst durch den Tod der beiden Liebenden überwunden, der die Liebenden zwar nur metaphorisch, die Familien aber realiter vereinigt. "Liebe" und "Haß" sind Relationen zwischen (Gruppen von) Individuen: "Liebe" impliziert kulturell eine Tendenz zur Vereinigung, "Haß" eine solche zur Trennung. Nun läßt sich "Tod" als extreme Form der Trennung auffassen, die zur Aufhebung von Korrelation durch den Abbruch jeder Relation zwischen den beiden Termen tendiert, wie umgekehrt "Liebe" zur Aufhebung von Korrelation durch Identität der beiden Terme tendiert. (Unter Einbeziehung weiteren kulturellen Wissens (kW 4) ließe sich übrigens leicht zeigen, daß im deutschen 19. Jhdt. eine Relation "(Liebe rs Vereinigung) vs (Tod Trennung)" oftmals belegt ist7; doch wollen wir den Rekurs auf solche extratextuellcn Daten 7 So gibt es bei irgendeinem Franz. Lyriker des 19. Jhdts (ich habe vergessen, bei wem) den Vers: "Partir, c'est mourir un.pi-u". Calcn 1846, S. 384: "Ja freilich, wenn Wiedersehen nicht wäre, dann wäre jede Trennung von dem Gegenstande unserer Liebe wie der Tod ..." . so weit als möglich vermeiden.) "Haß" hätte demnach tatsächlich mit "Tod" potentiell gemeinsame Merkmale; weil "Tod" nicht metapho-risiert wird, kann sich diese Gemeinsamkeit aber nur auf solche Merkmale erstrecken, die zum Paar "Tod" vs "Leben" disparitär sind. "Liebe" und "Tod" erscheinen im Text als Gottheiten, d. h. als bewirkende Ursachen der Zustände "Liebe" und "Tod". "Liebe" und "Tod" in Meyers Text verhalten sich demnach zu "Liebe" und "Tod" k. in Shakespeares Text wie Ursachen zu Wirkungen. Dem "Tod" als Ereignis entspricht aber an sich der oppositionelle Wert "Geburt": ; "Liebe" substituiert somit nicht nur "Leben", sondern auch "Geburt", Oa "Geburt" lebengebend ist und als Folge von "Liebe" eintreten kann, übertragen wir das Merkmal "(potentiell) belebend" auf Liebe, was dem Merkmal "(potentiell) todbringend" bei Haß bzw. "faktisch todbringend" bei Tod als Ereignis entspricht. "Leben" seinerseits läßt nun, indem es Liebe und Haß umfaßt, sowohl Vereinigung als auch Trennung zu: "Liebe" kann demnach nicht für "Leben" stehen. Aber "Haß" und "Tod" sind so korreliert, daß "Haß" als eine Art abgeschwächter Tod, "Tod" als eine Art gesteigerter Haß erscheint: es liegt demnach nahe, "Liebe" als eine privilegierte Form von "Leben" aufzufassen — als ein besonders intensives und gesteigertes Leben. »Versuchen wir, diese postulierten hypothetischen Merkmale von "Liebe" und "Tod" an Textdaten zu bestätigen, dann finden wir zunächst in dem Paar "Vereinigung" vs "Trennung" die abstrakteren Kategorien "Reduktion von Abstand" und "maximaler Abstand" wieder. Nun interpretiert Julia nicht nur die Statue als Gottheit der Liebe: sie wendet sich ihr auch affektiv-emotional zu, d. h. sie praktiziert gegenüber der Statue eine abgeschwächte Form der Liebe. Und Simon interpretiert die Statue nicht nur als Gottheit des Todes: : er vermeidet auch jede Form emotionaler Zuwendung; diese Distanz ' laßt sich aber als abgeschwächte Form des Hasses auffassen. Der ■ abgficiiwachten Form der Liebe gegenüber dem Objekt seitens Julias ;,ÖUspricht dann die Reduktion von Abstand als Tendenz zur Vereinigung i ; Liebe), der abgeschwächten Form des Hasses seitens Simons die Aurrechterhaltung größtmöglichen Abstandes. (Da nun Julia eine .maximale, Simon eine minimale Bewegung ausführt, ließe sich dem Bercidi des gesteigerten Lebens auch "Bewegung", dem des Todes "■Starre" als Bewegungslosigkeit zuordnen.) Julia fordert nun den Knaben zu einer Bewegung und zur Rückkehr ins Leben (V. 10) auf: 'icr Abgeschwächten Form der "Liebe" entspricht tatsächlich ein Ver- 418 419 ■ . tt41 - such der "Belebung" als abgeschwächte Form einer Geburt . Soweit lassen sich - mit Ausnahme des hypothetischen und problematischen Paares "gesteigertes" vs «abgeschwächtes Leben" - die Merkmale recht gut bestätigen, die wir hypothetisch für die beiden in Opposition gesetzten Gottheiten bzw. Zustände angenommen haben: (10) LIEBE \ belebt/lebend bzw. potentiell belebend Vereinigung Bewegung Reduktion von Abstand mit Tendenz zur Aufhebung der Korrelation durch Identifizierung der Terme (Steigerung des Lebens über das Leben hinaus: « mehr an Leben als gewöhnlich) TOD unbelebt/tot bzw. faktisch todbringend Trennung Starre Maximaler Abstand mit Tendenz zur Aufhebung der Korrelation durch Abbruch der Relation zwischen den Termen (Abschwächung des Lebens über das Leben hinaus: rr w niger an Leben als gewöhn lidi "Liebe" und "Tod" erscheinen also, selbst wenn man das letzte Merkmalspaar des Schemas nicht akzeptiert, als extreme Grcnzziintände des Lebens, so daß wir eine ternäre Serie Liebe — Leben — Tod erhalten (daher tritt auch "Haß" im faktischen Text nicht direkt auf). (Tn diesem Kontext ließen sich nun auch zwei gut belegte kulturelle i Topoi (kW 5 und 6), die die Annäherung von "Liebe" und "Tod" verstehbar machen, konnotativ anführen: Erstens, daß die Extreme einer Skala einander ähnlich seien8; zweitens, daß ein besonders intensives Leben gern auch ein besonders kurzes Leben sei9. Beide 8 Z. B. Hufeland (o. J.), dessen 1796 erschienene "MaferobiotiV im 19. Jhdt. immer noch geiesen und wieder aufgelegt wurde: "Wir gehen fast durch eben die Veränderungen aus der Welt, als wir hineinkommen; diu-beiden Extreme des Lebens berühren sich wieder. Als Kinder fangen wir I an, als Kinder hören wir auf." S. 284). ' 0 Z. B. Hufeland, bei dem dieses Theorem immer wieder vorkommt (vgl. S. 55, 161, 165, 183, 214, 379 usw): "Die Energie des Loben? wird' also mit seiner Dauer im umgekehrten Verhältnis stehen, oder je mehr cin< 420 Topoi ließen sich mit der Annäherung von "Liebe" und "Tod" und mit Julias Biographie gut korrelieren. Doch lassen wir das auf sich beruhen, um, wie gesagt, möglichst wenig textexterne kulturelle Daten zu verwenden.) Warum nun läßt der Text die beiden Deutungen der Statue in genau dieser Reihenfolge aufeinander folgen? Wir haben von dieser Abfolge zwar schon ein Merkmal (Schema (4), Z. 10) abstrahiert, doch kann diese syntagmatische Folge ja wie so viele andere Terme dieses Textes überdeterminiert sein — und sie ist es tatsächlich. Auf der Ebene der Deutung des Zeichens folgt auf Julias Frage Simons -Antwort, auf die falsche und vorläufige Deutung die richtige und definitive. Auf der Ebene von Julias Biographie ist zwar auch Julias Jleutung richtig, aber sie benennt nur den früheren und vorläufigen, Simon den späteren und definitiven Zustand. Auch abgelöst von Julias Biographie bleibt dieses asymmetrische Verhältnis: "Liebe" und "Tod" sind notwendig temporal orientiert. "Liebe" ist ein fakultativer und vorläufiger Zustand, "Tod" ein obligatorischer und definitiver: wir wissen "logisch", daß auf "Liebe" irgendwann "Tod" folgt; wir wissen allenfalls "empirisch", ob einem "Tod" auch eine "Liebe" vorangegangen ist. "Tod" als Ende der menschlichen Existenz steht zugleich auch am Textende: es ist das letzte Wort nicht nur Simons, sondern auch des Textes, während "Amor" nicht einmal Julias letztes Wort ist* "Tod", so wäre also unsere Hypothese, hat gegenüber "Liebe" im Text einen privilegierten Realitätsstatus. Wir halten die möglichen Determinationen der syntagmatischen Distribution wiederum schema-tisch als paradigmatische semantische Teilordnung fest: : Wesen intensiv lebt, desto mehr wird sein Leben an Extension verlieren" . (S. 55). Ein anderer Mediziner des 19. Jhdts macht die Nutzanwendung dic.C'. angenommenen Gesetzes auf die Sexualität — Albrecht 1851, S. 109: 'So wie ich oben gesagt habe, ist Mäßigkeit (= in der Häufigkeit sexueller Akte, Anm. M. T.) dem Manne ebenso anzuraten, wie dem schönen Ge- .iäiledite, und je mäßiger der Manne dieses Geschäft treibt, eine desto lüngce Ausdauer wird er dabei wahrnehmen. (...) so kann man hingegen "diese K'aft bis ins fünfzigste, ja sechzigste Jahr und noch höher erhalten, wenn man mäßig dabei zu Werke geht." Und eine Literatin des 19. Jhdts, ;n:-ie von Hillern in ihrer "Geierwally" (S. 224): "Wally und Joseph .«iid fni'i gestorben, die Stürme, die an ihnen gerüttelt, hatten die Wurzeln ■ ihres Lebens gelockert ..." 421 vs ZWEITE DEUTUNG (TOD) abwartend-abwägende Deutung (vgl. (4), Z. 10) definitives Deutungsergebnis: richtig Antwort/Wissen späterer Zustand sowohl a) in Julias Biographie als auch b) anthropologisch anthropologisch obligatorischer und definitiver Zustand (11) ERSTE DEUTUNG (LIEBE) impulsiv-spontane Deutung (vgl. (4), Z. 10) vorläufiges Deutungsergebnis: falsch Frage/Hypothese früherer Zustand sowohl a) in Julias Biographie als auch b) anthropologisch anthropologisch fakultativer und vorläufiger Zustand Ein Textmerkmal ist in diesem Zusammenhang auffällig: Julia bezeichnet — wie auch der Text selbst — die Statue als Knaben, Simon5 hingegen als Jüngling. Somit läßt sich offenbar auch die — übrigens (3) stützende — Homologie ableiten, daß dem notwendig früheren* Zustand der Liebe auch das frühere Lebensalter des Gottes (Knabe), dem notwendig späteren Zustand des Todes auch das spätere Lebensalter des Gottes (Jüngling) entspricht. "Jüngling" impliziert ?war im zeitgenössischen Lexikon eindeutig einen nachpubertären Zustand, aber "Knabe" ist diesbezüglich leider nicht eindeutig festgelegt10, so daß wir auf weitere Folgerungen daraus verzichten müssen. Die beiden alternativen Gottheiten der Liebe und des Todes sind jedenfalls solche, die die Überschreitung anthropologisch relevanter Grenzen bewirken. Nicht nur die von ihnen ausgelösten Zustände stehen aber in einer temporalen Relation des "früher" vs "später", sondern die Gottheiten selbst auch: damit eine Fackel gelöscht '.ver-i den kann, muß sie zuvor entzündet worden sein und gebrannt haben. "Liebe", oder doch wenigstens "Leben", ist der von "Tod" vorausgesetzte Zustand, so wie die Geste des Gottes der Liebe die von der Geste des Gottes des Todes vorausgesetzte Geste ist (Homologie). Nun ist aber der Umgang mit der Fackel das einzige unterscheidende Merkmal der Gottheiten: nicht "Liebe" und "Tod" als Zustände, wohl aber die sie bewirkenden Gottheiten sind eins. Im hier zitierten Kode der antiken Mythologie und Kunst (kW 7) sind "Liebe" und "Tod" folglich Manifestationen derselben Macht. Hinter den Oppositionen an der Oberfläche der Realität steht in der Tiefe (in beiden gemeinsamer Träger. Es gilt die Homologie: " Vgl. Eberhard/Maass/Gruber zu "Knabe" und "Jüngling". 422 (12) (Liebe : Tod) : (vorläufig-früherer : definitiv-späterer Zustand) : : (Gott der Liebe : Gott des Todes) : (vorläufig-frühere : definitiv-spätere Geste derselben Entität). (= Die Relation zwischen Liebe und Tod verhält sich zur Relation zwischen früherem und späterem Zustand, wie die Relation zwischen den beiden Gottheiten sich zur Relation zwischen ihren signifikanten Gesten verhält.) Der Gott der Liebe ist nur die frühere Erscheinungsform des Gottes des Todes: der oppositionellen Aufgliederung in "Liebe" und "Tod" an der Oberfläche der Realität entspricht in der Tiefe der Realität nur der Tod, was die asymmetrische Relation der beiden Terme und den privilegierten Status des Todes ganz gut repräsentiert. Ii« ist also ein und dieselbe Gottheit, die nur jeweils eine verschiedene Geste ausführt: je nachdem, welche Geste sie ausführt, hat sie aber mythologisch einen anderen Namen; gerade nach dem Namen (V, 4 und 9) wird nun freilich gefragt. Zum zweiten Male begegnen wir also einem Problem der Namen, das wir wiederum zurückstellen. Wir halten hingegen einstweilen explizit fest, daß im zitierten antiken Kode gilt: (13) oppositionelle Terme der Oberfläche der "Realität" (verschiedene Götternamen) vs zugrundeliegender Term der Tiefe der "Realität" (dieselbe Gottheit). Wir haben also einen zu deutenden "Text" (Statue) und einen deutenden Text (Rede der beiden Sprecher). Bei beiden können wir grob eine "Oberfläche" und eine "Tiefe" unterscheiden: (Ii) "Oberfläche" des zu deutenden "Textes": Gleichwertigkeit zweier alternativer Signifikanten/Signifikate: (Gott der) Liebe vs (Gott des •- Todes "Oberfläche" des deMenden Textes Gleichwertigkeit zweier alternativer Deutungen: Julia vs Simon "Tiefe" des zu deutenden Textes Privilegierung eines der beiden Signifikanten/Signifikate: (Gott des) Todes "Tiefe" des deutenden Textes Privilegierung eines der beiden Deutungen: Simon : fte Ok'rflächenerscheinung der "Realität" ist in der Verschiedenheit . w AUmtestationen täuschend: die Phänomene sind Erscheinung nur 423 einer einzigen Ursache, die schließlich immer auf "Tod" hinausläuft, (Von "Oberfläche" und "Tiefe" der Realität zu sprechen, ist nicht nur eine beliebige Metaphorik: es ließe sich leicht zeigen, daß im deutschen Realismus des 19. Jhdts. nicht nur analoge Unterscheidungen sehr oft eine Rolle spielen, sondern gern auch mit solcher räumlichen Metaphorik verknüpft sind. Im übrigen enthält unser Text dafür auch ein Beispiel: vgl. (19). Auch "Tod" als die Realität hinter aller Realität zu denken, ist durchaus in dieser Epoche nicht eben untypisch.) Mit (14) dürfte nun auch eine Funktion dafür gefunden sein, warum der Text nicht explizit an der Oberfläche zwischen den Deutungen der Statue entscheidet. Zudem ist, wie wir sahen, Julias Deutung nicht einfach falsch, wenn auch am Ende Simon recht behält. Wie wir wissen, gehört also diese Statue jedenfalls eindeutig der antiken Kultur an; nur diese, nicht aber die christliche, kennt Gottheiten der Liebe und des Todes. Dank der Identifizierung Julias als Figur Shakespeares läßt sich auch die Welt der beiden Deuter ungefähr datieren und lokalisieren: Zeit ist die Renaissance, Ort ist Italien, Zeit und Ort erweisen sich aber ihrerseits als funktionalisim. Denn die Renaissance ist es, die die Antike wiederentdeckt, und hauen ist zugleich Ausgangsort dieses Prozesses wie auch einer der Hauptorte der wiederentdeckten Kultur selbst (kW 8). Nun wird aber im Text gerade die Wiederentdeckung und Deutung eines antiken Objektes dargestellt: die dargestellte individuelle Situation ist also zugleich eine für diese Epoche charakteristische und repräsentative: (15) Dargestellte individuelle Situation epochal typische Situation. Der Knabe befindet sich an einem Ort, der als "Grab" klassifiziert wird: dann aber ist er offenkundig "tot". Das Vergangene ist also das Tote. Wenn der Knabe aus seinem Grabe steigen soll, muß er wiederbelebt werden. Der Wiederentdeckung entspricht bei Julia der Winisdi nach Wiederbelebung. Wiederbelebung ist aber einer zweiten und neuen Geburt äquivalent: "Renaissance" heißt nichts anden i;: "Wiedergeburt". Auch der in (9) als normalsprachlich relevant angesetzte Term "Geburt" wird also vom Text benutzt — freilich als "Wiedergeburt", die schon einen "Tod" voraussetzt; sie basiert im übrigen auf einer Handlung, die wir als "abgeschwächte Liebe" klassifiziert haben. Es gilt also: (16) (Vergangen « tot) vs (gegenwärtig lebend) (17) (Wiederentdeckung des Vergangenen + (abgeschwächtcForm der) Liebe zum Vergangenen)-^(Wiederentdetkung Wiederbelebung « neue Geburt « Renaissance). - Diese antike Kultur liegt nun in der Situation unseres Textes temporal weit vor, lokal in geringer Tiefe unter der Kultur der beiden Deuter. Eine zu dieser Relation zwischen den Kulturen homologe Relation besteht nun aber innerhalb der späteren Kultur über der Oberfläche auch zwischen den beiden Deutern: während sie ein großer Altersabstand trennt, sind sie räumlich nahe beieinander; auf der Horizontalen befindet sich Julia neben Simon, auf der Vertikalen unter ihm. Zeitlich stehen ältere und jüngere Kultur, älterer und jüngerer Deuter jeweils in der Relation des maximalen Abstandes; räumlich ist der ' Abstand zwischen den Größen jeweils reduziert. Unter dem einen : Aspekt nimmt Julia die der Antike, Simon die der Renaissance entsprechende Position ein, unter dem anderen Aspekt ist diese Relation genau umgekehrt. (Die Hypothese liegt nahe, daß Entsprechendes für aie Relationen zwischen den Merkmalen der beiden Deuter und den Merkmalen der beiden Kulturen gilt. Doch lassen wir diese Frage hier auf sich beruhen.) (is) Zeitliche Relationen maximaler Abstand: -—_^__1 ANTIKE : RENAISSANCE :: SIMON : JULIA früher später älter jünger v_ _✓ Relation zweier Kulturen in der Renaissance (später) Relation innerhalb einer der beiden Kulturen in der Renaissance (oben) ANTIKE : RENAISSANCE :: JULIA : SIMON unten oben unten oben Räumliche Relationen reduzierter Abstand -Nach Julias Willen soll der Knabe aus seinem Grabe ans Tageslicht «igen: "Grab" impliziert also "dunkel". Da das Grab zugleich unten jit, also das Unten mit dem Dunkel, das Oben mit dem Licht äquivalent. Im Grab ist das Tote und Vergangene, oben das Lebende und Gegenwärtige — das Leben, zu dem der Knabe gerufen wird, -^'ur als Zeichen einer vergangenen Kultur ist der Knabe für die 424 425 Deuter etwas Vergangenes: was er bedeutete, ist noch aktuell und steht ihnen erst bevor. Der Ort, aus dem der Knabe hervorgehen soll, ist ein Grab, insofern er tot ist. Insofern er aber zu einer Wiedergeburt aufgefordert wird, ist dieses Grab zugleich einem Schoß äquivalent. Dem entspricht aber auch die Korrelation produktiver und destruktiver Kräfte, wie sie in der Verknüpfung von Liebe und Tod abgebildet wird. Der Relation zwischen dem "Oben" und dem "Unten" entspricht zudem ziemlich genau die Relation zwischen den beiden Gottheiten (Homologie): (19) OBEN (über der Oberfläche) vs UNTEN (unter der Oberflädie) Licht Dunkel Leben ( Kulturen Gegenwart der | Individuen Tod/Nicht-Leben i ^ j (Kulturen Nicht-Gegenwart der [lndWlAue] Vergangenheit Grab Destruktion --% Zukunft Schoß Produktion (20) Gott der Liebe vs Heben der Fadtel (Liebe ->) Leben Bewegung nach oben Leuchten: Erzeugung von Licht Gott des Todes Senken der Fadtel Tod Bewegung nach unten Löschen: Erzeugung von Dunkel Der Gott ist tot und er ist der Tod. Julia, die ihn wiederbeleben will, meint freilich den Gott der Liebe, für den sie ihn hält — und wie wir sahen, nicht zu unrecht, da er auch dieser, wenn auch nur als vorläufige Erscheinung, ist. Die Liebe wollen, bedeutet demnach in der Logik-' des semantischen Systems, das gedeutet wird (nicht aber auch in dcm| des Textes selbst, der sich diesbezüglich nicht festlegt), den Tod in Kauf zu nehmen, ob man das will und weiß oder nicht: • I (21) Wille zu gesteigertem Leben Risiko des Verlustes von Leben/ Risiko des abgeschwächten Lebens. Was semantisch maximalen Abstand hat, liegt in der Realität nahe beieinander, wie schließlich auch Julias Biographie bestätigt. Der Gott ist tot: er ist ein ungeglaubter, nicht mehr geglaubter Gott einer vergangenen Kultur. Beide Deutungsergebnisse beschreiben auer Gottheiten derselben Klasse: solche, die, im Unterschied zu anderen antiken Göttern, unmittelbar allegorisch sind, d. h. Zustände menschlicher Existenz repräsentieren. Das Zeichen dieser Zustände, die einst geglaubte Gottheit, ist mit ihrer Kultur gestorben: es ist eine kulturelle Variable. Die Zustände selbst aber sind kulturunabhängige anthropologische Invarianten. Demnach spielt somit im Text nicht nur die Opposition verschiedener Kulturen untereinander, sondern auch die von "Kultur" überhaupt zu etwas, was wir als "Natur" benennen können, eine zentrale Rolle. Die Klasse "Kultur" wird nun aber im Text nicht durch lokal verschiedene, sondern durch temporal verschiedene Kulturen besetzt; von den vielen möglichen Implikationen von "Kultur" bzw. "Natur" wird demnach zunächst vor allem eine als relevant gesetzt: (22) (Kultur m Wandel) vs (Natur Konstanz) 5 "Natur" ist das, was sich in der Zeit gleich bleibt; "Kultur" ist das, was sich in der Zeit ändert. "Kultur" ist primär "Geschichte" ("Geschichte vs Natur" ist im deutschen 19. Jhdt. überhaupt eine relevante -Opposition — "Geschichte" gehört zu den zentralen Kategorien, in denen diese Kultur denkt.) Schematisch: (23) sukzessiv Kultur A ^ vs Kultur B vs KULTUR (~ Geschichte) temporal NATUR atemporal simultan Wenn wir dennoch "Kultur" und nicht "Geschichte" zur Bezeichnung 'dieser textuell relevanten Klasse wählen, so rechtfertigt sich das da-durdi, daß diese Klasse hier noch weitere wichtige Implikationen hat. \Venii wir die Opposition "Natur vs Kultur" im Text weiter verfolgen, so lassen sich ihr auch noch ganz andersartige Sachverhalte, dartniter solche, von denen aus allein man schwerlich auf diese Katego-risicrung verfallen würde, subsumieren. Schon der Term "Marmor-knabe", mit dem das zentrale Objekt der Handlung benannt wird, vereinigt beide Klassen in sich. Denn "Knabe" impliziert die Merkmale ."batetit" und "natürlich", "Marmor" die Merkmale "unbelebt" und "kulturell", insofern es sich um ein Kunstprodukt handelt, dessen prmiire (Knabe, Jüngling) und sekundäre Signifikate (Liebe oder 426 427 •A" Tod) freilich "natürlich" sind. Die menschlichen Figuren des Textes, die Gärtner, Julia, Simon, sind ihrerseits — in je verschiedenem und in der Reihenfolge der Nennung zunehmendem Ausmaß — sowohl mit "Natur" als auch mit "Kultur" korreliert. Denn dem ersten Bereich gehören sie als Menschen notwendig an, dem zweiten aber durch Wissen und Bildung. Die Gärtner sind immerhin imstande, das Objekt als Götterstatue zu identifizieren, Julia ist gebildet, Simon sogar gelehrt. Diese quantitativ verschiedene Teilhabe an "Kultur" basiert ihrerseits auf einer doppelten Opposition (24) Sozial nieder (« weniger Kultur) vs sozial hoch («^ mehr Kultur). (25) Weiblich (« weniger Kultur) vs männlich (ä* mehr Kultur). ' (Auch unabhängig vom Wissensgrad neigt die kulturelle Semantik des 19. Jhdts zweifellos dazu, den beiden Geschlechtern einen je verschiedenen Anteil an "Natur" und "Kultur" zuzuschreiben (kW 9). D.is "Weib", um in der Sprache dieser Kultur zu reden, wird demnach gern eher mit "Natur", der Mann eher mit "Kultur" korreliert. Grob gesagt werden dabei dem Paar Frau/Natur Kontinuität und Konstanz, Rezeptivität, Vereinigung, Denken in amorpher Einheit, das Konkrete, dem Paar Mann/Kultur Diskontinuität und Wandel, Produktivität, Trennung, Denken in Unterscheidungen, das Abstrakte zugeordnet11. In unserem Text ist dementsprechend der Frau Liebe/ Vereinigung, dem Manne Tod/Trennung als physisches und psychisches Verhalten zugewiesen. Auch erscheint "kulturell" in Zeichen und Deutung getrennt, was als Manifestation derselben "natürlichen'' Macht gesetzt wird: die Liebe und der Tod. Doch wollen wir auf diesen Hypothesen über das kulturelle Wissen kW 9 nicht insistieren, da i wir daraus keine weiteren Folgerungen ziehen werden.) Dem Komplex Natur/Kultur können wir aber auch etwas subsumieren, das wir bislang praktisch noch gar nicht in die Analyse einbezogen haben: nämlich Finder (Gärtner) und Fundort (Weinberg) der Statue. Auch hier müssen wir schließlich nach der Funktion dieser Wahl aus der Menge paradigmatischer Alternativen fragen, Denn wenn wir schon annehmen wollen, daß die Statue sich unter i der Oberfläche befinden muß und somit nur durch Graben gefunden ) werden kann, so hätte der Text diese Tätigkeit doch z. B. durch i Bauern auf dem Felde oder durch Handwerker beim Hausbau beset-+ zen können: wir können, anders formuliert, eine Art intellektuellen * Substitutionstest machen und fragen, was sich bei solcher alternativer Wahl geändert hätte, um die Funktion der faktischen Wahl zu rekon-r struieren. Im Rahmen der bisherigen Hypothesen würde das Produkt - der Handwerker ein kulturelles (Haus), das Produkt der Bauern ein natürliches (Früchte) sein. Auch das Produkt der Weingärtner ist insofern freilich ein natürliches (Weintrauben bzw. — in verarbeiteter lY>rm — Wein; da auch andere mögliche Feldfrüchte verarbeitet wer-. den können, konstituiert dieses Merkmal nicht notwendig einen Unterschied). Diesmal müssen wir kulturelles Wissen wiederum in inter-pretatorischer Funktion — d. h. nicht nur als Beleg textexterner Bezü-; ge, sondern als interpretatorische Prämisse — verwenden (kW 10). "\Vein" unterscheidet sich in dieser Kultur von anderen Produkten ; des Ackerbaus dadurch, daß er als nicht lebensnotwendiger Luxus 1 gilt: er ist eine Verfeinerung, die über das "natürlich" Notwendige : hinausgeht und somit den Einfluß von "Kultur" auf eine Lebensweise \ anzeigt. Ersteht dabei im übrigen nicht nur in Opposition zu "Wasser", iim Getränk, das als das per se "natürliche" gilt18; er steht auch in Opposition etwa zur "Milch"13 als dem Getränk eines "einfachen ". L:bens", d. h. eines Lebens, das als der "Natur" noch näherstehend '. gilt. Ob der Gebrauch von "Wein" als einem Getränk, das in der . Reihe möglicher Getränke auf der Skala zwischen den mehr natür-..hen und den mehr kulturellen eindeutig bei den letzteren angesie-de't ist, seinerseits als positiv oder negativ interpretiert wird, braucht uns für unseren Zweck nicht zu interessieren: "Wein" selbst ist jeden-.falls wiederum eine komplexe Kombination aus "Natur" und "Kultur", Schon daß es "Gärtner", nicht etwa "Bauern", sind, die ihn her-vorbringen, würde diese Kombination belegen: "Garten" ist seinerseits " Vgl. in der Goethezeit z. B. Humboldt 1795; dazu Wiinsdi 1975, Kap. 10.2. Albrecht 1851, S. 21: "das vollendete Ges^inf ch-r Natur das Weib", Bachofen 1861, dieser charakteristische Mythei-.sdu.pl« des \ >. Jiwt», belegt die Zuordnung Frau/Natur, Mann/Kultur iniin« vicd.-r - so l. o. 48 f. j» Hufeland, S. 319: "Das beste Getränk ist Wasser..." J, i»u<^-m VS ^T*1 Hufeland> S- 329: "Milch, ein treffliches Nahrungs-mnel , milde und kühl, daher für Kinder und junge Leute so gesund" - - i t "iIe GruPPen> denen « am entschiedensten vom Alkohol ab-. . liefen (S 39) ordnet "Milch und Honig" als "keusche Opfer» einer Alt2u ~ lhnen gegenüber ist der Wein, der sinnliche Lust errege. 428 429 ein Term, der etwas bezeichnet, was "Natur" und "Kultur" verknüpft. Wir hätten damit wohl hinreichend gezeigt, daß Relationen von "Kultur" und "Natur" im Text relevant sind. Bevor wir diesen Punkt freilich weiter verfolgen, werden wir zunächst einen unserer Belege rechtfertigen müssen. Denn während "Gärtner", und somit implizit "Garten" als das ihnen zugeordnete Tätigkeitsfeld, im Text belegt ist, ist es "Wein" nicht. Und das unmittelbare Produkt der Gärtner sind allenfalls die Trauben, nicht aber notwendig der Wein, zu dem sie: verarbeitet werden können. Was also kann uns legitimieren, mit einem absenten Term zu argumentieren? Wir werden zeigen müssen, daß er trotz seiner Absenz in der Struktur des Textes logisch impliziert ist und funktionalisiert wird. Das Produkt "Wein" steht zu Gärtnern/Weinberg in einer Relation, die wir — unter Generalisierung des rhetorischen Begriffes — als metonymische benennen können: Gärtner/Weinberg gehören in die Klasse der Ursachen, Trauben/Wein in die Klasse der Wirkungen. Solche metonymischen Relationen von Termen sind in verschiedenster Form in unserem Text relevant; doch davon später. Einstweilen greifen wir nur einen Fall solcher Relationen heraus, der dem unseren umgekehrt-symmetrisch entspricht und zudem den Wein mit dem zentralen Objekt, dem Knaben, korreliert. Denn bei den Gärtnern fehlt das Produkt ihrer Tätigkeit, bei der Statue ihr Produzent: (26) Gärtner/Weinberg : Statue : : Produzenten ohne Produkt: Produkt ohne Produzenten. Gärtner/Weinberg und Statue sind (syntaktisch) verknüpft: statt Wein/Trauben, die sie hervorbringen wollen, bringen die Gärtner die Statue hervor. Im einen Falle fehlt das eigentliche Produkt, im anderen Falle der eigentliche Produzent: der Wein ist durch die Sta-: tue, der Künstler, der sie verfertigte, durch die Gärtner ersetzt: (27) Gärtner : ? (= Wein) : : ? (= Künstler) : Statue. Dann aber liegt die Hypothese nahe, daß das "eigentliche" Produkt der Gärtner und ihr "uneigentliches" Produkt etwas miteinander gemeinsam haben, d. h. partiell äquivalent sind (von "Trauben" sehen wir im folgenden gänzlich ab, da sich diese Hypothese für sie niiht, wohl aber für den "Wein" bestätigen läßt). Wiederum müssen wir auf kulturelles Wissen zurückgreifen (kW 11). "Wein" gilt dieser Kultur als etwas, das, mäßig genossen, zu einer Steigerung und Potenzicrung des Lebens führt: er ist insofern der "Liebe" äquivalent. Der "Milch" als eher beruhigendem oder doch wenigstens neutralem Getränk steht "Wein" als anregendes Getränk gegenüber14: er soll die Lebenskräfte physisch Geschwächter heben; er soll erotisch stimulierend wirken, d. h. zur Ausführung von Liebesakten anregen (noch heute ist bekanntlich der Glaube verbreitet, man könne spröde Partner durch Alkohol "enthemmen"). Übermäßig genossen führt "Wein" in diesem Denksystem aber zu abgeschwächtem Leben: nicht nur scheint der Betrunkene auf die animalischen Funktionen reduziert, sondern der . übermäßige Gebrauch führt auch zu Müdigkeit und Schlaf. "Schlaf" aber ist seinerseits — nach einem verbreiteten abendländischen Topos (kW 12) — mit "Tod" korreliert: als abgeschwächter Tod ist er auch ein abgeschwächtes Leben. Eine Korrelation von "Wein" mit "Liebe" einerseits, mit "Tod" andererseits läßt sich aber auch auf andere Weise belegen. Zum selbstverständlichen Wissen der "Gebildeten" in dieser Kultur gehört eine minimale Kenntnis der Antike und ihrer Mythologie. In dieser aber gibt es eine primär mit dem Wein korrelierte Gottheit: Dionysos (kW 13). Dieser Gott bringt den Wein mit sich. (Zu seinem Gefolge gehört übrigens auch Priap, die phallische Gottheit, deren symbolische Bilder in der Antike gern im Weinberg aufgestellt wurden.) Dionysos selbst ist eindeutig auch mit "Liebe" als Steigerung des Lebens und "Tod" als Abschwächung des Lebens korreliert: in den -ihm gewidmeten Orgien und Mysterien liegt beides nahe beieinander'5. Wir erhalten somit 14 Hufeland, S. 159, empfiehlt den Wein, falls wir eine "Exaltation UBseres Lebensgefühls" brauchen. "Der Wein erfreut des Menschen Herz, aber er ist kein Nahrungsmittel und keineswegs eine Notwendigkeit zum langen Leben; denn diejenigen sind am ältesten geworden, die ihn nicht tranken. Ja er kann als ein reizendes, die Lebenskonsumtion besdileuni-gendes Mittel, das Leben sehr verkürzen, wenn er zu häufig und in zu großer Menge getrunken wird. Wenn er daher nicht sdiaden und ein Freund des Lobens werden soll, so muß man ihn nicht täglich und nie im Übermaß trinken, je jünger man ist, desto weniger, je älter desto mehr." (S. 322); "Wci'i ist das größte Stärkungs- und Belebungsmittel, und kann daher bei grolW Sdiwäche, Ermüdung, Traurigkeit, bei Ohnmächten oder Krankheiten der Schwäche am schnellsten die Kräfte heben" (S. 370). Albrecht ■(z, B. S, 130) empfiehlt mehrfach den Wein bei mangelndem Triebleben. .Und schließlich Bachofen: er spricht von dem "sinnlichen Taumel erregendem Weine" (S. 39), führt aus: "Honig und Milch gehören dem Muttertum, «ei Wein dem männlichen dionysischen Naturprinzip" (S. 86). Ir Zu Dionysos und Wein vgl. Bachofen: "Das sinnliche, die Geschlechter ■zur Zeugung begeisternde Feuer des Weines hat Dionysos unter Göttern und - Menschen den Sieg errungen." (S. 321). 430 431 (28) [Gott : Dionysos] I WEIN zweideutige Ursache mäßig genossen gesteigertes Leben übermäßig genossen abgeschwächtes Leben : extrem gesteigertes • Leben LIEBE : extrem abgeschwächtes Leben TOI) zweideutige Ursache GOTT Gott der Liebe Gott des Todes "Wein" ist also eine ebenso zweideutige Ursache wie der Gott, den die Statue abbildet: auch bei ihm sind alternative Folgen möglich, .lie, wenn sie auch semantisch ein großer Abstand trennt, faktisch dodi nahe beieinander liegen, da ein geringes Mehr oder Weniger vu oppositionellen Folgen führt. Der Wein, der über der Erde wächst und vergleichsweise "natürlicher" ist, da er "Leben" impliziert, und der Gott, der unter der Erde liegt und vergleichsweise "kultureller" ist (Statue = Nicht-Leben), haben also hinreichend vieles gemeinsam, um den Fundort der Statue als nicht zufällig erscheinen zu lassen, (Aufgrund der Homologien (26) und (27) haben wir gefragt, was das absente eigentliche (Wein) und das präsente uneigentlkhc (Statue) Produkt der Gärtner verbindet. Logischerweise muß auch umgckelirt gefragt werden, was absenten eigentlichen (Künstler) und präsente 432 uneigentliche (Gärtner) Produzenten der Statue verknüpft, doch führen wir diesen Punkt nicht aus. Angemerkt sei nur, daß den — ebenfalls nur angedeuteten — Oppositionen zwischen Wein und Statue homolog solche zwischen Gärtner und Künstler entsprechen, wie den Gemeinsamkeiten von Wein und Statue solche zwischen Gärtnern und Künstlern entsprechen. Sowohl die Gruppe Gärtner-Wein als auch die Gruppe Künstler-Statue verbindet Natur und Kultur, aber die Verbindung ist im ersten Falle zugunsten der Natur, im zweiten zugunsten der Kultur akzentuiert.) Die Serie unterschiedlich akzentuierter Kombinationen von "Natur" und "Kultur" setzt sich auch in der asymmetrischen Benennung — "Amor vs Tod" — der Gottheit durch die Deuter fort. Die Frage, "welcher Gott es sei", ist eine Frage nach dem Namen: erwartbar ist demnach ein Name der antiken Mythologie, wie ihn Julia nennt. Simon hingegen antwortet mit einem normalsprachlichen Term, der kein Göttername ist. Da nun der Gott metonymisch für einen menschlichen "natürlichen" Zustand steht, als dessen Ursache er mytholo-gisch-"kulturell" gilt, benennt Julia zwar die Gottheit "eigentlich", aber nur tropisch-"uneigentlich" den menschlichen Zustand, während Simon einen menschlichen Zustand "eigentlich" benennt, was freilich gegenüber dem geforderten mythologischen Namen "uneigentlich" ist: (29) Benennung der Gottheit durch die Deuter: Julia: "Amor" Simon: "Tod" ( = kulturell-variabler Name) (= natürlich-invariante Sache) 'mythologisch": "eigentlicher" Name-vs-"uneigentlicher" Name [kulturell) (faktisch ein Göttername) (nicht Name einer Gottheit) «h(ci- lothcb": "uneigentlicher" Name ■ («iliirlich) (nicht Name für menschlichen Zustand) —"eigentlicher" Name (Name für menschlichen Zustand) Julia benennt eine mythologische Größe, Simon eine ontologische. Julias "eigentliche" Benennung benennt freilich etwas, das, da die antiken (lötter nicht mehr geglaubt werden, nur mehr ein Tropus sein, nur mehr als Figur in "uneigentlicher" Rede fungieren kann. Simons 433 "uneigentliche" Benennung bezeichnet hingegen einen kulturunabhängigen "eigentlichen" Sachverhalt. Julia verringert einerseits den Abstand zum fremden Objekt, indem sie es bei einem "eigentlichen" Namen nennt; sie vergrößert ihn damit andererseits, da der Gott, der Gegenstand der Statue, sich dadurch als ein Fremdes und nicht mehr Geglaubtes erweist. Simon verringert seinerseits den Abstand zum Objekt, insofern er, was es darstellt, als vertrauten menschlichen Zustand benennt, und er vergrößert ihn, indem er ihm seinen ursprünglichen Namen verweigert und seine Identität nicht anerkennt. Wir halten beiläufig die Verteilung der Textfiguren unter dem Aspekt des Namens fest: (30) Gärtner ohne Namen Julia Kollektiv Simon mit Namen Knabe Einzelindividuen Name gegeben Name gesucht - Name pseudohistorisch Name fiktiv Name mytholoid'.di menschlich nicht-men-;dilidi Subjekte des AuffindUngs-/DeutungsproZesses Objekt dieses Prozesses Frage Frage/Antwort Antwort Der Text baut eine komplexe Ordnung der ^ stimmten Aspekten stehen die Gärtner allen anderen gegenüber. (31a) Gärtner vs (Simon, Julia, Knabe). 434 ■• ';:lßili^^^B Unter anderen Aspekten steht der Knabe allen anderen gegenüber- (31b) (Gärtner, Simon, Julia) vs Knabe. Aus diesen beiden Zweiteilungen ergibt sich eine dreigliedrige Ordnung, deren mittleres Glied, wie der Vergleich Simons und Julias zeigte, nochmals in zwei oppositionelle Klassen unterteilt ist: (31c) Gärtner vs (Simon vs Julia) vs Knabe. Die Frage nach dem Namen ist eine Frage nach der Identität. Das Kollektiv bleibt anonym: nur die unterschiedenen einzelnen Individuen haben Namen. Aber nicht alle Namen sind gleichwertig. Simons Name ist unbekannt: über ihn gibt es keine kulturellen Propositionen. Ihn zu kennen, besagt nichts über die Person. Julias Name hingegen ist einer individuellen Geschichte äquivalent. "Amor" ist eine überindividuelle göttliche Macht einer bestimmten Kultur, bekannter noch als Julia. "Tod" schließlich, der Name, der eigentlich keiner ist, benennt das bekannteste und generellste Phänomen. Die syntagmatische Reihenfolge im Auftreten der Namen ist also nach der Aussagekraft der Namen bezüglich ihrer Träger und nach der Generalisierbarkeit dessen, was sie repräsentieren, geordnet: (31d) (Gärtner) — Simon — Julia — Amor — (Tod). Am Anfang steht das Unterindividuelle, am Ende das Überindividuelle. (Die Reihenfolge Julias und Simons in solchen Ordnungen kann, wie schon (18) zeigte, unter verschiedenen Aspekten verschieden sein.) Dir Name ist eine kulturelle Größe: er zeichnet eine natürliche Größe in eben dem Ausmaß vor anderen natürlichen Größen aus, in dem ihm .kulturelles Wissen entspricht. An den Extremen der Skala findet sich einerseits das namenlose Kollektiv, andererseits der Begriff, der abstrakt einen natürlichen Zustand zeichnet. Dazwischen liegen die in verschiedenem Ausmaß kulturell individualisierten Figuren. "Natur" und "Kultur" das Invariante und das Variable, sind hier • also an verschiedenen Termen in verschiedenem Ausmaß beteiligt. "Gi'schichte'VVeränderung in der Zeit als konstitutives Merkmal von "Kultur" kann sich nach "natürlichen" Modellen ("Tod", "Wiedergeburt") abspielen oder doch zumindest so interpretiert werden. Der tote Gott war die kulturell angenommene Ursache eines natürlichen omens: als nicht mehr geglaubter, ist er nur mehr eine Pseudo-'. Ursache, die anstelle einer unbekannten oder doch ungenannten Ur-■ sachc steht. Nicht als Ursache erweist er sich, sondern als Wirkung: . all, Produkt der Kultur, die ihm Einfluß über sich einräumte. Die ; Statue sollte Zeichen eines Gottes sein, d. h. einen Gott bedeuten, der • mit seiner Abbildung nicht identisch war. Dieser Gott bewirkte real 435 die ihm metonymisch zugeordneten Phänomene. Im Text ist nicht von "bedeuten", sondern von "sein" die Rede: "welcher Gott es sei", "Amor bist du", "ist der Tod". Die Statue bedeutet nicht mehr den Gott; sie ist der Gott, da ihm als ungeglaubtem keine Realität außerhalb seiner Abbildung mehr zukommt. Umgekehrt aber bewirkt er nicht mehr die mit ihm korrelierten Zustände; er bedeutet sie nur mehr. Diese Zustände, der "Tod", von dem Simon spricht, die "Liebe", die Amor impliziert, haben jetzt keine Ursache mehr. Aber die beiden Terme sind ihrerseits metonymisch zirkulär: sie können sowohl die Ursache eines Zustandes wie diesen Zustand als Wirkung bezeichnen. Der Gott selbst war aber immer schon eine zweideutige Ursache, die sowohl das gesteigerte wie das abgeschwächte Leben hervorbringen konnte; ebenso eine zweideutige Ursache ist, wie wir sah.n, d.-r Wein, t Offenkundig sind in diesem Text die metonymischen Rclaiio'ien "gestört". Wenn wir die Fälle, die sich an Hand des Gottes und der ihm korrelierten Zustände überlagern, wieder unterscheiden, dann erhalten wir vier Varianten solcher Störung: (32a) Pseudometonymische Relation: zwei Terme a und b sind so korreliert, daß sie sich wie Ursache und Wirkung zueinander verhaken, ohne Ursache bzw. Wirkung von einander zu sein (so z. B. Gott—menschlicher Zustand). (32b) Zirkuläre metonymische Relation: ein Term x he/cuhnei zugleich eine Ursache a und eine Wirkung b (so /.. B. Tod als Ereignis — Tod als Zustand). (32c) Zweideutige metonymische Relation: ein Term x ist Ursache sowohl einer Wirkung a wie einer Wirkung nun-a (so z. B. Gott-Liebe/Tod). (32d) Metonymischer Statuswechsel zwischen Signifikant und Signifikat: ein Term x erscheint in einem Kontext a als Zeichen einer Realität, in einem Kontext b selbst als Realität (so z. B. Gott/Statue in der Renaissance — Gott/Statue in der Antike). Für solche Relationen ließen sich im Text und seinen Relationen zu den von ihm aufgebauten bzw. implizierten Kontexten (antike Mythologie, Renaissance, Shakespeare) weitere Beispiele finde i, worauf wir aus Raumgründen verzichten. Ausgenommen ist der; F.ill (32d), auf den wir zurückkommen werden. (Die Nennung von 02d) in dieser Reihe mag verblüffen; sie soll daher wenigstens vorläufig gerechtfertigt werden. Einerseits subsumiert seit je die Rhetorik, deren Bekanntheit im 19. Jhdt. man bedenkenlos voraussetzen darf, der Metonymie auch Substitutionen zwischen Zeichen und Bezeichnetem (kW 14). Andererseits ist dieser Fall mit den anderen in der Textstruktur engstens verknüpft, wenn etwa eine früher geglaubte Realität, die als Ursache von Zuständen galt, zum bloßen Zeichen dieser : Zustände geworden ist, das von menschlichen Urhebern bewirkt ! wird.) Die Relationen zwischen Ursachen und Wirkungen sind in ; diesem Text also Problem geworden, wofür auch die Homologien ' (26) und (27) ein Beispiel abgeben. Was die Gärtner hervorbringen • wollen, ist eine mögliche Ursache gesteigerten/abgeschwächten Lebens; . was sie faktisch hervorbringen, ist ein Zeichen gesteigerten/abge-t* schwächten Lebens. Wie die eigentliche Wirkung der Gärtner fehlt, so • fehlt die eigentliche Ursache der Statue. Sie existiert ohne Spur ihres . Urhebers, wie auch der Text, in dem von ihr die Rede ist, ohne - Spuren seines Urhebers existiert — kein Ich manifestiert sich gramma-'; tisch in diesem Text. Wie den realen menschlichen Zuständen ein I'seudo-Verursacher zugeordnet ist, so sind dem Zeichen dieser Zu- • stände Pseudo-Verursacher zugeordnet. Die natürliche Realität "Lie- ■ be'V'Tod" verlangt ebenso nach einer erklärenden Ursache wie die ; kulturelle Realität "Statue". Bei der kulturellen Realität weiß die i Kultur, daß nur ein menschlicher Urheber in Betracht kommt, der j aber unbekannt ist; bei der natürlichen Realität ist ein Urheber 5 bekannt und gegeben, der aber nicht in Betracht kommt. Die von einer , Kultur angenommene Ursache eines natürlichen Phänomens erweist 1 sidi der anderen Kultur als bloße Fiktion: insofern der Gott Ursache ik* menschlichen Zustandes sein sollte, ist er Zeichen einer unbekann-' teil Ursache geworden. Ein umgekehrtes Problem betrifft aber auch ' die möglichen Wirkungen eines Sachverhalts. Jeder gegebene Sach-, vcrlult kann "Folgen" haben, doch müssen diese Folgen keineswegs \ audi Wirkungen von ihm als Ursache sein. Die im Text Meyers dar-1 ^gestellte Situation liegt Julias Geschichte bei Shakespeare zeitlich .roraus: eine Korrelation von Liebe und Tod, die bei Meyer zeichen-gegeben ist, wird bei Shakespeare "Realität". Doch dieses Nacheinander impliziert keineswegs eine Kausalbeziehung: der Fund der ■ jStatue kann nicht einfach für Julias Schicksal verantwortlich gemacht . ,'widcn (wenngleich natürlich solche Objekte in der Kultur des ,; 19. Jhdt. mehrfach, obwohl eigentlich unbelebt, die Rolle eines gefähr-""lidien Objektes spielen10). (Das Metonymieproblem hat also ontolo- T" " SoU.c gefährlichen Wirkungen alter Kultobjekte bzw. Götterstatuen *ji,'ttw.i in Merimees "Venus d'IUe" oder Eichendorffs "Das Marmorbüd", auf ■: • 436 437 •«■«±4 gisch-metaphysische Implikationen. Im Hintergrund dürfte u. a. die Frage stehen, ob für das natürliche Produkt ebenso wie für das kulturelle ein personaler Urheber verantwortlich gemacht werden kann: als ein solcher wird der Gott vorgeführt, der sich freilich als sterblich und als Pseudo-Ursache erweist. Ohne die Annahme einer solchen metaphysischen Instanz muß sich allerdings das "Natürliche" tatsächlich selbst erklären: "Natur" als Produktivkraft bringt dann "Natur" als Produkt hervor — Liebe/Tod bewirkt Liebe/Tod. Ein solcher metonymisch zirkulärer Gebrauch des Naturbegriffs ist nun mindestens seit dem 18. Jhdt. überall dort gut belegbar, wo zugleich auf die Annahme personaler metaphysischer Instanzen verzichtet wird.) Im Text wird eine Kultur dargestellt, die einen "Text" einer vergangenen Kultur wieder belebt und deutet. Die Kultur der Deuter des "Textes" ist aber für die Kultur des Textes selbst schon eine» vergangene, die der Text ebenfalls wieder belebt (das Präsens der Darstellung!) und wenigstens implizit deutet, indem er sie in einer repräsentativen Situation vorführt. Zur Renaissance verhak sich der Text, wie sich einerseits Julia, andererseits Simon zur Antike verhält: einerseits reduziert der Text einen Abstand durch Wiederbelebung, andererseits erhält er einen Abstand aufrecht, indem er keinerlei emotionale Annäherung vornimmt. Seine Relation zur Kultur der Deuter vereinigt in sich also Merkmale, die die Relationen der beiden Deuter zur gedeuteten Kultur unterscheiden. Entsprechend vereinigt er ihre unterschiedlichen Deutungen zu einer neuen Bedeutung, über die wir gesprochen haben. Der "Text" der Statue ist ein Kunstpradiikt ohne Spuren seines Autors: der Text ist eine Rede ohne Spuren eines . Sprechers. Der Marmorknabe ist der im Text dargestellte •'Text'': "Der Marmorknabe" ist der Titel des Textes. Diese Menge von I to-mologien impliziert recht komplexe Ordnungen, die wir «sukzc« v > rekonstruieren wollen. Zunächst einmal läßt sich folgern, daß für den i Text nicht nur die im Text dargestellten Kulturen, sondern auch die, der er selbst angehört, relevant sind: (33) 19. Jhdt.: (Renaissance + Antike) : : Renaissance : Antike. Wir stellen diese Ordnung schematisch dar: (34) ANTIKE vs RENAISSANCE das im übrigen "Der Marmorknabe» in einer früheren Fassimg («Das Marmorbild") direkt anspielte. vergangen tot polytheistisch rekonstruiertes Objekt gegenwärtig lebend/wiederbelebend christlich rekonstruierende Subjekte ANTIKE + RENAISSANCE vergangen tot religiös rekonstruiertes Objekt 's 19. Jb. gegenwärtig lebend/wiederbelebend ? rekonstruierendes Subjekt Per gegenwärtige Text rekonstruiert Vergangenes, das, als es gegenwärtig war, Vergangenes rekonstruierte. (33) basiert auf beliebig wiederholbaren Prozessen des Vergehens und Vergegenwärtigens: dann aber ist in der Logik des Textes die Serie (33) nicht abgeschlossen, sondern fortsetzbar: der Text selbst und seine Kultur sind ebenfalls nur vorläufige Gegenwart, die in der Zukunft Geschichte werden wird — mögliches Objekt einer Rekonstruktion durch andere — so . etwa eben jetzt durch uns. Der Text historisiert sich selbst. In dieser Logik ist es dann auch einleuchtend, daß "unten" in (19) nicht nur d.»s gegenüber der Gegenwart Vergangene, sondern auch das Zukünftige ist: jede Zukunft macht die Gegenwart ohnedies vergangen. Der Text selbst setzt sich also als Glied einer unabgeschlossenen Geschichte. Wir sahen, wieviele Textterme sowohl an Kultur als auch an Natur partizipieren. Wir sagten, Kultur sei das Variable, Natur das Unva-riante. Aber es gilt im Text auch, daß das einzelne konkrete Phänomen des kulturellen Bereichs überleben kann, während das einzelne konkrete Phänomen des natürlichen Bereichs den Tod erleidet. Nicht die Natur stirbt, wohl aber das natürliche Individuum; nicht die Kultur überlebt, wohl aber das kulturelle Individuum. Es gilt somit; h) Dem Tod unterworfen vs Nicht dem Tod unterworfen Kultur als Klasse Natur als Klasse Natur als Individuum Kultur als Individuum Insofern Julia ein natürliches Individuum ist, stirbt sie; insofern sie "i . . «k Kunstprodukt Shakespeares kulturelles Individuum ist, überlebt sie. Insofern die Statue die Mythologie einer Kultur repräsentiert, 438 439 stirbt sie mit dieser Kultur; insofern sie individuelles Kunstprodukt ist, überlebt sie ihre Kultur. Die Mythologie überlebt allenfalls als Wissen der Gebildeten einer Kultur über eine andere Kultur; das Kunstprodukt kann, wie Julias Verhalten zur Statue zeigt, noch unmittelbar auf die spätere Kultur wirken: denn nicht dem Gott gilt primär Julias Interesse, sondern dem abgebildeten Knaben. Greifen wir in diesem Kontext das Problem des Tempuswechsels auf: innerhalb des im Präsens formulierten Textes tritt in Strophe II das Präteritum auf. Genau genommen wäre es das adäquate Tempus der Darstellung, da das Dargestellte gegenüber dem Zeitpunkt der Darstellung vergangen ist. Da der Text aber das Dargestellte im Präsens darstellt, ist dieser Wechsel zum Präteritum eine Abweichung, und das Präteritum selbst ein störendes Tempus, das im Kontext nur für das Verb "sah" gerechtfertigt ist, weil dieses sich auf eine frühere Situation bezieht. Im Text erscheint also das eigentlich adäquate Tempus als uneigentlich-inadäquat. Durch diesen Tempuswechsel neutralisiert der Text den realen Unterschied vergangener und gegenwärtiger Zeit, da beide Tempora sich auf eindeutig Gleichzeitiges beziehen. Sowohl das Kunstprodukt wie das im Kunstprodukt Dar-: gestellte erhalten potentiell eine dauernde Gegenwart. D.is eine i Kunstprodukt, die Statue, demonstriert, daß vergangene Kunst wiederbelebt werden kann; das andere Kunstprodukt, der Text selbst, demonstriert, daß die Kunst Vergangenes wiederbeleben kann. (Historische Anmerkung: Das Tote, Vergangene, Absente, also u. a. Geschichte, gehört im übrigen zu den zentralen Themen der I iroraiur des deutschen Realismus.) Für das Kunstprodukt gilt offenbar, daß es, obwohl selbst eine Wirkung, sich von seiner Ursache, seinem Urheber, ablösen und selbst vielleicht zu einer selbständigen Ursache werden kann; dies dürfte die Funktion der fehlenden Autoren im Falle beider Produkte sein. Unser Text stellt jedenfalls nicht nur etwas dar, demgegenüber er ein beliebiges Medium der Mitteilung wäre. Er ist selbst ein literarischer Text, und er macht bewußt, daß er ein liteiv-rischcr Text ist. Er ist nicht nur ein literarischer Text, der, was er darstellt, funktionalisiert: er funktionalisiert auch, daß er ein literarischer Text ist, der, was er darstellt, funktionalisiert. Er macht die Tatsache, daß er Literatur ist, selbst zu einem Signifikanten. Er funktionalisiert sich selbst durch zwei Klassen von I loniologien, die wir nicht explizit ableiten und in allen ihren Vorkommnissen belegen: ; (35a) Text: dargestellte Realität : : etwasi innerhalb der vom Text j dargestellten Realität : etwas2 innerhalb der vorn Text dar- gestellten Realität. (35b) Text: Realität außerhalb seiner : : etwasi innerhalb der vom Text dargestellten Realität: etwas2 innerhalb der vom Text dargestellten Realität, i: Innerhalb dessen, was er darstellt, baut er also Relationen auf, die den Relationen entsprechen, die er selbst zu der "Realität", die er darstellt, oder zu der "Realität", die außerhalb seiner existiert, entweder faktisch nachweisbar oder potentiell (durch seinen Literaturcharakter impliziert) unterhält. Die erste der beiden Varianten der Homologie haben wir schon exemplifiziert; wir geben daher ein Beispiel für die zweite (siehe auch (7)). Auch eine Homologie des , Typs (35b) bildet der Text im übrigen in sich selbst ab: die beiden , Relationen in (18) sind genau von diesem Typ. Im Text wird ein , "Text" gedeutet: Einem Kunstprodukt stehen also Rezipienten gegen-über. Nun ist der Text selbst ein deutbares Kunstprodukt — somit gilt ; (36) Deuter (Julia + Simon) : "Text" (Statue) : : ? (Leser) : Text. Im Text wird also etwas dargestellt, was für den darstellenden Text selbst relevant ist. Julia und Simon deuten freilich einen "Text", der einer fremden Kultur angehört und etwas aus dieser Kultur, d. h. seiner eigenen, darstellt. Die hypothetischen Leser, die Meyers Text strukturell einplant, würden einen Text deuten, der der eigenen Kultur angehört, aber etwas aus einer fremden Kultur darstellt. Das dargestellte Kunstprodukt bildet aber in jedem Falle etwas ab, das es selbst nicht ist. Als kulturelles Phänomen ist es weder Leben Hoch Tod, aber es kann ein natürliches Phänomen, Leben oder Tod, sowohl Leben als auch Tod, darstellen: es ist selbst ein Nicht-Leben an der Grenze beider. Wenn Bewegung zu den Merkmalen von Leben, S:arre zu den Merkmalen von Tod gehört, so ist die Statue erstarrte Bewegung: sie stellt einen Moment aus einem Bewegungsvorgang eines Knaben dar. Kunst ist eine mediative Größe, die andere Terme verknüpft, auch solche, die untereinander in Opposition stehen: Kultur • und Natur, Kultur und Kultur, Leben und Tod usw. Die Statue ist ^ -ein nicht-sprachlicher "Text", der in einem sprachlichen Text dar-f "gestellt wird; der Text baut also die Opposition (37) Literatur vs bildende Kunst ' auf. Eine Kunstform bildet eine andere Kunstform ab, etwas also, \ mit dem es die Klasse "Kunst" teilt, das aber einer oppositionellen I *Teilklasse innerhalb von "Kunst" angehört. Implizit vergleicht der 440 441 Text somit die Literatur, die er selbst ist, und die bildende Kunst, die er nicht ist, aber darstellt. Einige Merkmale, die sich aus diesem Vergleich folgern lassen, wollen wir festhalten. Die bildende Kunst kann das Gleichzeitige simultan darstellen, die Literatur muß es sukzessiv darstellen. Die bildende Kunst stellt eine Situation dar und kann keinen Zeitablauf darstellen; die Literatur kann Zeitabläufe darstellen. Und während die Literatur nicht Objekt der bildenden Kunst werden kann, kann die Literatur die bildende Kunst zu ihrem Objekt machen und sich zudem selbst noch thematisieren. Gegenüber der Unmittelbarkeit der bildenden Kunst ist die Literatur nur mittelbarer Darstellung fähig: dafür kann sie Metasprache jeder beliebigen Sprache, jedes beliebigen Zeichensystems sein. Der Text ist als Literatur in Relation zur abgebildeten Statue Metatext; er ist dies aber auch in Relation zum implizierten Shakespeare-Text. Eine Relation Literatur—bildende Kunst besteht nicht nur zwischen Text und Statue, sondern auch zwischen Shakespeare-Text und Statue, zwischen Literatur der Renaissance und Kunst der Antike wobei sich die Signifikate der ersteren zu denen der letzteren wie (Pseudo-)Wirkung (Liebe/Tod Julias) zu (Pseudo-)Ursache (Gott der Liebe/des Todes) verhalten. Unser Text handelt von der Relation zweier Größen innerhalb des Bereiches "Natur", von der Relation der anthropologischen Invarianten Liebe und Tod, und er handelt von der Relation '/wischen dem Bereich "Natur" und dem Bereich "Kultur". Formal baut er■'■ damit eine Relation vom Typ der Homologie (35) auf: (38) Etwasi in Natur : Etwas2 in Natur : : Natur : Kultur. Denn wenn Liebe zu Vereinigung und Ununterschiedcnheh, Tod zu Trennung und Unterschiedenheit tendiert, so gilt das erstcre wiederum eher von "Natur", das letztere eher von "Kultur". In der '"Natur" hat schließlich Gemeinsamkeit, was von der "Kultur" unterschieden und getrennt wird. Die "Natur" bleibt sich immer gleich: in "Ivulcur" stehen sich verschiedene Kulturen gegenüber. Wenn aber (35) und (38) einander formal entsprechen, so entsprechen einander Relationen in der "Realität" und Relationen in der "Kunst"; die ersteren sind aber von vornherein nur durch die letzteren gegeben. Die Probleine der Kunst sind im Text logisch die hierarchisch übergeordneten. Am je andersartigen Objekt einer je fremden Kultur erkennt man in diesem Text, was für das eigene Selbst und die eigene Kultur gUK Alles, was als Problem der "Realität" vorkommt, ist zudem immer zugleich Problem der "Kunst": Um die Darstellung der Relationen: natürlicher Phänomene in der Kunst, um die Relation der Kunst zu Natur und Kultur geht es, wenn es um diese Relationen in der Realität geht. Es geht um die Struktur der Bedeutung und der Deutung von Kunst. "Wein" und "Statue" haben etwas gemeinsam, die Statue : aber ersetzt den Wein: die Gemeinsamkeit beider wird am eher kulturellen, nicht am eher natürlichen Term, am Zeichen möglicher realer Ursachen, nicht an einer möglichen realen Ursache selbst behandelt. Wie die Statue den Wein, so ersetzt hier von vornherein die Kunst die Realität. Geredet wird über kulturelle Deutungen natürlicher Phänomene, nicht über diese natürlichen Phänomene selbst. Das Unmittel-bare wird nur mittelbar dargestellt — unmittelbar dargestellt wird nur das Mittelbare. Diese Relation von "Kunst" und "Realität" ist der letzte Punkt, auf den wir skizzenhaft eingehen wollen. Wir sagten schon früher, daß die beiden "realen" Figuren, Julia und Simon, in ihren Relationen untereinander den Strukturen des gedeuteten Zeichens in sich ähnlich sind (vgl. die Homologie (6) dazu). Wir fügen einige solche Beziehungen hinzu. Wie die Signifikanten einander angenähert sind, so sind Julia und Simon einander räumlich angenähert. Wie aber die Signifikate maximal getrennt sind, so sind Julia und Simon maximal durch Alter und Geschlecht getrennt. Und wie der Abstand der Signifikate in der Tiefe der Realität reduziert scheint, so ist es auch der Abstand Julias und Simons. Denn kulturell (kW 15)17 gilt auch, daß Kind und Greis einander äquivalent sind und in beiden Zuständen . te Geschlechtsunterschied noch nicht oder nicht mehr relevant ist. "Der Gott, der einst eine Realität war, ist zum bloßen Zeichen geworden ! Julia und Simon, innerhalb der Fiktion des Textes "reale" Figuren, sind de facto auch nur Zeichen in der Gegenwart des Textes. ■ Das Zeichen existiert materiell als Realität und es stellt eine ge-' glaubte oder nicht geglaubte Realität dar. Die komplexe Relation von .' :hen" und "Realität" zeigt sich wieder am besten am Marmor-kiühen selbst. Aus unbelebtem Material (Signifikant 1) ist eine Statue geweht, die eine belebte Realität, einen Knaben, abbildet (Signifikat L). Aber dieser Knabe ist nicht eine um ihrer selbst willen dar-.gctcllte Realität: er ist seinerseits Zeichen (Signifikant 2) einer ursprünglich geglaubten Realität, des Gottes (Signifikat 2). Sobald diese ii-- *• " Zur Äquivalenz von Kind und Greis vgl. die in Anm. 8 zitierte Stelle 'Ins Hufcünd. 442 ™~JllillS 443 Realität ihrerseits nicht mehr geglaubt wird, wird sie zum Zeichen (Signifikant 3) für menschliche Zustände (Signifikat 3) bzw. als solches rezipiert. Schematisch: (39) Signifikant 1 (bearbeitetes Material) Signifikat 2 -»--- (Gott als mögliche Realität) - Signifikat 1 (Knabe mit bestimmten Attributen äi Abbildung einer möglichen Realität) ■ Signifikant 2 (Abgebildeter Knabe als Zeichen) Signifikant 3--- (Abgebildeter Gott als Zeichen) Signifikant 3 (Menschlicher Zustand "Liebe" bzw. "Tod" « mögliche Realität) Jede Realität wird wieder Zeichen; jedes Zeichen stellt wieder eine Realität dar. Jedes folgende Signifikat ist "abstrakter" aU sein Vorgänger, aber auch die letzte und abstrakteste Bedeutung (I.icbe'Tod) wird im Text nochmals Signifikant 4 eines Signifikats 4: "Tod" und. "Liebe" werden Zeichen abstrakter Relationen, die wir als "Abstand/ Trennung/Unterschiedenheit/Destruktion" und "Reduktion von Abstand/Vereinigung/Einheit/Produktion" unischreiben können. Diese Relationen strukturieren die Realität sowohl im Bereich "Natur" wie im Bereich "Kultur". Insofern nun die Statue einen Knaben darstellt ist sie "realistisch": derartige Objekte existieren. Insofern der Knabe einen Gott bcdeitet, ist sie, sobald dieser nicht mehr geglaubt wird, nicht mehr "realistisch" — ihr Gegenstand gehört dann zum "Fantastisch-Unwahrschcinliclien". Was also "realistische" Kunst ist, ist demnach eine Frage des Zeitpunkts — des jeweiligen kulturellen Realitätsbegriffes. Wenn der Gott nicht mehr geglaubt wird, wird die Statue der Gott: die Kunst ist der Realität äquivalent und ersetzt die Realität genau dann, wenn die dargestellte Realität "absent" ist, weil sie "tot" ist: wenn sie nicht wirklich ist, ob durch Vergangenheit oder Fantastik. : Das bloß Fiktive und das Vergangene sind äquivalent: "tot" ist, was nicht real zum jeweiligen Zeitpunkt existiert. Die als Realität 444 vom Text gesetzte Deutungssituation ist sowohl eine vergangene als eine fiktive — Julia hat immer nur in Literatur existiert. Der Text ersetzt eine absente Realität. Wenn aber absente Realität im Zeichen dargestellt wird, wird in dieser Logik erstens das Zeichen mit der Realität äquivalent und zweitens diese absente Realität selbst zum Zeichen. Was unser Text damit aber darstellt, sind Probleme des Literatur- und Kultursystems, dem er selbst angehört: des deutschen Realismus des 19. Jhdts. Denn einerseits etwas darstellen wollen, was adäquat-"realistisch" ist, andererseits etwas darstellen wollen, was Träger einer sekundären Bedeutung, d. h. selbst wieder Zeichen ist: Das macht das Problem dieses Realismus aus. Je genauer er eine Realität darstellt, desto weniger scheint der Text in diesem Sinne etwas zu bedeuten; je mehr das Dargestellte selbst bedeutungstragend wird, desto weniger kann der Text realistisch sein. Denn da die bloße Realität als solche nichts bedeutet, kann auch ihre adäquate Darstellung nichts bedeuten: es muß somit etwas an solcher Darstellung fehlen oder zu ihr hinzukommen — das ist in unserem Text die Absenz der dargestellten Realität in der Situation der Rezeption bezüglich der Statue, in der Situation der Produktion bezüglich des Textes selbst. Insofern unser Text aber mit Problemen des Realitätsbegriffs »und der Realitätsdarstellung zu tun hat, die Probleme seiner Kultur sind, ist er ebenso ein für die Kultur repräsentativer Text, wie die :Statue für ihre Kultur, die Deutungssituation für die ihre repräsen- . tativ ist. :»Mit diesen letzten Bemerkungen haben wir schon die Grenze von 4fA vnd kultureller Situierung überschritten ohne freilich eine erschöpfende TA vorgenommen zu haben; auch haben wir die extrem komplexen Relationen des Textes gelegentlich vereinfacht. Daß übrigens auch für die letzten Argumentationen eine befriedigende Begründung möglich ist, können wir hier nur behaupten. 445 Information und Synthese Herausgegeben von Klaus W. Hempf er und Wolf gang Weiß Michael Titzmann Band 1: Gattungstheorie Band 2: Theoriebildung in der Literaturwissenschaft Band 3: Das Drama — Theorie und Analyse Band 4: Realismus Band 5: Strukturale Textanalyse Band 6: Parodie, Travestie, Pastiche In Vorbereitung sind: Mittelalter Renaissance Aufklärung Metapher Topik Narrativik I: Strukturale Erzähltheorie Narrativik II: Perspektive/Erzählhaltung Lyrik Satire Ballade Autobiographie Utopie Mythos Literatur und Psychoanalyse Literatursoziologie Hermeneutik und Literaturwissenschaft Herausgegeben von Klaus W. Hempfer und Wolfgang Weiß Strukturale Textanalyse Theorie und Praxis der Interpretation Qv/> ^o/ezeJ Wilhelm Fink Verlag München