Eckhard Thiele Wie die Tschechische Bibliothek entstand Ende November 1994 forderte Jiří Gruša mich auf: „Sie müssen das für uns machen, was Karl Dedecius für die Polen gemacht hat! Sie müssen eine Tschechische Bibliothek machen!“ So eine Buchreihe hatte der Dichter schon in den Jahren des Exils herbeigewünscht. Als Botschafter seines Landes konnte er nun den Wunschtraum verfolgen, denn was war den sich entwickelnden deutsch-tschechischen Beziehungen mehr zu wünschen als ein geistiges Forum, wie es eine Tschechische Bibliothek zu bieten vermochte. Gruša hoffte, einen prominenten Sponsor für das Projekt zu gewinnen, der sich großzügig und zielstrebig der Völkerverständigung widmete: die Robert Bosch Stiftung, die auch die seit 1981 erscheinende Polnische Bibliothek finanzierte. Die Tschechische Republik befand sich auf dem Weg in die Europäische Union. Ein guter Zeitpunkt, der Literatur der Nachbarn einen großen Auftritt, vor allem aber einen weithin sichtbaren, bleibenden Platz zu verschaffen. Eine repräsentative Tschechische Bibliothek! Ein Fundament für die Wahrnehmung tschechischer Literatur. Eine Fundgrube für Literaturfreunde, die sich nichts anderes als gute Bücher wünschen. Aber auch eine weites Feld für alle, die in der Literatur Rückschlüsse auf anderes suchen, etwas über Mentalitäten, Kultur, Politik, Geschichte, auch über das Thema Tschechen und Deutsche. Daß mich die Schwierigkeiten einer solchen Edition nicht schreckten, lag an der Zuversicht, die mich seit 1989 beflügelte. Seit mir nichts mehr verwehrt oder erschwert wurde, verwirklichte ich langgehegte Pläne. Wie schön, daß nun auch dieser Traum Wirklichkeit werden konnte. Ich beantwortete Grušas ehrenvolle Aufforderung sofort mit dem Versprechen: „Das mache ich!“ Die tschechische Literatur behauptet sich mit wechselndem Erfolg auf dem deutschen Buchmarkt. In Zeiten politischer Umbrüche, wenn in der Öffentlichkeit Interesse für das Nachbarland erwachte, rückte auch die Literatur ins Blickfeld. So war es Ende der sechziger Jahre und 1989/90, um so mehr, als immer auch Schriftsteller zu den prominenten Akteuren zählten. Václav Havel beispielsweise kannten Leute, die noch nie ein tschechisches Buch in der Hand gehabt, geschweige denn gelesen hatten. Die Literatur unseres Nachbarlandes war mit einmal nicht mehr nur für Kenner von Interesse, und das mag die an östlichen Literaturen meist wenig interessierten, in der Regel nur um Absatz besorgten Verlage bewogen haben, tschechische Bücher ins Programm zu nehmen, selbst Werke, die sonst kaum eine Chance gehabt hätten. In anderen Jahren, wenn solche politischen Impulse fehlten, erschienen zwar neben erfolgreichen Autoren wie Bohumil Hrabal und Milan Kundera, neben gut eingeführten wie Ivan Klíma, Josef Škvorecký und Ludvík Vaculík durchaus auch schwierige Bücher von hierzulande unbekannten wie zum Beispiel Daniela Hodrová, Jiří Kratochvíl, Věra Linhartová und Ivan Wernisch oder Gedichtbände, die trotz berühmter Namen wie Jaroslav Seifert oder Jan Skácel für die Verleger allemal ein Zuschußgeschäft sind. Wenn die allgemeine Aufmerksamkeit erloschen war, hatten die Verlage jedoch wenig Interesse. Gewiß, Jaroslav Hašek und Karel Čapek sind nicht unbekannt in Deutschland, auch von Božena Němcová und Jan Neruda, Vladislav Vančura und Richard Weiner sind im letzten Jahrhundert Werke erschienen. Aber eine auch nur halbwegs kontinuierliche Pflege, die Grundlage für eine tiefergehende, gar umfassendere, gründlichere Rezeption gab es nicht. Eine Sicht aufs Ganze, auf Entwicklungen und Zusammenhänge war ebensowenig möglich wie der Blick auf den Kontext der Werke, die immerhin übersetzt und verlegt worden sind. Während die Prager deutsche Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, nicht nur Franz Kafkas Werk, seit jeher ohne weiteres zugänglich ist, von Max Brod bis Franz Werfel, von Egon Erwin Kisch bis Johannes Urzidil, blieb ihr tschechischsprachiges Umfeld, die Literatur der tschechischen Landsleute und Zeitgenossen, weitgehend unbeachtet. Die Literatur des Landes, mit dem Deutschland die längste Grenze hat, harrte der Entdeckung. Es war hohe Zeit, den Nachbarn durch eine Tschechische Bibliothek näherzukommen. Anfang Dezember 1994 besprach ich das Vorhaben und unser gemeinsames Vorgehen mit meinem Freund Hans Dieter Zimmermann, dem Professor für Neuere Deutsche Literatur am Institut für Literaturwissenschaft der Technischen Universität Berlin. Als Kafka-Forscher und Kenner der Prager deutschen Literatur wußte er um die Lücken und die Einseitigkeit der deutschen Wahrnehmung und hatte mit Peter Demetz, dem Emeritus der Yale-Universität und besten Ratgeber in allen Fragen, die tschechische Literatur betreffend, gelegentlich schon über eine Tschechische Bibliothek gesprochen. Mit Peter Demetz zusammenzuarbeiten, darauf freuten wir uns beide. Schließlich kam noch der Potsdamer Linguist Peter Kosta hinzu. Damit war das fünfköpfige Gremium komplett, das künftig gegenüber Sponsor und Verlag die Verantwortung als Herausgeber zu tragen vermochte: Demetz, Gruša, Kosta, Thiele und Zimmermann. Den beiden letzteren, in Berlin, sollte die praktische Arbeit obliegen. Unser harmonisches Zusammenspiel gewährleistete reibungsloses, rasches Vorankommen. Das Herausgebergremium als solches konnte inaktiv bleiben, ohne Bedeutung für die editorische Arbeit. Anfang 1995 entwarf ich Konzept und Programm der Tschechischen Bibliothek. Eine Sammlung herausragender Werke, die repräsentativ für die tschechische Literatur und – darauf kam es an! – interessant für die deutschen, genauer: die deutschsprachigen Leser sind. Zweieinhalb, höchstens drei Dutzend Bücher, denn so eine Reihe mußte überschaubar sein, anziehend – aber nicht einschüchternd, nicht erdrückend. Das heißt, man mußte auf vieles verzichten – auf viele wichtige Autoren, auf viele bedeutende Werke. Das war schmerzlich, aber unvermeidlich, sonst wäre das Jahrhundertprojekt schon im Entwurf gescheitert. Auch mußten die Schwerpunkte mit Bedacht gesetzt werden. Dichtung – Prosa - Philosophie und Geistesgeschichte: diese drei Abteilungen sollten sein, fand ich. Doch der Prosa sollte am meisten Platz eingeräumt werden, denn hier war die Wahrscheinlichkeit weit größer als bei der Lyrik, daß man die tschechischen Originale durchweg mit gelungenen Übersetzungen vermitteln konnte. Und hier – den Aspekt durfte man nicht geringschätzen – war es am wahrscheinlichsten, daß man einen größeren Leserkreis erreichte. Nachdem Peter Demetz und Jiří Gruša das Programm gebilligt und noch Ergänzungen vorgeschlagen hatten, lud Prof. Zimmermann deutsche und tschechische Bohemisten zur Diskussion ein. Mehrere Bohemisten und Übersetzer boten ihre Mitarbeit an und unser Projekt wurde über die Bohemistenszene hinaus bekannt. 1996 beschloß die Robert Bosch Stiftung, die Tschechischen Bibliothek als Drittmittelprojekt der Technischen Universität Berlin mit einer Million DM zu fördern (spätere Erhöhung auf eine Million Euro, um Veranstaltungen u.a. zu finanzieren). Die Herausgeber übertrugen Prof. Zimmermann die Geschäftsführung. Die Deutsche Verlags-Anstalt (Stuttgart, ab 2000 München) verpflichtete sich, ab Frühjahr 1999 jährlich vier Bände zu verlegen, sie sollten von mir druckfertig zugeliefert werden. Ich übernahm sämtliche redaktionellen Arbeiten und die editorische Leitung. Der Herausgeber der Polnischen Bibliothek Karl Dedecius konnte sich auf das Darmstädter Polen-Institut stützen, und der Suhrkamp-Verlag stellte einen polonistischen Lektor zur Verfügung und besorgte die Redaktion. Anerkennend vermerkte er, das Institut verantworte die polonistische Seite des Unternehmens, der Verlag die germanistische und editorische. (DEDECIUS o.J.: S. 47). Es gab kein Tschechien-Institut, und ein Verlagslektor würde auch nicht zur Verfügung stehen, das war die Prämisse bei der Planung. Mit anderen Worten, ich mußte sowohl die bohemistische Seite des Unternehmens als auch die germanistische und editorische allein verantworten, wenn ich den Wunschtraum von einer Tschechischen Bibliothek verwirklichen wollte. Es war eine unbeschreibliche Arbeitslast, die man sich vernünftigerweise nicht aufbürden dürfte, schon gar nicht für viele Jahre. Ich hatte sie völlig unterschätzt, aber vermutlich ging es mir unbewußt darum, keine Bedenken und Zweifel aufkommen zu lassen, um das Projekt nicht noch zu gefährden. Bedauert habe ich das nie, denn ich sah, daß niemand die vielfältigen Erfahrungen hatte, um meine schwierige und riskante Rolle übernehmen zu können, und daß es auch nicht gelungen wäre, sie auf mehrere Personen aufzuteilen. Unverzeihlich ist nur, daß ich es am Anfang versäumt habe, meine finanzielle Ausstattung als Freiberufler zu bedenken und wenigstens etwas mehr als eine bescheidene Aufwandsentschädigung zu veranschlagen. So hieß das, mehr als zehn Jahre Arbeit mit vollem Einsatz, kräftemäßig und finanziell. Außerordentlich aufwendig war das Kollationieren der Übersetzungen. Ich verglich die Prosatexte Satz für Satz mit dem Original. Manchmal verbesserte ich wenig oder nichts, meistens recht viel, und in einigen Fällen wurde es fast eine Überarbeitung. Das konnte sich ergeben, wenn ein Übersetzer nicht die Kraft gehabt hatte, seine Konzeption bis zum Schluß umzusetzen, oder wenn sich in einer alten, im wesentlichen stimmigen und deshalb verwendbaren Übersetzung doch noch Ungenauigkeiten und Mißverständnisse aufspüren ließen. Dann lohnte sich die Mühe, die Arbeit des Übersetzers diskret zu vollenden und seine Handschrift nicht verlorengehen zu lassen. Wie lohnend das sein kann, dafür sei hier als Beispiel der Nachdruck einer alten Übersetzung erwähnt: Ivan Olbrachts Novelle „Von den traurigen Augen der Hana Karadžičova, „die August Scholtis, der zu Unrecht als Regionalist abgetane schlesische Erzähler, in ein erzern gehärtetes Deutsch gebracht hat“, wie Karl-Markus Gauss schreibt. (GAUSS, 2001). Offenbar hat die Übersetzung den Rezensenten so beindruckt, daß er den Hinweis auf die „verbesserte Fassung“ für nebensächlich hielt. Ich beriet die Übersetzer, wenn sie in Schwierigkeiten steckten; dieses kollegiale Eingreifen wurde von allen geschätzt, es war eine für beide Seiten ergiebige und angenehme Zusammenarbeit. Ich korrigierte oder schrieb die Nachworte, korrigierte oder verfaßte die Anmerkungen, besprach die satztechnischen Probleme mit der Setzerin, las Korrektur, machte die Endredaktion, und wenn alle Korrekturen gesetzt waren, bekam ich die Druckbögen nochmals zur Durchsicht. Ich schrieb die Klappentexte, die Texte für die Verlagskataloge sowie ausführliche Informationen für die Programmleitung des Verlages, informierte die Herstellerin und die für die Buchgestaltung zuständige Graphikerin, schickte ihr, mit ausführlichen Erklärungen, die Kopien der tschechischen Gemälde, die ich für die Buchumschläge ausgewählt hatte. Ich kümmerte mich um die Auswahl und Instruktion der Übersetzer, denen Aufträge erteilt wurden, und um den Fortgang ihrer Arbeit, ich veranlaßte die Ausfertigung der Verträge, die Zahlung der Honorare und so manches Mal auch den Versand von Beleg- oder Rezensionsexemplaren, ich beantwortete die Anfragen von Lesern und Journalisten, kurzum, es fand sich kaum etwas, was nicht letzten Endes auf meinem Tisch gelandet wäre. Ich war jederzeit für alles da, das heißt aber auch, für alles war immer ein und derselbe da, der sich verantwortlich kümmerte und die Dinge voranbrachte. Das galt auch für die Kommunikation mit den vielen Bohemisten und Übersetzern, die an der Edition mitarbeiteten. Neben mehreren längeren Telefonaten kamen Woche für Woche zwanzig bis dreißig Mails, die ich beantworten mußte, oft ausführlich. Übersetzungen, Nachworte, die Auswahl oder Ideen für einen Band – das alles war Gegenstand angeregter Dialoge, die bisweilen zum persönlichen Gespräch wurden. So entstand das Netzwerk, das die Tschechische Bibliothek schuf. Ein Netzwerk, das einfach großartig war. Peter Demetz, Ludvík Kundera und Hans Dieter Zimmermann, Ludger Hagedorn, Urs Heftrich, Jiří Holý, Bettina Kaibach, Kristina Kallert, Christa Rothmeier und Eduard Schreiber, Alexandra Baumrucker, Natascha Drubek-Meyer, Heinke Fabritius, Reinhard Fischer, Jaroslava Janáčková, Silke Klein, Kathrin Liedtke, Václav Maidl, Eva Profousová, Klaus Schaller, Markus Sedlaczek, Beate Smandek, Michael Špirit, Barbora Šramková, Anja Tippner, Andreas Tretner, Alena Wagnerová, Steffi Widera, Markus Wirtz… Ich müßte noch viele Namen nennen und hier zwei Dutzend Lobreden einfügen, um wenigstens die schönsten Leistungen zu würdigen. Die Bände fanden allseits viel Anerkennung. Gelobt wurden Übersetzung, Auswahl, Kommentierung, Ausstattung – und pünktliches Erscheinen. Ich hatte immer vier oder fünf Bände gleichzeitig in fortgeschrittener Vorbereitung, damit bei allen Wechselfällen gesichert war, daß wie angekündigt zwei Bände im Frühjahr, zwei im Herbst erscheinen konnten. Der Herausgeber der Polnischen Bibliothek brauchte für seine fünfzig Bände neunzehn Jahre. Die dreiunddreißig Bände der Tschechischen Bibliothek kamen in gut acht Jahren heraus, im März 1999 die beiden ersten Bände und im Februar 2007 der letzte. Dabei wurde der vorab vereinbarte Kostenrahmen eingehalten, was bei Editionen dieser Art und Größe selten gelingt. Übersetzer sind anpassungsfähig. Sie übersetzen bald den einen, bald den anderen Autor, bewegen sich mal auf dieser, mal auf jener Stilebene. Gleichwohl bleiben sie bei alledem sie selbst. Bei all den Anverwandlungen schöpfen sie aus dem sprachlichen Repertoire, das ihrer Persönlichkeit zu Gebote steht. Die persönliche Note, die in ihren Übersetzungen sehr dezent oder auch deutlich wiederzufinden ist, hat Konturen. Das ist durchaus wünschenswert, denn ein literarischer Text, von einer Autorenpersönlichkeit geschaffen, wäre als unpersönliche Übersetzungsarbeit kaum mehr als ein Schatten seiner selbst. Indes, was die Übersetzung normalerweise bereichert, kann ihr unter Umständen etwas rauben. Gesetzt den Fall, ein Übersetzer hat Gedichte von hundert Autoren übertragen, wir lesen einige - nehmen sie also einzeln wahr - und finden sie gut. Was aber, wenn all die vielen von einem einzigen Übersetzer verdeutschten Gedichte der hundert Autoren in einer mehrbändigen Edition dicht nebeneinander versammelt sind? Dann werden wir unweigerlich gewahr, daß selbst die wandlungsfähigste Übersetzersprachkunst an Grenzen stößt. Wenn eine einzige Stimme die Vielstimmigkeit einer Autorenschar – Lyriker, aber auch Prosaisten – im Rahmen einer großen Sammlung zu intonieren versucht, kommt zwangsläufig Eintönigkeit auf. Das wollte ich in der Tschechischen Bibliothek nicht zulassen, angefangen beim eigenen Anteil. Die Übersetzung der drei philosophischen Romane Karel Čapeks wollte ich beisteuern, außerdem die revidierten und vervollständigten Čapekschen Gespräche mit Masaryk und drei, vier kleine Übersetzungen; im übrigen schrieb ich insgesamt acht Nachworte und stellte den Hrabal-Band und den Němcová-Briefband zusammen. Dichtung, Prosa, Dramen, Feuilletons, Essays, Briefe, Texte von mehr als hundertsechzig Lyrikern und mehr als fünfzig Prosaisten - da sollten viele Übersetzer beteiligt werden, um der Vielstimmigkeit annähernd gerecht zu werden. Voraussetzung war, daß alle Übersetzungen dem gewünschten Niveau entsprachen. Da ich ohnehin jeden Text, ob neu oder Nachdruck, gründlich durchsah und, wenn nötig, korrigierte, konnte ich das garantieren. Mir war es recht, dem Wunsch der Robert Bosch Stiftung folgend, auch jüngere, nicht etablierte Übersetzer zu beteiligen. Natürlich ergab sich dadurch manchmal Mehrarbeit, doch ich hatte oftmals das außerordentliche Vergnügen, Talente zu fördern und dabei meisterhafte Übersetzungen entstehen zu sehen. Die Tschechische Bibliothek war eine Schule für Übersetzer. Auch die erfahrenen Übersetzer wußten die penible Redaktion zu schätzen. Sorgfältige Arbeit am Text ist ein mühseliges und mitunter deprimierendes Geschäft. Sie sahen es gern, daß ein Kollege sie begleitete, der in Zweifelsfällen eine Lösung fand und im übrigen alles Gelungene zu schätzen, ja sachkundig zu loben wußte. 30 oder 35 Bände, das war anfangs die Frage. Die einprägsamere Zahl 33 empfahl Peter Demetz. Da könne man an den poetischen tschechischen Zungenbrecher denken: 33 silberne Lerchen[1], die über die Dächer fliegen. Ein treffliches Bild für das Unterfangen, Bücher über die Sprachgrenze zu bringen. Trefflich auch der Hintersinn, denn richtig heißt es: 333 silberne Lerchen. 333 Bücher brauchte man, um eine reiche Literatur umfassend vorzustellen. Doch niemand würde so eine Mammut-Edition finanzieren, niemand würde sie verlegen, und niemand würde sich alle 333 Bände auch nur anschauen. 33 Bände tschechische Literatur in deutscher Übersetzung. 3 Bände Dichtung. 23 Bände Prosa (darunter ein Dramenband). 7 Bände Philosophie, Geistesgeschichte, Essayistik. Von dieser dreiteiligen Struktur bin ich ausgegangen. Sie gewährleistet Offenheit für verschiedene Genres und Themen, gleichwohl bleiben literaturgeschichtliche oder historische Zusammenhänge erkennbar. Zudem war es möglich, Einzelheiten erst später endgültig festzulegen, ohne das Programm umzustürzen. Im Gegenteil, manchmal wurde erst bei der Arbeit klar, welche Texte unbedingt dazugehören mußten und auch tatsächlich am besten paßten. Um nur drei Beispiele zu nennen: Němcovás Briefe, Nerudas Reisebilder, Škvoreckýs Jazz-Geschichten. Die Autoren standen von vornherein fest, die Werke nicht. Vielfalt war Prinzip. Einerseits drei Bände Dichtung, die größte Sammlung tschechischer Lyrik, die je außerhalb Tschechiens erschienen ist. Süß ist es zu leben. Tschechische Dichtung von den Anfängen bis 1920.- Adieu Musen. Anthologie des Poetismus.- Höhlen tief im Wörterbuch. Tschechische Lyrik der letzten Jahrzehnte. Andererseits Comenius, Havlíček, Masaryk, sogar ein Band Tschechische Philosophen von Hus bis Masaryk, ein Kompendium, das auch in Tschechien seinesgleichen sucht, und weiter Tschechische Philosophen im 20. Jahrhundert. Neben den Dichtern die Denker. Neben ihnen die Künstler, ein Band mit Essays der Prager Kubisten, darin auch Vincenc Kramářs vielgepriesene Picasso-Studie, ein Desiderat. Und neben den Künstlern die Musiker, Briefe von Smetana, Dvořák und Janáček. Wer möchte das in einer Tschechischen Bibliothek missen? Was in der Kultur benachbart oder ineinander verwoben ist, sollte in der Tschechischen Bibliothek nebeneinander stehen und zum Lesen, auch zum Querlesen einladen. Den Schwerpunkt bildet die Prosa. Wären wir dem Kanon strikt gefolgt, hätten wir auf manche Entdeckung verzichten und Dubletten liefern müssen. Zum Beispiel von Pavel Kohout und Ivan Klíma, die in Deutschland als Prosaisten etabliert sind. Wir haben sie mit Stücken aus den sechziger oder siebziger Jahren als wichtige Dramatiker in Erinnerung gebracht, in einem Band mit Václav Havel, Josef Topol und Milan Uhde. Milan Kundera, der seit drei Jahrzehnten in Frankreich lebt und seit langem auf Französisch schreibt, wollte nicht in der Tschechischen Bibliothek gedruckt werden. Um nur einige der ignorierten kanonischen Werke zu nennen: von Karel Havlíček die Satiren, von Božena Němcová Die Großmutter, von Jan Neruda Kleinseitner Geschichten, von Jaroslav Hašek Schwejk, von Josef Škvorecký Feiglinge. Die Werke wurden schon vor Jahrzehnten in guter Übersetzung veröffentlicht, sie liegen sogar auf dem Buchmarkt vor. Wir nutzten die Chance, statt dessen Unbekanntes vorzustellen, das einen neuen, tiefergehenden Zugang zu dem Autor eröffnete. Karel Havlíček zählt zu den Klassikern des europäischen Journalismus und, was hierzulande unbekannt ist, des tschechischen Dissidententums. Unter dem Titel Polemische Schriften brachten wir scharfsinnige, temperamentvolle Artikel des streitbaren Demokraten, die nichts von ihrer Frische verloren haben. Von Božena Němcová veröffentlichten wir 65 Briefe. Es sind ungemein eindrucksvolle Lebenszeugnisse, wohl die schönsten, tiefsten Äußerungen dieser ungewöhnlichen Frau. Gerade ihre Briefe werden von vielen Literaturkennern hochgeschätzt. Schon Franz Kafka, der einige im Original gelesen hatte, nannte sie „unerschöpflich für Menschenerkenntnis“.(KAFKA, 1975: S. 170). Die Darmstädter Jury wählte den Band zum Buch des Monats November 2006. Jan Neruda war, nach Čapeks Eindruck, „nahezu der erste Europäer in Böhmen“. (ČAPEK, 1985: S. 320). Tatsächlich war Neruda, der hierzulande nur als Erzähler aus dem alten Prag bekannt ist, ein Kosmopolit, der sich mit böhmischem Blick in der Welt umsah und feuilletonistisch pointiert darüber schrieb. Wir druckten Reisebilder aus Europa und dem Nahen Osten. Die Darmstädter Jury erklärte den Band zum Buch des Monats August 2007. Neben den unbekannten ältesten Schwejk-Geschichten brachten wir Hašeks autobiographische Auseinandersetzung mit dem Sowjetkommunismus, die Erzählung Als Kommandant der Stadt Bugulma, und dazu einen Essay von Karel Kosík über dieses Werk, geschrieben 1969 im Licht der aktuellen Erfahrungen mit dem Sowjetkommunismus. Jazz war die Domäne der Unangepaßten unter der Nazi-Herrschaft wie unter dem kommunistischen Regime. Für Josef Škvorecký ist das ein Lebensthema. Unsere Auswahl Das Baßsaxophon, Jazz-Geschichten enthält Novellen und Erzählungen, die längst ins Englische, aber bisher nicht ins Deutsche übersetzt vorlagen. Die deutschen Rezensenten waren begeistert. Ein Werk durch andere Texte zu konterkarieren, zu ergänzen oder einfach dem Leser näherzurücken, das war oft möglich. Karel Hynek Máchas Prosa, die noch nie ins Deutsche übersetzt worden war, steht im Mittelpunkt des Bandes Die Liebe ging mit mir, der auch das bekannte Poem Mai enthält. Die freimütigen, teils anstößigen Tagebücher bilden Kontraste, die den Menschen zeigen, wie man ihn im tradierten Bild des Nationaldichters kaum zu erkennen vermag. Mit seinem frühen Meisterwerk Der Bäcker Jan Marhoul bleibt Vladislav Vančura als sprachmächtiger Erzähler unvergessen. Jaroslav Seiferts bewegende Erinnerungen an seinen Freund Vančura, der 1941 hingerichtet wurde, sind poetisch und sehr persönlich. Jiří Weils Roman Leben mit dem Stern, ein Solitär der Holocaust-Literatur, erschien zusammen mit dem Klagegesang für 77297 Opfer. Allzu laute Einsamkeit von Bohumil Hrabal wurde ergänzt durch Texte von dem und über den „König der tschechischen Prosa“. Eine Hommage à Hrabal. Die drei Könige der tschechischen Moderne Ladislav Klíma, Richard Weiner, Jakub Deml findet man ebenso wie die ungewöhnlich schöne experimentelle Prosa von Milada Součková. Oder Novellen des Fin de siècle. Oder Erzählungen von Jan Čep. Oder Karel Poláčeks humoristisches Meisterwerk für Kinder und Erwachsene. Oder Ivan Olbrachts jüdische Erzählungen. Karel Čapeks Trilogie philosophischer Romane fehlt ebensowenig wie Egon Hostovskýs faszinierender Zeitroman, 1939 wenige Wochen nach den politischen Ereignissen geschrieben. Jaroslav Durychs Requiem auf das jahrhundertelange Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in Böhmen, dazu ein Essay des Philosophen Jan Patočka. Josef Jedlička, Ludvík Vaculík, Eva Kantůrková, alle drei wurden von der Kritik als Entdeckungen begrüßt. Schließlich nenne ich ein Buch, das ich gut zu kennen meinte, aber erst bei der Arbeit an der Tschechischen Bibliothek so gelesen habe, wie man es lesen sollte: Magister Kampanus von Zikmund Winter. Er beschreibt die Zeit nach der verlorenen Schlacht am Weißen Berg 1620. Eine ausländische Macht, gestützt auf Kräfte im Land, übernimmt die Herrschaft und installiert ein Regime, das mit brutaler Gewalt, Gehirnwäsche und Entrechtung Umwälzungen vollzieht. Zehntausende gehen ins Exil, die anderen resignieren oder passen sich willfährig an – mit der Schutzbehauptung, Schlimmeres zu verhindern. Ein historischer Roman, um 1908 entstanden, der beschreibt, was 1938, 1948, 1968 geschah. Ein historischer Roman als ungewollte Prophetie. Dissidententum, Glaubenstreue und Exil, das sind tschechische Schicksalsthemen. Die Peripetien einer kleinen, immer wieder in ihrer Existenz gefährdeten Nation, tschechische – und allzuoft deutsche - Irrungen und Wirrungen, jüdische Schicksale, tschechische Frauen als die wahren Helden in einer Männergesellschaft… Wer die Tschechische Bibliothek durchforscht, kann chronologisch oder thematisch vorgehen, um etwas über die Tschechen zu erfahren. „Eine Edition, die nicht ihresgleichen hat“, urteilte Jiří Holý. (HOLÝ, 2007). Eva Kantůrková: „(…) für den deutschen Leser und die deutsche kulturelle Öffentlichkeit wurde die Edition etwa so geformt, wie sich hierzulande in den sechziger und dann in den neunziger Jahren das Bild des Wesentlichen in der tschechischen Literatur herausgebildet hat. Hervorgehoben sei, daß die Tschechische Bibliothek in deutscher Sprache die Wunden schließt, die der Literatur durch äußere, nichtliterarische Einflüsse zugefügt wurden (…) Ein Titelüberblick sagt viel, aber nicht alles. Jedes Buch zeugt von liebevoller und kenntnisreicher editorischer Sorgfalt, ich würde sagen, jedes Buch ist ein editorischer Einfall. Wer das Profil der ganzen Edition und auch der einzelnen Bände bestimmt hat, der hat im aufgewühlten Milieu der letzten Jahrzehnte des kulturellen Tschechiens gelebt, aber nicht in Berlin.“ (KANTŮRKOVÁ, 2007: S. 26-27). Die Tschechische Bibliothek breitet die Literatur wie eine Landschaft vor dem Betrachter aus. Mit Leuchttürmen, die Hauptwege weisen, aber auch Seitenpfade und Abzweigungen kenntlich machen. Mit Glanzlichtern, die anlocken. Eine Landschaft, die zu Entdeckungen einlädt. Die Edition als Gesamtkunstwerk. Die Tschechische Bibliothek erschien unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland und des Präsidenten der Tschechischen Republik. Zum Abschluß veranstaltete Bundespräsident Horst Köhler am 24. August 2007 einen Festakt in seinem Amtssitz Schloß Bellevue in Berlin. Literatur ČAPEK, Karel (1985): „Třicet let“, in: Ders.: O umění a kultuře II, Spisy 19, Praha: Československý spisovatel, S. 320-321. DEDECIUS, Karl (ohne Jahr): Polnische Bibliothek. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. GAUSS, Karl-Markus (2001): „Die traurigen Völker der Karpato-Ukraine. Der Tscheche Ivan Olbracht und seine Novellen“, in: Neue Zürcher Zeitung (Zürich), 15./16. Dezember 2001. HOLÝ, Jiří (2007): „Edice, jaká nemá obdoby“, in: Lidové noviny (Praha), 11.Mai 2007. KAFKA, Franz (1975): „Brief an Felix Weltsch.22. September 1917“, in: Ders.: Briefe 1902-1924, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S.167-170. KANTŮRKOVÁ, Eva (2007): „Laudatio na Eckharda Thieleho“, in: dokořán (Praha), Nr. 42, S. 26-28. ________________________________ [1] 333 Wachteln