Vladimir Vertlibs Rede "Migration und Mozartkugel. Das Österreichbild von Einheimischen und Zugewanderten im Wandel". Der heute in Österreich lebende Schriftsteller jüdisch-russischer Herkunft Vladimir Vertlib spricht über seine Sicht auf die österreichische Identität. Video: http://vimeo.com/53565123 Volltext: http://www.zintzen.org/2012/11/14/mitsprache-2012-dokumentation-vladimir-vertlib-migration-und-moza rtkugel-das-oesterreichbild-von-einheimischen-und-zugewanderten-im-wandel/ publiziert 14/11/12 von czz mitSprache 2012 Dokumentation | Vladimir Vertlib: Migration und Mozartkugel. Das Österreichbild von Einheimischen und Zugewanderten im Wandel Tags: Agitation, Assimilation, Österreich, Deutschland, Fremdheit, Heimat, Identität, integration, Klischee, Lipizzaner, Migration, Mozartkugel, Selbstbild, Stereotyp, Tracht, Tradition, Vladimir-Vertlib, Zuwanderung http://www.zintzen.org/wp-content/uploads/2011/09/blanc_402.jpg ||| SCHÜSSELS SCHABLONEN | SELBSTVERSTÄNDNIS, BLICK VON AUSSEN | “WESEN UND SEELE” | ÖSTERREICH-KLISCHEES, POSITIV | TRADITION UND TRACHT | SELBSTERFAHRUNG: WO SIND DIE BERGE ? | METROPOLE – PROVINZ (“BUNDESLÄNDER”) | SKI- SPORT: INKLUSION / EXKLUSION | EIN “FREMDES” KIND | SELBSTBILD, IDEAL VS. INTEGRATION, REAL | DAS FREMDE IM EIGENEN | ZUWANDERUNG IM WANDEL | ASSIMILATION | XENOPHOBIE | INTEGRATION – MIT GRENZEN | QUELLEN | INFO, DETAILS, SOCIAL MEDIA, KONTAKT | mitSprache | MS 2012 banner frame mitSprache 2012 Dokumentation | Vladimir Vertlib : Migration und Mozartkugel. Das Österreichbild von Einheimischen und Zugewanderten im Wandel Rede, gehalten am 23. 10. 2012 im Rahmen von mitSprache 2012 auf Einladung des Franz Michael Felder Archivs, Bregenz ||| SCHÜSSELS SCHABLONEN Einige von Ihnen werden sich bestimmt noch daran erinnern: Vor elf Jahren hielt der damalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel am Nationalfeiertag eine Rede, in der er unter anderem Folgendes sagte: “Die alten Schablonen – Lipizzaner, Mozartkugeln oder Neutralität – greifen in der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr …”(1) Bezeichnenderweise bediente Schüssel in seiner Rede nicht nur Klischees, sondern verwendete außerdem ein schiefes Bild. Unsere Neutralität ist im 21. Jahrhundert vielleicht längst eine Illusion, aber keine Schablone. Pferde und Pralinen kann man schon gar nicht als Schablonen bezeichnen, und dass Schablonen weder greifen noch zugreifen können, hätte dem Herrn Bundeskanzler ebenfalls bekannt sein müssen. Doch das Niveau österreichischer Politikerreden war nie besonders hoch. Das ist kein Klischee, sondern eine Tatsache … Was für mich die Aussage Schüssels so spannend macht, ist nicht das, was viele Österreicherinnen und Österreicher damals empört hatte, nämlich die Nennung von Neutralität, Lipizzanern und Mozartkugeln in einem Atemzug, so als habe die Neutralität für das österreichische Selbstverständnis dieselbe Wertigkeit wie zum Beispiel eine Mozartkugel, sondern der Umstand, dass einem Bundeskanzler offenbar nichts anderes “typisch Österreichisches” einfällt, das der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts geopfert werden sollte. Die Neutralität mag man ja zurecht als identitätsstiftend für die Entwicklung der Zweiten Republik bezeichnen, obwohl Neutralität bekanntlich weder eine österreichische Erfindung ist noch eine österreichische Besonderheit darstellt und in unserem Falle dem Zwang historischer Ereignisse geschuldet ist. Doch was gibt es sonst in diesem heterogenen Land, sei dies nun ein Klischee oder nicht, das den Menschen als Identifikation, als Projektionsfläche oder auch als Zerrspiegel dient, wenn sie nicht an ihre Region, ihren Wohnort oder ihre Herkunft, sondern an Österreich in seiner Gesamtheit denken? Nebenbei erwähnt, stammen die Lipizzaner aus einem slowenischen Gestüt, und Mozart war ein Salzburger. Zu seinen Lebzeiten, also noch bevor der Kosmopolit Wolfgang Amadé zur Praline und damit zu einem Symbol des österreichischen Selbstverständnisses mutierte, war Salzburg noch kein Teil von Österreich, sondern ein selbstständiger Staat innerhalb des “Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation”. Für den vielgereisten Musiker und Komponisten des 18. Jahrhunderts wird die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Land oder gar zu einer Nation wahrscheinlich nicht von primärer Bedeutung gewesen sein. In Wien war er jedenfalls – so wie heute übrigens auch jeder Lipizzanerhengst – ein Zuwanderer. ||| SELBSTVERSTÄNDNIS, BLICK VON AUSSEN MS 2012 thumbnail frame Das Selbstverständnis von Österreichers Bewohnern – von Zugewanderten und Einheimischen, In- und Ausländern – ist auch das Thema meiner Rede. Es geht um die Frage, wie Menschen, die in ein Land einwandern, dessen eigene Identität – wie schon angedeutet – recht ambivalent ist, dieses Land wahrnehmen, mit welchen Vorstellungen von Österreich sie hierherkommen, und wie sich diese Vorstellungen mit der Zeit verändern. Es geht aber auch darum, wie sich die Perspektive der Einheimischen auf sich selbst und die Welt, auf ihr Umfeld und auf Österreich durch den Kontakt mit Zugewanderten oder – allgemein gesagt – durch der Beschäftigung mit dem Thema Zuwanderung wandelt (oder auch nicht). Kurz gesagt: Es geht um die österreichische Identität – aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet und kritisch hinterfragt, wobei meine eigenen Erfahrungen als Migrant, Jude und Österreicher, St. Petersburger, Wiener und Salzburger, keineswegs außer Acht gelassen werden … Doch kehren wir noch einmal zu Wolfgang Schüssel und der Mozartkugel zurück. Selbstverständlich wäre es dem Herrn Bundeskanzler nie eingefallen, Mozart selbst oder seine Musik den “alten Schablonen” zuzurechnen. Für die meisten seiner Wählerinnen und Wähler war Kultur viel zu unbedeutend, um als wichtige “Schablone” eine Rolle zu spielen. Für die Süßlichkeit eines Klischees ist eine Praline bestimmt das stimmigere Symbol. Ich selbst esse gerne Mozartkugeln, und ich mag Mozarts Musik. Beides ist – allen Katastrophen, Wirtschafts- und Identitätskrisen zum Trotz – ein internationaler Erfolg. Wenn ein Österreich-Klischee definitiv nicht der Vergangenheit angehört und darüber hinaus einen Hauch von Welthaltigkeit hat, dann ist dies Mozart in allen seinen Erscheinungsformen: als Partitur, als Konzert, als Oper, als Lithographie, als Pop-Song, als Handtuch, auf dem sein Konterfei abgebildet ist, oder als Praline. Jedenfalls wäre es Schüssel niemals eingefallen, neben der Mozartkugel zum Beispiel auch die Kleine Nachtmusik oder die Zauberflöte zu erwähnen. Noch weniger wäre es ihm in den Sinn gekommen, seine Aufzählung mit dem Hinweis auf Musils Mann ohne Eigenschaften anzureichern (das hätte man in seinem Fall vielleicht falsch interpretieren können). Keinesfalls “zielführend” wäre es auch gewesen, wenn Schüssel zum Beispiel gesagt hätte: Die alten Österreich-Klischees von Thomas Bernhard sind längst überholt, sie gehören der Vergangenheit an, genauso wie das einst als typisch österreichisch Empfundene bei Jura Soyfer oder Helmut Qualtinger. Das hätte acht von zehn Schüssel-Wählern eher verwirrt als irritiert. Sie hätten mit einem solchen Satz schlichtweg nichts anfangen können … ||| “WESEN UND SEELE” Fragt man einen Durchschnittsamerikaner, was das “Wesen und die Seele des amerikanischen Volkes” sei, wird er allerdings wahrscheinlich auch nicht Walt Whitman, Mark Twain oder Philip Roth erwähnen oder zitieren, sondern vom “American Way of Life”, von der Unabhängigkeitserklärung, der Verfassung, vom “Pursuit of Happiness”, von Freiheit und Demokratie, von George Washington, Thomas Jefferson, James Madison und Abraham Lincoln sprechen. Das ist es auch, was Immigranten in den USA in Kursen lernen müssen, bevor sie eingebürgert werden … Wenn der besagte Amerikaner kritisch über sein Land reflektiert, wird er die entsprechenden Vorstellungen hinterfragen und an der Realität messen. Er wird sie als das erkennen, was sie sind: ein Ideal, an dem man sich orientieren kann – ein positives Klischee, das auch für Zuwanderer Gültigkeit hat, eines also, das in erster Linie ein- und nicht ausschließt, aber auch ein Denkansatz, der als Grundlage, als Ausgangs- und Orientierungspunkt dient, um Missstände anzuprangern oder um aufzuzeigen, was von Anfang an oder zu einem späteren Zeitpunkt schief gelaufen ist und was verbessert werden könnte. Positive Klischees sind zweifellos bedenklich, aber sie haben ihren Sinn … Stellt man einem Österreicher dieselbe Frage, nämlich, was das Wesen Österreichs sei, wird man entweder Klischees über das Alltagsverhalten zu hören bekommen (die sich zudem von Region zu Region unterscheiden), oder aber man erfährt sogleich, was Österreich alles nicht ist. In manchen Fällen wird man mit all dem Negativen, das es in diesem Land gibt, konfrontiert. Ein Amerikaner würde in seinem Fall das Negative als eine Abweichung vom Ideal, das ihm vorschwebt und mit dem er sich identifiziert, definieren. So mancher Österreicher aber sieht die Probleme, Konflikte und Schwächen seines Landes nicht als Abweichung, sondern als Norm, als österreichische Quintessenz, über die man raunzt oder – um mit Grillparzer zu sprechen – schweigt und sich seinen Teil denkt, denen man aber nur in seltenen Fällen aktiv statt passiv, nicht resignativ, sondern mit einem Willen zur Veränderung begegnet. Und noch ein weiterer, nicht unwesentlicher Aspekt: Wenn ich mit jemandem in Kufstein, Innsbruck oder in Reutte über seine Identität rede, wird er mir wahrscheinlich erklären können, was es für ihn bedeutet, ein Tiroler zu sein, während er auf die Frage nach der österreichischen Identität vielleicht spontan antworten wird, dass sich ein Tiroler ganz wesentlich von einem Wiener oder einem Burgenländer unterscheidet … US-Präsident Barack Obama stellt in seinem Buch Hoffnung wagen (The Audacity Of Hope)(2) den politische Querelen und der Niveaulosigkeit der Gegenwart die Genialität und Integrität der so genannten Gründervätergeneration seines Landes entgegen. Nun wissen wir (und Obama weiß es noch viel besser), dass viele der besagten “Gründerväter” sehr widersprüchliche Persönlichkeiten und in den meisten Fällen außerdem Sklavenhalter waren. Doch wer diese Männer wirklich gewesen sind, spielt eine geringere Rolle als das, was sie heute verkörpern. Stellen Sie sich vor, was Wolfgang Schüssel seinem österreichischen Publikum analog dazu hätte sagen können? Kehren wir zu den Idealen und der Integrität von Menschen wie Renner, Figl oder Raab zurück. Ein solcher Satz hätte sowohl amüsiert als auch befremdet. Zu brüchig waren die Biographien der Genannten, die man zurecht als Gründerväter der Zweiten Republik bezeichnen kann, zu widersprüchlich, vage und angreifbar waren ihre politischen Vorstellungen. Was aber das Wichtigste ist: In Amerika weiß fast jeder, wer George Washington oder Thomas Jefferson waren. Doch wer von den Jüngeren kennt hierzulande Julius Raab oder könnte etwas über ihn erzählen? Wer weiß überhaupt noch, dass er im Staatsvertrags- und Neutralitätsjahr 1955 Bundeskanzler gewesen war? ||| ÖSTERREICH-KLISCHEES, POSITIV MS 2012 thumbnail frame Wer nach positiven Österreich-Klischees sucht, sollte am besten Zuwanderer befragen. “Österreich ist ein zivilisiertes Land”, erklärt mir Milena (ich habe diesen wie auch die Namen meiner anderen InterviewpartnerInnen geändert), eine Migrantin aus Serbien, die seit vielen Jahren in Salzburg lebt. Auf mein Nachfragen hin, was sie denn unter “zivilisiert” verstehe, erklärt sie, Österreich würde “gut funktionieren”. Diese Definition ist mir zu allgemein. Also frage ich weiter nach, solange, bis ich erkenne, dass Milena mit “gut funktionierender Zivilisation” vor allem die Umgangsformen, nicht den Inhalt, sondern die Hülle meint. So erzählt sie zum Beispiel, dass sich hierzulande ein Beamter am Telefon mit einem “Grüß Gott” oder “Guten Tag”, mit seinem Namen und seiner Funktion meldet, während man in Serbien in vergleichbaren Fällen immer ein unfreundliches “Hallo” zu hören bekomme. Andere Migrantinnen und Migranten, die ich zu diesem Gespräch über österreichische Identität, das in den Räumlichkeiten einer Salzburger Sozialeinrichtung stattfindet, eingeladen habe, sind derselben Meinung, sprechen von der Sauberkeit auf Österreichs Straßen, von pünktlichen Zügen, von Demokratie, von einem Land, in dem Recht und Gesetz herrsche, während ich an meine Erlebnisse als Gastarbeiterkind in Wien denke, an kalte, verrauchte Wartesäle der Fremdenpolizei, an das “Ausländerdeutsch” der Beamten, an die Gemeinheiten, die ich in der Bassena, auf der Straße oder in der Schule zu hören bekam. Plötzlich erinnere ich mich an die Worte einer anderen Migrantin aus Serbien: “Die Österreicher sind kultiviert, höflich und zuvorkommend, sie sagen nie, was sie wirklich denken”. Als ich ihr von den Beleidigungen erzählte, die ich mir in diesem Land anhören musste, meinte sie: “Aber stell’ dir vor, sie würden dir sagen, was sie wirklich über dich denken…” Kamala aus Indien, die heute in einem Dorf im Salzburger Flachgau lebt, nimmt die dunklen Seiten ihrer neuen Heimat in Kauf. “Österreich ist das Paradies, Indien ist die Hölle. Nie wieder gehe ich dorthin zurück”, meint sie. Durch ihre Heirat mit einem Österreicher muss sie das auch nicht. ÖSTERREICH – DEUTSCHLAND In Indien, bekennt sie, habe sie keinerlei Vorstellung von Österreich gehabt. Was sie gewusst habe, war, dass Adolf Hitler und Arnold Schwarzenegger beide aus Österreich stammten. Außerdem habe sie den Film Sound Of Music gesehen. Sonst habe sie “keinerlei Assoziationen gehabt”. Vor allem aber sei für sie Österreich nicht von Deutschland unterscheidbar gewesen. Dass “die österreichische Seele etwas anderes als die deutsche” sei, ja, dass nicht nur dieser Unterschied selbst, sondern die bewusste Abgrenzung von Deutschland, das heißt, die meist emotionell und insistierend vorgetragene Behauptung, nicht deutsch, sondern trotz derselben Sprache etwas völlig anderes zu sein, ein wesentlicher Teil der österreichischen Identität wäre, sei für sie neu gewesen. “Die Österreicher”, erklärt sie mir, “sind wie Deutsche, nur mit einem etwas südländischeren Temperament. Das Blut im Norden ist nun einmal dünner.” Dass die direkte Art der Deutschen in Österreich nicht als höflich empfunden wird, habe ihr Österreichbild nachhaltig geprägt. Das komplexe Verhältnis von Österreichern und Deutschen war ein Leitmotiv bei den meisten Gesprächen, die ich als Vorbereitung auf diese Rede geführt habe. Nun kann man von jemandem, der in Indien zu Hause ist, nicht erwarten, ein differenziertes Bild von Österreich zu haben. Aber auch Kerstin aus München bekennt, dass sie in ihrer Jugend Österreich als den dritten deutschen Staat nach der BRD und der DDR wahrgenommen hatte. Für Mirko aus Bosnien war das ebenfalls so. In Jugoslawien hätten viele Menschen Österreich als das “kleine Deutschland” betrachtet. Für Gastarbeiter, die nach Deutschland unterwegs waren, sei es ein Transitland und somit so etwas wie ein deutscher Vorhof gewesen. Das alles ist nicht überraschend. Österreich ist eine junge Nation. Bis 1945 verstand sich eine Mehrheit der Österreicher als Deutsche. Der erste Staatskanzler der Zweiten Republik, der Sozialdemokrat Karl Renner, verteidigte selbst nach dem Krieg in einer Rede seine Unterstützung für den “Anschluss” sieben Jahre zuvor.(3) Er bedauerte lediglich den Lauf, den die Ereignisse genommen hatten, und fügte seufzend hinzu, dass den Österreichern nichts anderes übrig bleibe, als den Gedanken an Großdeutschland aufzugeben, was vielen möglicherweise schwer fallen werde … Die junge Republik hätte sich bekanntlich schon nach dem Ersten Weltkrieg gerne Deutschland angeschlossen. Die Vorarlberger stimmten 1919 bei einer Volksabstimmung allerdings mit 82 Prozent der Stimmen für einen Betritt ihres Ländles zur Schweiz. Aber das ist eine andere Geschichte. Zwanzig Jahre später identifizierte sich auch hier die Mehrheit der Bevölkerung mit dem Großdeutschen Reich. Erst viel später kamen die Neutralität, die Mozartkugel und das Wunder von Córdoba. Es möge also niemanden wundern, dass sich die verspätete Identitätsfindung Österreichs international noch nicht überall herumgesprochen hat… Auch meine Eltern machten keinen großen Unterschied zwischen Deutschland und Österreich. Für sie als Juden, die Verwandte während der Schoah verloren hatten, war es vor allem die gemeinsame deutsch-österreichische Vergangenheit, die ihr Bild von Österreich prägte, und auch mich erfüllte als Kind die Vorstellung, ich wäre in diesem Land, hätte ich nur dreißig Jahre früher gelebt, allein wegen meiner Herkunft ermordet worden, mit einem Gefühl von Angst und ständiger Vorsicht. Konnte ich mich in einem solchen Land jemals sicher und irgendwann zu Hause fühlen? Für meine Eltern und viele andere russisch-jüdische Emigranten waren Österreicher Deutsche, die so taten, als wären sie es nicht. Allenfalls waren sie etwas weniger zackig als die Preußen, aber “unter uns gesagt” teilten mir russisch-jüdische Verwandte oder Freunde in persönlichen Gesprächen mit, gibt es zwischen all diesen Bayern, Hessen, Sachsen oder wie sie alle heißen und den Österreichern keinen großen Unterschied. Sie sind doch für Deutschland und für Hitler, den Österreicher, in den Krieg gezogen, und jetzt ziehen sie eine schlaue Show ab und wollen plötzlich immer schon etwas ganz anderes gewesen sein … Ich erinnere mich, wie beleidigt meine Frau, eine Tirolerin, gewesen war, als sie ein Freund meines Vaters, der heute in Israel lebt, als “typische Deutsche” bezeichnet hatte, und das nur, weil sie ein kleines Alltagsproblem schnell, effizient und, wie er meinte, “mit deutscher Gründlichkeit” erledigt hatte … Ich selbst habe mein Österreichertum so weit internalisiert, dass ich mich auf Lesereisen in Deutschland immer dagegen verwehre, als “deutscher Autor” bezeichnet zu werden. Noch im Jahre 1995 wurde ich Zeuge einer heftig geführten Debatte zwischen deutschen und österreichischen Kulturjournalisten, bei der es um die Frage ging, ob es überhaupt so etwas wie eine eigenständige österreichische Literatur gebe. Die Deutschen empörten sich darüber, dass die Österreicher es ihnen verbieten wollten, Zweig, Musil oder Werfel als deutsche Autoren zu bezeichnen. Bei Kafka konnten sie sich lange nicht einigen, ob er nun Deutscher oder Österreicher gewesen sei und fanden schließlich einen Kompromiss: Kafka sei ein jüdischer Autor gewesen, der auf Deutsch geschrieben hatte … TRADITION UND TRACHT Für Yasemin aus der Türkei scheint das Verhältnis Österreichs zu Deutschland kein vordergründiges Thema zu sein. Die islamische Religionslehrerin und alleinerziehende Mutter ist schon als Kleinkind, im Alter von acht Monaten, nach Salzburg gekommen. “In Salzburg kann ich viel mehr ich selbst sein als in der Türkei”, erklärt sie. In der Türkei könnte sie, die Kopftuchträgerin, niemals in einer öffentlichen Schule unterrichten, ja nicht einmal ein Amtsgebäude betreten. In Österreich hingegen dürfe sie überall Muslima sein und dabei den Grad und die Form ihrer Gläubigkeit selbst bestimmen. Auf diese Freiheit – nicht nur in Sachen Religion, sondern auch in anderen Bereichen des Lebens – möchte sie niemals verzichten. Als geschiedene Frau und Alleinerzieherin hätte sie es in einem patriarchalen Land wie der Türkei zudem sehr viel schwerer als hierzulande. Eigentlich fühle sie sich nur zu 30% als Türkin und zu 70% als Österreicherin, besser gesagt als Salzburgerin. Deshalb lasse sie sich gerade eine Salzburger Tracht mit einem dazu passenden Kopftuch schneidern, demonstrativ, als Ausdruck ihrer Salzburger Identität. Ob die Einheimischen so etwas akzeptieren würden?, fragen die anderen. Gibt es sie nicht doch – jene Grenze, die man als Zugewanderter niemals überschreiten sollte? Eine Türkin mit Tracht und Kopftuch, eine Afghanin im Dirndl, ein Afrikaner mit Lederhose? Ob das die Einheimischen nicht unangenehm berühren würde? Ob sie so etwas nicht lächerlich fänden? Wenn allgemein akzeptiert wird, dass Einwanderer Wiener, Salzburger oder Vorarlberger Dialekt mit türkischem Akzent sprechen, warum soll dann eine Tracht mit Kopftuch nicht zulässig sein?, frage ich. Sollen wir Trachten oder Volkslieder Deutschtümlern und Rechtsradikalen überlassen so wie die Mozartkugel einem Herrn Doktor Schüssel, damit er sie zum nationalen Symbol überhöhen und sogleich schablonisieren und ablegen kann? Es ist kein Zufall, dass Yasemin oft von ihrer Salzburger und nur selten von ihrer österreichischen Identität spricht. Es fällt mir auf, wie bereitwillig sie und andere Zuwanderer gerade die lokalen Zugehörigkeiten übernehmen, weil diese klarer sind und mit dem Alltag zu tun haben. Fast könnte man meinen, das Lokale wäre harmloser, apolitischer, während Österreich viel öfter für die negativen Zuordnungen und Projektionen herhalten muss. Vor allem in Wien trifft man oft Menschen mit dieser Einstellung. Ich kenne Zuwanderer, die behaupten, sich in Wien wohlzufühlen oder schon echte Wiener zu sein, während sie gleichzeitig beklagen, Österreich sei ein minderheitenfeindliches Land. Wien steht für die Lebensart, Österreich für den Staat und die Gesellschaft … Der Gesellschaft wirft Yasemin fehlende Offenheit, den Einheimischen Arroganz gegenüber Zuwanderern vor. Nein, die Einheimischen würden sie, eine Muslima mit Kopftuch, natürlich niemals als echte Salzburgerin akzeptieren, egal, wie gut sie Deutsch spricht, wie aufgeschlossen sie ist und welche Meinungen sie vertritt. Die andere MigrantInnen pflichten ihr bei. Keiner von ihnen ist zur Gänze angekommen. Sie sprechen von Unsicherheit, von Isolation und von sozialer Kälte, beklagen die Minderwertigkeitskomplexe und die fehlende Zivilcourage der Einheimischen. Je länger das Gespräch dauert, desto stärker bröckelt die schöne Fassade, die sie Österreich anfangs verpasst haben, desto stärker treten Angst und Irritation an ihre Stelle. “Wo ist mein Österreich?”, fragt Kamala. Ist es die FPÖ mit ihren Wahlerfolgen, sind es jene, die mich ausgrenzen, oder sind es die Hunderttausenden, die dagegen protestieren und sich dafür engagieren, dass sich die Zustände ändern? Welches dieser Österreichbilder überwiegt? Welches ist prägender für mich? Ich kann es nicht sagen. SELBSTERFAHRUNG: WO SIND DIE BERGE ? Meine eigene Emigration begann, als ich fünf Jahre alt war. Meine Eltern und ich wanderten – über Österreich – nach Israel aus. Mutter erzählte mir, Österreich sei ein gebirgiges Land, in dem alle Menschen Ski fahren würden, und so stellte ich mir Wien als eine Ansammlung von Häusern am Steilhang vor, wo jeder auf Skiern zum Einkaufen oder zur Arbeit fuhr. Doch in den wenigen Tagen, die wir in Österreich verbrachten, bekamen wir nicht einmal einen Hügel zu Gesicht. Der Ort Schönau, wo sich das Durchgangslager für jüdische Auswanderer aus der Sowjetunion befand, liegt am Rande des Marchfelds. Die höchste Erhebung dort ist der Kirchturm. Meine Eltern waren enttäuscht. Sie hatten sich Österreich anders vorgestellt. Die Alpen sah ich erst ein Jahr später. Meine Eltern konnten in Israel nicht heimisch werden. Sie kehrten nach Europa zurück und blieben schließlich in Wien hängen. Trotz sechs weiterer Zwischenstationen der Emigration in den nächsten neun Jahren, kamen wir jedes mal nach Wien zurück. In der Schule lernte ich die Namen der umliegenden Berge: Bisamberg, Leopoldsberg, Kahlenberg, Hermannskogel. Dort gab es keine Skifahrer. Ich lernte Deutsch, und je mehr ich verstand, desto konkreter wurden meine Vorstellungen. Offenbar gab es hinter den Hügeln des Wienerwalds noch weitere, weitaus höhere Berge, und nachdem die österreichische Hymne mit den Worten Land der Berge, Land am Strome beginnt, nahm ich an, die größten und wichtigsten Berge lägen – wie der Bisam- und der Leopoldsberg – an der Donau. Wie reizvoll musste es wohl sein, mit den Skiern bis zum Ufer des Flusses hinunter zu fahren! Eines Tages zeichnete ich eine bizarre Berglandschaft mit felsigen Gipfeln, die bis zu den Wolken und manche noch höher – fast bis zur Sonne – hinauf reichten. Und tief unten im Tal floss der große, majestätische Fluss. Einen ganzen Nachmittag lang vertiefte ich mich in diese Welt, malte Passagierschiffe, Schleppkähne und Uferpromenaden, skizzierte ein paar Häuser, Lastwagen und Motorräder, errichtete eine Eisenbahnbrücke zwischen den schwarzen Augen zweier Tunneleinfahrten und platzierte überall, ob oben auf den Gletschern oder unten im Tal, unzählige Skifahrer in mein Bild. Sie rasten von den Bergspitzen zu den Schiffsanlegestellen hinunter, wo sie sogleich jene Schiffe bestiegen, die sie zurück in die Stadt, also nach Wien, brachten … Meine Mutter fand meine Darstellung “fantasievoll und realistisch”, doch Vater meinte, es gebe keine Berge an der Donau, sondern nur Städte, Dörfer und ein paar Hügel. Das wollte ich ihm nicht recht glauben. Offenbar verstand er die Worte der österreichischen Hymne nicht richtig zu deuten. Aber er hatte mich verunsichert, und so beschloss ich, der Sache auf den Grund zu gehen. “Gibt es Berge an der Donau?”, fragte ich meine Mitschüler. Sie schauten mich verständnislos an. “Natürlich gibt es Berge an der Donau”, meinten sie, “den Leopoldsberg.” Berge zum Ski fahren? Aber weswegen sollte man an der Donau Ski fahren und dann mit dem Schiff nach Hause fahren? Dafür gab es doch Busse, und diese waren viel schneller als ein Schiff. Die Hymne? Was hatte die Hymne mit ihren Skikursen zu tun? Einen Skikurs konnten sich meine Eltern nicht leisten, und nachdem ich ein ängstliches Kind war, konnte ich der Vorstellung ohnehin nichts abgewinnen, mit meinen Mitschülern (mit denen ich mich regelmäßig prügelte) eine ganze Woche zu verbringen und mehrmals am Tag von einem steilen Berg auf Skiern hinunter zu fahren. Ich würde mir bestimmt Arme und Beine brechen, wenn ich nicht schon vorher mit dem Sessellift abstürzte. Nein, ich musste das Skifahren nicht erlernen, auch wenn meine Lehrer meinten, ein “richtiger” Österreicher müsse diese Erfahrung gemacht haben. METROPOLE – PROVINZ (“BUNDESLÄNDER”) Als ich etwas älter wurde und ins Gymnasium kam, erfuhr ich, dass sich die Skifahrer-Berge in “den Bundesländern” befanden. Wien war zwar ebenfalls ein Bundesland, aber es gehörte natürlich nicht zu “den” Bundesländern, denn Wien war Wien, und der Rest war Provinz. Demzufolge waren die Bundesländer, so verschieden sie auch sein mochten, auf eine bestimmte Art und Weise alle gleich – sie waren nicht Wien. Kein Bundesland konnte sich von einem anderen so unterscheiden wie es sich von Wien unterschied, genauso wie wir Kinder einander, trotz aller Unterschiede, wesensähnlicher waren als unseren Eltern oder Lehrern. Das Verhältnis Wiens zu den Bundesländern war ähnlich dem der Lehrer zu uns Schülern. Die Rollen waren klar verteilt. Über die Leute aus den Bundesländern erzählte man Witze, besonders über jene aus dem Burgenland. Dort allerdings, das wusste ich schon, gab es keine Berge. In den Bundesländern lebten jedenfalls Menschen, die – und das entnahm ich den meist gutmütig-humorvollen Bemerkungen von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen – in ihrem Denken und Fühlen so eng waren wie ihre Täler oder so klein wie ihre Städte und Dörfer. Schwachen Schülern wurde nahe gelegt, doch “in Gramatneusiedel oder sonst wo in den Bundesländern” ins Gymnasium zu gehen. In der Provinz würden sie die Matura vielleicht schaffen. Das war zwar nicht wirklich ernst gemeint, ein “Schmäh”, doch die Haltung hinter solchen Sätzen war kein Witz und wurde selten hinterfragt. Für mich, den Migranten in Wien, der “die Bundesländer” überhaupt nicht kannte, verkörperten sie etwas Düsteres und Bedrohliches – eine weitere Projektionsfläche für all die negativen Erfahrungen, die ich in der Fremde gemacht hatte. Erlebte ich die Wiener oftmals als ausländerfeindlich und antisemitisch, so mussten die Provinzbewohner “naturgemäß” noch viel ausländerfeindlicher und antisemitischer als die Großstädter sein. Wenn mir Wiener ihre Klischees und Vorurteile offenbarten oder ihre Ignoranz und Bösartigkeit zeigten, so vermutete ich bei den “G’scherten” aus der Provinz dasselbe in einem noch größeren Maße. Zudem verkörperten sie alles, was ich nicht war und nie sein konnte: Dorfbewohner, Bauer, Trachtenträger, Jodler, Katholik, körperbewusster Naturmensch, kerniger Dialektsprecher, mobilitätsscheuer Hinterwäldler, Bergsteiger, Skifahrer. In Wien konnte ich mit etwas Glück mein Fremdsein und meine Herkunft verbergen. In den Bundesländern, insbesondere dort, wo die Skifahrer-Berge zu finden waren, würde mir das niemals gelingen, ganz egal, ob ich Ski fahren konnte oder nicht… SKI- SPORT: INKLUSION | EXKLUSION Mit der Zeit erkannte ich jedoch, dass es gerade das Skifahren war, das manchmal den Gegensatz zwischen Wien und dem Rest des Landes aufzuheben vermochte. Fast alle Kinder aus der Großstadt fuhren auf Skikurse. Viele verbrachten die Winterurlaube mit ihren Eltern im Gebirge. Im Skisport war Österreich im Unterschied zu Eishockey, Fußball oder anderen bekannten Sportarten eine Weltmacht. Wenn Annemarie Moser und all die anderen Berühmtheiten, deren Namen ich längst vergessen habe, ein Rennen gewannen, wenn sie Europa-, Weltmeister oder Olympiasieger wurden, wenn sie mit ihren Medaillen um den Hals auf Siegerpodeste stiegen und zum Klang der nicht sonderlich populären Nationalhymne feuchte Augen bekamen, jubelten die Wiener genauso wie alle anderen Österreicher “ihren” Champions, die natürlich allesamt aus den Bundesländern stammten, begeistert zu. Über jedes wichtige Rennen, über dramatische Höhepunkte, Siege oder knappe Niederlagen sprachen meine Mitschüler noch tagelang. Sie kommentierten die Ereignisse, stritten, wechselten Fachausdrücke, die ich nicht verstand, und es kam mir vor, als hätten sie diese Rennen nicht auf den Schwarzweißbildschirmen ihrer Fernsehgeräte mitverfolgt, sondern hautnah miterlebt. Das Skifahren in all seinen Erscheinungsformen, Skiern, Skischuhen, Skikleidung, Pisten, Skihütten, Hotels, Skifahrern und Medaillengewinnern war der bedeutendste österreichische Export, ja darüber hinaus (neben der Neutralität, der Mozartkugel und den Lipizzanern, denen man ergänzend vielleicht die Sissi-Filme, den Parteienproporz und die Sozialpartnerschaft hinzufügen könnte) etwas, das für die ziemlich ambivalente österreichische Identität jener Zeit als typisch und somit konstitutiv angesehen werden konnte. Anderswo erfüllte, wie schon erwähnt, Wichtigeres und Gewichtigeres diese identitätsstiftende Rolle. Andere Staaten hatten Revolutionen und gewonnene Kriege, Präsidenten, die Großes geleistet hatten, oder Königshäuser, die schon seit Jahrhunderten auf dem Thron saßen. Manche Länder hatten eine glorreiche Vergangenheit, auf die spätere, nicht mehr ganz so glorreichen Generationen immer noch stolz waren, eine Ideologie, einen Gründungsmythos oder zumindest die eingestandene Schuld für die eigenen Verbrechen wie im Falle Westdeutschlands. Österreich konnte Vergleichbares nur zu einem geringen Teil aufbieten. Die Türkenkriege lagen weit zurück und wurden erst viele Jahre später von H. C. Straches FPÖ auf eine äußerst bedenkliche Weise als nationales Symbol reaktiviert. Die k.u.k.-Monarchie war ein gescheitertes Modell. Die meisten ehemaligen Kronländer lagen – im nicht unwesentlichen Maße als Folge dieses Scheiterns – unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang. Das verstanden sogar jene, die den untergegangenen Staat nachträglich verklärten. Das Wien Klimts und Schnitzlers, Freuds und Wittgensteins, der Kaffeehausliteraten und der Avantgarde hatte nur wenig mit “den Bundesländern” zu tun gehabt und war außerdem mit aktiver Beihilfe zahlreicher Wiener brutal vernichtet worden. Manchmal hörte man von Amerikanern oder Briten, die gerade mit einem der Nobelpreise ausgezeichnet worden waren, sie seien in Wien geboren und wären “eigentlich” Österreicher, besser gesagt, sie wären solche geblieben, wenn sie nicht 1938 vertrieben worden wären. Sogar die Kronenzeitung berichtete über diese Menschen mit einem gewissen, wenn auch verhaltenen Stolz. Doch letztlich war jedem klar, dass man die Leistungen dieser Menschen im Exil “eigentlich” nicht für Österreich reklamieren durfte. Und dass man auf den berühmtesten österreichischen “Export” – den Massenmörder aus Braunau – nicht wirklich stolz sein konnte, war in den Siebziger- und Achtzigerjahren selbst den verbohrtesten Ewiggestrigen bewusst. Was blieb, war das “Land der Berge, Land am Strome, Land der Äcker, Land der Dome” – der Wertigkeit nach für die meisten Leute wohl genau in dieser Reihenfolge. Die Landschaft war unbelastet, für alle sichtbar, unhinterfragbar und majestätisch wie die Berggipfel, die sie krönten. Sie war herzeigbar, einmalig und spektakulär. Als Österreicher konnte man sie vereinnahmen, ohne sich dadurch in irgendeiner Weise verdächtig zu machen. Gerade weil sie so unbelastet war, ließ sie sich ohne schlechtes Gewissen bedenkenlos vermarkten – und zerstören. Dass sich das Skifahren zum Massensport entwickelte, war ein “Glück” für Österreich. Auf die als Folge des Tourismus mondän gewordene Provinz konnte man unreflektiert stolz sein. Auf den Pisten und ihrem Umland hatten selbst die kernigen Sprüche des Skilehrers oder das falsche Lächeln der Hoteliersgattin einen Hauch von Weltgewandtheit, und mit etwas Glück und dem entsprechenden Arrangement waren Holländer und Briten, Schweden und Deutsche bereit, Österreich so wahrzunehmen, wie die Einheimischen es ihnen präsentierten, ein Bild mit geglätteten Kanten, dessen Flecken mit einem schneeweißen Tuch zugedeckt waren … Das alles verstand ich als Kind und als Jugendlicher noch nicht (und meine Mitschüler verstanden es genauso wenig), doch ich spürte, dass es beim Skifahren um mehr ging als nur um Ertüchtigung oder Vergnügen. Vielleicht war das der eigentliche Grund, warum ich immer eine Scheu davor hatte, mich auf diese Wintersportart einzulassen, obwohl sie eine seltsame – eher intuitiv empfundene als rational fassbare – Faszination auf mich ausübte. Doch ich spürte, dass ich einen anderen Weg gehen musste, um mich Österreich anzunähern und es zu meinem Land zu machen. Ich erkannte, dass die präparierten Pisten, die andere ans Ziel brachten, für mich nicht taugten, weil ich anders ausgestattet war und einen anderen Blick auf die Umgebung hatte. Und so verweigerte ich manches, womit ich als noch nicht ausgelernter, aber fleißig lernender Österreicher bei den Eingeborenen leicht hätte punkten können. Was die Quintessenz der österreichischen Erwartung an die Integration von Zuwanderern war, hatte ich bald verstanden: Regelkonformes Verhalten und Erfolg allein genügten nicht. Darüberhinaus sollte man die Leidenschaften und Sehnsüchte der Einheimischen internalisieren, ihre Mentalität übernehmen, anstatt die eigene als Ergänzung einzubringen. Als die Skikurse im Gymnasium zu einem verpflichtenden Teil des Unterrichts wurden, “erkrankte” ich regelmäßig, wenn die Abreise bevorstand. Das Skifahren war aus Prinzip etwas, das ich verweigerte, und mit “den Bundesländern” wollte ich ohnehin nichts zu tun haben … Ob es wohl trotzdem nur ein Zufall war, dass ich mich im Alter von fünfundzwanzig Jahren in eine Tirolerin aus dem Stubaital verliebte, die später meine Frau wurde und mit der ich heute in Salzburg zusammenlebe? EIN “FREMDES” KIND Alles in allem habe ich mich, auch ohne Ski fahren zu können, gut in die österreichische Gesellschaft integriert. Gewiss: die ausländerfeindlichen und antisemitischen Äußerungen, die ich als Kind in Wien zu hören bekam, trugen nicht dazu bei, mich in diesem Land wohl zu fühlen. Aber mit Fremdenfeindlichkeit war ich in meiner Jugend auch anderenorts konfrontiert. Im Gymnasium war ich lange Zeit der einzige Ausländer, und das, obwohl im Bezirk, in dem ich wohnte, der Brigittenau, schon damals etwa ein Viertel bis ein Drittel der Einwohner aus Zugewanderten bestand. Mein Turn- und Geographielehrer mochte mich nicht besonders und erklärte offen, ein Ausländer gehöre nicht ins Gymnasium. Andere Lehrer schätzten mich wiederum dafür, dass ich mich anpasste und keine Schwierigkeiten machte. Manche Leute, die mir ein Kompliment machen wollten, sagten den altbekannten Spruch auf, man solle in ein Wiener Telefonbuch schauen: Jeder zweite Familienname klinge tschechisch oder ungarisch. Inzwischen seien all diese Menschen längst richtige Österreicher. Allerdings seien die Zuwanderer von heute nicht mit den Zuwanderern von früher zu vergleichen. Viele Gastarbeiter seien schmutzig und faul. Ich jedoch sei damit nicht gemeint. Ich sei ein netter Bub, obwohl ich aus Russland käme. Als die Russen in Österreich einmarschiert seien, hätten sie geraubt, geplündert, vergewaltigt und aus Klomuscheln getrunken. Was denn einen richtigen Österreicher ausmache, wollte ich wissen. “Ein richtiger Österreicher”, wurde mir erklärt, “grüßt, wenn er jemandem im Stiegenhaus begegnet, wäscht sich nach dem Klogang die Hände, wechselt jeden Tag sein Hemd und arbeitet fleißig. Er weiß aber das Leben zu genießen, nimmt nicht alles bierernst und hat Humor, im Unterschied zu den Deutschen.” Man schimpfte zwar über “die Piefke”, hatte aber während des Krieges “seine Pflicht getan”. Man nannte Hitler einen Massenmörder und Verbrecher, räumte aber ein, er habe Autobahnen gebaut und das Land modernisiert. Gleichzeitig betonte man oftmals stolz, Hitler sei zwar in Österreich geboren, habe aber nicht in seinem Heimatland, sondern nur in Deutschland Karriere machen können. Und in Kärnten verteidigten jahrzehntelang Österreicher mit slowenisch klingenden Familiennamen die deutsche Sprache und Kultur gegen eine Invasion durch zweisprachige Ortstafeln. Robert Menasse hatte schon recht, als er behauptete, Österreich sei das Land des “Entweder und Oder”(4). Vielleicht habe ich mich ja gerade deswegen so bereitwillig integriert. Es mag zwar sein, dass ich nicht nach Österreich passte, aber Österreich mit seiner brüchigen Identität passte ganz gut zu mir… Im aufschlussreichen und geistreichen Buch Die Integrationslüge, Antworten in einer hysterisch geführten Auseinandersetzung von Eva Maria Bachinger und Martin Schenk(5) steht ein Satz, der das Problem der österreichischen Gesellschaft mit Zuwanderern auf den Punkt bringt: Die Integrationslüge spricht über die anderen immer als Andersartige, macht Zugewanderte fremder, als sie sind, und Hiesige heimischer, als sie es je waren. Oder lässt sich die anderen mittels romantischem Kulturalismus auf der Zunge zergehen. Der für mich entscheidende Gedanke ist, dass “Hiesige” in der öffentlichen Debatte rund um Zuwanderung und Integration “heimischer” erscheinen, als sie es je waren. Es wird also – als Gegensatz zum Fremden – eine homogene einheimische Identität postuliert. Dabei handelt es sich primär um eine negative Konstruktion. Negative Konstruktionen zu schaffen, ist einfacher als positive, denn es ist leichter zu behaupten, was man nicht ist (oder nicht sein möchte) als das, was man darstellt. Dadurch entsteht ein Idealbild ex negativo, mit dem sich viele Einheimische gerade dann identifizieren, wenn sie die als “fremd” definierten, negativen Eigenschaften als Anteil des eigenen Selbst verdrängen. Demzufolge sind Einheimische in ihrem Denken und Handeln natürlich nicht (mehr) patriarchal geprägt, sie sind nicht (mehr) frauenfeindlich, ihr Handeln ist natürlich längst nicht mehr religiös motiviert. Sie sind weder ungebildet noch faul, weder gewaltbereit noch primitiv. Sie kleiden sich “zivilisiert”, haben “kultivierte” Umgangsformen und eine liberal-fortschrittliche Grundhaltung (die Respektierung der Grundrechte von Kindern und Jugendlichen eingeschlossen), die der Aufklärung, dem Wohlstand, dem Sozialsystem und dem moderaten Klima geschuldet ist. Ihre Töchter werden im Geiste der Emanzipation und Gleichberechtigung der Geschlechter erzogen, brauchen kein Kopftuch zu tragen und dürfen in der Schule am Schwimmunterricht teilnehmen. Stimmt doch alles, nicht wahr? Oder doch nicht? War es wirklich ein Zufall, dass eine FPÖ-Politikerin, die Mohammed als Kinderschänder bezeichnete, dies gerade zu einem Zeitpunkt tat, als die Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche in allen Medien waren? SELBSTBILD, IDEAL VS. INTEGRATION, REAL Die Erschaffung eines idealen Selbstbildes als Gegenbild zu einem als bedrohlich empfundenen “Fremden” ist natürlich kein rein österreichisches Phänomen. Dennoch überrascht es auf den ersten Blick sehr, warum gerade in Österreich, dem Land mit der, auch in Zeiten der Wirtschaftskrise, niedrigsten Arbeitslosigkeit und den geringsten sozialen Spannungen innerhalb der EU (sieht man einmal vom Zwergstaat Luxemburg ab), rechtspopulistische Parteien wie die FPÖ/FPK/BZÖ dermaßen erfolgreich sind. Faschistoide Bewegungen (ich verwende den Begriff jetzt bewusst verallgemeinernd) werden meist in Zeiten nationaler Katastrophen, die von sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen begleitet werden, stark. Trotz aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten und sozialen Spannungen, die es in Österreich gibt, kann man wohl schwerlich behaupten, das Land befinde sich in einer nationalen Krise oder habe mit Umwälzungen oder gar Katastrophen (von Naturkatastrophen abgesehen) zu kämpfen. Zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen in Österreich mag es Konflikte geben, doch das Zusammenleben klappt trotz allem ganz gut. Sogar dort, wo viel Konfliktpotenzial vorhanden ist, kommt es selten zu Gewalt. Exzesse, wie in den Zuwandererghettos der Pariser Banlieue, in den Slums von Berlin oder in London, wo ein wütender Mob ganze Viertel in Schutt und Asche legte, wären in Wien, Linz oder Dornbirn undenkbar. Unter den Großstädten der Welt mit der höchsten Lebensqualität wird Wien schon seit Jahren unter den Top Drei geführt. Das heißt bekanntermaßen nicht, dass es bei uns keine Armut und Not, keine Modernisierungsverlierer, keinen Sozialabbau oder keine arbeitslosen Jugendlichen gibt, deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt aufgrund ihres Migrationshintergrunds, ihrer schlechten Ausbildung oder ihrer mangelnden Deutschkenntnisse noch geringer sind als bei Einheimischen. Die schlechte Integrationspolitik trägt das ihre dazu bei. Die Reichen werden reicher und die Armen immer ärmer, wobei die meisten Zugewanderten sowie deren Kinder zur zweiten Kategorie gehört. Dennoch ist Österreich weiterhin ein erstaunlich gut funktionierender Staat – “zivilisiert”, wie Milena, die Migrantin aus Serbien, gemeint hatte. Daran ändern sogar die Korruptionsskandale nichts, die heute in aller Munde sind. Einige andere EU-Staaten sind noch korrupter als wir. Warum also erreichte die FPÖ bei den Gemeinderatswahlen in Wien im Jahre 2010 mit ausländerfeindlichen Parolen, die dem Nazi-Hetzblatt Der Stürmer entnommen hätten sein können, mehr als 25 Prozent der Stimmen, einen Wert, der in London, Paris oder Berlin für eine Partei mit einer vergleichbaren Ideologie undenkbar wäre? Warum ist der FPÖ-Politiker Dieter Egger, der 2009 mit einer antisemitischen Äußerung traurige Berühmtheit erlangt hatte, ausgerechnet der “Integrationssprecher” seiner Partei in Vorarlberg? Wenn das nicht Chuzpe ist?! Warum haben wir erst seit eineinhalb Jahren einen Integrationsstaatssekretär? Warum gibt es bei uns, im Unterschied zu vielen anderen Ländern, kaum Zuwanderer der ersten und zweiten Generation in führenden Positionen, am wenigsten in der Politik? Hat dies wirklich nur damit zu tun, dass die meisten Einwanderer aus so genannten bildungsfernen Schichten stammen? Dies würde auf Länder wie Deutschland, Norwegen oder Frankreich genauso zutreffen … DAS FREMDE IM EIGENEN Der Grund dafür hat nicht primär mit unserer Wirtschaftstruktur oder mit realen Konflikten (von denen es natürlich mehr als genug gibt) zu tun oder damit, dass sich einige Zuwanderer gar nicht in die österreichische Gesellschaft integrieren wollen (Zuwanderergruppen, die integrationsunwillig sind, gibt es nicht nur bei uns). Vielmehr handelt es sich um ein emotionelles Problem. Es geht um Gefühle, um die schon erwähnte Auseinandersetzung mit dem Fremden im Eigenen, die sich bis heute, trotz “Vergangenheitbewältigung” und einer sich entwickelnden und immer hörbarer werdenden Zivilgesellschaft, nur allzu oft in Form von Abwehr und Verdrängung manifestiert. Österreich ist ein Land mit Migrationshintergrund. Sogar die Kelten sind irgendwann zugewandert. Nachkommen römischer Siedler, hunnischer Eroberer oder tschechischer Hilfsarbeiter, Enkel von Sudetendeutschen oder ungarischen Flüchtlingen sind demzufolge für Österreich genauso typisch wie die Kinder von Gastarbeitern aus Ostanatolien. Länder, die nicht – wie wir – “im Herzen”, sondern an den Nieren, den Zehenspitzen oder Oberarmen Europas liegen, haben einen anderen historischen Hintergrund. Schweden, Finnland oder die Niederlande sind Länder mit klareren Identitäten. Dies ist ein wichtiger Grund, warum diese Länder, trotz aller Probleme, die es auch dort mit Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus gibt, offenere Gesellschaften sind und eine bessere Integrationspolitik haben als wir. Wer sich seiner eigenen Identität sicher ist, sieht im anderen nicht automatisch eine Gefahr. Wenn FPÖ-Politiker den Islam kritisieren, meinen sie in Wirklichkeit Zuwanderer aus der Türkei oder Flüchtlinge aus Afghanistan. Gerade in Österreich ist der vermeintliche “Religionskrieg” meistens “nur” ein Rassismus mit anderen Mitteln. Es wäre naiv zu glauben, dass Rechtsradikale, FPÖ-Wähler oder Modernisierungsverlierer, die nach Sündenböcken suchen, zwischen türkischen Alewiten, irakischen Christen oder libanesischen Schiiten einen großen Unterschied machen. Das geistige Klima des modernen Österreich ist stark vom Prozess der Staatsbildung geprägt, der im 17. Jahrhundert einsetzte , schreibt der amerikanische Historiker und Österreichspezialist Evan Burr Bukey. Jüngste Forschungen haben gezeigt, dass die Gegenreformation substanziell und nachhaltig die Psyche der Menschen prägte.(6) Im Zuge der Rekatholisierung, einer Zeit, in der Österreich als zentral gelenkter, bürokratischer Staat entstanden ist, sei eine dualistische Weltanschauung gelehrt worden, nach der ein unerbittlicher Gott Gewalt gegen klar definierte Feinde billigt: gegen Protestanten, Türken und Juden. Die repressive Staatsgewalt und die Kirche mit ihren Dogmen hätten dazu geführt, dass die Leute geradezu zur Heuchelei gezwungen wurden und meist ausweichende Antworten gaben, ein Verhalten, das noch heute in Gesprächen mit Wienern zu beobachten sei .(7) Ich frage mich, wann die Leute heucheln. Heucheln sie, wenn sie freundlich zu Immigranten sind und mit ihnen im Alltag gut auskommen, oder wenn sie rechtspopulistische Parteien wählen? Oder brauchen sie sich gar nicht zu verstellen, weil ihnen die Heuchelei so in Fleisch und Blut übergangen ist, dass dahinter ohnehin keine Meinung mehr zu finden ist, die verborgen und geschützt werden soll? ZUWANDERUNG IM WANDEL As Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Zehntausende Tschechen, Ungarn, Italiener oder Juden nach Wien und in die anderen Kernländer der Monarchie, unter anderem auch nach Vorarlberg, migrierten, wirkte sich diese Zuwanderung auf die Kultur, die Sprache, die Mentalität und den Alltag der Einheimischen (bis hin zur Küche) aus. Diese Tatsache wird oft heute noch positiv interpretiert und verkitscht. “Ich vermisse Wien und seine slawische Seele”, erklärte mir vor kurzem zum Beispiel eine österreichische Diplomatin in Paris. Was die großen Zuwanderergruppen der letzten fünfzig Jahre – insbesondere Türken und (Ex-) Jugoslawen – betrifft, sieht die Sache anders aus. Kaum ein Österreicher (auch dann, wenn er selbst aus den beiden genannten Ländern zugewandert ist) würde heute von einem wesentlichen Einfluss der türkischen oder südlawischen Sprachen und Kulturen auf das “genuin Österreichische” (bzw. das, was als solches empfunden wird) sprechen. Der regelmäßige Besuch eines Kebab-Standls ist zu wenig, um von einem wesentlichen kulturellen Einfluss zu sprechen. Vor hundert Jahren hätte allerdings ein durchschnittlicher Lueger-Wähler in Wien die jüdische Kultur genauso als fremdartig und mit der heimischen Mentalität und Lebensart als unvereinaber bezeichnet, wie es der heutige Strache-Wähler tut, wenn er über den Islam oder “die Türken” redet. Die meisten Bewohner des heutigen Österreich wollten nämlich schon zu Zeiten der k.u.k.-Monarchie lieber Einheitskultur statt Vielfalt, Statik statt Mobilität, klare hierarchische Strukturen und den Obrigkeitsstaat statt einer offenen Gesellschaft. Die Bewohner Ungarns, Böhmens oder Kroatiens dachten, was ihre eigenen Länder betrifft, genauso. Daran – und nicht an den Folgen des Ersten Weltkrieg oder der Unfähigkeit ihrer Eliten – ist die Monarchie, die durchaus das Potenzial zu einem mitteleuropäischen Vorgängerstaat der EU gehabt hätte, letztlich zerbrochen. Doch in einem Vielvölkerstaat, dessen Migrationszahlen prozentuell gesehen ein Vielfaches dessen ausmachten als jene von heute, waren die völlige Ausgrenzung und Abwehr der aus anderen Teilen des Landes zugewanderten Staatsbürger nicht möglich. In der seit 1920 von der antidemokratischen, klerikalen und antisemitischen Christlichsozialen Partei regierten Ersten Republik und im Ständestaat waren es dann natürlich nicht das Rote Wien oder die Industriegebiete Oberösterreichs und der Steiermark, auf die sich der Staat kulturell und ideologisch stützte, sondern die in Zeiten der Monarchie von der Zuwanderung kaum betroffenen, weitgehend noch agrarisch geprägten, vormodernen Bundesländer wie Tirol, Salzburg oder Niederösterreich. Vom Vielvölkerstaat zur Lederhosenrepublik. Die Zuwanderer sollten sich, wenn sie nicht als Juden von vornherein stigmatisiert waren, tunlichst an die vorgegebene deutsch-alpenländische Leitkultur assimilieren. Also assimilierten sich die meisten – entweder freiwillig, oder sie beugten sich dem Druck der Verhältnisse. Böhmen, Ungarn und viele Kärntner Slowenen germanisierten und arisierten sich, sodass sie in den Jahren, die kommen sollten, auf der “richtigen” Seite stehen konnten. 1938 jubelten auch sie Hitlers Truppen zu, die in Österreich einmarschierten. Und heute sind von ihrer Herkunft meist nur noch die Familiennamen übrig geblieben – oft verbunden mit einem dumpfen, unbewussten Gefühl, einer Ahnung, dass in ihren Familiengeschichten (wie im ganzen Land) manches nicht so gelaufen ist, wie es vielleicht hätte laufen können oder sollen … ASSIMILATION Ich habe den Eindruck, dass sich viele Österreicher für die Zugewanderten der letzten Jahrzehnte sowie deren Kinder und Enkelkinder eine ähnliche “Integration” wünschen. Wenn irgendwann einmal eine Frau Gudrun Çalikoglu als Spitzenkandidatin der Freiheitlichen Partei flammende Reden gegen die Flut chinesischer Zuwanderer in unser Land hält (und sie werden bald kommen – die Zuwanderer aus China), dann hat die Integration offensichtlich funktioniert. Nicht wahr? Oder nicht? Mir persönlich gefällt Yasemins Haltung sehr viel besser. Diese ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Die meisten anderen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund werden sich wohl keine eigene Tracht mit einem dazu passenden Kopftuch schneidern lassen. Gerade in kleineren österreichischen Städten, aber auch in Wien oder Salzburg, bleiben Zuwanderer und Einheimische tausende Kilometer voneinander entfernt, auch wenn sie denselben Bus, denselben Gehsteig oder dieselbe Treppe benutzen, miteinander arbeiten oder Geschäfte machen. Demzufolge gefällt mir das Bild von Yasemin, der muslimischen Religionslehrerin, die in Tracht mit Kopftuch gekleidet mit ihren migrationshintergründigen und weniger hintergründigen Freundinnen und Freunden, Mineralwasser trinkend und Putenschinken essend, am Stammtisch im Salzburger Bräustüberl sitzt und im Salzburger Dialekt plaudert. Das wäre kein “romantischer Kulturalismus”, sondern gelebter Alltag, ein Signal, ein kleines, wenn auch provokantes Zeichen, das die Richtung weist, in die sich unser Land bewegen sollte … Vor dem Krieg trugen übrigens auch viele Juden Tracht, bis die Nazis es ihnen verboten, und der österreichisch-jüdische Schriftsteller Leo Perutz, der in den Dreißigerjahren nach Palästina geflüchtet war, zog noch in den Fünfzigerjahren gerne Lederhosen an, wenn er in Bad Aussee seinen Urlaub verbrachte. In meiner Jugend wurde – besonders im urbanen Raum – das Tragen der Tracht als Ausdruck einer rechten Gesinnung angesehen. Wer vor 25 Jahren als junger Mensch in Städten wie Wien, Salzburg oder Graz in Tracht herumlief, hatte meist politische Ansichten, die mir zurecht Angst machten. Heute hingegen gibt es in Salzburg ganze Schulklassen, die zu ihren Maturafeiern in Tracht erscheinen, und es wäre natürlich verfehlt, sämtlichen Schülerinnen und Schülern oder ihren Eltern eine rechte Gesinnung zu unterstellen. Die Zeiten ändern sich. Das Bild einer Salzburger Muslima mit türkischem Migrationshintergrund in Tracht (mit oder ohne Kopftuch) wäre also ein guter Ausgangspunkt dafür, um darüber nachzudenken, was bestimmte Ausdrucksformen österreichischer Tradition heute bedeuten, in welchem historischen und kulturellen Kontext sie oft betrachtet werden und warum. Man könnte darüber nachdenken, wie diese Ausdrucksformen (zu denen auch sprachliche Begriffe wie Heimat oder Volk gehören), die in der NS-Zeit pervertiert und somit für spätere Generationen mit einer entsprechenden Bedeutung aufgelanden worden sind, neu definiert werden können, gerade weil sie für viele Zuwanderer den historischen Ballast nicht haben, mit dem Einheimische leben müssen. XENOPHOBIE Ironischerweise ist die offene und artikulierte Abwehr des Fremden, die sich in den Wahlerfolgen rechtspopulistischer Gruppen zeigt, ein Zeichen dafür, dass der Prozess einer neuen Identitätsbildung Österreichs jenseits von Schüssels “alten Schablonen” tatsächlich begonnen hat. Die Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus und mit seiner Ideologie zwingt uns nämlich nicht nur zu einer Beschäftigung mit den Ursachen für die rechten Tendenzen in unserem Land sowie mit dem Feindbild der Rechten – dem vermeintlich Fremden -, sondern zu einer klareren Definition des Eigenen. Erinnern wir uns, dass es im Jahre 1986 Kurt Waldheim war, der mit seiner Bemerkung, er habe während des Krieges “nur seine Pflicht getan”, eine längst überfällige öffentliche Diskussion über die österreichische Vergangenheit provozierte, die das Land nachhaltig veränderte. Analog dazu bewirkt die von Jahr zu Jahr immer intensiver geführte “Integrationsdebatte”, dass wir uns nicht nur fragen, welches Alltagsverhalten wir von den in dieses Land zugewanderten Menschen einfordern sollen, sondern auch, welche Hoffnungen, positiven Identifikationsbilder und Erfahrungen wir den nach Österreich kommenden Migrantinnen und Migranten anbieten können, damit sie sich in diesem Land wohl und nach einiger Zeit zu Hause fühlen können. Mit welchem Recht können wir von ihnen dann Integration, Anpassung und die Änderung bestimmter Verhaltensweisen verlangen, wenn wir ihnen positive Bilder dieser Art nicht geben können? Die aus der Türkei stammende deutsche Soziologin und Autorin Necla Kelek beschrieb in ihrer Rede zur Verleihung des Geschwister Scholl Preises 2005 in München, wie ihr zahlreiche Menschen geholfen hatten, die Kultur ihres neues Heimatlandes anzunehmen und für sich selbst positiv zu bewerten: Es war meine Lehrerin, die dafür sorgte, dass ich wieder zur Schule ging; […] es war die Gewerkschaftssekretärin, die meine Mutter überredete, mich an Seminaren teilnehmen zu lassen; es waren die Kollegen, die mich zur Jugendvertreterin wählten; es war meine Wohngemeinschaft, die mir abverlangte, für mich und andere verantwortlich zu sein. […] Es war die deutsche Gesellschaft, die dem kleinen Mädchen aus Istanbul den Zweifel, das Vertrauen, den Mut und die Freiheit schenkte.(8) Hier in Österreich gibt es keine Migrantinnen und Migranten, die in der gleichen Weise überregional wahrgenommen werden, auf hohem intellektuellen Niveau argumentieren und den öffentlichen Diskurs vorantreiben wie, um nur ein paar wenige zu nennen, Necla Kelek, Lamya Kaddor oder Feridun Zaimoglu in Deutschland. Dafür hatte Deutschland in den letzten beiden Jahrzehnten keine rechtsradikalen Politiker, die so erfolgreich waren wie hierzulande Jörg Haider oder H.C. Strache. Es gibt trotzdem Zuwanderer, die dasselbe über Österreich sagen könnten wie Necla Kelek über Deutschland. Den positiven Erinnerungen folgt jedoch fast immer ein “andererseits”, eine Relativierung, der Schilderung schmerzvoller Erlebnisse und Enttäuschungen. Negatives und Schmerzvolles haben auch die meisten Zuwanderer in Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden erlebt, nur dass die Gesellschaften dieser Ländern durchlässiger sind und Erfolgsgeschichten von Zuwanderern über einen bescheidenen Erfolg hinaus öfter zulassen. Die Hürden, die man überwinden muss, um akzeptiert zu werden und dazu zu gehören, sind dort eben nicht so hoch sind wie bei uns… INTEGRATION – MIT GRENZEN Spät aber doch haben viele Menschen erkannt, wie verfehlt unsere Politik der letzten fünfzig Jahre gewesen ist. In Vorarlberg mag es inzwischen – im Vergleich zu anderen Bundesländern – einige gute und zielführende Integrationsmaßnahmen geben. Anderswo hat sich seit meiner Schulzeit vor vierzig Jahren nicht viel geändert. Als Erstklassler besuchte ich an zwei Schulstunden in der Woche einen “Sprachkurs für Gastarbeiterkinder”. Heute beschränkt sich die Sprachförderung in manchen österreichischen Kindergärten und Volksschulen immer noch auf wenige Stunden in der Woche. Kein großer Fortschritt im Jahre 2012 gegenüber 1972 … Dabei hat die österreichische Gesellschaft durchaus das Potenzial, Zuwanderern “Vertrauen, Mut und Freiheit” zu schenken, denn gerade in Österreichs Zwiespältigkeit und vager Definierbarkeit liegt die eigentliche Chance für einen postnationalen Staat, der sich nicht auf Staatsverträge und Neutralitätserklärungen, Mozartkugeln, tanzende Pferde oder Ski fahrende Touristen, sondern auf europäischen Grundwerten, einem neuen Selbstbewusstsein sowie auf dem Bekenntnis zu einer permanenten Veränderung definiert. Österreich ist ein Staat, der gerade, weil er keine positiven historischen und nationalen Anknüpfungspunkte hat, an denen er sich wie selbstverständlich orientieren kann, gerade, weil er so heterogen und somit auf seine Weise sehr typisch für Europa ist, die Möglichkeit bietet, etwas ganz Neues aufzubauen, ohne das Brüchige, Dunkle und Ambivalente des Eigenen zu leugnen. In einem solchen Staat wäre für Zuwanderer sicherlich mehr Platz als heute. Dass immer mehr Menschen, Einheimische wie Zugewanderte, dies erkennen und verinnerlichen, ist der eigentliche Wandel der letzten Jahre. Die Migration hat wesentlich dazu beigetragen, dass dieser Wandel in Gang gekommen ist … Gewiss: Wir könnten Österreich auch einfach abschaffen. Das entspräche sogar dem Zeitgeist. Als Jörg Haider vor ein paar Jahren die Idee hatte, einen “Freistaat Kärnten” zu gründen, war jeder zweite Österreicher, den ich außerhalb Kärntens darauf ansprach, davon begeistert. “Ja, sollen sie doch unabhängig werden”, hieß es. “Dann sind wir sie endlich los.” Was meist als Scherz forumuliert wurde, war ernster gemeint, als es sich anhörte, weil es einem Grundgefühl entsprach. Auch Vorarlberg könnte, genauso gut wie Salzburg oder Tirol, als Freistaat innerhalb der EU weiterbestehen, ohne dass dies, oberflächlich betrachtet, gravierende Folgen für die Bevölkerung hätte. Dies entspräche, wie gesagt, dem Trend hin zum Regionalen, zum Lokalen und Konservativen, der derzeit überall in Europa zu beobachten ist, zur Entsolidarisierung bei gleichzeitig vagem Bekenntnis zu einer gemeinsamen Währung, die es zu retten gilt. Wozu also die Zwischenstufe Wien, wenn doch die Kommunikation und das Geld direkt von Brüssel nach Salzburg, Innsbruck oder Bregenz und retour gehen könnten? Kann es sein, dass einigen von Ihnen diese Idee gefällt? Mir nicht. Trotz der vielen Länder, in denen ich als Emigrant gelebt hatte und der vielen Sprachen und Kulturen, die mich und meine Sicht auf die Welt geprägt haben, fühle ich mich heute in erster Linie als Österreicher. Dieses ambivalente Land stellt nicht trotz, sondern gerade aufgrund der Tatsache, dass wir in einer globalisierten Welt leben und dass die EU sich in einer Krise befindet, eine Herausforderung dar. Die Auseinandersetzung mit Österreichs Vielfalt und Uneindeutigkeiten ist für mich eine der Formen, um mich selbst und das Verhältnis zu meinen Mitmenschen zu hinterfragen. Auf diese gedankliche Reise nehme ich eine Mozartkugel – zusammen mit dem schiefen Bild einer “alten Schablone” – gerne mit … QUELLEN (1) Wikiquote: Wolfgang Schüssel (2) Barack Obama: The Audacity of Hope. Thoughts on Reclaiming the American Dream. Vintage Books, New York 2008, S. 100ff. (3) Evan Burr Bukey: Hitlers Österreich. “Eine Bewegung und ein Volk”. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Europa Verlag, Hamburg/Wien 2001, S. 320 (4) Robert Menasse: Das Land ohne Eigenschaften. Essay zur österreichischen Identität. Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 1995 (5) Eva Maria Bachinger / Martin Schenk: Die Integrationslüge. Antworten in einer hysterisch geführten Auseinandersetzung. Deuticke im Zsolnay Verlag, Wien 2012, S. 9 (6) Evan Burr Bukey: Hitlers Österreich. “Eine Bewegung und ein Volk”. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Europa Verlag, Hamburg/Wien 2001, S. 16 (7) ebenda. (8) Necla Kelek: Chaos der Kulturen. Die Debatte um Islam und Integration. Ausgewählte Reden und Schriften 2005-2011. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012, S. 21-22 Einzelne Passagen dieser Rede sind meinem Essay Gibt es Berge an der Donau? entnommen. Dieser ist in der Anthologie Ski-Spitzen (Molden Verlag, Wien) enthalten, die am 30. Oktober 2012 erscheint … INFO, DETAILS, SOCIAL MEDIA, KONTAKT * Home : www.mit-sprache.net . Kontakt : redaktionmitsprache [ at ] gmail [ dot ] com * Abonnieren Sie den Newsfeed auf Ihrem PC oder Smartphone * mitSprache @Facebook * Twitterfeed @mit_sprache * vimeo- Channel mitSprache kategorien: autoren | authors, kultur | politik, mitSprache | 2012 0 Kommentare | Kommentar verfassen