Für Johannas Enkel I. Teil - 1931 Abschied Seit Johanna wußte, daß sie weggehen würde, sah alles anders aus. Den ganzen langen Sommer über hatte sie jeden Morgen einen Strich in den Pfosten neben dem Schweinekoben geritzt. Es waren jetzt hun-dertundvier Striche. Eine Woche noch. Sie striegelte den verklebten Dreck von den Flanken der drei Kühe, wusch die Euter mit dem Tuch, das immer säuerlich roch, auch wenn man es noch so oft ausspülte. Sie wich gerade noch rechtzeitig dem Kuhschwanz aus, als sie die Bless mit der Wurzelbürste bearbeitete. Die Ziehschwester Maria kam über den Hof und nickte Johanna zu. Der Henkel des Eimers schepperte. Johanna füllte Heu in die "Futterkrippen. Ihre Stiefel schlurften auf dem Lehmboden, Es waren alte Stiefel des Ziehvaters, drei oder vier Nummern zu groß. Wenn Johanna schlaftrunken hineinfuhr, war das praktisch, aber beim Gehen hatte sie Mühe damit. Der Milchstrahl zischte hei! in den leeren Eimer, Später, sobald der Boden bedeckt war, wurde der Klang dumpfer. Als der erste Eimer voll ww, nickte Maria; Johanna schob ihr einen leeren Eimer hin, schnippte iwei Strohhalme aus der schäumenden Milch und goß sie durch das Sieb. Sie schöpfte zwei Liter in die Kanne und trug sie ins Haus. Johanna ging zum Brunnen, pumpte den Eimer voll, spülte ihn aus, pumpte noch einmal und hielt das Gesicht unter den scharfen Strahl. Sic schüttelte sich, daß die Tropfen von ihren Haaren flogen. Die weiße ;;j$ltiK erwischte einen Tropfen auf der Nase und sprang beleidigt zur leite, Wenn sie ihre Jungen bekommt, bin ich nicht mehr da, dachte Jo-feMHlt . Die Kaffeebecher standen auf dem Herdrand aufgereiht, jeder mit dtefTi Namen des Besitzers in Goldlmchstaben. ■v jfohanna fischte mit einem Stück Brot die Haut vom Kaffee. Die 4?iehschwester kam herein. „Die Bless hat was", sagte sie. im „Ich frag den Hadinger", sagte die Ziehmutter. Maria machte eine geringschätzige Handbewegung. „Besser der Tierarzt kommt." „Der kostet Geld." „Und wenn die Bless hin ist, kostet es erst recht Geld." Die Ziehmutter nickte. „So arg ist es? Also gut, wenn du meinst... Johanna, lauf hinüber, wenn du fertig bist mit dem Kaffee." Johanna zog die Stiefel aus und fuhr sich mit dem Kamm durch die Haare, Ein Zahn brach ab. Wenn das so weiterging, war der Kamm bald so zahnlos wie der Ziehvater. Aber der hatte die Zähne im Krieg verloren, lange bevor Johanna auf der Welt war. Sie war 13, fast 14. „Die Zähne ist mir noch der Kaiser schuldig", sagte der Ziehvater gelegentlich. Iis war der einzige Witz, den Johanna je von ihm gehört hatte. „Beeil dich! Und bring gleich ein Paket Malzkaffee mit und ein Kilo Zucker. Die Eier kannst du am Weg in der ,1 raube'abgeben." Johanna ging barfuß. Sie hatte vor ein paar Tagen tegonnen, jeden Abend schwarze Schuhcreme auf ihre Schuhe zu schmieren. Wenn sie bis zum nächsten Sonntag so weitermachte, sah man vielleicht die abgewetzten Stellen nicht mehr. Außerdem waren die Schuhe unbequem. Sie waren ietfcH hatten dem Fräulein Olga gehört, die delPlHerrn Pfarrer die Wirtschaft führte. Der Tierarzt war nicht zu Hause. Seine Frau versprach, er würde noch am Vormittag vorbei kommen. In der „Traube" saß der Viehhändler mit zwei Fremden, an einem anderen Tisch prostete sich der alte Josef mit seinem Schnapsglas selbst zu. Seine Krücke lehnte schräg gegen einen Stuhl, Johanna mußte einen Bogen darum machen. Josef kicherte. „Kannst ruhig drüberspringen, sie tut dir nichts." Marianne brachte dem Viehhändler und seinen Gästen Wein. Sie lehnte sich vor, als sie die Gläser auf den Tisch stellte,' und die drei Männer glotzten in ihren Ausschnitt. Marianne trug ein Dirndl mit engem Mieder. Die Bluse sah ganz brav aus, wenn sie stand, aber wenn sie sich vorbeugte, fielen auch die Rüschen vor. Marianne war kaum älter als Johanna, bis zum Juni waren sie in dieselbe Klasse gegangen. Jetzt half Marianne ihren Eltern im Gasthaus und war kaum wiederzuerkennen. „Ich bring die Eier", sagte Johanna. Sie hatte das Gefühl, daß Marianne sie geringschätzig musterte. Etwas juckte sie am Bein. Sic kratzte sich mit den Zehen des anderen Fußes. Marianne nahm den Eierkorb. „Vierzig sind es." „Ist gut. Willst du das Geld gleich mitnehmen?" „Ja, schon." Mariannes Rock flatterte, als sie sich zur Kasse drehte. Der Viehhändler spitzte die Lippen. Marianne zahlte Johanna das Geld in die Hand. Ihre Mundwinkel kräuselten sich Sollte sie nur grinsen. In einer Woche würde Johanna wegfahren, nach Norden, über den Semmering. So weit war noch keine von ihren Schulkolleginnen gekommen. Sie würde in die Eisenbahn einsteigen und wegfahren, und sie würde etwas lernen. Nicht bloß daheim arbeiten wie Marianne. Sie würde richtig lernen. Schneiderin würde sie werden, und wenn das nicht ging, vielleicht Friseurin. Dann würde keiner mehr fragen, ob sie ehelich oder unehelich geboren war. Dann würde sie keiner mehr mit diesem schiefen Blick ansehen, mit dieser Mischung aus Mitleid und Geringschätzung. Dann würde sie nicht mehr Johanna, das Gemeindekind, sein, sondern Johanna, die Schneiderin. Oder Johanna, die Friseurin. Vielleicht würde sie sich auch so ein Dirndl nähen, mit rotem Mieder und blauem Rock und schwarzer Schürze. „Hast du mein Fahrrad schon gesehen?" fragte Marianne. „Komm, ich aeig's dir." Sic führte Johanna in den Hof. In einem eigenen Verschlag neben dem Holzschuppen stand das Rad. Die Speichen blinkten. Auf dem iehwarzen Rahmen glänzte ein blauer Streifen. „Was sagst du dazu?" „Schön." Marianne spielte mit der Klingel. „Vielleicht laß ich dich einmal Ithren. Wenn du aufpaßt." Johanna sagte, sie müsse heim. Die Ziehmutter arbeitete im Küchengarten. Sie richtete sich auf, fogte beide Hände an den Rücken. „Mach da weiter, ich geh kochen." Johanna übernahm die Harke. Das Unkraut zwischen den Kraut- 8 9 köpfen stand schon wieder hoch. Die Binderwurzeln bildeten ein dicht verfilztes Gewirr und reichten tief. Seit Johanna denken konnte, hatte sie Binderwurzeln ausgegraben, oft einen halben Meter lang, dick und dunkelgelb. Das Unkraut wurde trotzdem nicht weniger. Im nächsten Frühjahr würden Maria und die Ziehmutter allein damit fertig werden müssen. Im nächsten Frühjahr würde Johanna nicht mehr umstechen, nicht mehr Mist einarbeiten, nicht jrehr säen, nicht mehr Unkraut jäten. Sie streifte eine Raupe von einem ^ohlblatt. Die Arbeit im Küchengarten hatte sie nie gemocht. Man kam so langsam weiter, und wenn man endlich fertig war, fand die Ziehmutter immer noch einen Löwenzahn oder einen Hühnerdarm oder gar eine Brennessel. Sie legte großen Wert auf ihren Küchengarten. Fräulein Olga kaufte nur bei ihr Gemüse für das Pfarrhaus, und in der „Traube" schätzte man ihren grünen Salat und ihre Gurken, die nie bitter waren. Johanna klaubte eine Handvoll Steine aus dem Erdbeerbeet. Ob sie dort auch Erdbeeren hatten, wo sie hinfahren würde? Dann waren die Hühner zu füttern. Sie kamen breitbeinig angerannt, als Johanna rief, sogar die schwarze Henne, die immer über die Straße in den Nachbargarten lief. Im nächsten Sommer würde Maria heiraten, sobald ihr Franz von den Dragonern zurückkam. Die Zieheltern würden ihnen den Hof übergeben, und Maria würde hier Bäuerin sein und eigene Kinder haben. „Vielleicht ist es ohnehin besser, du gehst jetzt", hatte die Ziehmutter gesagt. „Hier im Dorf ist es nirgends so, daß du einheiraten könntest." Johanna hatte gefragt, warum sie denn heiraten müsse, „Ich bin doch erst dreizehn." „In zehn Jahren ist es auch nicht anders", hatte die Ziehmutter gesagt. „Zum Heiraten gehört Geld. Das ist einmal das Wichtigste. Du siehst ja, wie es mit der Maria ist. Kommt nur der Franz in Frage, die haben auch nicht mehr, oder höchstens noch der Gruber, aber der sauft." Die Zehmutter redete manchmal mit Johanna wie mit einer Erwachsenen. Oder doch nicht wie mit einer Erwachsenen. Mit den Erwachsenen redete sie gar nicht so offen. „Es hat eben alles seinen Preis", sagte sie. „Gott sei Dank ist der Franz ein ordentlicher Mensch. Man wird ja sehen." Johanna wußte, daß die Ziehmutter recht hatte, und wollte trotzdem nicht glauben, daß es so sein müsse. Obwohl sie schon in der Schule erlebt harte, daß jeder seinen Preis hatte und seinen Wert im Dorf. Wenn einer vorbeiging wußten alle, wie viele Joch Boden da gingen und wie viele Kühe. Genau wie jeder wußte, welche Mitgift ein Mädchen zu erwarten hatte. Nur Johanna hatte keinen Preis. Ihre Mutter hatte sie hergeschenkt, als sie zwei Monate alt war. Manchmal dachte sie: Ein Geschenk ist doch etwas Gutes. Verschenken ist nicht dasselbe wie Wegwerfen, Immerhin hatte die Mutter gute Leute ausgesucht, als sie ihr Kind herschenkte. Die Zehmutter war gut, auch wenn sie sehr streng war. Sie arbeitete selbst hart, den ganzen Tag lang, und sie verlangte harte Arbeit von allen im Haus, von Maria genauso wie von Johanna. Der Unterschied war nur, daß Maria hierher gehörte, und Johanna gehörte nicht hierher. Vielleicht lag es daran, daß ihr nichts gehörte. Wenn einem nichts gehörte, gehörte man auch nirgends hin. Die Fürsorgerin hatte allerdings gesagt: „Dort, wo du hingehörst, kannst du auch etwas lernen. Dort, wohin du zuständig bist." Vielleicht, dachte Johanna, ist etwas gelernt haben genausogut wie etwas haben. Darum wollte sie weggehen, obwohl sie Angst hatte. Im Schulzimmer hing eine Landkarte an der Wand. Sie war bald nach dem Besuch der Fürsorgerin in die sommertote Schule gegangen, hatte den Schulwart gebeten, ihr die Klasse aufzusperren, und hatte den Ort gesucht, wo ihre Mutter „zuständig" war. Dunkelbraun war das do«, nicht hellgrün wie hier. Sie fuhr mit dem Finger die Straße entlang, wobei sie mehrmals den Weg verlor. Weit war es, sehr weit. Sie Überlegte, wie sie überhaupt hinkommen würde. Die Eisenbahnlinie, die nach Reichenau führte, lag weit abseits von hier. Johanna hatte überhaupt noch nie einen Zug gesehen. Wenn sie an die kommende Woche dachte, spürte sie ein Flattern im Magen. bi; Sie füllte Wasser in die Hühnertränke, kehrte den Mist zusammen and leerte ihn in den Bottich. Die Zehmutter mischte den Hühnermist 10 11 mit Erde und düngte damit die Blumenbeete. Es waren nur vier Eier in den Nestern. Die schwarze Henne ließ ihre Eier sicher im Nachbargarten, und der Nachbar dachte gar nicht daran, sie herauszurücken. Nach dem Abendessen wusch Johanna wie immer das Geschirr. Maria stopfte Strümpfe. Die Ziehmutter verschwand im Zimmer und kam mit einer neuen Schürze zurück, dunkelblau mit weißen Blümchen. „Die ist für dich", sagte sie zu Johanna. „Und jetzt näh ich dir das Fahrgeld in die Tasche. Ich habe mich erkundigt, was es kostet bis Reichenau. Wenn es arg ist dort, dann kannst du immer zurückkommen, verstehst du?" Johanna schluckte. „Danke", sagte sie. Die weißen Blümchen verschwammen vor ihren Augen. „Die Pfanne ist noch zu waschen", sagte die Ziehmutter. Eine wie du... Die Schuhe, die einmal Fräulein Olga gehört hatten, drückten mit jedem Kilometer mehr. Johanna bückte sich, um die Schnürbänder zu lockern. „Was treibst du?" Frau Kürners Lippen wurden beim Sprechen noch schmäler, die Mundwinkel zuckten am Ende jedes Satzes nach unten. Johanna setzte sich wieder aufrecht und faltete die Hände im Schoß. Die Fürsorgerin blickte gerade vor sich hin. Der Autobus ratterte und schwankte von einem Schlagloch ins nächste. Johanna stemmte die Füße auf den Boden, um in den Kurven nicht gegen Frau Kürner gedrückt zu werden. Dabei zwickten die Schuhe noch mehr. Johanna klammerte sich an den Haltegriff des Vordersitzes. In den Obstgärten neben der Straße wurden Winteräpfel gepflückt. Eine Gänseherde watschelte über die Straße und zwang den Autobus, so plötzlich zu bremsen, daß selbst Frau Kümer von ihrem Sitz rutschte. Die Ganse reckten die Hälse vor und zischten den Autobus wütend an. 12 Die Straße beschrieb eine weite Linkskurve, einen Augenblick lang sah Johanna in der Ferne den Kirchturm ihres [>orfes, Sie faßte nach ihrer Tasche, befühlte die gerillten Ränder der eingenähten Münzen. In der Reihe hinter Johanna und Frau Kürner saß eine alte Frau, die eine Kiste auf dem Schoß hielt. Sie bekreuzigle skh in jeder Kurve, dabei schlitterte die Kiste vor, stieß an den Vordersitz und traf Johanna jedesmal in den Rücken. Die alte Frau erzählte ihrer Nachbarin, sie fahre mit ihrer Häsin zum Decken, die Wirtin im nächsten Dorf habe so schöne Angorahasen. „Schadet's ihr nicht, das Durchrütteln im Autobus?" fragte die Nachbarin. „Im Gegenteil. Sie hat eh zu wenig Auslauf, die Bewegung tut ihr gut." Frau Kürner preßte die Lippen aufeinander. Im Gasthaus in Güssing bekam Johanna das Bett einer Serviererin, die zum Begräbnis ihrer Großmutter gefahren war. Johanna saß auf dem Bett und kaute das Brot, das ihr die Ziehmutter eingepackt hatte. Zwischen den Schnitten lag ein Stück vom sonntäglichen Schweinebraten. Trotzdem würgte es Johanna beim Schlucken. Die zweite Serviererin kam herauf. „So weit wegfahren, das möcht ich nicht", sagte sie. „Ich will etwas lernen", sagte Johanna. Als sie vor sieben Uhr früh hinunter ging, hörte sie Frau Kürner zur Wirtin sagen: „Wo die Mutter zuständig ist, da bringe ich sie hin. Eine Person muß das sein. Hat acht Kinder, jedes von einem anderen Mann. Die ist die älteste. War lange genug bei uns. und so was brauchen wir nicht in unserer Gemeinde, erst recht nicht in der heutigen Zeit, und es lit ja auch nicht unsere Angelegenheit. Wenn sie was lernen will - bitte «ehr. Aber nicht bei uns!" Johanna blieb vor der Tür zur Gaststube stehen. Sie war also nicht einmal mehr „so eine". Nur noch „so was". Das ttt weh. Aber sie würde es ihnen noch zeigen. Allen. Und ganz besonder» dieser Kürner. Im Autobus zur Bahn redete sie kein Wort. „Mach nicht ein so grantiges Gesicht", sagte Frau Kürner. Johanna klammerte sich an ihren Zorn. Sie rückte noch näher zum Fenster, um nicht an die Fürsorgerin anzustreifen. 13