Der Entdeckungsbericht des Anderen Erreiste Intertextualität in Felicitas Hoppes Pigafetta Ortrud Gutjahr Nach dem topologisch-chronologischen Muster des Reiseberichts wird in Felicitas Hoppes 1999 erschienenem Roman Pigafetta eine narrativ denkbar einfach organisierte Geschichte erzählt: Eine namenlos bleibende Ich-Erzählerin umrundet als zahlende Mitreisende auf einem Frachtschiff die Welt. Doch auch wenn sie von Hamburg aus die Nordsee, den Atlantik, Panamakanal, Pazifik, Indischen Ozean und Suezkanal, das Mittelmeer, die Straße von Gibraltar wie auch auf der Rückfahrt in den Heimathafen wiederum den Ärmelkanal durchquert und das Schiff in großen Hafenstädten wie New York, Sydney, Hongkong oder Singapur anlegt und Stationen auf Tahiti und Neuseeland, in Korea oder Taiwan angefahren werden, weiß die Erzählerin von exotisch fernen und kulturell vielversprechenden Orten erdenklich wenig zu berichten. Ganz offensichtlich ist ein modernes Containerschiff, das auf den gfpßen Seehandelswegen verkehrt und unter dem Zeitdiktat eines weltumspannenden Warenverkehrs einzelne Stationen nur enpassant anläuft, für eine Entdeckungsreise, bei der das Unbekannte erkundet werden soll, nur bedingt geeignet. Die kurzen Liegezeiten in den Häfen, die der Ab- und Verladung von Containern auf der knapp viermonatigen Handelsfahrt dienen, erlauben nur einen flüchtigen Blick auf die passierten Weltgegenden, keinesfalls aber ein Verweilen nach interessegeleiteter eigener Zeiteinteilung. Erzählt wird somit über eine erstaunlich weltarme Reise, bei der weder ein individueller Auftrag noch ein angestrebtes Ziel gegeben ist und die in schweifenden Augenschein genommenen One in eine ferne Fremde gerückt bleiben. Mithin bildet der topologische Verlauf der Reise, die im Hamburger Hafen beginnt und dort auch wieder endet, ganz offensichtlich nicht den Gegenstand des Erzählens, sondern dient lediglich als loser Leitfaden, um über eine Schiffs-Reise im ganz buchstäblichen Sinne zu berichten. Denn auf dem die 24° ORTRUD GUTJAHR Weltmeere durchkreuzenden Frachter selbst findet die Erzählerin das schwankende Terrain ihrer Erkundungen und die Sujets ihrer Darstellung. ." " Sie wird zur ethnographischen Beobachterin der Sitten und Gebräuche an Bord wie auch der Beziehungsdynamiken zwischen den Mitgliedern der Crew und den: nur wenigen Mitreisenden, betätigt sich als Berichterstatterin über die technische Ausstattung des Handelsschiffes und als Schatzsucheriri nach dem geheimnisvollen Inhalt der 1.700 Container. Vor allem.'aber erobert sie sich statt fremder Weltgegenden einen Reisekurs-ganz eigener Art: Denn während sich das Schiff auf hoher See befindet und die Mahlzeiten zu den einzigen Höhepunkten des Tages werden, Vertreibt sie sich die ereignislose Zeit durch das Navigieren nach Texten, in denen die Erkundungen fremder Wcltgegenden beschrieben und mythische Geschichten über das Meer verzeichnet sind. So beginnt für die Erzählerin mit dem Aufenthalt an Bord eine Reise auf den Spuren überlieferter Bordbücher und Reiseberichte 'irí-.dié Welt der Entdeckungsfahrten. Auf diese intertextuellen Bezüge'-wurde in den nur spärlich vorhandenen Rezensionen, Interviews und Aufsätzen zum Roman besonders verwiesen, wobei festgestellt würde,'dass Hoppe einen mit Elementen des Märchens und der Satire durchsetzten, auf Zitationstechniken basierenden, schwer entzifferbaren postmodernen Roman verfasst habe.1 So lässt sich das Buch, das mit seinen etwas mehr als 150 Seiten 1 Sic umfassen unter anderem die Sage vom fliegenden Holländer und Verweise auf Edgar Allan Poes Arthur Gordon Pym (1838), Herman Melvilles Moby Dick (1851) und Joseph Conraos Heart of Darkness (i 899). 2 Vgl. hierzu vor allem Michaela Holdenhed, »Ein unbekannter Stubengenosse Schillers, das Tropenverdikt OttiIícňš;und die Suche nach dem Berbiolettenfcll. Anmerkungen zur postmodernen)Zítátionspraxis und Autorschaft im Werk von Felicitas Hoppe«,. in." w^^.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/kk/df/ postkoloniale.swdien/hóldcnriédihoppe.pdf, zuletzt gesehen am 29.04.2009, S. 9. Vgl. weiterhin Gudrun Boch, »Laudatio auf Felicitas Hoppe«, in: Neue Rundschau 118.2 (2007), S. 1637168.-Wiebke Eden, »Felicitas Hoppe: >In meinen Texten will ich machen, was ich will««, in: dies., »Keine Angst vor großen Gefühlen«. Schriftstellerinnen ŕí'yn'Beruf, elf Porträts, Frankfurt a. M. 2003, S. 66-79. ~ Hans-Joachim Hahn, »Psychoanalytische Litcraturinterprctation als Leseerlebnis und Texthermeneütik. Zu den Erzählungen von Felicitas Hoppe«, in: Convivium (2000), S. 65-83.-Felicitas Hoppe, »Handbuch der Feinmechanik: die Erzählerin Felicitas Hoppe«, in: Aufgerissen. Zur Literatur der 90er, hg. v. Thomas Kraft, München 2000, S. 127-140. - Sascha Michel, »Von Zufall zu Zufall. Felicitas Hoppe sprach über die Sprache des Reisens«, in: Frankfurter Rundschau vom 28.oy.2002. - Stefan Neuhaus, »Gespräch mit Felicitas Hoppe«, in: Deutsche Bücher 34.1 (2004), S. 5-12. - Peter Schanz, »Steh auf, nimm den Koffer und geh: über Felicitas Hoppe«, in: Ralf Rothmann trifft Wilhelm ERREISTE INTERTEXTUALITÄT IN »PIGAFETTA« 241 leicht in jedes Handgepäck passt, in der Tat auch als märchenhaft ver-! schrobener Reiseroman lesen. Wer aber den Spuren der Rciseliteratur 'V nachgehen möchte, die diesem experimentellen Text eingeschrieben sind, kommt kaum umhin, sich mit seinen erzählerischen Besonderheiten, insbesondere aber mit der artifiziellen Erzählinstanz, auseinanderzusetzen. Denn die Erzählerin reist in Hoppes Roman auch in bekannten Gewässern nach dem Muster der Entdeckungsreise, indem sie sich in komplizenhafte Beziehung zu einem Gewährsmann des Reisens setzt und sich damit am Reisebericht eines Anderen orientiert: Unter der schwankenden Uhr an der Wand meiner Kabine im dritten Stock über dem Atlantischen Ozean sitzt Pigafetta und lauscht dem Vergehen der Zeit. Vor ein paar Jahren, wann, spielt in seiner Zeitrechnung keine Rolle mehr, hat er das Interesse für die Angelegenheiten des Festlands verloren und ein Schiff bestiegen. Als ich die Tür öffne, beginnt er zu lachen. Er erkennt mich sofort, ich bin nie auf einem Schiff gewesen. Jetzt sitzen wir in derselben Falle, unterwegs in westlicher Richtung.' Dieser Pigafetta, der sich in der Kabine der Erzählerin eingenistet hat, j ist bei Hoppe eine komplexe Wiedergänger- und Erzählfigur. Sein Name, der dem Roman den Titel gab, steht einerseits für den ersten professionellen Schreiber, der je über eine Weltumsegelung berichtet hat, andererseits aber auch für eine phantasmatische Figur der Romanwelt, die für die Reisende zum Alter Ego ihres Erzählens wird. Die Erzählung über die Reise auf dem Frachtschiff wird also nicht allein von der Reisenden als homodiegetischer Erzählerin organisiert, ' wie dies dem gattungstypologischen Standard des Reiseberichts ent- spricht, sondern auch durch eine extradiegetische erzählte Figvlr, die als homodiegetische Erzählerfigur nicht nur die eigene Geschichte einbringt, sondern auch die der Erzählerin unterminiert, überlagert und damit auf einen unvorhergesehenen Kurs lenkt. Kennzeichnend für diese Erzählfiguration sich überblendender Erzählstimmen ist nun aber, dass die Erzählerin und ihr Alter Ego nicht nur hinsichtlich Alter, Geschlecht und Erfahrung in der Seefahrt als Kontrastfiguren Raabe, hg. v. Hubert Winkels, Göttingen 2005, S. 139-148. - Erhard Schürz, :■; i »Das Schiff geht unter und der Text zieht dahin. Felicitas Hoppcs erster Roman ' \>Pigafetta<«, in: www.freitag.de/1999/13/99132801.htm, zuletzt gesehen am ■ 10.03.20c3 - Christoph Steven, »Felicitas Hoppe. Pigafetta«, in: rezensionen. Iiterarurwelt.dc/contcnt/buch/h/t_hoppe_felicitas_pigafetta. chst_12893.html, . zuletzt gesehen am 10.03.2009. ■ i V: Skvsji'- 3 Felicitas Hoppe, Pigafetta, Reinbek bei Hamburg 1999, S. II.