Universal-Bibliothek Dies ist der 15. Band einer »laufenden Literaturgeschichte«. Seit 1981 wird bei Reclam ein Jahresüberblick zur deutschen Gegenwartsliteratur präsentiert: Chronik, neue Titel und Kritik zu Büchern und Theaterpremieren - Einleitendes, Überblickhaftes, Diskussionswürdiges. D ' 3" ■ c I *o deutsche Literatur 1995 Jahresüberblick Reclam 9783150088722 270 Neue Bücher BERNHARD SCHLINK. . .,, 1944 bei .Bielefeld geboren, lebt in Bonn, und Berlin. . • »Der Vorleser«. Roman. Zürich: Diogenes Verlag.' Die Liebe zur Aufseherin. Bernhard Schlinks Roman »Der Vorleser« - ganz einfach ein Glücksfall Wo anfangen? Wie von einem Buch berichten, das in scheinbarer Schlichtheit, ja Unbeholfenheit von einer ungeheuerlichen Liebe erzählt und zugleich die »Lebenslügen« von Generationen bloßlegt? Bernhard Schlink, Jurist im Hauptberuf und bislang als Autor preisgekrönter Kriminalromane hervorgetreten, läßt eine offenkundig autobiographisch grundierte Figur, den etwa 50jährigen Michael Berg, auf sein Leben zurückblicken. Da hat sich einer in der bundesdeutschen Gesellschaft etabliert, als Rechtshistoriker ein Auskommen gefunden, hat geheiratet, wurde geschieden und sorgt sich um das Wohlergehen seiner Tochter. Eine ganz normale, bürgerliche Existenz also, so scheint es, eine Biographie', diefür außergewöhnliche literarische Inszenierungen nicht viel hergibt? Ja hätte Michael Berg als Fünfzehnjähriger nicht die gut zwanzig Jahre ältere Hanna Schmitz kennengelernt. Eine Zufallsbegegnung, aus der eine heftige Leidenschaft wird, eine ungleiche und unvergeßliche Verbindung: »Der Sommer war der Gleitflug unserer Liebe. Oder vielmehr meiner Liebe zu Hanna; über ihre Liebe zu mir weiß ich nichts.« Ein halbes Leben später beginnt Berg, diese Geschichte aufzuschreiben, nachdem er sie jahrelang mit sich herumtrug, in vielen Versionen vorformulierte. Zeit mußte verstreichen' ehe er das Erzählgefüge fand und überzeugt war, daß die Geschichte »stimmt und daß daneben die Frage, ob sie.traurig ■ /-.■ oder glücklich ist, keinerlei Bedeutung hat«. Der Chronologie , folgend, läßt Schlink das Geschehen, vorüberziehen; Vorgriffe Kommentierungen und Reflexionen sorgen für eine Atmosphäre der behutsamen Distanzierung, in der das Gesagte um - ä.1-: . sovehementer einbricht. 4äBSi;:( Unbemerkt von den Sittenwaehtern der fünfziger Jahre, SCfefebfc.das-. ungleiche Paar, seine Begierden aus;. Mail liebt sich -Sehl 18 271 fast taglich, wenn Hanna von der Arbeit als Straßenbahh-schaffnerin heimkehrt, und als sie ihn darum bittet, ihr Roma-;. ne und Gedichte vorzutragen, ist das Programm perfekt: »Vorlesen, duschen, lieben und noch ein bißchen beieinanderliegen ; - das wurde das Ritual unserer Treffen.« Homers »Odyssee« erweist sich als Michaels Lieblingstext; das Epos einer Heimkehr liegt, wie sich am Ende zeigt, dem »Vorleser« als versteckter Chorgesang zugrunde. Eines Tages ist alles vorüber: Hanna flüchtet Hals über Kopf aus der Stadt und läßt ihren Liebhaber ratlos zurück. Ein gutes Drittel nimmt die Geschichte bis dahin ein, und doch ist .das wenig mehr als ein Vorspiel des Unglaublichen, das da 7 kommt. Michael beginnt ein Jurastudium, und im Rahmen ei-nes Praxisseminars, das die Studenten an einem Prozeß teil-" nehmen läßt, kehrt die Vergangenheit jäh zurück: »Ich sah Hanna im Gerichtssaal wieder.« Sie ist angeklagt, 1944 als Aufseherin in einem polnischen KZ zahllose Menschen in den Tod geschickt zu haben. Michael verpaßt keinen Verhandlungstag, _ sieht zu, wie sich Hanna ungeschickt verteidigt - und erkennt mit einemmal, worin ihr Geheimnis liegt: Sie ist Analphabetin und zeitlebens darum bemüht gewesen, diese Schmach zu verbergen. Deshalb verließ sie damals die Stadt, deshalb bezich-~ tigt sie sich fälschlich, KZ-Berichte verfaßt zu haben. Ein Le-" ben zeichnet sich ab, in dem es nur darum ging, ein Unvermö-r "gen geheimzuhalten. Beförderungen im Beruf galt es aus dem Weg zu gehen. Ohne Political Correctness ^7Bernhard Schlinks Erzählkunst besteht darin, fern aller Political Correctness zwei ineinander verschränkte Biographien mit Ca=wsehnorkelloser, unerbittlicher Wahrhaftigkeit nachzuzeichnen. Der Protagonist will verstehen und verurteilen, er will Hanna Soweit weg« von sich haben und kann die Liebe von einst doch Jtnicht verleugnen. Es sind die einfachen Sätze dieses Romans, , die ein kaum .erträgliches Maß an Erschütterung in sich ber-:en^ Schlinkreiht sie aneinander; ohne jedes Auftrumpfen, M'4 272 Neue Bücher gibt ihnen eine Resonanzkraft, wie sie allein große Literatur besitzt. " Hannä wird zü lebenslänglicher Haft verurteilt. Michael kömmt von'seinen Erinnerungen nicht los, hält sich das pulsierende Leben vom Hals und findet im universitären Raum Unterschlupf. Heirat und Affären vermitteln nur den Schein von Teilnahme am Hier und Jetzt; in Wirklichkeit beherrschen ihn die Bilder der Vergangenheit, betäuben ihn, vermischen sich aufs unerträglichste: »Das schlimmste waren die Träume, in denen mich die harte, herrische, grausame Hanna sexuell erregte und von denen ich in Sehnsucht, Scham und Empörung aufwachte. Und in der Angst, wer ich eigentlich sei.« Acht Jahre nach dem Urteilsspruch nimmt Michael Kontakt mit Hanna auf. Er bespricht Kassetten mit Schnitzler, Keller, Fontane und Homer natürlich und schickt sie kommentarlos in die Zelle. Hanna, die sich das Lesen und Schreiben selbst beigebracht hat, antwortet ihrem »Jungchen« mit knappen Zeilen. Zum Wiedersehen kommt es erst, als Hannas Begnadigung amtlich ist, zehn lange Jahre später. Michael bereitet geschäftig ihre Rückkehr ins Draußen vor, eine Betriebsamkeit, die Unruhe kaschiert und sich ohnehin als vergeblich erweist: Hanna erhängt sich im Gefängnis, am Morgen ihrer Entlassung. > »Der Vorleser« ist ein Roman von bestechender Aufrichtigkeit. Er fegt die bequemen Ausflüchte all derer hinfort, die einem »Aufarbeiten der Vergangenheit« eilfertig das Wort reden. Wenn Michael Berg einräumt: »Ich bin damit nicht fertig geworden«, so spricht er ungewollt aus, was andere, viele andere vertuschen. »Schamarbeit«, »Erinnerungsarbeit« - so lauten die modischen Betroffenheitsvokabeln, die Absolution vorgaukeln. Daß es Dinge gibt, die keinen Anspruch auf Freispruch und Versöhnung haben, davon erzählt Bernhard Schlmk, leise und klug. Selbst die therapeutische Kraft der Niederschrift hilft nicht: Die Geschichte zu schreiben, »um sie loszuwerden«, gelingt nicht. Sicher, man wird gegen diese Prosa das eine oder andere einwenden können. Mitunter gerät das Räsonnement eine Schmidt-Schrott 273 Spur zu eindeutig (»Nun ist Flucht^nicht nur weglaufen,, sondern auch ankommen«), und mitunter fährt der Jurist Schlink' dem gleichnamigen Schriftsteller ein bißchen heftig in die Pa-rade (»Es gehört sich in deutschen Strafverfahren rricht, daß Angeklagte Richtern Fragen stellen«). Das alles sind läppt; sehe Kleinigkeiten, wenn man dagegenhält, was sich hier auf gerade einmal zweihundert Seiten zusammenfugt. Es läßt sich nicht anders sagen: Was für ein Glück, daß dieses Buch geschrieben wurde! Rainer.Moritz Die Weltwoche. 23.11.1995. KATHRIN SCHMIDT 1958 in Gotha geboren, lebt in Berlin. • »Flußbild mit Engel«.* Gedichte. Frankfurt a.M.:Suhr? karnp. MARGIT SCHREINER :' ' 1953 in Linz geboren, lebt in Berlin. • »Die Unterdrückung der Frau, die Viriiitat der Männer, der Katholizismus und der Dreck«. Roman in Geschichten.' Zürich: Haffmans. BERND SCHRÖDER , 1944 in Aussig (Tschechoslowakei) geboren, lebt in Köln.. ... • »Unter Brüdern«. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch. " RAOUL SCHROTT 1964 (bei einer Schiffsreise) geboren, lebt in Seillans und.Ber-lin. • »Finis terrae«. Roman. Innsbruck: Haymon. • »Hotels«. [Gedichte, mit Tagebuchaufzeichnungen und kurzen Notizen zu den Quellen.] Innsbruck: Haymon. Volker Weidermann 'Ii Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute Kiepenheuer & Witsch Die Geschichte von Herrn Sommer (1991). Herr Sommer ist ein geheimnisvoller Mann, der durch die Kindheit eines kleinen Jungen wandert. Der Junge erlebt einige Abenteuer, aber vor allem erlebt er eine erste kleine, wahre, echte Liebe. Der Mann läuft durch das Dorf. Morgens früh läuft er los. Spätabends kommt er zurück. Die Leute wundern sich über ihn, der Junge träumt von ihm. Die Leute erzählen sich Geschichten über den Mann, von dem keiner etwas weiß. Und als der Vater des Jungen einmal bei strömendem Regen im Auto neben dem Wanderer herfährt und ihm anbietet, er möge einsteigen, sonst nole er sich noch den Tod, antwortet er nur: »Ja so lasst mich doch endlich in Frieden!« Am Ende des Buches, zu dem der Wunderzeichner Sempe herrliche Bilder gemalt hat, ist die Kindheit des Jungen vorbei und Herr Sommer geht in den See. Der Junge sieht zu, wie Herr Sommer immer weiter im See verschwindet. Er wandert in den Tod: »Und dann, mit einem Mal, war er weg. Nur noch der Strohhut lag auf dem Wasser. Und nach einer fürchterlich langen Zeit, vielleicht einer halben, vielleicht einer ganzen Minute, blubberten noch ein paar große Blasen empor, dann nichts mehr. Nur noch dieser lächerliche Hut, der nun ganz langsam in Richtung Südwesten davontrieb. Ich schaute ihm nach, lange, bis er in der dämmrigen Ferne verschwunden war.« Und sein Geheimnis nimmt er mit. Der Kontrabass ist ein Einpersonenstück über einen vereinsamten Kontrabassisten, der in seinem schallisolierten Zimmer mit dem gehassten, gehebten Instrument eine intime Zweierbeziehung führt und sich mit ihm gegen die böse, die lächerliche Außenwelt vereint. Das Drama seines Lebens: Ein Kontrabass genügt sich nicht selbst. Es ist ein Gemeinschaftsinstrument. Er braucht ein Orchester, um sinnvoll zu musizieren. Das Parfüm (1985) ist der Roman einer Welterschließung, der Welt des Duftes mit Hilfe immer neuer Worte und Umschreibungen. Die Geschichte des Parfumeurs Jean-Baptiste Gre-nouüle, der 1738 als unehelicher Sohn einer Fischverkäuferin zwischen stinkenderfAbfallbergen auf die Welt kommt, zum König der Düfte wird, zum Massenmörder, zum Herrscher, zum Monster. So lebensvoll, so sprachprächtig, geschichtskundig und delt den Leser beim Lesen. Man riecht die Welt danach mit einer anderen Nase. Und der Beginn ist heute fast schon klassisch: »Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehörte. Seine Geschichte soll hier erzählt werden.« Eine Geschichte, die heute, zwanzig Jahre später, fast jeder kennt. Den Autor kennt niemand. Zur Aufführung seines Kontrabass in Wien hatte er im Programmheft geschrieben: »Ich verbringe den größten Teil meines Lebens in immer kleiner werdenden Zimmern, die zu verlassen mir immer schwerer fällt. Ich hoffe aber, eines Tages ein Zimmer zu finden, das so klein ist und mich so eng umschließt, dass es sich beim Verlassen selbst mitnimmt.« Dagegen kann man über diesen Mann fast alles wissen. Er geht gern mit großen Schritten sonntags im beinah bodenlangen Mantel mit Hund und Frau am Ufer der Berliner Havel entlang und sieht dabei zu Boden. Er hält an der Berliner Humboldt-Universität Vorlesungen in Staatsrecht vor meist vollem Haus, amtiert seit 1988 als Richter des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen, er ist gern beim Bundespräsidenten zu Gast, und seinen größten Erfolg verdankt er einer Fernsehsendung. Bernhard Schiink (*1944) ist Juraprofessor, Verfassungsrichter und einer der erfolgreichsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Am Anfang schien das alles halbwegs gewöhnlich, etwas exzentrisch vielleicht, aber noch nicht unglaublich, als er, ein Jahr bevor er zum Verfassungsrichter berufen wurde, einen Kriminalroman veröffentlichte. Selbs Justiz (1987) war der etwas merkwürdige Titel, der sich erklärt, wenn man weiß, dass der ermittelnde Privatdetektiv im Zentrum des Romans Gerhard Selb heißt. Und schon in diesem ersten Kriminalroman ist das Schlink-Thema vorgegeben, das ihn später so erfolgreich und so umstritten machen sollte: die deutsche Vergangenheit, die nicht vergehen will, und die Unmöglichkeit einer pauschalen Verurteilung oder Freisprechung einer Gruppe von Menschen. Selb, 194 195 Staatsanwalt und glühender Anhänger des Systems. Er glaubt sich geläutert, stößt aber bei seinen Ermittlungen immer wieder auf Menschen aus seiner Vergangenheit, die ihm klar machen, dass Leid und Ungerechtigkeit und die Folgen von Verbrechen nicht vergehen, solange die Opfer leben, und Opfer — das sind auch die Nachgeborenen. Die Kxirnis von Schlink — später folgten noch, etwas kalauerhaft, Selbs Betrug (1992) und Selbs Mord (2001) — enden alle im Offenen, werden nicht gelöst im klassischen Sinn, sondern lassen den Leser mit der Offenheit zurück. Wie gesagt, das hätte alles so weitergehen können, ein Richter, der Krimis schreibt, deutsche GescHchtskximis. Aber Bernhard Schlink wollte mehr. Und er hat einen Roman geschrieben, über Täter und Opfer,Verführung und Gewalt. Der Roman, der 1995 erschien, heißt Der Vorleser und erzählt die Liebesgeschichte des fünfzehnjährigen Michael Berg zu der gut zwanzigjahre älteren Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz im Deutschland der fünfziger Jahre. Sie zeigt dem Jungen, was die Liebe ist, zeigt ihm alles, in der Badewanne und anderswo, und es wird vermerkt, dass sie immer duschten, bevor sie sich Hebten, und irgendwann ist Hanna verschwunden. Michael Berg studiert Jura, und als er eines Tages einem deutschen NS-Prozess beiwohnt, sieht er sie wieder: Hanna ist angeklagt, als ehemalige KZ-Wächterin an der Ermordung zahlreicher Juden beteiligt gewesen zu sein. Und während des Prozesses erfährt Berg noch ein Geheimnis über die KZ-Wächterin. Sie kann nicht lesen und nicht schreiben. Es ist ihr zweites großes Geheimnis, und auf irgendeine dunkle Weise scheint es mit dem ersten zusammenzuhängen. So sieht es ihr früherer Geliebter, wenn er in sie hineindeutelt: »Sie kämpfte nicht nur im Prozess. Sie kämpfte immer und hatte immer gekämpft, nicht um zu zeigen, was sie kann, sondern um zu verbergen, was sie nicht kann.« Die These, dass ihre Leseschwäche sie also quasi zur SS getrieben habe und auch der Weg zur KZ-Wächterin sich damit irgendwie erklären lasse, ist schon — na, wenigstens seltsam. Im Gefängnis wird sie schnell ein besserer Mensch, Berg nimmt ihr die Klassiker der Weltliteratur auf Kassette auf, und sie lernt selber lesen. Natürlich nur von KZ-Uberlebenden und jüdischen Zeugen: Primo Levi, Elie Läuterung der gewesenen KZ-Wächterin Hanna wird nicht nur angedeutet, nein, wird Seite für Seite demonstriert. Und auch die letzte Konsequenz ist sie bereit zu tragen:AmTag ihrer Freilassung bringt sie sich um. In Deutschland kam die Geschichte der guten KZ-Wächterin gleich sehr gut an, die Kritik pries, dass hier nicht den üblichen Gedenkschablonen gefolgt würde. Doch die Begeisterung war nichts gegen den Erfolg, den das Buch in Amerika hatte. Nach einem Auftritt in der berühmten Buchverkaufssendung von Oprah Winfrey schnellte Der Vorleser als erstes deutsches Buch in der Geschichte überhaupt auf Platz eins der Bestsel-lerliste der New York Times. Schnell waren eine Million Bücher verkauft und der deutsche Jurist Schlink war der Liebling der Leserinnen. Kritik gab es kaum. Bis dann einige Jahre später Schlinks Erzählungsband Liebesfluchten (2000) auf Englisch erschien. Ein solider Erzählband, an dem es nicht viel auszusetzen gab, doch als eine lobende Besprechung dieses Buches im renommierten Times Literary Supplement erschien, hagelte es plötzlich Leserbriefe, den Vorleser betreffend. Und es äußerten sich nun renommierte Kritiker mit einer Wut und Empörung, wie man es in diesem ehrwürdigen Blatt nur selten liest. Jeremy Adler, Germanist am Londoner King's College, sprach von »Kulturpornographie« und einem »Kitschbild, das an die Propaganda der Nazis erinnert«, ein anderer Beitrag erklärt sogar: »Wenn Literatur irgendeine Bedeutung haben soll, dann ist darin kein Platz für den >Vorleser<.« All das ist natürlich auch großer Quatsch. »Nazipropaganda«, »keine Literatur« — Unsinn. Aber es hatte sich da etwas aufgestaut in der Zeit, als Der Vorleser als eine Art neuer Erinnerungsroman gefeiert und gelesen wurde. Und den Vorwurf des Kitsches und eines etwas verschrobenen Geschichtsbildes kann man Bernhard Schlink nicht ersparen. 196 197 Autoren Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart Herausgegeben von Bernd Lutz und Benedikt Jeßing 4., aktualisierte und erweiterte Auflage Verlag J. B. Metzler Stuttgart • Weimar ;prochen zu bekommen. »Ja, sagte Kotte, ich selbst, man braucht Raum. In der ickt alles. Zum Leben braucht man üi keiner Stelle des Romans wird die wähnt, aber es gibt ein spürbares Ver-r Figur, Grenzen zu überschreiten. Kotte im zugewiesene Rolle nicht spielen und iat im Westen etwas von dem Leben t, von dem er Kotte träumen lässt, aber ommt nicht richtig an. In den 1980er tört Sch. zu den Atomgegnern, die in demonstrieren, und zur Westberliner zerszene. Er wohnt in einem Abrisshaus .damer Straße und schildert seine Erfah-is diesem Lebensumfeld in dem Buch - Busch (1984). Es ist die Geschichte ttner, die ein Haus in Westberlin" erben, lusbesetzern okkupiert ist Eingegangen Buch die Utopie von der Möglichkeit, rschiedlicher Interessen gemeinsam in us zu wohnen. Sch. erzählt die Ge-veier kleiner Leute, die »immer bezahlt : immer bezahlen werden. Die immer »ekriegt haben«. il für die in der DDR offiziell verlegte iie Mauer weitgehend tabuisiert war, eh., sie in dem Erzählungsband Berliner 77) zum zentralen Thema zu machen, ählung Die Spaltung des Erwin Racholl :r Hauptreferent Erwin Racholl auf dem rbeit bei dem "versuch, die U-Bahn auf i Bahnhof innerhalb der DDR zu ver-. begreift die Erzählung als Versuch, die Nation, der Teilung Berlins in der Exi-ifauer zu fassen. Gegen seinen eigent-:n landet Racholl im Westen. Den Riss, die Stadt geht, spürt er, als man im il der Stadt über ihn Gericht hält. Dem q fällt es schwer, sich zu verteidigen, was ihn entlasten könnte, wird gegen det. Dass man ihm nicht glaubt, führt in- und Identitätskrise, in deren Folge eigenen Person als »Dieser und Jener« }ie zwei Personen, die sich als Erwin geben, kann er nicht zu einer vereinen, i am Schluss die Kraft fehlt, darüber zu iss er in seinem Gegenüber sich selbst l dem Roman Trug (2000) ist neben elgängermotiv die Mauer zentral. Bern Titel wird auf die Möglichkeit von Sinnestäuschung angespielt und nach den unmerklichen Übergängen gefragt, wenn sich Reales mit Fiktivem verschränkt. Wiederum geht es in dem Roman um Grenzüberschreitungen, lässt Sch. mit Strehlow und Skolud zwei Figuren aufeinandertreffen, die beide, beginnend von einem gemeinsamen Ausgangspunkt, unterschiedliche Entwicklungen nehmen: Strehlow im Westen und Skolud im Osten. In dieser Doppelgänger-Geschichte sind die Protagonisten erfüllt von unterschiedlichen Sehnsüchten. Um sie zu befriedigen, müssen sie Grenzen überschreiten. Erst durch eine Wende gelingt es ihnen, dort anzukommen, wo der andere bereits seinen Platz gefunden hat -Strehlow bei seiner ehemaligen Geliebten Ilka, die auch Skoluds Frau war, und Skolud mit Strehlows Pass und Namen im Westen, wo sein Doppelgänger herkam. Nach dem Fall der Mauer zieht Sch. 1991 wieder in den Ostteil der Stadt. Im selben Jahr wird gegen ihn zu Unrecht der Vorwurf erhoben, er hätte für das Ministerium der Staatssicherheit als IM gearbeitet. Die Anschuldigung erweist sich als unhaltbar, aber welche Kreise das Gerücht zieht, wie der Verdächtige ohnmächtig mit ansehen muss, was das Misstrauen bewirkt, wie seine Umwelt auf die Verdächtigungen reagiert, wer von den Freuden zu ihm hält und wer auf Distanz geht, hat er in Das Gerücht festgehalten. Um die Rekonstruktion eines Tatherganges geht es auch in Sch.s Roman Die Sache mit Ran-^ dow (1996), in dem der Aufklärer im Täter die Konturen der eigenen Person erkennen muss. Erzählt werden soll von einem Tag im Jahr 1951 als Randow, der Al Capone des Ostens, verhaftet wird. Doch es gelingt dem Erzähler nur schwer, sich in die Geschichte hineinzuarbeiten, denn wo auch immer er ansetzt, entwickelt das Erinnern eine Eigendynamik. Schließlich findet der Rechercheur heraus, dass Randow, Vorbild ist der Anführer der Gladow-Bande, nach den in der DDR geltenden Gesetzen nicht hätte enthauptet werden dürfen. Aber--zugleich gerät er bei der Suche nach der Wahrheit zunehmend selber ins Zentrum der Aufmerksamkeit und bringt sich als Aufklärer selber auf die Anklagebank. Dem Buch Hegt der Konflikt des König Ödipus zugrunde. Die Tragik des Aufklärers Thomale ist es, dass er, als er von der Geschichte erfasst wird, mit seinem Bestreben genau das Gegenteil von dem erreicht, was er ur- >. sprünglich erreichen wollte. In einer Lebensbilanz resümiert Sch.: »Ich . hatte natürlich so etwas wie ein gesellschaffliches Bewußtsein und wollte Zustände, die ich für mich als lebenswert empfand, nicht nur für mich haben, sondern auch für andere.« Hans Christoph Buch, der Kollege aus gemeinsamen Zeiten bei der taz, schreibt in seinem Nachruf: »Klaus Schlesinger ist die einzige mir bekannte Person, die in einer Berliner Kneipe ein Eisbein zurückgehen ließ mit der Begründung, es sei >nicht fett genüge« Sein Roman Die Seele der Männer (2003) bleibt unvollendet. Literatur: »Deshalb ist Literatur immer eine Form der Freiheit...« ein Gespräch mit Klaus Schlesinger. In: Die Hören 46 (2001), H. 1, S. 199-224. Michael Opitz Schlink, Bernhard Geb. 6. 7. 1944 in Bielefeld »Nach einer Generation, in der gerade die Opfer und Täter Scheu hatten, von der Vergangenheit zu reden, ist meine Generation tonangebend geworden, für die das Reden über die Vergangenheit selbstverständlich geworden ist.« Im Zentrum von Sch.s Schreiben stehen Protagonisten dieser »Generation«, die in den 1960er Jahren gegen die Elterngeneration und deren Umgang mit dem Nationalsozialismus aufbegehrt und in den 1980er Jahren einflussreiche Positionen in der Bundesrepublik besetzt haben. Sch. selber ist Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie und war von 1987 bis 2006 Richter am Verfassungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen. Neben Literarischen Texten publiziert er Essays zum politischen und juristischen Umgang mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der deutschen Gegenwartsliteratur attestiert Sch. einen Mangel an Unterhaltsamkeit, sein eigenes Schreibprojekt versteht er als gehobene Unterhaltungshteratur, die in »spannenden Geschichten« mit »interessanten Problemen« konfrontiert. Sch.s literarische Tätigkeit beginnt mit der Kri-rninakoman-Triologie um den Detektiv Selb, die Motive und Erzählgegenstände späterer Texte vorwegnimmt insofern, als hier, neben einer konventionellen Krimihandlung, in der Figur des Privatdetektivs Gerhard Selb der Nationalsozialismus zum Thema wird. Den ersten Kriminalroman Selhs Justiz (1987) verfasste Sch. gemeinsam mit Walter Popp. Durch den zu lösenden Fall wird der Detek- tiv Selb mit seiner politischen Vergangenheit konfrontiert, zu der er eine selbstkritische Haltung entwickelt hat: Selb war überzeugter Nationalsozialist und wurde nach Kriegsende als Staatsanwalt aus dem Dienst entlassen. 1992 folgt der Kriminalroman Selbs Betrug und 2001 Selhs Mord. Der Bestseller Der Vorleser (1995) begründet Sch.s Popularität, auch international; der Roman avanciert in Deutschland innerhalb kurzer Zeit zur Schullektüre. Erzählt wird aus der Perspektive eines Rechtswissenschaftlers, der als Jugendlicher eine sexuelle Beziehung zu einer etwa zwanzig Jahre älteren Frau eingegangen ist. Diese Beziehung wird im ersten Teil des Romans beschrieben. Als Jurastudent in den 1960er Jahren sieht der Protagonist Michael Berg diese Frau wieder, sie ist als Mitglied der SS-Wachmannschaft eines Konzentrationslagers Angeklagte in einem NS-Prozess. Das Verhalten der Hanna Schmitz wird in der Erzählkonstruktion monokausal motiviert mit ihrem Analphabetismus und dem Bestreben, diesen Makel um jeden Preis zu verbergen. In einer für Sch. typischen und zum gängigen Repertoire der masserrmedialen Aufbereitung des Nationalsozialismus gehörenden Verbindung von erotischen und historisch-politischen Bezügen bildet der Analphabetismus den Konnex zwischen der Liebesgeschichte und den NS-Verbrechen. Sowohl die Versetzung zur SS als auch sadistische Komponenten der erotischen Beziehung werden durch die Scham über den Analphabetismus erklärt. Unter anderem durch eine Analogisierung des Ich-Erzählers und der KZ-Häftlinge - beide werden von Hanna Schmitz als Vorleser/innen benutzt - wird dem Erzähler ein Opferstatus zugeschrieben. Nicht nur diese das Verhalten individualisierende Perspektive auf eine NS-Täterin, sondern auch das Ende des Textes, in dem sich Hanna aus ihrer Unmündigkeit befreit, lesen lernt, geläutert wird und sich mit Holocaustliteratur auseinandersetzt, bevor sie sich vor ihrer Entlassung das Leben nimmt, wurde vielfach als Exkulpation einer Täterin rezipiert. Sch.s Analogisierung von Tätern und Opfern des Nationalsozialismus in dem Essay Vergangenheitsschuld (2007) und sein Plädoyer für eine Historisierung des Holocaust ist nicht dazu geeignet, diese Kritik zu entkräften: »Dass die Kinder der Opfer selbst wieder Opfer sind, dass sie ihr Opferschicksal ähnlich dem Schuldschicksal der Kinder der Täter erleben, kann als Hinweis auf eine Schuld der Opfer selbst verstanden werden. Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart Zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage von Wilfried Barner, Alexander von Bormann, Manfred Durzak, Anne Hartmann, Manfred Karnick, Thomas Koebner, Lothar Köhn und Jürgen Schröder Herausgegeben von Wilfried Barner Verlag C. H. Beck München wider Willen in ein Labyrinth geraten, aus dem es keinen Ausweg gibt. Exemplarisch dafür ist die Novelle Die Stechpalme (1993)- Vordergründig handelt es sich um die Geschichte einer Beziehungskrise. Eichbaum, ein Verleger Anfang sechzig, lebt an der Seite einer um zwei Jahrzehnte jüngeren Malerin und Galeristin, die sich seiner Lebensweise symbiotisch angepaßt hat, scheinbar ein ganz normales Leben in einer glücklichen Ehe. Merkwürdige Brief-Botschaften, die ihn in unregelmäßigen Zeitabständen erreichen, beginnen diese Zweierbeziehung wie ein geheimnisvoller Krankheitsvirus langsam zu vergiften und aufzulösen. Der friedliche Automatismus der scheinbar glücklichen Beziehung zerfällt. Am Ende erwacht die Partnerin zu einem eigenen aktiven Leben, während der alleingelassene Verleger in eine wahnhaft verzerrte Wirklichkeit hineingeraten zu sein scheint. Auf einem verschwommenen Foto einer Stechpalme in seinem Garten, die, fast schon vertrocknet, gegen alle Wahrscheinlichkeit, unnatürlich schnell gewachsen ist, glaubt er, ein Gesicht zu erkennen. Die fremd und bedrohlich gewordene Wirklichkeit schlägt in eine konspirative Verdüsterung seines Bewußtseins um, aus der es kein Entrinnen für ihn gibt. Der erzählerischen Sogkraft dieser Novelle kann man sich schwerlich entziehen. Lange allegorisiert nicht, er arbeitet nicht mit parabelhafter Verfremdung, sondern er schreibt so, wie Eichbaum es an einer Stelle an dem belgischen Maler Magritte verdeutlicht, dessen «Angewohnheit gewesen war, die Dinge, statt sie zu deuten, erst einmal zu malen».* Die ungewöhnlichste und zugleich herausragendste Novelle, die Lange geschrieben hat, ist Das Konzert (1986). Die Doppelbödigkeit der Wirklichkeit, der sich die Protagonisten der anderen Novellen allmählich annähern, gehört hier zur Voraussetzung der epischen Konstruktion. Das Berlin der Nazizeit, in dem die politischen Opfer der Nazis und ihre Peiniger weiterleben, und das Berlin der Nachkriegsgegenwart werden auf eine selbstverständliche Weise ineinandergeblendet. Die Toten versuchen das Leben weiterzuführen, dessen Erfüllung durch Mord verhindert wurde. Exemplifiziert wird das an dem Pianisten Lewanski, der, eine große Karriere als Virtuose vor sich, im Alter von achtundzwanzig Jahren in Litzmannstadt auf der Flucht von den Nazis aufgegriffen und erschossen wird. Im Salon der Frau Altenschul, gleichfalls ein Opfer des Nazi-Terrors, versucht er in Konzerten seine Karriere fortzuführen, muß aber an bestimmten Stellen der Partitur immer wieder feststellen, daß ihm die Lebenserfahrung vorenthalten blieb, um diese Stellen wirklich verstehen und spielen zu können. Der jüdische Kritiker Schulze-Bethmann, gleichfalls ein Gast im Salon der Frau Altenschul, teilt nicht die Einstellung Lewanskis und anderer Opfer, die sich von den Tätern, die ebenfalls Teil des Totenreichs sind, angeekelt abwenden, während diese sich um die Nähe zu ihren Opfern bemühen. Schulze-Bethmann, der mit seinem Mörder, dem SS-Mann Klevenow, durch den Tiergarten spaziert, möchte den Wahnsinn des Lebens nicht über den Tod hinaus fortsetzej^und durchbricht den Teufelskreis von Gut und Böse, um die Heimtücke des Lebens im Tod aufzuheben, so wie ja auch Lewanski bei dem angesetzten entscheidenden Konzert plötzlich in den ehemaligen Führerbunker gerät und vor den Schatten der ehemaligen Nazi-Größen dennoch zu spielen beginnt. Das bleibt bei Lange in die Irrealität eines Gedankenspiels eingetaucht, aber läßt zugleich eine andere Option erkennen als die, die in der Holocaust-Literatur inzwischen zu einem Stereotyp geworden ist: Literatur aus einer retrospektiven moralischen Haltung heraus als ein einziger großer Klagegesang, der die Scheußlichkeiten des Nazi-Terrors und die Leidensgeschichten der Opfer als unrevidierbare Gegensätze den Nachgeborenen immer wieder ins Gedächtnis einschreibt. Lange macht den Versuch, darüber hinauszuge-langen. Es ist bemerkenswert, daß Langes subtiler Text in der Diskussion um die literarische Darstellbarkeit des Holocaust in den neunziger Jahren kaum eine Rolle gespielt hat. Die öffentliche Diskussion wurde von einem anderen Erzähltext bestimmt, der von einem Autor stammt, der, in gewisser Weise ein Quereinsteiger der Literatur und literarisch bisher nur durch wenige Kriminalromane ausgewiesen, damit einen der großen Bestseller der deutschsprachigen Literatur der neunziger Jahre veröffentlicht hat: Der Vorleser (1995) von Bernhard Schlink. Der Autor, als Berliner Juraprofessor und Verfassungsrichter in NRW zusätzlich legitimiert und durch eine populäre Literatursendung des amerikanischen Fernsehens auf eine Bestseller-Reise ohnegleichen geschickt, schrieb eine Art Prosa-Lehrstück über Schuld und Verfehlungen der NS-Zeit. Eine ehemalige KZ-Angestellte, Hanna, deren erotischer Anziehung der Erzähler als Halbwüchsiger verfällt und der er nach den Liebestreffen auf ihren Wunsch hin aus Texten vorliest, verschwindet plötzlich spurlos aus seinem Leben. Er sieht sie als Jurastudent ebenso unverhofft einige Jahre später wieder, als er mit einer Gruppe von Studenten an einem Prozeß über Nazi-Vergehen teilnimmt, in dem Hanna eine der Hauptangeklagten ist. Es stellt sich heraus, daß Hanna Analphabetin ist und gegen ihren Willen in eine Komplizenschaft mit dem Nazi-Regime hineingeraten ist, weil sie immer versucht hat, ihre Lese- und Schreibunfähigkeit zu verbergen. Diese Lebenslüge führt auch während des Prozesses dazu, daß die anderen im KZ angestellten und angeklagten Frauen die Hauptschuld auf sie abwälzen und sie entsprechend verurteilt wird. Der Erzähler, für den die Täterin durch die vorangegangene Liebesgeschichte ein menschliches Gesicht hat, nimmt in gewisser Weise seine Vorleser-Tätigkeit wieder auf, indem er ihr eigene Aufnahmen von vorgelesenen literarischen Texten ins Gefängnis schickt. Sie beginnt sich auf diese Weise mühsam zu alphabetisieren, liest schließlich die entscheidenden Zeugnisse - Texte der Holocaust-Literatur, von Primo Levi bis Jean Amery. Als sie nach 18 Jahren entlassen werden soll, begeht sie kurz vor dem Schritt in die Freiheit Selbstmord. Es ist - der Erzähler läßt keinen Zweifel daran - ein Sühne-Tod. Denn er reflektiert an einer Stelle: «Analphabetismus ist Unmündigkeit. Indem Hanna den Mut gehabt hatte, lesen und schreiben zu lernen, hatte sie den Schritt aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit getan, einen aufklärerischen Schritt.» (S. 178) Die problematische Lesart, die der Text enthält, salviert nicht nur die Nazi-Verstrickungen der Protagonistin, die allein ihres Analphabetismus wegen zufällig in die NS-Komplizenschaft hineingestolpert ist, sondern stilisiert sie auch zum Aufklärungsexempel: Die Literatur humanisiert den Menschen und verhilft ihm zu moralischer Einsicht und Schulderkenntnis. Es ist genau jener affirmative moralische Glorienschein, dem Alfred Andersen in seiner Novelle Der Vater eines Mörders (1980) aufs entschiedenste widersprochen hat. Angesichts von Himmler, der aus einem hochgebildeten huma- nistischen Hause stammte, stellt sein Erzähler die Frage: «Schützt Humanismus denn vor gar nichts? Die Frage ist geeignet, einen in Verzweiflung zu stürzen.» (S. 136) Während Lange versucht, den Wahnsinn und die Heimtük-ke des Lebens zu überwinden und aus der Perspektive des Todes die Schuldzuweisungen zu relativieren, entwirft Schlink ein Aufklärungsmärchen, das im Kern eine plakative Wunschvorstellung enthält. Ein Autor von ganz eigener Statur ist Dieter Forte, der auch als Erzähler eher an der Peripherie angesiedelt war, auch wenn er sich inzwischen mit seinen drei großen Romanen ins Zentrum der deutschen Gegenwartsliteratur vorgeschrieben hat. Mit Lange verbindet ihn die Tatsache, daß er als Dramatiker begann und vor allem mit seinem Stück Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung (1970) eines der erfolgreichsten Stücke jener Jahre vorlegte, das ihn für einige Zeit als Hausautor an das Basler Theater führte. Daß er in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre an einer autobiographischen Romanreihe zu schreiben begann, war auf diesem Hintergrund ein Wagnis, hatte aber auch mit der Urnorientierung der Regisseure zu tun, die politische Aufklärungsstücke aus dem Spielplan verbannten und sich einem Theater der Spektakel und kulinarischen Spielfreude verschrieben. Fortes erster Roman Das Muster (1992) ist ein literarischer Solitär, ein Kollektivroman mit zahlreichen wechselnden Protagonisten, ein epischer Blick in ein Geschichtskontinuum, das acht Jahrhunderte umspannt. Der Roman macht den Versuch, die historischen Erfahrungsräume von zwei Familien-Stammbäumen auszuloten, den ursprünglich italienischen Seidenwebern der Fontanas und der polnischen Arbeiterfamilie der Lukacz. Die wechselvolle Migration der italienischen Seidenweber, die als ideelles Kapital immer das Musterbuch retten, das die Geheimnisse ihrer handwerklichen Kunst enthält, findet schließlich im Düsseldorf der Vor-Nazizeit ein Ende, wo die alternierend erzählten Familien-Linien zusammenlaufen: in der Hochzeit der schönen eigenwilligen Maria aus dem in Gelsenkirchen angesiedelten Zweig der Lukacz mit dem talentierten dandyhaften Friedrich Fontana der Seidenweberfamilie, dem Elternpaar des Erzählers, über das schon bald der Schatten der beginnenden Nazi-Zeit fällt. Daß dieses epische Massiv nicht unzugänglich wird und den Leser überfordert, hat mit der spezifischen Schreibweise Fortes zu tun, in die sicherlich seine Schreiberfahrungen als Dramatiker produktiv eingegangen sind. Er entwirft scharf umrissene Situationen und prägnante Personenbilder, die sich dem Gedächtnis einprägen und die große Masse von Stoff gliedern. Forte stellt zugleich dar, daß dieses Europa §uch in seinen ethnischen Verzweigungen schon immer ein multikultureller Geschichtsraum gewesen ist. Er hat ständig religiös oder politisch Verfolgte aufgenommen und ist in seiner ökonomischen Vitalität immer davon gespeist worden. Im zweiten Roman Der Junge mit den blutigen Schuhen (1995) wird zunehmend die Erfahrungsperspektive der im «Quartier» - einem Schmelztiegel der unterschiedlichsten ethnischen Gruppierungen im damaligen Düs- : seldorf - lebenden Familie zur Erzählperspektive der wachsenden Verfinste- \ rungen der Nazi-Zeit. Das anfänglich bunte Spektakel dieser Düsseldorfer Lebenswelt wird, je weiter die J Zeit und die Herrschaft der NS-Partei voranschreiten, zum Schreck- und Angstbild mit ,» dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und den Anfang der vierziger Jahre beginnen- ; den Bombardierungen durch die Luftwaffe der Engländer und später auch der Ameri- ) kaner. Der Überlebenskampf in dem zu einer Trümmerstätte zerbombten Düsseldorf .; und die Odyssee der Mutter mit den Söhnen im Angesicht des permanent drohenden Todes - der jüngere Sohn stirbt während der Flucht - führen am Heiligabend 1945 in einer Kreisbewegung wieder zum Quartier zurück. Forte hat hier die Angstvorstellungen und Schreckensbilder seiner Kindheit aus einem Erinnerungskeller hervorgeholt und in Bildsequenzen beschworen, die den tabuisierten Schrecken erfahrbar machen, aber auch die Uberlebensenergie der Mutter, der er letztlich seine Rettung verdankte. Die ! in den neunziger Jahren entstandene Diskussion über die Tabuisierung des ■i Bombenkrieges und seiner Auswirkungen auf die deutsche Zivilbevölkerung 1 wird durch die Genauigkeit der erzählerischen Darstellung in Fortes Buch korrigiert. Í Das Musterbuch der Familie Fontana, das als ökonomisch nutzlos gewor- denes Relikt der Vergangenheit in den Kriegswirren verschollen und verbrannt ist und zuletzt nur noch als Zeugnisbuch der Familiengeschichte von dem Großvater Gustav Fontana verwaltet wurde, lebt im übertragenen :i Sinn in dem erzählerischen Erinnerungsprojekt des Autors Forte weiter. Er hat dieses neu entstehende Musterbuch in einem dritten Roman In der Er- \ innerung (1998) weitergeführt. 1 Es ist die Zeit unmittelbar nach dem Krieg: ein Überleben in Trümmern und Chaos, ; die Zukunft als dunkle Wolke vor Augen. Der Junge, dem das Atmen schwerfällt, schaut aus dem Fenster der Notbehausung in ein von Zerstörungsnarben bedecktes '■: Trümmergelände und beobachtet die seltsamen und sinnlosen Überlebensanstrengun- ■\ gen der durch Zufall Davongekommenen. Fortes poetische Geschichtsschreibung ist keineswegs ein Stück nachgeholter Nachkriegshteratur, sondern dringt aus der Distanz eines inzwischen vergangenen halben Jahrhunderts in die Tiefenschicht der Ereignisse vor und .1 läßt das Medusengesicht einer sinnlosen Geschichtsprogression erschrek- . kend sichtbar werden, ohne daß eine religiös motivierte Opferrolle des einzelnen oder ein metaphysischer Heiligenschein als Trost erkennbar werden. Der Autor W.[infried] G.[eorg] Sebald (1944-2001), einer der überra-\ schendsten literarischen Quereinsteiger jener Jahre, hat gleichfalls an den ' Rändern des deutschsprachigen Literaturbetriebs geschrieben. Erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt hat er seine langjährige literaturwissenschaftliche Tätigkeit an der University of East Anglia in den Hintergrund treten lassen und in einer Reihe von Prosabüchern seine spezifische Erzählweise konkretisiert: eine vielschichtige Erinnerungsarchäologie, die historische Erfahrungs- Interpretationen Interpretationen Romane des 20. Jahrhunderts Romane des 20. Jahrhunderts Band 3 M. Haushofer • Die Wand J. Becker • Jakob der Lügner U. Johnson • Jahrestage P. Weiss • Die Ästhetik des Widerstands Ch. Wolf • Kindheitsmuster E. Jelinek ■ Die Klavierspielerin St. Nadolny • Die Entdeckimg der Langsamkeit Patrick Süskind • Das Parfüm TL Bernhard • Auslöschung Ch. Ransmayr • Die letzte Welt Ch. Hein • Der Tangospieler M. Maron • Stille Zeile sechs R. Schneider • Schlafes Bruder B. Schlink • Der Vorleser I. Schulze • Simple Storys B. v. Stuckrad-Barre ■ Soloalbum G. Grass • Mein Jahrhundert M. Walser • Ein springender Brunnen G. Grass • Im Krebsgang Band 3 Philipp Reclam jun. Stuttgart Bernhard Schlink: Der Vorleser Opfer und Täter Von Hannes Fricke Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995) ist mit Patrick Süs-kinds Das Parfüm und Robert Schneiders Schlafes Bruder einer der wenigen auch international erfolgreichen deutschsprachigen Romane der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts. Der Roman besteht aus drei Teilen. Im Rückblick berichtet der Erzähler Michael Berg1 in klarer Distanz von der Zeit, als er als 15-Jähriger vom Winter 1958 bis zum Sommer 1959 ein Verhältnis mit der damals 36-jährigen Analphabeten Hanna Schmitz hatte. Zu Beginn entzog sie sich ihm: »Zuerst mußt du mir vorlesen« (43).2 Die Beziehung ist später durch dieses Ritual geprägt: »Vorlesen, duschen, Heben und noch ein bißchen beieinanderliegen« (ebd.). Zwar macht sich Michael eigene Gedanken (Warum Vorlesen? Warum dieser Waschzwang?), doch gibt er sich lieber ihrem Glück hin, ohne nachzufragen. Außerhalb von Hannas Wohnküche hat die Beziehimg keinen Raum zu ^ überleben. Bei Auseinandersetzungen gibt der Junge sofort auf: »Wenn sie drohte, habe ich sofort bedingungslos kapituliert. Ich habe alles auf mich genommen. Ich habe Fehler zugegeben, die ich nie begangen hatte, Absichten eingestanden, die ich nicht gehegt hatte. Wenn sie kalt und hart wurde, bettelte ich darum, daß sie mir wieder gut ist, 1 Knobloch (2001) versteht den Namen »Michael Berg« als Zusammensetzung aus »Michel« (der deutsche Michel) und dem im Roman eindeutig identifizierbaren Heidelberg, einer Stadt, die »häufig mit deutschem We-. sen< identifiziert« wurde (S. 97). - Ich danke Peter Fricke, Dag Nikolaus Hasse, Willi Huntemann und Uwe Schütte für -wertvolle Hinweise. 2 Die mit bloßen Seitenzahlen versehenen Texthinweise beziehen sich auf die Ausgabe: B. Scfu, Der Vorleser, Zürich: Diogenes, 1997. Bernhard Schlink: Der Vorleser 275 mir verzeiht, mich liebt.« (50) Von der Beziehung erzählt Michael seinen gleichaltrigen Freunden nicht. Hanna ignoriert ihn, als er sie an ihrem Arbeitsplatz als Schaffnerin in der Straßenbahn besucht. Hannas Verschwinden nach ihrem Besuch im Freibad, bei dem Michael sich nicht zu ihr bekennt, sondern bei seinen Freunden bleibt, interpretiert er als Bestrafung. Erst Jahre später findet er heraus, dass Hanna vermutlich wegen einer Beförderung bei den Stadtwerken, bei der sie als Analphabetin aufgefallen wäre, die Stadt fluchtartig verließ. Der zweite Teil des Romans schildert - wiederum in der Rückschau - die Zeit, in der Michael Hanna zufällig wiedertrifft: Er als Jurastudent, sie als Angeklagte in einem KZ-Prozess. Sie soll in einem Lager für Selektionen zuständig gewesen sein. Außerdem sei sie verantwortlich dafür, dass Häftlinge in einer zufällig durch eine Fliegerbombe getroffenen Kirche verbrannten, in der sie auf einem Todesmarsch die Nacht über eingeschlossen bleiben sollten. Hanna gibt zu, dass sie einen Bericht über das Geschehen verfasst hat und deshalb als Hauptverantwordi-che gelten muss - obwohl sie gar nicht schreiben kann. Es gelingt den mitangeklagten Frauen, den Großteil der Schuld auf Hanna abzuwälzen: »Im Vergleich mit den anderen Angeklagten war Hanna die Führerin. Außerdem endastete die Existenz einer Führerin die Bewohner des Dorfs; gegenüber einer straff geführten Einheit auf die Leistung von Hilfe verzichtet zu haben, machte sich besser als der Verzicht gegenüber einer Gruppe verwirrter Frauen.« (131) Michael überlegt, Hanna zu helfen, indem er dem Richter von ihrem von ihm gerade erst entdeckten Analphabetentum erzählt. Doch ist er in einem Dilemma gefangen: Darf er etwas offenbaren, das sie ihr ganzes Leben lang zu verheimlichen gesucht hat? Ein Gespräch mit seinem gefühlskalten Vater, einem Philosophieprofessor, hilft nicht weiter. Der Vater schlägt vor, unbedingt Hanna selbst dieses 276 Hannes Fricki Bernhard Schlink: Der Vorleser 277 Problem entscheiden zu lassen. Doch Michael zögert: »Was sollte ich ihr sagen? Daß ich ihre Lebenslüge durchschaut hatte? Daß sie drauf und dran war, ihr ganzes Leben dieser dummen Lüge zu opfern? Daß die Lüge das Opfer nicht wert war?« (138) Er besucht das Konzentrationslager Stutthof: Der Versuch einer Annäherung an die Vergangenheit schlägt jedoch gründlich fehl. Im späteren Gespräch mit dem Richter verschweigt Michael Hannas Handicap: Hanna erhält eine lebenslängliche Haftstrafe. Nach der Urteilsverkündung sucht sie im Gerichtssaal keinen Blickkontakt: »Ich saß da, wo ich immer gesessen hatte. Aber sie schaute geradeaus und durch alles hindurch. Ein hochmütiger, verletzter, verlorener und unendlich müder Blick. Ein Blick, der niemanden und nichts sehen will.« (157) Der dritte Teil beschreibt weniger abwertend als der aus der Rückschau verfasste erste Teil Michaels und Hannas Weiterleben. Michaels Ehe ging in die Brüche, da er immer die neue Frau - wie früher auch schon eine Jugendliebe - nur mit Hanna verglich. Er schickt nun Hanna auf Kassetten gelesene Weltliteratur in das Gefängnis. Sie lernt anhand der Kassetten und parallel entzifferter Bücher langsam das Lesen. Sie schreibt Briefe an ihn, er antwortet nicht. Nach 18 Jahren wird ihre Begnadigung ausgesprochen, und aufgrund •einer Intervention der Gefängnisdirektorin nimmt Michael nun endlich direkten Kontakt mit ihr auf. Hanna ist aber nicht mehr die geliebte Frau: »Wieder tasteten ihre Augen mein Gesicht ab. Ich nahm sie in die Arme, aber sie fühlte sich nicht richtig an« (188). Sie erhängt sich am Abend vor ihrer Entlassung. Das Geld, dass sie während der Haft gespart hatte, bringt Michael jener Jüdin, die zusammen mit ihrer Mutter den Brand in der verschlossenen Kirche überlebt hat. Zum ersten Mal berichtet er einem Menschen von dem Verhältnis zwischen Hanna und ihm. Die Frau ist entsetzt: »Hatten Sie, wenn Sie in den letzten Jahren mit ihr Kontakt hatten, je- mals das Gefühl, daß sie wußte, was sie ihnen angetan hat?« (202) Das Geld wird der Jewish League Against Illi-teracy überwiesen, die Jüdin behält die Dose, in der das Geld aufbewahrt wurde, und zwar als Ersatz für ihre eigene Dose, die ihr im Konzentrationslager gestohlen wurde. »Was hätten Sie denn gemacht?« Eine wichtige Stelle im Roman beschreibt den Wortwechsel vor Gericht zwischen Hanna und dem Richter, als Hanna diesen verwirrt fragt: »Was hätten Sie denn gemacht?« Die Antwort des Richters ist unbefriedigend: »Es gibt Sachen, auf die man sich einfach nicht einlassen darf und von denen man sich, wenn es einen nicht Leib und Leben kostet, absetzen muß.« (107) Alle Prozessbeobachter im Gerichtssaal sind von dieser Antwort befremdet, denn »davon zu reden, was man muß und was man nicht darf und was einen was kostet, wurde dem Ernst von Hannas Frage nicht gerecht. Sie hatte wissen wollen, was sie in ihrer Situation hätte machen sollen, nicht daß es Sachen gibt, die man nicht macht.« (Ebd.) Unter keinen - Umständen will der Richter die Frage an sich herankommen lassen, er will die Distanz zur Täterin wahren, sie als abnorm und verabscheuungswürdig sehen.3 Jan Philipp Reemtsma hat genau diese Frage von Hanna Schmitz untersucht. Warum wird sie von wem wann in welchem Zusammenhang gestellt? Reemtsma deutet die Frage ledigKch als »kommunikatives Signal«, sie bedeute: »ich werde mich nicht überheben, ich werde nicht leicht- 3 Ernestine Schlants (2001) Ausführungen, dass Michael in diesem Moment keine andere Erklärung für Hannas Taten findet als »ihren Gehorsam und ihr Pflichtgefühl« (S. 264), greift also zu kurz. Entsprechend wirft sie Michael auch »mangelndes Entsetzen über Hannas Taten und ihre Art zu reden« vor (ebd.). Zu den moralisierenden Vorwürfen gegen den Roman vgl. hier S. 287-291. 278 Hannes Fricke Bernhard Schlink: Der Vorleser 279 fertig über andere urteilen, da ich meiner selbst so wenig gewiß bin«4. Häufig wird die Frage auf diese Weise von Angehörigen der Tätergeneration gestellt. Damit wird Nachsicht gefordert, denn muss »nicht derjenige stille schweigen, der nicht unter Beweis gestellt hat, dass er, unter vergleichbaren Bedingungen, sich anders, besser verhalten hätte?«5 Doch diese geforderte Nachsicht ist erpresst: Nicht aber darf sie das Ziel sein, »sondern Ziel ist das Urteil, das zu wägende nach Kenntnisnahme der Umstände«6. Die erpresste Nachsicht ist vielmehr durch den impliziten moralischen Druck erschlichen, den der Täter ausübt, denn eigentlich ist die Nachsicht »eine Haltung, die das Urteilen nicht ersetzt, sondern begleitet, und eine Tugend eben nur so lange, als sie nicht in Indifferenz umschlägt«7. Die Frage »Was hätten Sie getan?« ist interessant, sie ist aber nur interessant, wenn sie tatsächlich als Frage gemeint ist und nicht als moralischer Appell, die Augen zu verschließen.8 Hanna Schmitz' Frage scheint aber ernst gemeint gewesen zu sein. 4 Reemtsma (2001) S. 10. 5 Ebd«S. 20. 6Ebd.^S.22. 7 Ebd. 8 Bedeutsam ist Reemtsmas Hinweis, »wie sehr in der Diskussion um die Parteispendenaffäre der CDU« um Altbundeskanzler Helmut Kohl »Topoi aus dem sogenannten Vergangenheitsbewältigungsdiskurs« Verwendung fanden. In der Polittalkshow »Sabine Christiansen« hatte Friedrich Merz (damaliger Abgeordneter, späterer Fraktionsvorsitzender der CDU) gesagt, »er wisse nicht, wie er sich an der Stelle Roland Kochs verhalten hätte, da er sich nie in einer solchen Situation befunden hätte«. Diese Reaktion sei nicht erstaunlich, wohl aber das folgende zustimmend-betroffene Schweigen: Niemand habe gefragt; »"Wie bitte? Sie wollen uns sagen, daß Sie es durchaus für möglich halten, daß Sie demnächst Rechenschaftsberichte fälschen und Ihre Partei und die Öffentlichkeit belügen?« (Reemtsma, 2000, S. 29.) Hanna Schmitz als utopische Figur: Pferd oder Stute In der Geschichte der Nachkriegsprozesse gegen NS-Tä-ter gab es nur einen einzigen Prozess, in dem auch Aufseherinnen eines Lagers angeklagt wurden: Der Majdanek-Prozess (26. November 1975 - 30. Juni 1981) mit 474 Prozesstagen. 15 Männer und Frauen von 1500 Angestellten des Lägers mussten sich vor Gericht verantworten. Zu Beginn sei von Grauen keine Spur gewesen. Angeklagt waren »inzwischen betuliche ältere Damen mit Strickkostüm, Wollmütze und Kuchengesicht, Hausfrauen, die man von Heim, Herd und Kaffeekränzchen hinweggerissen hatte«9. Als die Hauptangeklagte Hermine Ryan in New York Jahre zuvor aufgespürt wurde, sagte sie unter Tränen: »Alles, was ich in Majdanek getan habe, machen Aufseher heute auch in Lagern«. Sie habe »schon genug gebüßt. Im Radio erzählt man von Frieden und Freiheit. Warum lässt man uns nicht einfach in Ruhe?«10 Von den Angeklagten im Majdanek-Prozess selbst war Herrnine Ryan dann »die Schweigsamste. Wenn sie mal spricht, bestreitet sie die Vorwürfe und beugt sich wieder über ein Rätselheft- i chen«11. Kurz vor der Urteilsverkündung im Mai 1981 verlas sie dann doch erstmals einen eigenen Text: »Ich tra- 1 ge Schuld, aber ich bin keine Mörderin«. Erst heute verstehe sie, wie es den Menschen »damals im Lager zumute gewesen sein kann, die unter schwersten Entbehrungen ihr Dasein fristeten«. Sie habe Majdanek zuerst für ein »Umschulungslager« gehalten. »Im Lager gab es dann kein Zurück. Es war Krieg, und jeder musste an seinem Platz ausharren, wo er hingestellt wurde«. Am Schluss klagt sie das Gericht an: »Was weiß ein anderer Mensch als wir von all dem Leid, das wir tragen und mit dem wir 9 TL Schmitz (1996) S. 20. 10 Ebd. ! 11 Ebd. 280 Hannes Fricke büßen, was wir weder geplant noch erdacht haben?«, eine dem moralisierenden »Was hätten Sie denn getan?« ähnliche Geste. Ihr Mann Russell klammert sich bis heute verzweifelt an der Idee fest - »der einzige Mensch überhaupt«12 - es läge eine Verwechslung vor (so ergibt sich zwischen den beiden eine ähnlich unlösbare Verbindung wie die zwischen Michael und Hanna). Für den Staatsanwalt war Hermine Ryan ähnlich ein »Monster«,13 wie Hanna für die anderen Prozessbeobachter und den Richter im Roman. Ryans Kälte und Leugnung stehen aber im Gegensatz zu Schmitz' Konzentration auf den Prozessverlauf in Sclilinks Text und ihr Bemühen darum zu verstehen, was sie getan hat. Keiner habe in jener Nacht des Kirchenbrandes die Verantwortung für die Gefangenen übernehmen wollen, erzählt sie in den Verhandlungen. In parataktischen »und«-Verbindungen sucht sie sich die Situation zu vergegenwärtigen: »Wir haben nicht gewußt, was wir machen sollen. Es ging alles so schnell, und das Pfarrhaus hat gebrannt und der Kirchturm, und die Männer und Autos waren eben noch da, und dann waren sie weg, und auf einmal waren wir allein mit den Frauen in der Kirche. Irgendwas an Waffen haben sie zurückgelassen, aber wir haben nicht damit umgehen können, und wenn wir's ge-konnJ,hätten - was hätte uns das geholfen, uns paar Frauen?« "(121 f.) Beide Frauen, Hermine Ryan und Hanna Schmitz, werden im Roman sogar direkt in Verbindung gebracht. Im Prozess um Hanna Schmitz erinnert sich ein Opfer an eine andere Aufseherin, die »Stute« genannt wurde, »ebenfalls jung, schön und tüchtig, aber grausam und unbeherrscht«. Im realen Majdanek-Prozess um Hermine Ryan wird dieser Spitzname aufgeklärt: Man nannte Frau Ryan »Kobyla, die Stute«, weil sie »mit ihren eisen- 12 Ebd. 13 Ebd, S. 22. Bernhard Schlink: Der Vorleser 281 beschlagenen Stiefeln die Menschen trat«.14 Im Roman bekommt Hannas Kampf um ein Verständnis ihrer eigenen Geschichte im Vergleich zur realen Hermine Ryan utopische Züge (ein Verhalten wie das ihrige in der Haft ist von keinem der verurteilten NS-Täter bekannt): Sie lernt Lesen, um sich um die Gedächtnisliteratur von sowohl Opfern (etwa Primo Levi oder Jorge Semprun) als auch von Tätern (etwa von dem Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß) kümmern zu können.15 Die reale Hermině Ryan fühlte sich immer als Opfer, nie als Täterin." Als Hanna und Michael in der ersten Zeit ihrer Beziehung beieinander lagen, bat sie ihm, ihr zu sagen, an was für ein Tier sie ihn erinnere. Michael wählte ein Pferd: »>Ein PferdEntweder sie oder ich<.« Es könne ebenso »das Verbot sein, Angst zu fühlen und jemals zu versagen. Es kann in einem ewigen Kämpfen-Müssen bestehen, in der Verachtung der Schwäche, dem Abscheu vor Leiden und Krankheit, dem Abweisen und Unterdrücken aller zartesten Gefühle oder in ausbeuterischen Beziehungsmustern« (34). 18 Westernhagen (1989) S. 30. 19 Ebd., S. 30f. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 32. 284 Hannes Fricke Von ausbeuterischen Beziehungsmustern und Vernichtungswünschen auch gegenüber der Elterngeneration handelt Schlinks Text. In schlagwortartigen Parolen, abgesetzt durch Ausrufezeichen, verkündet Michael das Bekenntnis der Studenten und 68er-Bewegung: »Aufarbeitung! Aufarbeitung der Vergangenheit! Wir Studenten des Seminars sahen uns als Avantgarde der Aufarbeitung.« (87) Pauschal wird die Elterngeneration ohne Differenzierung abgeurteilt, selbst sein Vater, der immerhin im Dritten Reich seine Professur aberkannt bekommen hatte: »Wir alle verurteilten unsere Eltern zu Scham, und wenn wir sie nur anklagen konnten, die Täter nach 1945 bei sich, unter sich geduldet zu haben« (88). Weil Michael Berg auf seine Eltern »schon darum nicht zeigen« konnte, »weil ich ihnen nichts vorwerfen konnte« (162), ist die Situation für ihn durch die inzestuös gefärbte Beziehung zu Hanna besonders kompliziert. Solche Angriffe gehen nicht ohne Verletzungen für die verurteilende, die zweite Generation ab. Am deutlichsten zeigen sich diese Auswirkungen in dem Gefühl der Heimatlosigkeit in Michaels Träumen von Häusern und Türen, die als Klammermotiv im Text immer wieder auftauchen: »Ich gehe die Stufen hinauf und drücke die Klinke. Aber ich öffne die Tür nicht. Ich wache auf und weiß nur, daß ich die Khnke ergriffen und gedrückt habe.« (10f.) Entsprechend kann er sich auch nicht erinnern, das Krematorium bei seinem ersten Besuch im ehemaligen Konzentrationslager betreten zu haben. In Amerika träumt er auf dem Weg zu der Jüdin, der er Hannas Geld geben will, von Hanna »und mir in einem Haus in den herbstbunten Hügeln, durch die der Zug fuhr. Hanna war älter, als ich sie kennengelernt hatte, und jünger, als ich sie wiedergetroffen hatte, älter als ich, schöner als früher, mit dem Alter noch gelassener in ihren Bewegungen und in ihrem Körper noch mehr zu Hause« (199). Doch wieder wacht er auf, bevor er das Haus betreten kann: »Ich wachte auf Bernhard Schlink: Der Vorleser 285 und wußte wieder, daß Hanna tot war. Ich wußte auch, daß die Sehnsucht sich an ihr festmachte, ohne ihr zu gelten. Es war die Sehnsucht danach, nach Hause zu kommen.« (200) Traumatisierung der Opfer, Traumatisierung der Täter Unter einer >Posttraumatischen Belastungsstörung< versteht man eine »mögliche Folgereaktion eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse (wie z. B. Erleben von körperlicher und sexualisierter Gewalt, auch in der Kindheit [...]. Krieg, Kriegsgefangenschaft, politische Haft, Folterung, Gefangenschaft in einem Konzentrationslager, durch Natur oder durch Menschen verursachte Katastrophen [...]. In vielen Fällen kommt es zum Gefühl von Hilflosigkeit und durch das traumatische Erleben zu einer Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses.«22 Nimmt man diese Definition als Arbeitsgrundlage, so kann man vermuten, dass Hanna Schmitz in einer solchen sie völlig überfordernden Situation stand, als sie die Frauen und Kinder in der Kirche verbrennen ließ: Auch Täter können traumatisiert werden. Doch schon das Aussprechen einer solchen These der Traumatisierung der Täter war lange Zeit völlig undenkbar und wäre mit schweren Sanktionen bedacht worden.23 Allein die im Vergleich dazu anscheinend harmlose Tatsache, dass die Behandlung von über die Generationen weitergegebenen Traumastrukturen an die Kinder der Täter auch nur in Erwägung gezogen wurde, löste einen Sturm der Empörung aus.24 Wie in 22 Platten [u. a.] (2001) S. 3. 23 Vgl. als Diskussion dieses Themas unter Bezug auf die in Vietnam trauma-tisierten Täter-Soldaten bei Shay (1998) sowie in diesem Band die Untersuchung zu Günter Grass' Im Krebsgang, bes. S. 364f. 24 Vgl. Bar-On (1996) S. 13, 30, 360; Bergmann (1995) S. 23-55; zusammenfassend Moser (2001) S. 35 und pass. mm 286 Hannes Fricke Bernhard Schlink: Der Vorleser 287 der öffentlichen Diskussion um Schlinks Test wurde vermutet, dass es sich bei dieser Argumentation um verdeckten Antisemitismus, eine Leugnung der Schuld, zumindest aber eine Absolution und Endastung der Täter handele. Dass Michael durch die n£ssbrauchähnliche Situation und durch Hannas plötzliches Verschwinden möglicherweise traumatisiert wurde und man bei ihm von einer Posttrau-matischen Belastungsstörung sprechen könnte, liegt nahe: Albträume quälen ihn, er kann seine Affekte nur schlecht steuern, hat eine eingeschränkte Bandbreite des Affekts, ist sozial und beruflich beeinträchtigt, zu keiner tieferen Beziehung fähig und zieht sich immer mehr zurück.25 Dass die Täter-Traumatisierung aber auch für die direkt Beteiligten und ihr Umfeld ein Problem darstellt, zeigt sich im Text: Darauf weist etwa die Tatsache hin, dass die Intimität zwischen Hanna und Michael zuerst und immer durch das Vorlesen hergestellt wird, was als unreflektierte Reinszenierung der für Hanna unlösbaren Situation gewertet werden könnte, den Kinder-Vorlesern im Lager kurz vor deren Tod das Leben wenigstens ein wenig erleichtern zu können. Michael fühlt sich später entsprechend als neues Opfer Hannas bzw. die Situation als Reinszenierung der Konstellation mit vorlesenden Lager-Kindern.26 Wie es für die Generation der Täterkinder oft unmöglich war, sich dem »psychischen KannibaKsmus«27 der Eltern zu erwehren, ist Michael unfähig, engere Bezie- 25 Vgl. zu den Indikatoren Hatten (2001) S. 4,18-24. 26 Die Traumaforscher Gottfried Fischer und Peter Riedesser würden eine solche Struktur ein »Traumaschema« nennen, ein zentrales, »in der traumatischen Situation aktiviertes Wahrnehmungs-/Handhingsschema, das im Sinne vom Trauma als einem unterbrochenen Handlungsansatz mit Kampf- und Fluchttendenz die traumatische Erfahrung im Gedächtnis speichert« und »die Tendenz zur "Wiederholung« hat (Fischer/Riedesser, 2001, S. 351). Ähnlich könnte man Hannas Technik des Problemlösens, vor den Problemen wegzulaufen (häufiger Arbeitsplatz- und Stadtwech-sel, möglicherweise der Freitod am Ende), als wiederholte Anwendung eines Traumaschemas verstehen. 27 Vgl. Moser (2001) S. 132. tragen einzugehen oder sich von Hanna ernsthaft zu distanzieren - oder sich ihr entschieden zuzuwenden. Dabei wäre vermutlich die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit und Verflechtung mit dem Schicksal der vorhergehenden Generation bzw. der eigenen Eltern eine Grundvoraussetzung, um ernsthaft endlich auch den Opfern begegnen zu können. In ebendiesem Sinne bemerkte der Psychoanalytiker Tilmann Moser in einem Vortrag im Jüdischen Museum in Wien über seine Arbeit mit Patienten aus der zweiten und dritten Generation von Opfern und Tätern des Holocaust: »Ich will nicht, wie häufig der Verdacht geäußert wird, die Täter-Opfer-Situation verwischen oder gar umdrehen. Ich versuche nur in meiner Arbeit zu verstehen, warum die Fähigkeit zu Trauer, Schuld und Scham nach dem Krieg in diesem Ausmaß verschüttet ■war, ich versuche zu verstehen, wie sie sich nach fünfzig Jahren, gleichsam in einer zweiten Chance, neu einstellt. Die Voraussetzung ist aber, daß die Verstörungen bei Kindern und Kindeskindern des Tätervolkes auch gesehen werden können und dürfen. [... Ein Mensch,] der versteht, wie seine Eltern und Großeltern liineingeraten sind in den NS-Taumel und in das mörderische Mitmachen, erhält mehr inneren Raum für die Einfühlung in die Opfer, als wenn er sich aus erschreckter Abkehr von seinen Eltern überidentifiziert mit den Opfern und sich seinem proklamatorischen Abscheu überläßt.«28 Reaktionen auf das Buch In diesem Spannungsfeld aus Generationenkrieg, Kollektivschuld, Problematik der katastrophalen, retraumatisie-renden Rechtsprechung in den Prozessen um Wiedergutmachungszahlungen, dem eigenen, höchst belasteten Dis- 28 Ebd., S. 135. 288 Hannes Fricke kurs über Holocaust- und Erinnerungsliteratur29 und im Zusammenhang mit den in ähnlichem Zeitraum wie Schlinks Der Vorleser erschienenen Werken30 musste das Buch provozieren. Besorgte Stimmen wurden laut, vor allem das Ausland nahm sich des Themas an.31 Zu nennen ist besonders auch die erregte Debatte ab März 2002 im Times Literary Supplement, also sieben Jahre nach dem ersten Erscheinen des Romans, die der Germanistik-Professor Jeremy Alder anstieß und die in einem Leserbrief von Frederic Raphael ihren Höhepunkt fand. Die Begegnung zwischen Michael und Hanna sei »a form of conni-vance with evil, not a remedy«; Der Vorleser sei ein Text »of literary decency«, die »poisonous fruit of canting con-descension«. »If literature means anything, The Reader has no place in it«.32 Willi Winkler zitiert diesen Brief in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung und bemerkt, Schlink wolle »treudeutsch mit der Vergangenheit aufräumen«; der gesamte Text sei »Holo-Kitsch«, der sich das 29 "Willi Huntemanns Kritik an einer Äußerung von Irmela von der Lühe, die »Sensibilität und Subtilität vieler Texte der Holocaust-Literatur« werde in der Forschung »eher negiert und eingeebnet als analysiert und transparent« gemacht (Huntemann, 2001, S. 25), weist in diese Richtung: Huntemann vermag zu Recht »nicht einzusehen, wieso die auf der Gegenstanck-ebene herrschenden Tabus auf der Ebene der wissenschaftlichen Analyse mit >Theorieverboten< und einem postulierten Sonderstatus dieser Litera- ^ tur verlängert werden sollten und was am gleichsam wertneutralen Konr •' text reiner "Wissenschaft* >einigermaßen unerträglich [ist]<« (so von der Lühe, 1999, S. 70). Aufgabe der Literaturwissenschaft könne es nicht sein, so Huntemann, »am moralisch anteilnehmenden Gestus der Öffentlichkeit und Literaurrkrftik« zu partizipieren, sondern »diesen Diskurs, ungetrübt von political correctness, ihrerseits möglichst unvoreingenommen zu thematisieren« (Huntemann, 2001, S. 25). 30 Zu nennen sind hier Ulla Berkewicz' Roman Engel sind schwarz und weiß (1992), Marcel Beyers Flughunde. Roman (1995), Christoph Ransmayrs Morbus Kitbara (1995) sowie auch der angebliche Augenzeugenbericht Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 (1996) von Binjarnin "Wilko-mirski. 31 Vgl. Höfer (1998), Stuck (1998), Knobloch (2001), aus dem englischsprachigen Raum Parry (1999), Long (2000) und H. Schmitz (2000). 32 Raphael (2002) S. 17. Recht nehme, »die Judenvernichtung an einem Musterfall zu erklären«.33 Volker Hage versucht in seinem Spiegel-Artikel eine Zusammenfassung der Debatte, die für ihn »politische und hteraturkritische Verdammung gern verquickt, wie dies auch für den russischen Realismus mit seinen klar vorgegebenen Figuren- und Handlungskonstellationen oder die Literaturpohtik der DDR« typisch gewesen sei.34 Spät stellte sich damit doch noch etwas ein, was Tilmann Moser im Zusammenhang mit der Literaturkritik über ein anderes Werk »Hexenjagd«35 genannt hatte. In diese Richtung wies bereits Claus-Ulrich Bielefelds frühe Besprechung. Dieser spricht von einer »zartbitteren Liebesgeschichte«36, die »jedoch seltsam starr und mit geradezu buchhalterischer Attitüde« erzählt werde. Bei solch schlechter Erzählung verwundere es nicht, dass »der Frau kein anderer Kosename als >Jungchen<« für Michael einfalle. Als Beleg der eindeutigen Grausamkeiten von Hanna wird angeführt, »daß sie Lieblinge unter den Gefangenen hatte, die ihr vorlesen mußten und die sie nach einer gewissen Zeit in den Tod schickte«. Eindeutig wird hier von Bielefeld die Position der verzweifelt nicht-em-pathischen zweiten Generation eingenommen. Der Erzähler Michael Berg wertete die Tatsache dieser Vorlesungen im Lager während des Prozesses nämlich völlig anders, gestand Hanna Schmitz wenigstens die Möglichkeit zu, dass ihre Auswahl der Zartesten für das Vorlesen möglicherweise ein Versuch gewesen sei, diesen die letzte Zeit vor dem Tod - so absurd das klingen mag - zu erleichtern. Bielefeld führt weiter aus, Schlink erzähle eine Geschichte, 33 "Winkler (2002). 34 Hage (2002) pass. 35 So Tilmann Mosers zusammenfassende Charakterisierung der Reaktionen auf Ulla Berkewicz' Roman: Engel sind schwarz und weiß, die es gewagt hatte, ungefiltert aus der Innensicht eines Hitlerjungen dessen Leben zu beschreiben (vgl. Moser, 1994, pass.). 36 Bielefeld (1995) S. IV. Bernhard Schlink: Der Vorleser 289 290 Hannes Fricke »in der sich das Monströse und das Banale untrennbar mischen«. Doch Schlink finde dafür keine Sprache: Betulich und umständHch breite er »die Geschichte vor uns aus«, pinsele penibel »Fünfziger-Jahre-Kolorit«. Im Roman gebe es »weder Schrecken noch Angst, weder Tabus noch Tabuverletzungen«, vielmehr werde über alles mit »ennervierender Selbstgewißheit ohne zu stocken« hinwegerzählt, sei Schlink »von erstaunlicher Selbstgerechtigkeit«. »Schwer erträglich« seien die Träume, in denen Michael »die Frau mit hartem Gesicht, schwarzer Uniform und Reitpeitsche« sieht und dies als sexuell erregend empfindet. Schlink sei »sprachoptimistisch«, schreibe »Klischees nieder, ohne sie zu brechen«: Er musste »scheitern«. Auf die Widersprüchlichkeit dieser Rezension soll nicht näher eingegangen werden. Es ist jedoch offensichtlich, wie hier mit derselben Geste gegen Schlink zu Felde gezogen wird, wie in Schlinks Roman und außerhalb die Kinder der Tätergeneration gegen diese Eltern und Großeltern vorgegangen sind: ohne Empathie und moralisch verdammend. Es ist zu hoffen, dass derartige moralisierende Vereindeutungen des Textes nicht vorschnell erfolgen und sich ein Leser der drängenden und unlösbaren Fragen aussetzt, die Der Vorleser aufwirft. Gerade die fiktionale Form erlaubt es^ in der Überreizung der Situation geseUschaftliche Spannungen deutlicher zu problematisieren, als dies in einem theoretischen Text möglich ist. Es geht in starker Verkomplizierung der Situation um das Liebesverhältnis eines Angehörigen der zweiten Generation zu einer mütterlichen älteren Frau, die eindeutig Täterin ist und in ihrer Beziehung alte Muster auslebt, später jedoch durch ihre Suche und Reue mit utopischen Zügen ausgestattet wird. Diese Sensibilität für Uneindeutiges scheint - auf diesem Umweg - Schlinks eigenem Ansatz beim Verfassen von Literatur gerecht zu werden. Der Autor bemerkte in einem Interview, er als Professor für Öffentliches Recht Bernhard Schlink: Der Vorleser 291 und Rechtsphilosophie an der Humboldt Universität zu Berlin brauche die Literatur als anderes, anderen Regeln gehorchendes Betätigungsfeld. Von ihm werde als Richter und Professor die eindeutige Entscheidung in Streitfragen verlangt; in der Literatur aber gelten andere Gesetze. Er habe sich also »zu entscheiden, welches die passende Form - der juristische Aufsatz oder die Erzählung« und was für ihn das entsprechende Medium ist. Vom »Wissenschaftler wird nämlich eine Lösung von diagnostizierten Krisen verlangt, der Schriftsteller entgegen sollte die Spannung eines Problems hervorheben«.37 Zu denken wäre hier etwa an die Schuldfrage Hannas: Hätte sie anders handeln können? Hätte sie von Beginn an zu ihrem Analphabetismus und zu ihrer Person stehen müssen? Hätte Michael steilvertretend dem Richter von ihrem Analphabetentum berichten müssen? Hätte er nach Hanna einer Ehe aus dem Weg gehen müssen? Hätte er sie im Gefängnis besuchen müssen? Oder hätte sie von sich aus den Kontakt aus dem Gefängnis abbrechen und so Michael freigeben sollen? Hätte es eine Beziehung nach der Entlassung geben können? Und warum hat sich Hanna umgebracht: Als Selbstbestrafung? Oder aus Angst vor der an-• stehenden Aussprache oder der sich daraus entwickelnden Beziehung mit Michael? Oder aus Angst vor der Öffentlichkeit? Und wie ist die Reaktion der Jüdin zu verstehen: Als Geste der vorsichtigen Annäherung Hanna gegenüber? Als freundliche, tröstende Geste Michael gegenüber? Und wer ist hier jeweils wann Opfer und/oder Täter? In diesem Sinne der Spannungen dieser unaufgelösten Fragen ist Schlinks Der Vorleser eine Chance - und ein moralisches Buch. 37 Zit. nach: Köster (2000) S. 17. 292 Hannes Fricke Bernhard Schlink: Der Vorleser 293 Literaturhinweise Ausgaben Bernhard Schlink: Der Vorleser. Roman. Zürich: Diogenes, 1995. - Der Vorleser. Roman. Ebd. 1997. (Diogenes Taschenbuch. 22953.) - Dankesrede zur Verleihung des Hans-Falkda-Preises 1997 der Stadt Neumünster. [Unveröff. Manuskr.] Forschungsliteratur Bar-On, Dan: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern Ton Nazi-Tätern. Reinbek bei Hamburg 1996. Bergmann, Martin S. [u. a.] (Hrsg.): Kinder der Opfer, Kinder der Täter. Psychoanalyse des Holocaust. Frankfurt a. M. 1995. Bielefeld, Claus-Ulrich: Die Analphabetin. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 254. 4./5. November 1995. Beilage Literatur. S. IV. Conway, Jeremiah: Compassion and Moral Condemnation: An Analysis of »The Reader«. In: Philosophy & Literature 23 (1999) S. 284-301. 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