Erinnerung und Gedächtnis Erinnerung ist seit Marcel Prousts Romanzyklus A la recherche du temps perdu (1913-1927)ist ein häufiges Forschungsthema, das Vermögen und Unvermögen des Gedächtnisses wurde erst später thermatisiert: Wieviel muss man vergessen (oder verdrängen), damit eine Erinnerung erzählbar wird? Harald Weinrich: Lethe, Kunst und Kritik des Vergessens. München: C.H. Beck 2000³ * Professor für Romanistik am Collège de France in Paris vergessen heißt im Altgriechischen lethe, Λήθη, wie der Name des mythologischen Flusses, der das Vergessen spendet. ars oblivionalis, die Vergessenskunst, ars memoriae, die Mnemotechnik Es kann nicht vergessen werden, was nicht gespeichert war Welche Metaphern fürs Vergessen fallen Ihnen ein? Von wem stammt das geflügelte Wort Lass das Vergang´ne vergangen sein, Du bringst mich um? Von wem stammt die Auffassung, die Kenntnis der Geschichte hemmt einen daran zu handeln? lWem würden Sie den Gedanken zuschreiben, im Seelenleben gehe nichts verloren. Alles Vergessen habe einen Grund”. Verwehte Spuren Einöden, wo es finster ist wo die Spuren im Sand schnell verweht werden in Vergessenheit geraten, to fall into oblivion, upadnout do zapomnění tabula rasa (Wachstabelle) der Computer als Speichergerätmit einer Löschtaste Faust bleibt vor Suizid bewahrt "Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube; . .. lnd doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt, lRuft er auch jetzt zurück mich in das Leben... lDa klang so ahnungsvoIl des Glockentones Fülle, lUnd ein Gebet war brünstiger Genuss; ... lErinnerung hält mich nun, mit kindlichem Gefühle, lVom letzten, ernsten Schritt zurück. lo tönet fort, ihr süßen Himmelslieder! lDie Träne quillt, die Erde hat mich wieder!" Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) lZu allem Handeln gehört Vergessen, wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. lQuelle: Unzeitgemäße Betrachtungen 2, 1 l »Übrigens ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.« Dies sind Worte Goethes, mit denen, als mit einem herzhaft ausgedrückten Ceterum censeo, unsere Betrachtung über den Wert und den Unwert der Historie beginnen mag. In derselben soll nämlich dargestellt werden, warum Belehrung ohne Belebung, warum Wissen, bei dem die Tätigkeit erschlafft, warum Historie als kostbarer Erkenntnis-Überfluß und Luxus uns ernstlich, nach Goethes Wort, verhaßt sein muß Freud, über das Verdrängen lVergessen sei die Ausführung einer Absicht des Unbewußten und gestatte einen Schluß auf die geheime Gesinnung des Vergessenden. (Traumdeutung) lWas mir unangenehm, ärgerlich, peinlich, gewissensquälerisch ist, das eben vergesse ich gerne und leicht und erreiche auf diese Weise mein psychisches Ziel: „Vermeidung von Unlust“. lNietzsche dagegen:„nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis.“ Verzerrung des Vergangenen in der Erinnerung »Mein Vater war zwar ein heftiger moralisch strenger, aber kein harter Mann.« Johann Gottfried Seume, Mein Leben von 1813 (S. 10). korrekterweise müsste es lauten: >Ich erinnere mich, daß mein Vater zwar ein heftiger moralisch strenger, aber kein harter Mann war<. Autobiographische Erinnerungssätze referieren zunächst auf die gegenwärtige, die erinnernde Redesituation, auch wenn sie vorgeben, einen vergangenen Sachverhalt unmittelbar zu beschreiben. Martina Wagner-Egelhaaf Uwe Johnson: Jahrestage »Katze Erinnerung«: »Unabhängig, unbestechlich, ungehorsam. Und doch ein wohltuender Geselle, wenn sie sich zeigt, selbst wenn sie sich unerreichbar hält« (Johnson 1971, S. 670) Warum „Katze“? Katze Erinnerung Erinnerungen kommen häufig ungerufen, werden sie aber bewusst aufgesucht, entziehen sie sich, entgleiten sie wie eine Katze. Martina Wagner-Egelhaaf die rekonstruktive Arbeit der Erinnerung geht auf die kulturelle Tradition zurück, 1.inventio (Findung der Gedanken), 2. dispositio (Anordnung der Gedanken und Strukturierung der Rede) 3. elocutio (schmückende Ausarbeitung der Rede) folgt 4. memoria 5. pronuntiatio oder actio (Halten der Rede) Maurice Halbwachs das individuelle Gedächtnis wird aus dem kollektiven Gedächtnis gespeist Wie verstehen Sie die Behauptung: Autobiographie sei nicht be-schriebenes, sondern ge-schriebenes Leben. ein verordnetes Erinnern Manfred Osten ein verordnetes Erinnern führt zu Unlustmotiven und damit zum Vergessen Martin Walser, Rede in der Paulskirche am 11. 10. 1998 Manchmal, wenn ich nirgends mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung attackiert zu werden, muß ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei auch eine Routine des Beschuldigens entstanden. Von den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt schon zwanzigmal weggeschaut. Martin Walser, 1998 Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. ... Ich habe gesagt, wer alles als einen Weg sieht, der nur in Auschwitz enden konnte, der macht aus dem deutsch-jüdischen Verhältnis eine Schicksalskatastrophe unter gar allen Umständen. ... Nie etwas gehört vom Urgesetz des Erzählens: der Perspektivität. Aber selbst wenn, Zeitgeist geht vor Ästhetik.