Arthur Schnitzler: Jugend in Wien Entstanden 1915–1918, unter dem geplanten Titel »Leben und Nachklang – Werk und Widerhall«. Vollständiger Erstdruck: Wien/München/Zürich (Fritz Molden) 1968. Erstes Buch: Mai 1862 bis Mai 1875 18 Meine Großmutter Amalia Markbreiter kam noch aus einer anderen, stilleren und einfältigeren Zeit. Sie war eine durchaus bürgerlich erzogene, einfach kluge und tüchtige Hausfrau, ihrem etwas problematischen Ehegemahl[Zdenek Ma1] die ergebenste und geduldigste Gattin, ihren zahlreichen Kindern eine liebevolle und geliebte Mutter. Aus meinen Kinderjahren erinnere ich mich kaum eines Tages, an dem sich nicht meine Mutter, gleichwie auch die anderen, später verehelichten Töchter, öfters auch Söhne, Schwiegersöhne, Schwiegertöchter in den Abendstunden zu kürzerem oder längerem Verweilen bei ihr eingefunden hätten. Während die Erwachsenen kamen, gingen, plauderten, sich an einem harmlosen Hazard vergnügten, unterhielten sich die Kinder in ihrer Weise mit Lektüre und Spielen aller Art. Diese Abende im großmütterlichen Heim fließen für mich alle gewissermaßen ineinander; nur einige heben sich heller und festlicher heraus. So vor allem der eine im Jahr, an dem der Versöhnungstag zur Neige ging und man sehnsüchtig nach dem Abendstern ausblickte, dessen Erschimmern am Horizont den Beschluß des Buß- und Fasttages verkündete. Da stand in der Mitte des Zimmers der gedeckte Tisch mit köstlichem, rituell zubereitetem Backwerk reich beladen, »Boles« und Pfefferbretzeln, Mohn- und Nußkindeln, – woran sich auch diejenigen erlaben durften, die nicht seit vierundzwanzig Stunden gefastet hatten, also die Kinder und die freigeistigeren männlichen Familienmitglieder; und – mußte man nicht schon bei dieser Gelegenheit an der göttlichen Gerechtigkeit irre werden – gerade die durften nach Herzenslust prassen, ohne die lästige Vorsicht, die den frommen Fastern dringend angeraten war. Übrigens glaube ich, daß die Frömmste, ja vielleicht die einzig wirklich Fromme in der Gesellschaft, die gute Großmama war, die wohl auch den größten Teil des Tags im Tempel betend verbracht hatte; ihre Kinder und Kindeskinder, wenn und solange sie es überhaupt taten, feierten den Bußtag hauptsächlich ihr zuliebe und nach ihrem Tode nur aus Pietät weiter. Doch war auch für meine Großmutter das Fasten am Versöhnungstag neben dem österlichen Essen ungesäuerter Brote (die übrigens in den Kaffee gebrockt vorzüglich mundeten) die einzige rituelle Übung, an der sie mit Strenge, aber nur mit Strenge gegen sich selbst, festhielt. Schon die Feier des Laubhüttenfestes oder gar eine Heiligung des Sabbats fand im großelterlichen Hause nicht statt; und in den folgenden Generationen trat – bei allem, oft trotzigen Betonen der Stammeszugehörigkeit – gegenüber dem Geist jüdischer Religion eher Gleichgültigkeit, ihren äußeren Formen gegenüber Widerstand, wenn nicht gar spöttisches Verhalten zutage. 20 Die Leopoldstadt war zu jener Zeit noch ein vornehmes und angesehenes Viertel, und insbesondere ihre Hauptstraße, in der auch das Carltheater stand, wußte etwas von ihrem Glanz auch über die spärlichen Stunden hinaus zu bewahren, da in Equipagen und Fiakern die große, die elegante, die leichtlebige Welt von den Pferderennen oder von Blumenfesten aus der »Hauptallee« zurückgesaust kam. Gar oft genoß ich in meinen Kinderjahren dieses prächtigen Anblicks von der Wohnung der Großeltern aus; auch später noch, als sie bald aus dem Carltheatergebäude in ein Haus der Circusgasse übersiedelt waren, von dessen vorderen Fenstern man gleichfalls auf die Praterstraße herabsah. Die meisten anderen Verwandten wohnten ganz in der Nähe, im gleichen Bezirk; nur meine Eltern hatten die Wohnung in der Praterstraße bald verlassen und eine neue auf der Schottenbastei bezogen, die übrigens schon damals keine Bastei war, sondern eine Straße wie andere auch. 21 Die der Schottenbastei zunächst gelegene grüne Anlage war das sogenannte Paradeis- oder Paradiesgartel, das mir in meiner Erinnerung kaum wie ein wirklicher Garten, sondern eher wie ein bläßliches Aquarell erscheint. Vor mir sehe ich einen grünen Rasen mit Blumenbeeten, zierliche Tische und Stühle vor einem länglichen, weißen Gebäude mit hohen Fenstern; zu Füßen eines weiblichen Wesens, das rechterseits auf einer Bank sitzt, spielt ein Kind in hellem Kleidchen; und irgendwo leuchtet ein roter Sonnenschirm. – Bin ich selbst dieses Kind? Ist das weibliche Wesen meine Bonne? Meine Mutter? Fließt, wie es so oft geschieht, Erinnerung an Erlebtes, an Mitgeteiltes, an ein irgendwo gesehenes Aquarell in ein Bild zusammen? Ich weiß es nicht. Das wirkliche Paradeisgartel verschwand jedenfalls schon in den letzten sechziger Jahren aus der Welt, ebenso wie die Löwelbastei, auf der es so manches Jahr ge blüht hatte. An der gleichen Stelle ungefähr steht heute das Burgtheater. 31 Zur Lektüre belletristischer Werke fand mein Vater bei seiner ausgebreiteten Tätigkeit nicht viel Zeit, und seine Urteile deckten sich im ganzen mit denen der kompakten Majorität, als deren Organ auch damals schon die »Neue Freie Presse« gelten konnte, und die durchaus nicht immer die falschesten waren. Ins Theater ging er oft und gern, schon seinen Patienten zuliebe, die er gelegentlich auch während der Vorstellung in der Garderobe zu besuchen und ärztlich zu behandeln pflegte. Konzerten wohnte er nicht allzu häufig bei, doch liebte er die Musik, ohne eigentlich mu sikalisch gebildet oder lebhafter interessiert zu sein. Auch hier war es eher der gesellschaftliche Dunstkreis, in dem er sich behagte. Die eigentliche Musikalität, das musikalische Verständnis und irgend etwas, das man beinahe schon musikalische Begabung nennen könnte, ist von mütterlicher Seite in unsere Familie gekommen. Zur bildenden Kunst aber hatte mein Vater, und damit lange Zeit unser ganzes Haus, überhaupt kein Verhältnis. Über die Reisenden, die in fremden Städten gewissenhaft mit dem Baedeker in der Hand Museen und Galerien durcheilten, spottete er gern, und wir mit ihm, als wären sie wirklich ausnahmslos alle lächerliche Subjekte, die nur einer eingeredeten Verpflichtung, nicht aber, was ja immerhin auch zuweilen vorkommen mochte, wirklichem Kunstgefühl oder ernsthaftem Bildungsdrang gehorchten. Da nun auf diesem Gebiete mir sowie meinen Geschwistern jede Spur von Talent mangelte, genügte diese ablehnende Haltung meines Vaters, um lange Zeit hindurch die Idee, daß hier ein weites Reich künstlerischen Genusses bereitliegen könnte, in uns gar nicht aufkommen zu lassen; erst in späteren Jünglingsjahren hat sich in mir allmälig das Interesse und später wohl auch ein gewisses Verständnis zuerst für Werke der Plastik und dann, stetig wachsend, für solche zeichnerischen und malerischen Charakters herangebildet, bis ich endlich – im Angesichte Rembrandts vor allem – jenes andächtige Glücksgefühl genoß, das mir gegenüber Goethe und Beethoven schon viel früher zuteil geworden war. Dort freilich, wo ein angeborenes Verhältnis zu irgendeinem Wissens-, Kunst- oder sonst einem Lebensgebiet besteht, kommen Einflüsse der Erziehung und Umgebung erst in zweiter Linie in Betracht; und ein ausgesprochenes Talent weiß sich bekanntlich gerade gegen feindselige Einflüsse mit Vorliebe durchzusetzen. Doch Aufnahmsfähigkeit für Dinge und Freude an Dingen, die außerhalb der individuellen Begabung und des individuellen Interesses liegen, werden durch Eindrücke der Kindheit in hohem Maße mitbestimmt. Hingegen ist es wieder keine seltene Beobachtung, daß angeborene Neigungen, die man zu Hause ungeschickt oder gar durch unerwünschten Zwang zu fördern sucht, dadurch verstört, ja gerade in ihr Gegenteil verkehrt werden oder wenigstens so lange verkümmern, bis das jugendliche Gemüt zu Selbstbesinnung und Selbstbestimmung herangereift ist. 34 Im Jahre 70 oder 71 atmete ich zum ersten Male Salzkammergutluft. Und damals war es, daß ich eines Abends in Alt-Aussee, von der Terrasse des Seewirts aus ins dunkle Wasser blickend, das scheinbar ohne Grenze mit der umgebenden Nacht in eins zusammen floß, zum erstenmal etwas empfand, das ich Naturgrauen nennen möchte, und das, an den Ort gebunden, wo ich es kennenlernte, länger in mir nachwirkte als jenes erste Naturentzücken, das mir im Thalhofgarten zu Reichenau zuteil geworden war. Im allgemeinen nahm ich Landschaftsbilder lange Zeit hindurch gewissermaßen nur in großen Umrissen in mir auf, ohne daß Einzelheiten, wenn sie in ihrer Eigenheit sich nicht unwiderstehlich einprägten, besonders auf mich gewirkt hätten. Manche nur flüchtig empfangenen Eindrücke aus der kleineren Tier- und Pflanzenwelt hingegen hafteten unauslöschlich in mir. Nie vergesse ich die ersten Leberblümchen, die ich im Frühjahr im Wienerwald pflückte, die Haselnußsträuche, die roten Pfaffenkappeln[Zdenek Ma2] und Tollkirschenbüsche in Vöslau, die schwirrenden Hirschkäfer in unseren Sommergärten und ganz besonders einen goldglänzenden Laufkäfer, der einmal zwischen Hütteldorf und Neuwaldegg quer über die Straße vor meine Füße lief; – solcherart waren die Eindrücke, in denen mir fast mehr als Symbol denn als Erinnerung wieder ersteht, was mir in den Kinderjahren Natur bedeutete. Mein Vater hatte eine ganz besondere Vorliebe für den Geruch von Nußblättern, die er gerne zwischen den Fingern zerrieb; im übrigen hielt er uns im Freien zum tiefen Atemholen an und ging uns darin, den Spazierstock waagrecht zwischen beiden ausgestreckten Armen an den Rücken gepreßt, mit gutem Beispiel voran. 37 Dieser Herr Lang[Zdenek Ma3] war es auch, der sich eines Tags mit mir ins Akademische Gymnasium begab, um sich dort nach dem Beginn des Schuljahrs und den Einschreibeformalitäten zu erkundigen. Im Konferenzzimmer erteilte der alte Professor Windisch die nötigen Auskünfte; ich stand wohlgesittet vor ihm, den Strohhut in der Hand, der mittelst eines Bändchens an einem Knopf meiner Jacke befestigt war, in leicht geneigter Haltung, und war mir eines lauen Gefühls von Ergebenheit und Devotion bewußt, dessen ich mich zugleich ein wenig schämte; und dieser Moment war es, in dessen lebendigem Nachgefühl ich acht Jahre später in einem romantischen Trauerspiel einem Mönch die Worte in den Mund legte: »Denn manchmal findet sich im Menschenherzen Der Keim zu einem solchen Dienenwollen.« Nachdem ich so zum erstenmal im Ibsen'schen Sinne Gerichtstag über mich selbst gehalten, habe ich mich auf Empfindungen ähnlichen Charakters nie wieder ertappt; ja, eine gewisse frondierende Grundstimmung meines Wesens, die sich aus kindlichen Anfängen immer entschiedener herausbildete, mag ihre Entstehung unter anderem auch dieser ersten inneren Auflehnung gegenüber einer mir selbst sofort verächtlich erscheinenden Gemütsregung verdankt haben. Immerhin verhielt ich mich besonders in den unteren Klassen des Gymnasiums brav und mit einiger Nachhilfe fleißig genug und durfte mich zu den besseren, meist sogar zu den Vorzugsschülern zählen. Auch galt ich nicht ganz mit Unrecht für eine Art von Muttersöhnchen, ein Ruf, der mir schon von einem der allerersten Schultage anhaftete. In der ersten Gesangsstunde, die gegen Abend abgehalten wurde, hielt uns der Lehrer, Professor Machanek, über die Zeit zurück, weil er durch irgendein Mißverständnis das vorige Mal vergeblich unserer gewartet hatte und die versäumte Stunde nachholen wollte. Da erschien plötzlich mein Lehrer Max Lang in der Klasse und bat dringend, mich sofort mit nach Hause nehmen zu dürfen, da meine Mutter sich wegen meines Ausbleibens in größter Aufregung befinde. Ich wurde entlassen, und tatsächlich traf ich die Mama händeringend und in Tränen an und wurde von ihr in die Arme geschlossen, als wäre ich einer großen Gefahr entronnen. Und noch etliche Jahre hindurch wurde ich ganz regelmäßig auch am hellichten Tage von der Schule abgeholt, obwohl wir kaum zehn Minuten weit vom Gymnasium wohnten. 52 Irene, harmloser und gutmütiger von Natur, wurde die Frau eines Getreidehändlers namens Ludwig Mandl, der, auch im Börsengeschäft wohlerfahren, bald als der reichste Mann in der Familie dastand, ohne es eigentlich merken zu lassen. Er trug sich salopp, ja schäbig, fuhr auf der Eisenbahn in der dritten Klasse und freute sich, wenn er die Bahnverwaltung gelegentlich um eine Abonnementskarte beschummeln konnte, wobei es ihm keineswegs auf den geringen Betrag ankam, den er beim Kartenspiel oder wohl auch auf Almosen leichten Sinns hundert- und tausendfach hinzuwerfen imstande war, sondern nur auf das Bewußtsein, der Schlauere gewesen zu sein. Übrigens beschränkten sich seine Reisen fast nur auf Fahrten zwischen Wien und Vöslau, wo er später Besitzer der Villa Rademacher wurde, in der gelegentlich wir zur Miete wohnten. Vier Kinder aus Irenens Ehe starben früh, zwei innerhalb weniger Tage an Diphtherie, nach welchem Ereignis die Mutter in eine schwere Melancholie verfiel, wie sie sogar nach solch einem erschütternden Erlebnis doch nur in einem schon belasteten Gemüt zur Entwicklung kommen kann, das unter anderen Umständen von dem Drohen eines solchen Verhängnisses vielleicht nie etwas verspürt oder auch nur geahnt hätte. 53 Von gewöhnlicherer Art, rauh im Wesen, Geschäfts- und Börsenmann vor allem, erschien Carl, Irenens Zwillingsbruder. In seiner Jugend galt er als Lebemann. Ich selbst, als Fünfzehnjähriger, bin ihm einmal in einem zweideutigen Praterlokal begegnet, wo wilde Damen von unzweideutigem Ruf auf ziemlich zahmen Pferden in einer dämmerigen Manège umhersprengten. Von dieser Begegnung an, die uns beiden nicht angenehm war, behielt er bei mir und meinem Freunde Richard Horn, einem meiner Begleiter auf dergleichen Ausflügen, den Namen Hippodromonkel. Seine zwei Knaben aus der Ehe mit Rebekka Lakenbacher stehen unter den Markbreiterischen Enkelkindern, wenn man versuchte, sie der Begabung nach in einer Reihe zu ordnen, am äußersten Ende. Es war eine Nacht, in der ich, entweder plötzlich erwacht oder noch nicht eingeschlafen, in einem aus der Tiefe meiner Seele aufsteigenden Grauen vor dem Sterbenmüssen, das mir zum erstenmal in seiner ganzen Unentrinnbarkeit zum Bewußtsein kam, laut zu weinen begann; in der Absicht, die Eltern aufzuwecken, die im Nebenzimmer schliefen. Es dauerte auch nicht lange, bis der Papa an mein Diwanbett trat, mich besorgt fragte, was mir fehle, sich zu mir setzte und mir zärtlich über Stirn und Haare strich. Ich schluchzte noch eine Weile still weiter, verriet mit keiner Silbe, was mich so heftig erschüttert hatte, und als der Papa sich nach einigen guten Worten entfernt hatte, schlief ich beruhigt wieder ein. – Ein Anfall von gleicher Heftigkeit hat sich niemals wiederholt. Doch ungefähr in der gleichen Epoche trug ein anderes Erlebnis sich zu, in dem die unbewußten Elemente meines Wesens wie von etwas Rätselhaftem berührt wurden. Mitten in der Nacht stand ich einmal im Halbschlaf von meinem Lager auf und begab mich durch das Schlafgemach der Eltern ins Speisezimmer, wo ich meinen Bruder im Nachthemd am Tische sitzend zu sehen mir einbildete. Als mein Vater, der mir gefolgt war, mich gänzlich erweckte, wußte ich auch schon, daß mich nur ein Mondstrahl in jenes entfernte Zimmer gelockt hatte, der durchs Fenster über Tisch und Sessel auf den Fußboden fiel. Obzwar sich ein Zufall dieser Art, soweit ich mir selbst davon Rechenschaft zu geben vermag, niemals mehr wiederholte, schmeichelte ich mir doch geraume Zeit mit der Einbildung, mondsüchtig zu sein. Zweites Buch: Mai 1875 bis Juli 1879 63 Man stelle sich einen Menschen vor, der unversehens in eine Maskenleihanstalt geriete: ringsherum an den Wänden, in offenen Schränken, auf Kleiderstöcken hängen Gewänder mit schlappen Ärmeln, Mäntel ohne Inhalt; papierene Larven starren mit leeren Augen und zwischen den offenen, rotgeschminkten Lippen gähnen Löcher; es ist eine bunt phantastische, aber tote Welt. Allmälig jedoch regt sich ein oder der andere Ärmel, der eben erst nichts zu enthalten schien als Luft, fingernde Hände strecken sich entgegen, ein Mantel bläht sich, wie wenn eine atmende Brust ihn schwellte, aus der leeren Augenöffnung einer Larve schimmert ein Blick, die Lippen beginnen zu lächeln oder zu grinsen, und was bisher hohle Gewandung oder bemalter Pappendeckel schien, erweist sich als atmend, schauend und bewegt. Es wäre das seltsamste Abenteuer, und doch ist es vergleichsweise nichts anderes als was ahnungsvoll und gefaßt der Knabe erlebt, wenn ihm hinter den Worten, soweit sie etwas Begriffliches bezeichnen, hinter Worten, die er hundertmal gehört, gelesen, ausgesprochen, niedergeschrieben und zu verstehen geglaubt hat, zum erstenmal ihr eigentlicher Sinn aufzuglänzen beginnt. Nicht mehr zwischen Larven und Gewändern wandelt er dumpf einher, das Leben selbst dringt und funkelt auf ihn ein; und auch, wo es sich noch nicht kundgetan, ist er der wundersamsten Überraschung in jedem Augenblick gewärtig. Wie zum erstenmal in einer schlaflosen Nachtstunde das Wort Tod aus seiner Buchstabenstarrheit für mich erwachte, habe ich eben erzählt; nicht viel später, wie leicht zu denken, sollte mir mit dem Wort Liebe das gleiche begegnen. 78 Damals, es war in der Spätblütezeit des Liberalismus, existierte der Antisemitismus zwar, wie seit jeher, als Gefühlsregung in zahlreichen, dazu disponierten Seelen und als höchst entwicklungsfähige Idee; aber weder als politischer noch als sozialer Faktor spielte er eine bedeutende Rolle. Nicht einmal das Wort war geprägt, und man begnügte sich damit, Leute, die den Juden besonders übel gesinnt waren, fast abschätzig als »Judenfresser« zu bezeichnen. Eine gewisse, keineswegs streng durchgeführte Scheidung zwischen christlichen und jüdischen Schülergruppen – von Parteien konnte noch nicht die Rede sein – machte sich, wie überall und immer, auch in unserer Klasse geltend; als »Judenfresser« galt nur einer, ein gewisser Deperis, und er war nicht gerade wegen dieser Eigenschaft, sondern wegen seiner Geckenhaftigkeit und Hochnäsigkeit uns allen mißliebig und lächerlich. Auch verübelte man ihm, daß er, obwohl stets aufs sorgfältigste gekleidet und offenbar aus wohlhabender Familie, von der Zahlung des Schulgeldes befreit war, und überdies galt er als der beschränkteste unter seinen Kollegen. Er soll sich diesen Ruf auch im Staatsdienst bewahrt haben, wo er bis zum Sektionschef aufstieg; in der Schule hatte ihm seinen Ruf nur einer, übrigens ein höchst anständiger und braver Junge, Karl Leth, mit einigem Erfolg streitig gemacht, trotzdem sollten fast vierzig Jahre vergehen, ehe dieser verdiente Staatsbeamte es bis zum Minister brachte. 82 Theater- und Konzertbesuch, Lektüre, Spazier- und Plauderstunden mit Freunden, die eigene Dichterei – alles fügte sich ohne Schwierigkeit in den Lauf des Tages; und kam die schöne Jahreszeit oder gar die Ferien, die bis auf ein paar kurze Reisewochen gleichfalls in der Stadt verbracht wurden, so hätte ich auch für mein blondes Fännchen mehr Zeit gehabt, als am Ende doch aus inneren und äußeren Gründen für sie erübrigt wurde. Nachdem wir uns fast zwei Jahre halb zufällig kaum gesehen und gesprochen hatten, fing die Bekanntschaft an einem wunderschönen Septembertag des Jahres 1878 von neuem an, und zwar durch die uneigennützige Vermittlung eines jungen Mannes, den ich bis dahin nicht gekannt und der in einer Allee des Volksgartens auf mich zutrat, um mir im Auftrag eines »schönen Trios« eine Rose zu überreichen. Ich nahm sie dankend entgegen, er sagte »Ich beneide Sie darum« und verschwand. Er hieß Jaspisstein, und seit jener Stunde habe ich nie wieder etwas von ihm gesehen oder gehört. Das »schöne Trio« aber bestand aus Fännchen und zwei gleichaltrigen Freundinnen, die von einer Bank aus schulmädelhaft sich an der Szene ergötzt hatten und bald darauf mit anspielungsreichen Bemerkungen immer wieder an mir vorüberstreiften. Aber erst ein paar Tage später, als ich, mit meinem »Tarquinius Superbus«[Zdenek Ma4] beschäftigt, auf einer Volksgartenbank saß und Fännchen ihren kleinen Bruder Fritz zu mir schickte, mich um die Rose zu bitten, die ich im Knopfloch trug, fühlte ich mich veranlaßt, mich ihr persönlich zu nähern, und nun knüpften wir gleich wieder dort an, wo wir zwei Sommer vorher abgebrochen hatten. Da wir indes an die Schwelle der Jünglings- und Jungfrauenjahre gelangt waren, so spielte sich unser Verhältnis, wenn auch noch immer unschuldig genug, doch beträchtlich zärtlicher und unruhvoller fort als in früherer Zeit, und es bedurfte bald nicht mehr der Ausrede eines Fangen- oder Pfänderspiels, um in den abendlichen Alleen des Rathausparks oder Volksgartens in Küssen und Umarmungen zueinanderzufinden. In lebhafterer Erinnerung aber als diese abendlichen Zusammenkünfte sind mir die Spaziergänge in den sommerlich verlassenen Gassen der inneren Stadt; die wunderbare Kühle, die uns von den hohen steinernen Mauern der Minoritenkirche und der umliegenden alten Paläste anwehte. Zumeist war Fännchen in Gesellschaft von Freundinnen, die Spiel und Ernst in ihrer Weise zu fördern oder zu stören wußten. Da gab es ein reizvolles, rothaariges Mädchen, in das ich mich ein wenig, ein unhübsches, blasses, allzu kluges, das sich in mich verliebte; ein hageres, sommersprossiges, übelgelauntes stellte sich unserer jungen Liebe geradezu feindlich entgegen, und an ihr rächte ich mich nach Poetenart durch ein satirisches Lustspiel: »Die Moral«, in dem das Verschwinden dieses ethischen Elements aus der Welt damit erklärt wurde, daß es von dem einen keuschen Fräulein Laura ganz und gar gepachtet worden sei. Nun mag es vielleicht wunderlich scheinen, daß ich von Fännchens innerem und äußerem Wesen bisher noch kaum mehr zu sagen gewußt habe, als daß sie blond war. Bin ich nur darum so karg in meiner Schilderung, weil seither so viele Jahrzehnte vergangen sind, und hätte ich damals anderen und mir selbst besser zu erklären vermocht, warum ich gerade sie und keine andere liebte? Ich glaube kaum. Sie war leidlich hübsch, nicht eben dumm, und besaß gerade so viel Bildung, als man in jener Zeit den Töchtern mittlerer jüdischer Hausstände zu geben für nötig fand. Niemals konnte sie mir als Ausnahmswesen, und noch weniger das Gefühl, das uns verband, als etwas Besonderes erscheinen, vielmehr kam mir das Typische der ganzen Liebesgeschichte, auch während ich mitten darinnen stand, mit vollkommener Deutlichkeit zum Bewußtsein, ohne daß ich sie darum mit geringerer Lust oder geringerem Weh durchlebt hätte, als einem naiveren Gemüte beschieden gewesen wäre. – Denn schon damals besaß ich keineswegs das, was man Illusionen zu nennen pflegt; ein Besitz, den man so oft als beneidenswert preisen hört und nach dem ich niemals die geringste Sehnsucht empfunden habe. Weder an Glück noch an Unglück bin ich darum ärmer gewesen als ein anderer, und daß ich niemals versucht habe, mich über die Natur meiner Gefühle, über das Wesen der Menschen, denen ich nahestand, zu täuschen, hat mich weder davor bewahrt, Unrecht zu leiden, noch, Unrecht zu begehen. 84 Bei meiner wohlbegründeten Scheu vor einer intimeren Bekanntschaft mit all den Huldinnen[Zdenek Ma5] wußte meine Neugier sich einen Vorwand für die ersten Ausflüge in das bedenkliche Revier zu suchen und, frei nach Freund Adolf, der den Damen, die er mit seiner Gunst beehrte, nachher in salbungsvoller Rede ihren sittenlosen Lebenswandel vorzuhalten und sie zu einem reineren aufzufordern pflegte, beschloß ich, mich gänzlich auf die erzieherische Mission zu beschränken; und mit so ehrbaren, aber innerlich nicht ganz ehrlichen Absichten folgte ich an einem schönen Sommertag der strohblonden Venus in ihre Behausung auf dem Stock-im- Eisen-Platz. Während das hübsche junge Geschöpf nackt auf dem Divan lag, lehnte ich in meinem noch ganz knabenhaft zugeschnittenen Anzug, Strohhut und Spazierstöckchen in der Hand, am Fenster und redete der zugleich gelangweilten und belustigten Schönen, die sich von dem Sechzehnjährigen bessere Unterhaltung erwartet hätte, ins Gewissen, sich doch einem anständigern und aussichtsreichern Berufszweig als dem von ihr erwählten zuzuwenden, und versuchte meinem Ratschlag durch Vorlesen passender Stellen aus einem zu diesem Zweck mitgebrachten Buch – leider weiß ich nicht mehr, aus welchem – größeren Nachdruck zu verleihen. Ohne daß es mir gelungen wäre, sie, oder ihr, mich zu überzeugen, was sie in ihrer Weise immerhin geschickter anstellte als ich in der meinen, nahm ich Abschied und ließ ihr zwei Gulden zurück, deren Besitz ich der meiner Mutter vorgespiegelten Notwendigkeit verdankte, mir einen neuen Gindely, Grundriß der Weltgeschichte, kaufen zu müssen. Seither bekam der Name Gindely in der Unterhaltung zwischen uns verworfenen Jünglingen eine überaus pikante Nebenbedeutung. Im Laufe der nächsten Monate ließ ich dem Besuch bei Venus einige weitere bei den anderen Göttinnen folgen; der erzieherische Teil blieb auf das Unerläßlichste beschränkt, aber auch weiterhin und noch auf lange hinaus, gelang es mir, mich vor dem Sündenfall in seiner biblischen Bedeutung zu bewahren. 86 Das letzte Zeugnis über das erste Semester der Achten war gerade noch leidlich, aber keineswegs zur Zufriedenheit meiner Eltern ausgefallen, und so hatte sich die schwüle Stimmung, die ich daheim schon geraume Zeit um mich brauen fühlte und die durch meine Nachlässigkeit im Studium, meinen fort gesetzten Verkehr mit den »Freunderln«, wie mein Vater sie verächtlich nannte, und auch durch eine gewisse Ungebärdigkeit meines Benehmens gefördert wurde, immer drohender verdichtet und verdüstert; – bis eines Morgens, gerade als ich zur Schule gehen wollte, mein Vater mir plötzlich stirnrunzelnd anbefahl, ihm aus seinem Arbeitszimmer irgendeinen nebensächlichen Gegenstand, einen Bleistift glaube ich, hereinzuholen. Mir ahnte Schlimmes und mit Recht. Denn als ich wieder ins elterliche Schlafgemach zurückkam, erwartete mich mein Vater mit strenger Miene, mein kleines rotes Tagebuch in der Hand, und es ergab sich, daß er bereits vor mehreren Tagen mit einem – ihm jedenfalls nicht von mir zur Verfügung gestellten – Schlüssel meine Schreibtischlade geöffnet, mein Tagebuch gelesen und es wieder an seinen Platz getan hatte, um heute – ich hatte offenbar das letzte Mal meine Aufzeichnungen in einem besonders spannenden Moment unterbrochen – nachzulesen, was ich indes für neue Untaten verzeichnet haben mochte. Zu leugnen gab es so unwiderleglichen Schuldbeweisen gegenüber nichts; stumm mußte ich eine furchtbare Strafpredigt über mich ergehen lassen und wagte endlich kaum schüchterne Worte des Befremdens über den an mir verübten Vertrauensbruch, der mir durch das patriarchalische Verhältnis zwischen Vater und Sohn keineswegs genügend gerecht fertigt schien. Zum Beschluß nahm mich der Vater mit sich ins Ordinationszimmer und gab mir die drei großen gelben Kaposischen Atlanten der Syphilis und der Hautkrankheiten zu durchblättern, um hier die möglichen Folgen eines lasterhaften Wandels in abschreckenden Bildern kennenzulernen. Dieser Anblick wirkte lange in mir nach; vielleicht verdanke ich es ihm, daß ich mich zumindest noch eine geraume Zeit lang vor Unvorsichtigkeiten hütete und insbesondere meine Besuche bei Emilie und ihresgleichen einzustellen für gut fand. Von so guten Absichten mein Vater bei seinem Vorgehen zweifellos geleitet war, und wenn man ihm auch keineswegs den gewünschten Erfolg gänzlich absprechen darf, – die etwas hinterhältige Methode, die er angewandt, konnte ich ihm lange nicht vergessen; und wenn sich eigentlich kaum je ein völlig rückhaltloses Verhältnis zwischen ihm und mir herzustellen vermocht hat, so war die unauslöschliche Erinnerung an jenen Vertrauensbruch sicher mit schuld daran. Drittes Buch: September 1879 bis Juli 1882 93 Schon als kleiner Bub hatte ich den Traum genährt, Doktor zu werden wie der Papa. Da hatte man nämlich nicht nur die Möglichkeit, den ganzen Tag im Wagen herumzufahren, sondern, wenn es einem beliebte, konnte man bei jedem Zuckerbäckerladen halten lassen und das köstlichste Naschwerk kaufen, noch viel besseres, als es uns Kindern die gute Frau Walz an jedem Ersten und Fünfzehnten mitbrachte, wenn sie kam, um den Mietbetrag für den Monatsfiaker einzukassieren. In ernsterem Sinne freilich wirkten das Vorbild meines Vaters, mehr noch die ganze Atmosphäre unseres Hauses von frühester Jugend auf mich ein, und da ein anderes Studium während meiner Gymnasialzeit überhaupt nicht in Frage gekommen war, ergab es sich als ganz selbstverständlich, daß ich mich im Herbst 1879 an der medizinischen Fakultät der Wiener Universität immatrikulieren ließ. Eine wirkliche Begabung oder auch nur ein auffallendes Interesse nach der naturwissenschaftlichen Seite hin war bis zu diesem Moment keineswegs bei mir zu konstatieren gewesen. ________________________________ [Zdenek Ma1]Von einer gewissen, jedenfalls ziemlich frühen Epoche seines Lebens an vergeudete er alles, was er besaß und erwarb, in der kleinen Lotterie oder in Börsenspekulationen. Stets in Geldverlegenheiten, oder wenigstens auf der Suche nach neuen Spieleinsätzen, scheute er auch nicht davor zurück, sich die eben nötigen Summen auf minder gewöhnlichem Wege zu verschaffen; (vgl. Schnitzler-Jugend, S. 15-16) [Zdenek Ma2]Gewöhnliche Spindelstrauch (Euonymus europaeus) Die Form der Kapselfrucht ähnelt dem Birett, einer Kopf-bedeckung katholischer Geistlicher. Giftig. [Zdenek Ma3]Hauslehrer: Herr Maximilian Lang, der damals Medizin studierte und es niemals bis zum Doktor brachte; ein grundguter, tüchtiger, stets etwas salbungsvoller Mann, des Schönredens und noch mehr des Schönschreibens bis zur Pedanterie beflissen, [Zdenek Ma4]Tarquinius Superbus (Tragödie, 1875), eine Juvenilie Schnitzlers. [Zdenek Ma5]den Prostituierten