Elias Canetti (1905–1994) Rustschuk: 20 000 Einwohner, die größte unter den 1878 befreiten Städten Bulgariens, 1100 km von Wien. Zunge Meine Eltern untereinander sprachen deutsch, wovon ich nichts verstehen durfte. Zu uns Kindern und zu allen Verwandten sprachen sie spanisch. ... Die Bauernmädchen zu Hause konnten nur Bulgarisch. ... Alle Ereignisse jener ersten Jahre spielten sich auf Spanisch oder Bulgarisch ab. Sie haben sich mir später ins Deutsche übersetzt. Nur besonders dramatische Vorgänge, Mord und Totschlag sozusagen und die ärgsten Schrecken, sind mir in ihrem spanischen Wortlaut geblieben, aber diese sehr genau und unzerstörbar. „Für Shakespeare brachte sie die Inbrunst auf, die sie für ihren Glauben nie empfunden hatte.“ l „Mein Sohn, du spielst, und dein Vater ist tot! Du spielst, du spielst, und dein Vater ist tot! Dein Vater ist tot! Dein Vater ist tot! Du spielst, dein Vater ist tot!“ Mit ihren Schreien ging der Tod des Vaters in mich ein und hat mich nie wieder verlassen.“ lDeutsch: meine „unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache“ sieben oder acht Sprachen ... Türken,die ein eigenes Viertel bewohnten ... Griechen, Albanesen, Armenier, Zigeuner... meine Amme war eine Rumänin ... vereinzelt auch Russen. Von den Spaniolen waren die meisten noch türkische Staatsbürger. ... Aber da viele unter den Spaniolen wohlhabende Kaufleute waren, unterhielt das neue bulgarische Regime gute Beziehungen zu ihnen, und Ferdinand, der König, der lange regierte, galt als Freund der Juden. Mit naiver Überheblichkeit sah man auf andere Juden herab, ein Wort, das immer mit Verachtung geladen war, lautete Todesco, es bedeutete einen deutschen oder aschkenanischen Juden. Die Fackel im Ohr.Lebensgeschichte 1921-1931. 1980. Darum habe ich es vorgezogen, nur einiges Wenige aus diesen Berliner drei Monaten herauszugreifen, und zwar besonders solches, das seine erkennbare Gestalt behalten hat und nicht ganz in die geheimen Irrgänge verschwand, aus denen ich es erst herausgraben und neu bekleiden müsste. Ich bin im Gegensatz zu vielen, besonders solchen, die einer redseligen Psychologie erlegen sind, nicht der Überzeugung, dass man die Erinnerung drangsalieren, kujonieren und erpressen oder der Wirkung wohlberchneter Lockmittel aussetzen soll, ... VuW 1983, 346 Bollacher, Martin: "ich verneige mich vor der Erinnerung". Elias Canettis autobiographische Schriften. In: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti. München: Hanser 1985, S. 245-259. drangsalieren, kujonieren drangsalieren (abwertend): quälen, peinigen, jmdm. zusetzen: Stechmücken drangsalierten sie fürchterlich; jmdn. mit seinen Fragen d. kujonieren [älter frz. coïnner= als Kujon behandeln] (ugs. abwertend): [bei der Arbeit] unwürdig behandeln, schikanieren, unnötig u. bösartig bedrängen: sich k. lassen. Ku|jon, der; -s, -e [älter frz. coïon, couillon= Schuft, Memme, eigtl.= Entmannter < ital. coglione, über das Vlat. zu lat. coleus= Hodensack] (veraltend abwertend): jmd., der als gemein, niederträchtig angesehen wird. Ich verneige mich vor der Erinnerung Ich verneige mich vor der Erinnerung, vor jedes Menschen Erinnerung. Ich will sie so intakt belassen, wie sie dem Menschen, der für seine Freiheit besteht, zugehört, und verhehle nicht meinen Abscheu vor denen, die sich herausnehmen, sie chirurgischen Eingriffen so lange auszusetzen, bis sie der Erinnerung aller übrigen gleicht. Mögen sie an Nasen, Ohren, Lippen herumoperieren, soviel sie wollen, .... mögen sie alles betasten, stutzen, glätten, gleichen, aber die Erinnerung sie sollen lassen stân. keine moderne Subjektproblematik keine Krise des Erzählens, sein Erzählen funktioniert wie am Schnürchen, eine harmoniebetonte auktoriale Gegenstimme im polyphonen, eher dem kritischen Ideal der Dissonanz verpflichteten Konzert der Zeit, die Forschung hat gezeigt, dass Canettis Texte von einem Bewusstsein der subjektkonstitutiven Macht der Sprache und der Literatur geprägt sind. Wagner-Egelhaaf, 197 Schreiben gegen den Tod Augenspiel: Menschen durch Worte am Leben erhalten, sie gleichsam durch Worte erschaffen. Vgl. Die Widmungen an Goerges Canetti und Veza.