Die intensive Lektüre der Frauen um 1900 ergab sich aus dem besseren Zugang der Frauen zu Bildung einerseits und der immer noch patriarchalisch geprägten Lebensweise in den Familien andererseits. Die Lektüre eröffnete den Frauen weitere Horizonte und Erfahrungsmöglichkeiten, steigerte ihre Unzufriedenheit mit realen Lebensbedingungen und begünstigte – bei wenig Chancen sie zu ändern – ihre Flucht in fiktive Welten der Lektüre. Schon oben wurde wurde Hedwig Courths-Mahler erwähnt. 1905, nach den ersten Veröffentlichungen, zieht sie mit ihrem Mann nach Berlin, wo sie vor allem in der Zeitschrift "Berliner Hausfrau" veröffentlicht und einen kleinen Salon führt. 1912 gelingt ihr mit ihrem wohl bekanntesten Roman "Ich lasse Dich nicht!" der Durchbruch. Allein in Deutschland werden über eine Million Exemplare verkauft. Sie ist bis heute die meistübersetzte deutsche Autorin, aber gleichzeitig eine symbolische Figur der Schema-Literatur. Sie hatte aber wichtige Vorgängerinnen, die nicht nur als Unterhaltungsschriftstellerinnen galten. 1899 würdigte die Rundschauzeitschrift »Die Gegenwart« Nataly von Eschstruth als »unsere beliebteste deutsche Schriftstellerin« Eschstruths leicht humoristischer Erzählton und ihre naiv-idealisierende Charakterzeichnung erweckten in ihrem nationalgesinnten Lesepublikum den Eindruck, unmittelbaren Einblick in Alltagsleben und Familiengeschichte der höchsten Kreise zu gewinnen. Am Anfang der ernst zu nehmenden künstlerisch ambitionierten Romane und Erzählungen steht Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens (1895). Die Autorin (1859-1941) verkehrte im Kreis um die Berliner Freie Bühne und ihr »Antifamilienblattroman«, weil er nicht mit Happy-End, sondern mit Enttäuschung endet, erschien bei S. Fischer. Er sicherte ihr ein Publikum für weitere Erzählwerke emanzipatorischer Tendenz, in denen die psychische Verkrüppelung und physische Not der Frau, der »höheren Töchter«, der weiblichen Arbeiterschaft, der ledigen Mutter (die sie selber war), im Mittelpunkt stehen. In Aus guter Familie (wie auch im Novellenband Frauenseelen. Bln. 1902) macht die Mischung von objektiver und subjektiver Erzählperspektive (explizit deutender Erzählkommentar, erlebte Rede) auch der unerfahrenen Leserin den Grad an weiblicher Selbstentfremdung als Folge des zeitgenössischen Erziehungsprinzips deutlich. Aus der Kuratel der Eltern in die Kuratel eines Eheherrn sollten die Mädchen überstellt werden. Die seit frühester Kindheit eingeübte Gefühlsverdrängung und deren psychische und physische Kosten zeigt Reuter an der Lebensgeschichte von Agnes Heidling - von der Konfirmarion, über ihr Pensionatsleben bis zur gescheiterten Verehelichung, als ihr Vater nicht die übliche Mitgift aufbringen kann. Als sie sich danach noch von ihrer Jugendliebe trennt, weil sich der inzwischen leichtfertig gewordene Schriftsteller nicht mit ihrem alten Idealbild von ihm deckt, bricht sie zusammen. Der letzte Satz des Buches lautet: „Und Agathe hat vielleicht ein langes Leben vor sich – sie ist noch nicht vierzig Jahre alt.“ Ihr restliches Leben wird sie aber vermutlich in geistiger Abstumpfung mit Patiencen und einer Sammlung von Häkelmustern verbringen. Wie Fontanes Effi Briest behandelt auch Reuters Roman Aus guter Familie das Problem der Stellung der berufslosen Frau aus der höheren Schicht. Während Reuters Roman den Fontanes an Auflagenhöhe und Verbreitung zunächst übertraf (bis 1931 wurden insgesamt 28.000 Stück verlegt) und auch die politische Frauenbewegung beeinflusste, führten spätere Kanonisierungsprozesse dazu, dass „Effi Briest“ bis heute einen Platz im schulischen und universitären Kanon behauptet hat, während Reuter in Vergessenheit geriet. Einen Skandal verursachte Reuters Roman Das Tränenhaus (1908), in dem sie auf recht drastische Weise die Zustände in einem Haus für ledig Gebärende schilderte. Isolde Kurz (1853-1944) lebte 1877-1910 in Italien. Sie bezog die Stellung gegen Naturalismus und Expressionismus. Ihr Stilkonservatismus und ihre apolitische »ideale« Weltsicht gilt um die Jahrhundertwende neben Moderne und Heimatkunst als dritte Literaturströmung. Ihre Biogrpahie zeigt, wie schwer es für Frauen war, sich eine mit Männern vergleichbare Bildung anzueignen. »In den bürgerlichen Kreisen, auch in den gebildeten, soweit sie nicht wohlhabend waren, begnügte man sich oft genug damit, ihnen die häuslichen Arbeiten beizubringen und sie zu unbezahlten Dienstmädchen heranzuziehen, besonders wenn das Studium der Söhne die elterlichen Mittel erschöpfte.« So wurde sie Autodidaktin und eine stolze Außenseiterin, die mit ihren Geschlechtsgenossinnen nichts gemeinsam haben wollte. Vor ihrem Umzug nach Italien verdient sie sich ihren Lebensunterhalt mit Sprachunterricht und Übersetzungen. Ihr ältester Bruder Edgar wurde Arzt in Florenz und ließ Isolde, ihre Mutter und der jüngste, schwerkranke Bruder Balde in den Süden ziehen. Die Sitte« verbietet es damals jungen Frauen in Italien, sich ohne Begleitung auf der Straße zu bewegen. Überall erregt sie - nicht zuletzt weil sie blond ist - Aufsehen, wenn sie allein durch die Gegend streift. George Sand, die in Paris unter denselben Bedingungen lebte, zog sich Männerkleidung an, wenn sie durch die Stadt lief oder die Oper und das Theater besuchte. Isolde Kurz, so scheint es, ist dieser Gedanke nicht gekommen.Tag für Tag sitzt sie in der Bibliotheca Nazionale am »Damentisch« und macht Auszüge. Aus der ursprünglich wissenschaftlichen Arbeit werden zwei Erzählbäde: Florentiner Novellen [1](1890) und Italienische Erzählungen (1902). Sie empfindet Dichtung als einen »schöpferischen Auftrag«. Sie ist ein Medium; »Stimmen« kommen zu ihr. Für sie als kreative Frau bedeutet das Verzicht auf Liebe zum anderen Geschlecht. Männer, so führt Isolde Kurz aus, die schöpferisch tätig sein wollen, brauchen eine »sorgliche Frauenhand, umhüllende Liebe«. Für Frauen aber gilt: »Zwei Götter können sich nicht nebeneinander vertragen. Der Eros will seine Beute ganz und der Genius ebenfalls... Und der Eros bringt für die Frau unausweichlich die Dienstbarkeit mit, das Wesen des Genius aber ist Freiheit.« Später stellte sie allerdings ihr Prestige als Autorin in den Dienst für nationalistische bzw. nationalsozialistische Propaganda im Ersten bzw. im Zweiten Weltkrieg und ihre stolz deklarierte apolitische Einstellung nahm schnell ein Ende. Aus einer prominenten Familie wie die Tochter von Hermann Kurz – Isolde – stammte auch Helene Böhlau. Ihr Vater besaß den Hermann Böhlau Verlag in Weimar, in dem u. a. die »Sophienausgabe« der Werke Goethes erschien. 1886 heiratete sie den Privatgelehrten Friedrich Arndt, der deshalb zum Islam konvertierte, um seine zweite Ehe eingehen zu können. Sein neuer Namen war Omar Al Raschid Bey und der schriftstellerischen Arbeit seiner Frau brachte er viel Verständnis entgegen. Sie lebten zuerst 1886-1888 in Konstantinopel, danach in Ingolstadt u. München. Im Zusammenhang mit der öffentlichen Auseinandersetzung um das 1896 vom Reichstag verabschiedete Bürgerliche Gesetzbuch, das am 1. 1. 1900 in Kraft treten sollte schrieb sie ihren Roman Das Halbtier! (1899). Sie wollte die Aufmerksamkeit des Lesepublikums auf die seelische Degradierung auch der bürgerlichen Frau durch die wirtschaftliche Abhängigkeit ihrer Ehe zwingen. Diese frauenrechtlichen Romane wirkten von der Autorin gemütlicher Humoresken wie Rathsmädelgeschichten (1888) um so provokativer. Isolde Hey, die Heldind des Romans Das Halbtier! ist demselben Druck der Konvention ausgesetzt wie Agathe Heiling bei Gabriele Reuter: sie soll in ihrer Mutterrolle ganz aufgehen. Von ihrer Mutter weiß sie jedoch von der Gefahr, die Ehe degradiere die Frau zu einer Haustierrolle, zu einem Geschlechtswesen. Die Handlung kulminiert darin, dass Isolde ihren früher von ihr verehrten Schwager Mengersen tötet, der sich ihr in der Absicht einer Vergewaltigung nähert und dabei selbst zum Tier wird, für das er Frauen immer gehalten hat: „Waren das Henry Mengersens kühle Augen? Diese gierigen Raubtierblicke?“ (S. 193). Als sie ihn erschießt, schreit sie: „Wie einen Hund!“. Mit dieser Exekution sind alle sich gegen Frauen versündigenden Männer gemeint. Am Ende steht Isoldes Freitod,eine einzige Möglichkeit über sich selbst zu bestimmen. Als 1915 die erste Werkausgabe in 6 Bänden erscheint, verfasst Helene Böhlau ein distanzierendes Vorwort zu Halbtier!, in der zweiten Werkausgabe 1927/29 fehlt der Roman gar – ihre eigene Radikalität scheint ihr selbst nicht mehr geheuer gewesen zu sein. Clara Viebig, verh. Cohn, (1860–1952), eine der Lieblingsautorinnen von Arne Novák, verbrachte ihre frühe Kindheit in Trier und zog dann mit ihrer Familie nach Düsseldorf. Die von hier in die Eifel unternommenen Ausflüge dienten als Stoff in ihrem späteren Werk. Nach dem Abitur und dem Tod des Vaters kam sie 1880 zu Verwandten auf deren Landgut bei Posen. 1883 siedelte sie über nach Berlin und besuchte dort die Musikhochschule, um ein Gesangstudium zu absolvieren. In der Eifel hatte Viebig den Verleger Fritz Theodor Cohn kennengelernt, den sie 1896 heiratete. Cohn war Mitinhaber der Berliner Verlagsbuchhandlung Fontane & Co. (ab 1901 Fleischel & Co.), in der bis 1914 alle ihre Romane erschienen. Nur mit Theodor Fontanes Hilfe konnte das Paar die konfessionsübergreifende Heirat gegen die antisemitischen Vorbehalte insbesondere von Viebigs Mutter, aber auch gegen die Bedenken von Cohns Eltern durchsetzen. Wegen ihres (1936 verstorbenen) jüdischen Mannes ist sie während der NS-Zeit mißliebig geworden. 1892 wurde die Lektüre von Emile Zolas Roman „Germinal” für sie zum Schlüsselerlebnis für die künftige literarische Arbeit, sie wollte wie Zola schreiben: Ohne Rücksicht, ohne Furcht, ohne Bedenken. Die »deutsche Zolaïde«, die Spätnaturalistin Viebig, hatte 1897 einen ersten Erfolg mit der Novellensammlung Kinder der Eifel. Sie widmet sich dem Schicksal von Land- und Fabrikarbeiterinnen, Dienstmädchen und armen Bäuerinnen, meistens verlorener, herumgestoßener Wesen. Als Charakteristika ihres Erzählstils findet man hier schon die um Lebensechtheit bemühte exakte Milieubeschreibung; die stimmungsvollen Bilder einer düsteren, rückständigen Landschaft, trotz Verbundenheit mit ihren Figuren einen nüchterner Stil. Die Erzählung Das Miseräbelchen gab auch den Titel einem modernen Auswahlband aus ihrem Werk[2]. Die Eifel, von Viebig erstmals als Literaturregion zur Geltung gebracht, gibt auch den Hintergrund ihres humoristischen Romans Das Weiberdorf (1900), dessenderb-drast. Realismus - während ihre Männer Arbeit im Kohlenpott suchen müssen, nehmen sich die Frauen des einzig Zurückgebliebenen an - zu öffentlichen Empörung Anlaß gab. Das schlafende Heer (1904) schildert die Germanisierung der (polnischen) Ostmark in den 80er Jahren, die am Sektierertum scheitert. In der expandierenden Reichshauptstadt Berlin angesiedelt sind Das tägliche Brot (2 Bde., 1900; über Dienstmädchennöte), Josef Poláček: Deutsche soziale Prosa zwischen Naturalismus und Realismus. Zu C. Viebigs Romanen ›Das Weiberdorf‹ und ›Das tägl. Brot‹. In: Philologica Pragensia 6 (1963), S. 245-257. - ________________________________ [1] Die Vermählung der Toten zählt nach Reich-Ranicki zum Kanon Erzählliteratur der Jahrhundertwende. [2] Das Miseräbelchen und a. Erzählungen. Hg. Bernd Jentzsch. Mit Nachw. v. Norbert Oellers. Olten/ Freib. i. Br. 1981.