Albert Ehrenstein: Tubutsch Ich nehme mein Diner täglich in einer Würstlerei ein. Es kommen immer so ziemlich dieselben scharfgeschnittenen Gesichter hin, Kommis, gehetzt und eine Zigarette im Mund, hastige Modistinnen, die nicht einmal so viel Zeit haben, ein Sacktuch fallen zu lassen, wenn es nötig ist . . . arme alte Leute, Reisende oder Fremde, von denen irgendein Körperteil etwas im Krankenhaus zu tun hat . . . es kennen mich fast alle Besucher schon . . . bis auf den buckligen Hausierer, der hie und da durchgeht und Zündhölzelschachteln, Bleistifte, Manschettenknöpfe, Briefpapier und Hosenspanner an den Tischen herumbietet. Wie gesagt, die Menschen kennen mich, aber würde es auch nur einem Mitglied dieser egoistischen Gesellschaft einfallen, mich zu fragen, warum ich in roten Glacéhandschuhen esse? Und ich esse doch bloß deshalb in Handschuhen, damit man mich nach dem Grund dieser Handlungsweise fragt und ich dann antworten kann: „Ich pflege mir in der Zerstreutheit die Nägel zu beißen und damit das nicht geschieht, und sie ruhig wachsen und der Vollendung entgegenreifen können, trage ich Handschuh!“ Ich habe mir die Glacéhandschuh vergebens gekauft. Sie halten mich entweder für zu verrückt oder für zu fein, als daß sie es wagen würden, mich anzusprechen . . . Niemand forscht mich aus, nicht einmal Thekla, die bleiche, schwarzlockige Kellnerin, die mich täglich fragt, ob ich Gurken, Senf oder Krenn zu den Würsteln haben wolle . . . . Thekla, der ich immer drei Kreuzer hinschiebe, nicht einmal sie erleichtert mein Gemüt durch eine so naheliegende Frage, obgleich sie doch gewissermaßen dazu verpflichtet wäre. Ich fürchte, das wird noch einmal traurig mit mir enden. Ich gleite in immer zweideutigere Sphären hinab. Gewiß: Leute, die mit moral insanity[1] begnadet sind, Verbrecher, von dem großen Kannibalen Napoleon angefangen bis zu dem unösterreichisch aggressiven kleinen Kind, das eine serbische Zwetschge stiehlt und, von dem Söhnchen des Greislers verfolgt, zuerst „Mutter!“ ruft, dann aber, jedenfalls die Beute zu sichern, sie in den Mund steckt: sie alle sind von der Natur mit Recht begünstigte Wesen, meist mit Gewissensmangel und jede Reue ausschließender Gedächtnisschwäche gepanzert. Auch das, was darwinferner Schwachsinn den Materialismus unserer Zeit nennt, der Amerikanismus, die bewunderungswürdigen Trustlöwen, sie sind moralisch berechtigt wie die Verzehrung von Ochsen, wie die Existenz von Kamelreitern beim Vorhandensein von Reitkamelen. Was man aber nicht zu rechtfertigen vermag, ist: anderen Leuten die kostbare Zeit stehlen und Unheil stiften, ohne selbst daraus Nutzen zu ziehen. Aus langer Weile, um unter Menschen zu kommen und sie kennen zu lernen, bin ich zu Prinzipalen hinaufgegangen, die annonciert hatten . . . mich vorstellen als Hausknecht, Mittelschullehrer, Buchhalter, Graveur, Korrespondent, Hofmeister, Kammerdiener usw. Und nach langem unklaren Hin- und Herreden, bis die Leute ganz verwirrt waren, empfahl ich mich stets mit den Worten, ich wolle es mir überlegen, und eventuell ein zweites Mal vorsprechen. Ein Nachsichtiger könnte das vielleicht noch einen relativ harmlosen Ulk heißen. Verwerflicher, boshafter, heimtückischer ist es schon, wenn sich einer absichtlich auf gewissen den Liebespaaren geweihten Banken niederläßt, nichts dergleichen tut, wenn es noch hell ist, Zeitung liest und die Verzweifelnden zum Aufbruch nötigt . . . bei der geringen Anzahl der Sitzgelegenheiten gleicherweise gehaßt von den tschechischen Ammen, die sich nur auf den Bänken des Kaiser-Wilhelm-Rings[2] schwängern lassen . . . von den langen Bosniaken des Votivparkes wie von den Deutschmeistern der Augartenanlagen gefürchtet, dieses Spiel bis tief in die Nacht hinein fortsetzt. Angeblich um Daten zu sammeln für eine Statistik über die Zeit, die zwischen dem ersten Kuß und der Umarmungspremiere verläuft . . . Man wird fragen, warum ich nicht diese schalen Vergnügungen sein ließ und mir nicht selber etwas leichteren Zeitvertreib gönnte? Hat es schon sein Vorteilhaftes, Besitzer eines Hundes zu sein, wegen der Fülle damit verbundener zeitverzehrender Beschäftigungen, wie weit werden diese simplen und harmlosen Genüsse, die ein armseliges Tier zu gewähren vermag, durch jene überstrahlt, welche die Gesellschaft eines Weibchens verschafft. Ich wende ein: wenn selbst ein homerischer Held satt wird „des Schlafes sogar und der Liebe, auch des Gesanges und fröhlichen Reigentanzes“, was für Gefühle und Müdigkeiten soll da erst unsereiner zu registrieren haben? Noch gellen mir in den Ohren die in den Momenten der Verzückung hervorgestoßenen: „Ah“, „Oh“, „Jessas“ und „Hast du mich auch wirklich lieb“ der Wienerinnen — wenn es Lyrikerinnen sind, sagen sie vermutlich: „Tandaradei!“ . . . Die „Jaj“, „Joj“ und „Juj“ der Ungarinnen, ich höre sie, auch wenn ich mir die Ohren zuhalte. Die Berlinerin himmelt: „Schmeckt schön!“ Die einzigen, die nichts redeten, waren die Zigeunerinnen; aber man tat gut daran, wenn man sich ihnen in Liebe nahte, die Uhr zuhause zu lassen . . . und konnte dann noch von Glück reden, wenn Trántire und Chnarpe-diches einen nicht als Vater ihrer Kinder angaben, die von Rechts wegen dem ganzen Offizierskorps der nächsten Garnison hätten ähnlich sehen sollen . . . Ja, noch eine war so vernünftig gewesen, zu schweigen . . . Marischa, die Frau des Dorfrichters von Popudjin[3]. Sie liebte, wie sie sich einen Riegel Brot abschnitt. Alle ihre Bewegungen waren von einer maschinenmäßigen Sicherheit. Unvergeßlich wird es mir bleiben, wie wir uns zum erstenmal fanden. Es war am Morgen nach ihrer Hochzeit, von der ich nichts wußte, sie, mir unbekannt, mähte auf taufeuchter Wiese, im Vorwärtsgehen sich in den Hüften wiegend . . . die kurzen, ihre Waden freilassenden Röcke kamen nie aus dem Schwung . . . ich schlenderte vorbei und konnte es nicht unterlassen, mich zu ihr zu neigen und dem schönen, frischen Weib blühende Wangen und Kinn zu streicheln. Sie wurde rot, wehrte mir aber nicht: der Tod stand hinter mir, der Bauer mit der Sense. Doch ich hatte gerade noch die Geistesgegenwart, zu sagen: „Frau, also ich darf mir heut nachmittag die Maulbeeren in ihrem Weingebirge selbst holen?“ Der Bauer glotzte wie ein Ochse. Sie, sich noch tiefer bückend, als wolle sie mir etwas auf den Boden Gefallenes suchen helfen, bejahte, und am Nachmittag waren im Weinberg nicht bloß die Maulbeeren anwesend . . . Und wenn ihr Mann und ihre Mutter auf der Wallfahrt weg waren nach Sassin, dann ließ sie mich’s wissen, und ich schlich zu der Stallduftenden ins Zimmer, dann in der Dunkelheit, im Hof mich in acht nehmend vor dem Düngerhaufen rechts und der Jauche links, nach Hause — die gefahrvolle Liebe zwischen Jehangir Mirza[4] und der Maasumeh Sultan Begum[5] zu besingen . . . Die Begeisterung aber mußte bald erlahmen an dem niederdrückenden Widerstreit kleinlicher Schicksale mit ungeheuren Gefühlen und Vorstellungen; es ist ja auch ökonomisch auf die Dauer unmöglich, Ambrosia zu fabrizieren, während man selbst Kot fressen muß . . . Außerdem die unglückliche Begabung, selbst bei dem geliebtesten Weibe das Skelett zu sehen, wodurch wohl die Umarmung ein oder das andere Mal schluchzender werden kann, schließlich aber maßloses Grauen mich vom Weibe scheiden mußte . . . ________________________________ [1] ein Zustand von Gefühlskälte, Grausamkeit und absolutem Egoismus, verbunden mit einem starken Mangel an sittlichem Urteilsvermögen. [2] PARKRING am STADTPARK, 1910 - 1920 Kaiser Wilhelm-Ring [3] ?? Pobedím, deutsch Popudin, ungarisch Pobedény , 10 km von Piešťany. [4] ein in Samarkand geborender und nach Ladakh geflüchteter Herrscher [5] die jüngste Tochter des Herrscher úber Samarkand und Buchara