Judith Hermann Zigaretten Er hat mir die folgende, kleine Geschichte beiläufig erzählt, unspektakulär, ohne Anspruch auf ihre Wichtigkeit, sie schien ihn kaum zu beschäftigen. Er erzählte sie wie jemand, der in Gedanken schon ganz woanders ist, er war mit mir zusammen, eigentlich wollte er jetzt gehen. Er wollte das Gespräch nicht mehr fortsetzen, aber an der Tür blieb er dann doch stehen, er wollte nicht flüchten. Er erzählte nicht irgendetwas, aber auch nichts, was ihn hätte aufhalten können, im Fortgehen sagt man etwas vom Fortgehen, ob man will oder nicht. Die Geschichte war auch kurz, eine kleine, kurze Geschichte, ich habe sie nicht vergessen: Er war sehr jung, damals, er ist jetzt noch nicht alt, aber damals war er wirklich sehr jung, zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt. Ich kannte ihn noch nicht. Er hatte eine Lehre hinter sich und die Armee, er war vom Land nach Berlin gekommen wie alle anderen auch, er wohnte damals in der Marie-Curiei-Allee, das ist nicht wichtig, aber der Straßenname klingt so schön - Marie-Curie-Allee. Ich versuche mir vorzustellen, wie er damals ausgesehen hat. Er hat mir einmal ein Foto gezeigt aus dieser Zeit, ein Schwarzweiß-Portrait, selbst entwickelt. Er guckt ernst in die Kamera, ausdruckslos, aber dennoch mit einer gewissen Pose, er sieht sehr schön aus, herzzerreißend schön, so kann er nicht ausgesehen haben. Ich erinnere mich deutlich an das Gefühl, das ich hatte, als er mir das Foto zeigte, an meine Traurigkeit darüber, ihn nicht schon damals, nicht schon immer gekannt zu haben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er damals ausgesehen hat. Er hatte in diesem ersten Jahr in Berlin eine Freundin, Constanze, mit der er heute nicht mehr zusammen, aber noch immer befreundet ist. Ich habe ihn gefragt, wo sie sich kennen gelernt hätten, er konnte sich erstaunlicherweise nicht mehr genau daran erinnern, obwohl er - wie er selbst sagt - Constanze sehr geliebt hat. »In der Universität, glaube ich«, sagte er und ich musste lachen, weil ich weiß, dass er nie studiert hat, sie hingegen ist heute promoviert. Auch Constanze kann ich mir nicht vorstellen, obgleich es mir 1 polnische Chemikerin (1867-1934), 1903 Nobelpreis für Physik, zusammen mit ihrem Mann Pierre, und 1911 Nobelpreis für Chemie leichter fällt, Einzelheiten zusammenzufügen - ein blasses Mädchen mit dünnen, langen Beinen, einem verschlossenen Gesicht, fast mongolischen Zügen und grünen oder graugrünen Augen. Ich glaube, sie hat lange, schwarze Haare gehabt und war sehr groß und so schmal wie er. Wenn sie lacht - heute -, lacht sie nur halb, vielleicht kann man sagen: halbherzig; sie lacht eindeutig nur mit der einen Hälfte ihres Gesichtes, ihres Mundes. Ich habe ihn gefragt, ob sie sich verändert habe seit damals, genauer, ich habe gefragt: »War sie damals schon so, wie sie heute ist?« Er hat ohne zu zögern geantwortet: »Ja«, ich nehme also an, dass sie schon damals so gelacht hat, schief, eigentlich ernsthaft, halb. In der Geschichte, die er mir im Fortgehen erzählt hat, haben sie sich an einem Nachmittag im Sommer am Brunnen hinter dem Alexanderplatz getroffen. Auf dem Alexanderplatz steht der Fernsehturm auf einer wie bleiernen Fläche Beton, die dann in ein treppenartig angelegtes Wasserspiel übergeht, eine Springbrunnenanlage aus den Sechziger- oder Fünfziger jähren, dahinter ein kleiner Park, ein alter Springbrunnen mit einem Wasser speienden Neptun, kleine Wege, Parkbänke, dann die Spree, der Blick auf den Palast der Republik. Viel Himmel über allem. Sie haben sich in diesem Park hinter dem Brunnen getroffen, es war Nachmittag, ich glaube, er sagte, es sei heiß gewesen, Sommer, sie saßen auf einer dieser Bänke, eine Stunde lang, zwei. Wenn es überhaupt gelingen will, sie zu sehen, an diesem Nachmittag im Juni, Juli, dann nur in einem Bild, einem Foto, einem gefrorenen Moment, ohne Ton. Sehr viel Licht, Schatten, erstaunlicherweise ein bewegter Himmel, schnelle Wolken, die beiden auf der Bank jedoch reglos, ihr Kopf auf seiner Schulter, vielleicht so, sehr einfach. Sie haben sich nicht getrennt, an diesem Nachmittag. Sie haben sich nichts gestanden und nichts versprochen, sie haben nicht gezweifelt und nicht gestritten, sie waren ganz heil und einfach miteinander; später musste sie nach Frankfurt Oder fahren, nach Hause, zu ihren Eltern, er hat sie zum Zug gebracht. (Ein Jahr später, als sie ihn verließ, soll er auf der Straße hinter ihr hergerannt sein und sie lauthals beschimpft haben, eine Vorstellung, die mir, so wie ich ihn heute sehe, völlig absurd erscheint, obgleich ich weiß - es ist wahr.) Sie sind von der Bank aufgestanden, vielleicht haben sie sich gestreckt, umarmt. Ich kann ihnen hinterhersehen, 56 57 am ehesten das, sein Arm um ihre Schulter gelegt, ich denke, sie sind langsam gelaufen, träge, es soll so warm gewesen sein, heiß. Sie sind in die S-Bahn gestiegen am Alexanderplatz und zum Bahnhof Lichtenberg gefahren, mag sein, dass sie noch Zeit hatten, bis s der Zug kam. Sie haben am Gleis gewartet, er sagt, sie hätten eine letzte Zigarette rauchen wollen miteinander, aber er habe die Zigaretten liegen gelassen, vergessen auf dieser Bank im Park. Sie haben dann nicht mehr geraucht. Der Zug kam, sie stieg ein und fuhr weg, sie kann nicht für lange Zeit fortgefahren sein, er sagte nichts 10 von einem dramatischen, schweren Abschied. Er habe dann eigentlich nach Hause fahren wollen, in die Marie-Curie-Allee nach Lichtenberg, in diese Neubauwohnung, die ich mir nicht vorstellen kann, er war noch fremd in Berlin und kannte so gut wie niemanden außer Constanze. Aber dann habe er an die Zigaretten 15 gedacht auf der Bank im Park und er sei mit der S-Bahn zurück zum Alexanderplatz gefahren. Er ist aus der S-Bahn gestiegen, aus dem Bahnhof gelaufen auf den Platz vor dem Fernsehturm, das Licht dort ist im Sommer fast blendend, wie reflektiert von den grauen, glänzenden Steinen. Er ist die Treppen am Springbrunnen hinun- 20 tergelaufen, später Nachmittag, fast Abend jetzt, den Parkweg entlang auf die Bank zu, die Bank war leer, niemand saß darauf. An ihrem Rand lag die Packung Zigaretten. Er hat sie genommen, in die Hosentasche gesteckt, ist nach Hause gefahren. ' Als er mir diese Geschichte erzählte, Jahre später, beiläufig und 25 schon im Fortgehen, fragte er mich, ob ich verstehen würde. Er sagte: »Verstehst du? Die Zigaretten waren tatsächlich noch da. Ich habe mir eine angezündet, das Päckchen in die Hosentasche gesteckt und bin nach Hause gefahren«, er sagte es so oder ähnlich und vor allem erinnere ich mich dabei an sein Gesicht, an seinen so Ausdruck der Zufriedenheit über das schöne Ende dieser Geschichte. »Ja«, sagte ich, ich sagte, ich würde verstehen und ich habe ihn auch tatsächlich verstanden. Ich bin nicht eifersüchtig. Nicht so, nicht so einfach. Ein Satz, an den ich mich erinnere, als sei ich als Kind in seinem Sprachrhyth-35 mus dazu auf den Steinplatten des Gartenweges gesprungen: Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Ein Satz, an den ich mich erinnere wie an einen Abzählreim, und heute weiß ich sicher, ich habe ihn damals gar nicht verstanden. Ich verstehe ihn auch jetzt noch nicht recht, irgendetwas scheint mit diesem Satz nicht zu stimmen. Ich bin nicht eifersüchtig auf Constanze; auf diese frühere Liebe zwischen ihm und Constanze; wenn sie sich heute sehen, küsst sie ihn, sachte, auf den Mund, sie sieht manchmal bedauernd dabei aus, ich bin nicht eifersüchtig, s Aber was ist es dann? Nachdem er mir diese Geschichte erzählt hatte, ist er gegangen, habe ich die Tür hinter ihm geschlossen, bin so stehen geblieben im dunklen Flur, bewegungslos, traurig und schwer und etwas war schlimm. Ich kann sie nebeneinander sitzen sehen auf dieser Bank im Park, er sitzt zurückgelehnt, io die Augen geschlossen, sie redet, gestikuliert mit kleinen, eckigen, schönen Bewegungen, sie rauchen Zigaretten, sie hat eine etwas theatralische Art, den Rauch auszublasen. Ich weiß nicht, ob und wie sie sich berühren, oder weiß ich es doch? Ich kann das Licht sehen auf den grauen, glänzenden Steinen, ich weiß, es ist heiß. 15 Ich bin eifersüchtig auf diese kleine, kurze Geschichte. Auf ihre Einfachheit. Auf die Zeit. Auf die, die ihn kannten, als ich ihn noch nicht kannte. Darauf, dass er die Welt sah ohne mich, dass er von mir nichts wusste und glücklich war. Ich bin eifersüchtig auf das Damals, auf die Vergangenheit, in der es mich für ihn nicht 20 gab, an der ich nicht teilhatte und in der ich - unwiderruflich -keinen Platz habe. Aber davon hatte er mir nicht erzählt. Und was er mir eigentlich erzählte, habe ich verstanden. Dass die Zeit mit Constanze nämlich eine Zeit war, in der sie geschützt waren. Verschont. Unbewusst, unverletzt. Die andere Zeit, die Zeit der Ver- 25 letzungen, der Trauer, des Verrates und der Müdigkeit, war noch nicht einmal vorstellbar. Das habe ich verstanden. Dass er die eine Zeit mit Constanze und die andere zum Teil mit mir verbracht hat, das verstehe ich nicht. Die Eifersucht, die mit Eifer sucht, was ein Leiden schafft. Dieser Abzählreim bricht mir das Herz und den- 30 noch kann ich nicht anders als immer und immer wieder über ihn nachzudenken, mich an ihn zu erinnern, ihn in die Hand nehmen zu wollen - als wäre er sehr schön. Er erzählte mir diese Geschichte im Fortgehen und er sah wirklich zufrieden dabei aus, so wie jemand, der etwas zu einem Ende bringt. »Die Zigaretten waren 35 tatsächlich noch da. Ich habe mir eine angezündet, das Päckchen in die Hosentasche gesteckt und bin nach Hause gefahren.« (2001) 58 59 Boll Zeil, G., Slg. 1961; Schallenland Ströme, Stg. 1962; Jean Paul: Leben Fibels, Hg., Ost-ß. 1963; Wer mich und Ilse sieht im Grase. Deutsche Poeten des IS. Jh., Hg., Ost-B. 1964; Lenins Mühle, R., Ost-B. 1964, Ft'm. 1964; Boehlendorff und andere. Erzählungen, Stg. 1965; Mäusefest u. a. En., B. 1965; Boeldendarjf und MäuseJ'est, En., Ost-B. 1965; Das Land Sannatien, G., Mü. 1966; Litauische C/aviere, R., Ost-B. 1966; Wetterzeichen, Ost-B. 1967; Der Mahner, Pr. aus d. Nachl., Ost-B. 1967; Nachbarschaft, Sam-melbd. in. G., En., 2 Interviews, 2 Schpl., Grabreden, v. St. Hermlin u. H. W. Richter, Lebensduten u. Bibl., B. 1967; S. Marsak: Das Tierhäuschen, Nachdichtg. 1967; Im Windgesträuch. G. a. tl. Nachl., hg. v. E. Haufe, Ost-B. 1970, Slg. 1970; Poesiealbuin 52, hg. v. B. Jcntzsch, Ost-B. 1972; Lipmanns Leib, En., Stg. 1973; Gedichte 1952-1965, Ausw., Lpz. 1974; Literarisches Klima. Ganz neue Xenien, Ost-B. 1977, Stg. 19/8; A hornallee 26 oder Epitaph für J. B., hg. v. ü. Rostin, Osl-B. 1977, Slg 1978; Sarmalische Zeit, G., Mü. 1978; Meine liebsten Gedichte. Eine Auswahl deutscher Lyrik von Martin Luther bis Christoph Meckel, hg. v. J. B., mit 10 Wiedergaben nach derhss. Sammlung, hg. v. E. Haute, Ost-B. u. Stg. 1985; Gesammelte Werke, 4 Bde., hg. v. E. Haufe, Osl-B. u. Stg. 1987; Briefausw. u. Komm, in Vurb. Literatur: (Ausw.): G. Wolf: J. B., Leben und Werk, Ost-B. 1967; J. B. Selbstzeugnisse und neue Beiträge über sein Werk, Ost-B. 1975; Hans Christian Kosler:/ B., in: KLG 1979/1989, Bibl. v. M. Töteberg; Bernhard Gajek u. Eberhard Haufe: J. B. Chronik -Einführung - Bibl. (Ausw.) Ffm. 1977; Sletan Reichert: Das verschneite Wort. Untersuchungen zur Lyrik J. B.s, Bonn 1988. Hüll, Heinrich, wurde am 21.12.1917 in Köln als Sühn eines Bildhauers und Schreinermeisters geboren. Nach dem Abitur begann er eine Buch-1 ländlerlehre, wurde 1938/39 zum Arbeitsdienst .verpflichtet und studierte danach ein Semester lang Altphilologie. Im Sommer 1939 wurde er zum Wehrdienst eingezogen, erlebte den Zweiten Weltkrieg an verschiedenen Fronten und kehrte 1945 aus amerikanischer Gefangenschaft nach Köln zurück, wo er zunächst in der Schreinerei seines Bruders und später als 138 Behördenangestellter arbeitete; seit 1951 wirkte er als freier Schriftsteller. 1967 erhielt er den Büchner-Preis, wurde 1970/71 Präsident des bundesdeutschen und 1971 des internationalen P.E.N.-Clubs (bis 1973); kennzeichnend für ihn galt sein Engagement für unterdrückte Schriftsteller in Ost und West. Dem Verband deutscher Schriftsteller gab Boll 1969 mit seiner Rede vom »Ende der Bescheidenheit« das Stichwort für den Weg in die Gewerkschaft. 1972 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 16. 7. 1985 in Köln. Von den einen zum kritischen Gewissen der Nation stilisiert, wurde Boll von den anderen als Sympathisant des Terrorismus in den Schmutz gezogen (vgl. Freies Geleit für Ulrike Meinhoff. Ein Artikel und seine Folgen, 1972). Dieser Situation entsprach es, daß sein Werk vorwiegend nach den Inhalten beurteilt wurde. Auch die Nobelpreisrede von Karl Ragnar Gierow machte dies deutlich: »Die Erneuerung im Bereich der deutschen Literatur, von der Heinrich Bolls Schaffen Zeugnis ablegt und an der er selbst in so bedeutsamer Weise beteiligt ist, ist kein Formexperiment: wer vom Ertrinken bedroht ist, übt nicht Kunstschwimmen.« In dieser Rede heißt es allerdings auch, daß Boll fast nach jedem neuen Werk seine »Technik und Perspektive« geändert habe. Boll war nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich kein affirmativer Schriftsteller. (Zur Biographie und Selbstdeutung vgl. Drei Tage im März. Ein Gespräch mit Ch. Linder, 1975.) Vom Jahre 1947an veröffentlichte Boll in literarischen Zeitschriften Kurzgeschichten, die sich in Form und Stil an die amerikanische »short story«, speziell an Hemingway, anlehnen und sofort in das thematische Zentrum seines Werkes führen: Kriegs- und Nachkiiegsehaos. Diese Kurzgeschichten, 1950 z. T. gesammelt, erschienen in dem Band Wanderer, kommst du nach Spaa..., die Erzählung Der Zug war pünktlich (1949) und auch der frühe Roman Wo warst du, Adam (1951, Titel nach einer Notiz in den Tag- und Nachtbüchern Theodor 139 Haeckers) stellen Kriegs-, Heimkehrer- und Trümmerliteratur dar, von der nie ganz losgekommen zu sein die Kritik dem Autor immer wieder vorwarf. Der Krieg erscheint ähnlich wie bei Wolfgang — Borchert, dessen Einfluß in den Anlangen spürbar ist - als Szene der totalen Sinnlosigkeit in ihrer furchtbarsten Form, dem perfektionierten Massenmord, zugleich als vollkommen sinnloser Leerlauf einer verselbständigten mörderischen Organisationsmaschinerie, hinter deren Anonymität die Verantwortung stets weiterdelegiert und nie faßbar wird -ein Chaos aus Gründlichkeit, Sentimentalität und Brutalität; die Boll als Wesensmerkmale des Deutschen auch in den Jahren der Nachkriegsrestauration und der zweiten Restauration nach 1968 in der sublimierten Form der allgemeinen »Verfeinerung« immer wiederfand. Das Deutschland der neuen Fassaden und Scheinordnungen und eines institutionellen Kirchentums, hinter denen Kriegsangst, Trümmer und Armut als ehrliche Zeichen der Zeit vor dem gesellschaftlichen Glanz versteckt werden, das gestörte Verhältnis eines Landes und seiner Bürger zu seiner mit Schuld beladenen jüngsten Geschichte und einer labilen Gegenwart - das macht die großen Themen aller späteren Romane Bolls aus; Und sagte kein einziges Wort (1953), Haus ohne Hüter (1954, F. 1975), Billard um halb-zehn (1959, verfilmt 1965), Ansichten eines Clowns (1963, auch dramat. u. verfilmt) und Gruppenbild mit Dame (1971, F. 1977), jener reflexionsreichcn Recherche und indirekten Vergegen-wärtigung von Zeitgeschichte und verweigerter Anpassung. Mit den A n-sichten wird die Figur des Clowns, des nichtangepaßten, menschlichen Menschen, der in einer funktionalen und verwaltungswütigen Welt der Inhumanität im Grunde der einzig Normale und Humane bleibt, endgültig zur Dominante im Werk Bolls, nachdem sie schon lange vorher latente Schlüsselfigur war. Entfernung von der Truppe (1964) und Ende einer Dienst-fahrt (1966, Fernsehfilm 1971) prägen diese Entwicklung in Variationen wei- Böll ter aus, wobei schon die Titel ein spürbares Sich-Absetzen des »Helden« von einer inhumanen Welt andeuten, die noch das Unsinnige und Sinnlose zum Verwaltungsakt macht. Die thematische Entwicklung in diesen größeren Prosadichtungen Bolls wird von einer formalen begleitet: Eine hochgesteigerte, aber zugleich scheinbar lässige Artistik der Form behandelt den Erzählstoff mehr und mehr als Spielgegenstand. Im selben Maße, wie ein thematisches Engagement sich zunehmend im Artistischen sub-limiert, wird die dargestellte Welt zum irritierenden Spiegelkabinett, zum virtuos bewegten Vexierbild, in dem alles jederzeit sein Aussehen und seinen Platz wechseln kann. Das Erzählen als Ballspiel und das Erzählte als Spielball zwischen Autor und Leser -nicht umsonst erlebt die entscheidende Tat in Ende einer Dienstfahrt ihre zeichenhafte Metamorphose zum Happening. Die Aufzeichnung einer widersinnig und absurd geordneten Realität ist dem Zeitkritiker und Sprachmoralisten Boll immer wieder zur Satire geraten, die in dem Band Doktor Murkes gesammeltes Schweigen und andere Satiren (1958, verschiedene Verfilmungen 1964, 1965 und 1970), in »Die unsterbliche Theodora« (in: Unberechenbare Gäste, 1956), Der Bahnhof von Zimpren (1959) und in den auf die Gesinnungsschnüffelei zielenden Be-' richten zur Gesinnungslage der Nation (1975) ihre brillanten Höhepunkte erreichte. Eine Reihe von kritischen Aufsätzen zur Literatur und zur Zeit (z. B. Brief an einen jungen Katholiken, 1958, selbst. 1961; »Zur Verteidigung der Waschküchen«, in: Der Schriftsteller H. B., 1959) reflektierte die Themen des dichterischen Werks. Einen Höhepunkt solcher Reflexion über das Erzählen und über Literatur gab Boll in seinen Frankfurter Vorlesungen (gedruckt 1966), die er über das Thema Zur Ästhetik des Humanen im Wintersemester 1963/64 auf dem Lehrstuhl der Stiftungsgastdozentur für Poetik an der Universität Frankfurt am Main hielt. Boll bezeichnete sich selbst als entschieden engagierten Boll Schriftsteller, engagiert an der unretu-schierten Wirklichkeil. In dieser Haltung lag die Wurzel seines »Realismus«, dessen ästhetische Voraussetzung die Haltung der Wahrheit dem Vorhandenen gegenüber blieb. Bolls Wirklichkeitsbegriff hatte - bei konträrer Perspektive - eine deutliche Ähnlichkeit mit dem von Camus: Das »Ordnungsprinzip« der Realität blieb das Absurde, das für Boll zwar weder abgeschwächt noch aufgehoben, aber ertragen wurde im Glauben des Christen, in der Kierkegaardschen Haltung des »Credo, quia absurdum«, die an zahllosen Stellen des Werkes durchscheint. Im stets neu angefochtenen Glauben gewann Boll eine Position für seine geradezu sinnliche Liebe zur vorfindbaren Welt, aber auch für seine Kritik an ihr und an den institutionalisierten und konfektionierten Formen der Kirchenchristlichkeil; es ist eine Weltlichkeit und Sinnlichkeit des Zöllner-Christentums, das Vorbilder hat in Dostojewskij, im französischen renouveau catholique, in Greene, Marshall, Kierkegaard, Bon-hoeffer und Haecker. Als »katholischer Schriftsteller« verstand sich Boll jedoch in seinen späteren Jahren nicht mehr. In seiner Erzähltechnik ließ er sich unter anderem von Virginia Woolf und William Faulkner anregen. Boll erwies sich ebenso als Artist wie als Moralist. Seine Kritik entzündete sich an konkreten Zeichen, zu denen auch die Sprache gehörte. Mildern Instrument eines sensiblen Sprachgewissens suchte er gerade den manipulierten und manipulierenden Jargon der Funktionäre wie der politisierenden Revolverjournalisten {Die verlorene Ehre der Katharina Blum, 1974, Film 1975, Drama nach dem Drehbuch M. v. Trottas 1976) beim Wort zu nehmen und ihn Farbe bekennen zu lassen. In den letzten Jahren vor seinem Tod zeichnete sich in seinem Werk eine Gewichtsverlagerung ab, weg von erzählenden oder sonstwie fiklionalen Texten hin zu essayistischen, krili-schen, polemischen, jedenfalls solchen Schriften, die zum Zeitgeschehen und auch künstlerischen Ent- 140 Wicklungen direkt Stellung nahmen. Eine beachtliche Reihe von Essay-und Aufsatzbänden, Verminies Gelände (1982), Ein- und Zuspräche (1984), Die Fähigkeit zu trauern (1986), dokumentiert diesen Prozeß, der den Autor stärker als jemals zuvor zur moralischen und kritischen Wächter-Instanz gegenüber den gesellschaftlichen Entwicklungen in der Bundesrepublik eher drängte, als daß er diese Position gesucht hätte, die ihm besonders in derjüngeren Generation einen kaum meßbaren Kredit einbrachte; entsprechend groß war mit seinem Tod die schockartige Erfahrung des Alleingelassenseins bei der unabsehbaren Zahl seiner Leser, Sympathisanten und Freunde. Die essayistischen Arbeiten Bolls bewahrten bis zum Schluß ihren erzählerischen Duktus, so wie gegenläufig das erzählerische Werk permanent seinen kritischen, polemischen und essayistischen Gehalt intensivierte, so daß alle literarischen Äußerungsformen Bolls zunehmend in Kritik und zugleich in der Utopie eines neuen Entwurfs denkbarer Menschenfreundlichkeit und -friedlichkeit konvergierten." Ein Fluchtpunkt dieses späten Werks wurde der kurz vor dem Tod abgeschlossene, posthum veröffentlichte Roman Frauen vor Flußlandschaft (1985), in dem ein Darslellungsverfah-ren kulminierte, das Bolls Werk zumindest seit Entfernung von der Truppe - von der Krilik weithin unbemerkt -sich zunehmend deutlicher profiliert hatte: die Reduktion auf flächenhafte Darstellung (»Malheft« in Entfernung von der Truppe, Gruppenbild mit Dame) nach Analogie derZweidimensionali-tät von Malerei und Fotografie, der Verzicht auf eine »realistische« Tiefendimension. Diese sjch verdeutlichende Entwicklung, tlas Aufgeben der dritten Dimension machte die flächigen Figuren zunehmend transparent und diaphun für eine andere Realität hinter ihnen, die der engagierte Christ Boll in einem relativ späten Interview injener Kausalwendung andeutete, die zum Titel des gesam-fen von II. J. Kuschel edierten Inter* íiíwbamlsŕb wurde: »Weil wir uns auf ] 141 I dieser Erde nicht ganz zu Hause füh-I len.« Klaus Jeziorkowski/Rd. ; Wferke: Sammlungen (Ausw.): Werke 1-10, I hg. v. B. ßalzer, Köln 1977-1978, erw. 1987; 3 Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze, Köln I 1961; Erzählungen 1950-1970, Köln 1972; j Neue politische und literarische Schriften, i Köln 1973; Einmischung erwünscht, Schrlf-I tenzurZeit, Köln 1977; Essayistische Schrif-I ten und Reden, 3 Bde., Köln 1979-1980. -i Der Zug war pünktlich, E., Opladen 1949; I Wanderer, kommst du nach Spa..., En., t Opladen 1950; Die schwarzen Schafe, E., ) Opladen 1951, Schpl. 1961; Wo warst du, l Adam?, R., Opladen 1951; Die Brücke von '] Berczaba, Hsp. nach d. R. Wo warst du,~ ; Adam?, 1952, gedr. 1962; Existenz in Gott ' und in der Artnut. Leon tfloy, Hörfunk-1 Feature 1952; Nicht nur zur Weihnachtszeit, 5 E., Ffm. 1952, Hs.-F., Drehbuch 1970; Ein \ Tag wie sonst, Hsp. 1953, Fssp. als Ich be-j gegne meiner Frau, 1955 (nach d. R. Undsag-i te kein einziges Wort), Der Heilige und der Räuber oder Die Reise nach Beguna, Hsp. \951,%£