Daniela Danz Pontus Gedichte i 1 Wallstein Verlag 7 Gabriel zu Maria Gabriel zu Mohammed Eine träge Aufmerksamkeit heftet meinen Blick auf das Buch ein Ziehen im Unterleib als käme einer den ich erwarte ich öffne das Fenster und sehe dem Bogen eines Vogels nach über dem nebligen Feld bis er abbricht und steil nach unten stürzt auf einen Punkt zu an dem der Nebel aufreißt und ein panischer Hase den nächsten Haken nicht mehr ausführt das Frühlicht blendet dass ich die Hand vor die Augen halten muss ein Geruch von Maiglöckchen kommt herein bevor ich die Läden zuschlage es ist jemand im Zimmer Kommt wieder der eine der die Schlangen ins Zentrum des Glücks zurücktreibt ein Rascheln über dem steinigen Boden ruft ihn und im Gestrüpp eine Haut kommt er auf den Hang der Hochebene zugelaufen auf der Suche nach meinem Geruch Disteln mit zärtlichen Fellen zertritt er unter den nackten Sohlen blendend sind seine Gedanken und ich drehe mich gegen das Licht um an den Nussschalen seiner Fingernägel die kühlen Monde zu erkennen T-9 El Al (Boeing j6j) Wie die Leidenschaft aus dem Fernsein der Heiligen kommt rührt die Kontur der griechischen Inseln das fliegende Sehen in der Klarheit der Luft der Kälte der Stratosphäre scheint es als könnten die Kräfte die sie geformt mit sicheren Händen auch mir im bloßen Erblicken die schönere Form geben hinter der Fülle der Stadt klafft das jähe Nichts der Wüste das erst glaubwürdig wird je häufiger der Gedanke an Durst uns von der Sorglosigkeit abbringt die die Maschine erzwingt als der zweite Tempel zerstört wurde floh die Anwesenheit Gottes nach Westen wo sie an der Mauer seitdem als Abwesende wohnt Gebete und Lieder und Schrift allein die übrig gebliebenen Orte ein Kind geht hinein fünfjährig gefesselt ein Jahr lang ans Bett still im Starren zur Decke verharrend wegen der schlimmen Hüfte hört draußen die anderen spielen rufen Worte immer nur Worte sind was durch Wände ins Innere dringt Worte auf den Regalen im Kreis auf den Stühlen umlagern das Bett anwesend immer du gehst nicht weg nein ängstlich und fordernd tippt das Kind an ein großes Wort: draußen ist Frühling bei mir immer Winter wie kannst du da bleiben wollen still hinter zerrissenem Vorhang steht auf ihr Worte macht dass ihr fortkommt klatscht das Kind in die Hände: kann ich schon nicht gehen fliegt wenigstens ihr dahin wo einer bloß die Hand auf mich legt und ich bin gesund 20 21 Heinrich Detering Old Glory Gedichte Wallstein Verlag Silkeborg Limbus da lagen sie gekrümmt und ausgedörrt gebräunt geschwärzt von Moor und Zeit ein schweigsamer Zug erstarrt und unter Glas ein Gipfeltreffen toter Körper aus Europa in einer dunklen Ewigkeit die nur das Blitzlicht manchmal unterbrach das Blitzlicht und natürlich unser Kommen und Gehen bei Nacht bist du verloren bei Nacht erlischt der Nimbus da liegst du still im Limbus der ungetauften Toren die Seele geht verwirrt um kein Hoffen kein Erwarten ein Vogel schreit im Garten ein unerhörter Irrtum im Griff der Dementoren als ob sie dich verscharrten kein Hoffen und kein Warten bei Nacht gehst du verloren 12 13 Allerseelen wer so stirbt die Augen werden trüber die Felder liegen brach die Alten gehn vorüber die Neuen kommen nach noch lässt du dich gern täuschen von dem was pocht und trotzt doch nach diversen Räuschen hat es sich ausgekotzt mit Grinsen oder Grollen und in selbsteigner Pein hörst du schon auf zu wollen und ahnst schon Asch und Bein die Tage werden kälter die Sicht ist wieder frei die Alten werden älter und sind demnächst vorbei gut ist dieser Augenblick der Erschöpfung wenn keine Zeile mehr zu schreiben kein Blatt mehr zu rechen ist wenn ich kein Blatt mehr mag still im halbdunklen Zimmer zu liegen hinter dem Gazevorhang die helle Welt und die Schatten der Zweige wie Wegzeichen die mich in den Schlaf weisen im Ohr das Rauschen des Kreislaufs und immer diese halbe Liedzeile die mitgeht ins Dunkel wenn nichts mehr zu tun ist - es ist wohl eine Art Dankbarkeit ja es ist wohl eine Art Dank *4 im finstern Tal weil sie neben mir jetzt gleichmäßig atmet weil die Kinder schief lächeln im Traum weil mein Herz wieder so ruhig schlägt wie der Wecker auf dem Nachttisch weil der Herr mein Hirte ist auf dieser grünen Aue liege ich schlaflos vor Glück II über den Granit 16 Christian Lehnen Ich werde sehen, schweigen und höre Gedichte Christian Lehnert ist ein Dichter, der sich Zeit läßt, einer, für den Zeit offenbar in einem ganz anderen Rhythmus verläuft. Das mag damit zusammenhängen, daß die Orte seiner Gedichte mit dem hiesigen Alltag zunächst wenig zu tun zu haben scheinen: Es sind Orte der geschichtlichen Überlieferung, der Bibel, Orte in Palästina, im Nahen Osten, in Spanien - Stationen seines Lebenswegs, der den noch nicht 3 5jährigen von Sachsen aus in die Ferne führte und wieder zurück in einen kleinen Ort bei Dresden, wo Christian Lehnert heute als Pfarrer arbeitet. Lehnert hört auf »die Sätze, die aus der Stille heraufsickern«, er gibt dem Schläfer poetische Stimme, dem Soldaten, dem Physiker oder dem taubstummen Tänzer, besingt den Vulkan, die Autobahn, die Brache in einer Sprache äußerster Verdichtung, die nie auf Effekte aus ist. Christian Lehnert, geb. 1969 in Dresden, hat im Suhrkamp Verlag mehrere Gedichtbände veröffentlicht, unter anderem Auf Moränen (2.008) und Aufkommender Atem (2011). 2013 erschien von ihm Korinthische Brocken. Rand, die Leere (Choralbearbeitungen) Die Landschaft kippt, wird grauer, ein nasser Wind, ein Schauer, die Piste ragt ins All. Verschüttet sind die Stollen, die Erde treibt in Schollen: du bist ihr warmer Widerhall. Turbinen, Räder, Wellen, die Schädel noch im Hellen, im Dunkel der Asphalt. Du fliehst die tausend Lichter, Gewebe, immer dichter, die Augen werden langsam kalt. Sei still und schlafe, warte und träume nichts und warte, zu hoffen ist kein Grund. Hinweggerollt sind Meere, Kulissen, schwarze Leere, in der sich öffnet Gottes Mund. (Nachtflug Dresden - Arecife; nach: Nun ruhen alle Wälder) 47 Schroffe, warme Steine, Thymianduft, ein Flirren in der Luft, die Mücken schwirren - Gott ist hier und nirgends, überall sind Spuren seines Fehlens, weite Fluren, braches Land, Kraterrand, wo die Echos hallen, Worte uns entfallen. wo nichts ist, und rennen durch Geröll, ich kann nicht nennen, was ich sah: »Du bist nah, Höhlung voller Wasser, Talgrund, immer blasser.« (Flußbett im August; nach: Du bist gegenwärtig) Dämmrig liegt das Flußbett wie ein Schriftzug, Lippen staubverkrustet, Gräser wippen -Zeichen, windgeschrieben, wollten etwas sagen? Doch, wo eben Hänge lagen und der Damm, Eschenkamm, kann ich nichts mehr sehen, keinen Weg verstehen. Luft, die alles füllet, Leere ohne Namen, unbemerkt verwehter Samen, nur ein langes Warten, 48 49 Ein Raum, gekrümmt, aus warmem Stahl, Waggon, du hämmerst Schlacken, du hämmerst, hämmerst - ohne Zahl, die hämmern, hämmern, hacken. Die Kruste ist hart, aus Schwefel, erstarrt. Im Lärm, der dich traf, versankst du wie im Schlaf, du warst des Bebens Zentrum. In dieser Kirche ohne Gott, in dem Gewölbe kreisen wie Schwalben Splitter, in dem Trott der Schläge, sie beweisen den Fortgang der Zeit, der Zeit ohne Zeit. Nach außen längst taub brennt dir im Hals der Staub. Der Meißel bohrt sich tiefer. Bald fühlst du keine Stahlwand mehr. Kein Gleis, kein Boden. Innen pulsiert ein Hohlraum, völlig leer: kein Enden, kein Beginnen. Der Tag war die Nacht, war niemand erwacht, kein Hammer, kein Hall, kein Name und kein Schall, der aus dem Traum dich risse. Du suchst die Leuchtstoffröhre, schwarz am Einstieg, schwarz vor Augen, im Dunkel aufgelöst wie Harz in Lösungsmitteln, Laugen. Nichts ist mehr vertraut, kein Gestern, kein Laut, dir bleibt nur zu harren, in dich hinein zu starren: ein Loch, der Sog, der Schwefel. (Leunawerke, im Februar igSg; nach: Ein feste Burg ist unser Gott) 5° 51 Staubgesättigt war der Wind, trübte ein den Magmagrind, Krater, die verloschen sind, schürfte sich in Schlacken ein, zog durch Röhren im Gestein, Aschewehen, schwarzer Schein, sang am scharfen Schottergrat, kobaltblaue Lavasaat, die aus schroffen Hängen trat, atmet aus: ein warmes All; atmet ein: der dumpfe Hall eines Steins im freien Fall, dessen Echo tief im Karst du belauschst, ins Dunkel starrst und auf eine Antwort harrst. (Lanzarote, im Wind aus der Sahara; nach: Heil'ger Geist, du Tröster mein) 52 Der Fels liegt in harter Strahlung außerhalb der bewohnten Zone. Das Gedächtnis versagt: er sieht einen Tempel, der im Zucken der Lider verschwindet, in den Gassen hallen Schritte wider, die er nie gegangen ist, er versucht den Kopf zu drehen, den die Last des Balkens auf den Brustkorb preßt... Der Lymphe Kreislauf wiederholt sich im hungrigen Irren der Krähen. Der Marsch in den Schlagadern aber führt auf ein Ende hin. Am Fluchtpunkt: der Fels, weder sichtbar, noch unsichtbar, weder gewesen, noch gegenwärtig. Der geschundene Kopf, der geöffnete Kopf läßt das Vergessen einsickern. Die Innenlandschaft liegt bloß: immer wieder Ascheschichten der Stadt über der Stadt, ein vermummter Toter, die rätselhaften Momente seiner Anwesenheit. Die Schrift bricht herein wie ein Beil. Die Schrift ist das Auge, mit dem das, was er sieht, erst entziffert werden muß, trübes Glas: Er ist blind und rennt gegen blanke Schilde. Wortfetzen, Splitter fahren ins Zahnfleisch. Taube Striemen, er wird beschriftet: ... das Schweißtuch, die Tränen, die Geflohenen ... 53 Nur durch die Sprache wird die Sprache überwunden, das Tageslicht arbeitet sich wie ein Schrift-, ein Hinrichtungszug bis hierher vor, in die Mittagshitze: Golgatha. 54 Ein Film abgestorbener Zellen, über den Stein geschmiert, der Weg steigt an und wird steiler, ins Licht, wo Hunderte Augen draufhalten. Seine Zunge zuckt, wie ein Falter in den Fackelflammen, die Worte versagen: Weint über euch selbst! Die Aufwerfungen von Kalkstein, von Knochen, soweit die Blicke reichen, grobkörnige Erinnerungen ... Aber sie schauen in einen Spiegel, sehen den Grenzfluß, der den eigenen Schädel durchzieht, den Blutfluß. Steig hinauf in die unentwegte Einsamkeit, wo Tränen und Schweiß eintrocknen zu feinen Kristallen, zu lauter kleinen Kreuzen! Das ist der eine Weg. Der andere ist derselbe ohne Bewegung, während sich die Menge bewegt, während die Zeit sich nach allen Seiten ausdehnt im Staub und zurückgeworfen wird auf den einzigen ruhenden Punkt: seinen Körper. Sie schreien: Stell dich nicht so an, schenk uns ein Wort, ein Bild, ein Taumeln, daß wir spüren, wie du uns trägst! Reize, die verklumpen an seinen Lidern, Bildblöcke, ausgeätzte Platten mit den verdrehten Gliedmaßen, berstende Platten unter dem Druck 55 l ■ t n ■ um ■ j des Urteils und der Farbdichte. Aber er trägt nicht den Mob, gesplittertes Holz trägt er, von weit her gekarrt. Blicke leeren sich, wie Lämmer ausbluten, überblendet, sie starren in eine Schneise: Dort muß er kommen! Und starren in ein schwarzes Loch, einfallendes Menschenmaterial: Ich erkenne den Kopf! ... Bebende Krater in Momentaufnahmen, wie Krusten langsam zusammenrutschen, dann die Endloswiedergabe, Tag und Tag und Tag und Tag . 56 Das ist das Zerrbild, in Öl: eine Höhle, in der das Licht gerinnt, Flockungen, die fest haften an einem älteren Schädel... Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? In umgekehrter Perspektive war es der hohe Felsen, ein Körper wurde aufgerichtet in den Schmerz. Darum, weil es Abend wurde in dem abgelegenen Landstrich, war das Kreuz, war das Ächzen der Balken, das verstummte Gebet. Die Zukunft hatte keine Zukunft, keine Vergangenheit, war die Wiederholung eines Wortes, das er noch sagen wollte, bevor er starb. Brüche und Ohr, es bebt, Brüche, so schlägt die Glocke zu: Du selbst treibst die Nägel zwischen Elle und Speiche, wartest auf sein lästiges Sterben. Dich erregt es, dir zuzuschauen. Du weinst plötzlich in der Leere, die zurückbleibt. Er atmete ein und aus. Unbewohnbares Geschehen, wie sich der Krampf ausdehnt von den Gliedern bis ins Zwerchfell. Das sind keine einsehbaren Räume: der hochgehetzte Puls, der Blickwinkel des Verlöschens. Die Menge verschwand plötzlich wie ein Wasserstrahl im Staub, stellte das Sehen ein, die Reihen 57 4 lösten sich auf im Vergessen. Speichel tropft über die Kolonnen, die Zahnstände. Der Himmel greift ein und dreht an großen Riemen das Tageslicht ab. Die Beckenschaufel zuckt. Die Namenswüste, innen, das ganze Geröll rutscht über den Grat ab: Vater, Vater, der Mund, der Rand. 9 iP Komm näher zum Schatten dieses weißen Felsens, komm näher zu den Schatten, die im Abendlicht wachsen, wo sich die Staubnebel auflösen, die letzten Wörter. Nichts ist vollbracht, nichts, was du sehen kannst. Die Wörter reichen ins Schweigen hinein, beim Einbruch der Finsternis beginnt das Gestein zu pulsen: jetzt und jetzt, kein Anfang, kein Ende. Plötzlich ein Atemzug, wie ein Rascheln im dürren Gras, und von hier breitet sich erneut die Zeit aus, Ringe, die auseinander fließen: das Gewesene, das Kommende wird, die Stirngewölbe des Menschen, die Silben des Logos, die Wiederholungen, der Blutkreislauf. Ich spreche erneut von diesem Atemzug, von dem verdunkelnden Atem spreche ich, der die Sonne verschluckte, ich spreche erneut davon, um dahin zu gelangen, wo ich nicht bin, um zu schweigen. Föhnböen rauschen über das Felsenareal, Hufe von Tierherden trommeln, grollende Steine: 59 ■ Jt 5 Das ist die Sprache, die verwandelt, Brot und Erinnerung, und die Schienbeine werden zerbrochen, das Schlaffe wird heruntergezerrt in die Gewebe der Zeichen, in weißes Linnen gehüllt, geschoben in einen steinernen Uterus, schnell, vor der großen Ruhe. Das Bild: auf einem rohen Pfahl der Stamm, der sich nach unten biegt; gespannter Bogen, festgehaltenes Fleisch an Nägeln, mit schreienden Krallen die Hände, gekrümmter Horizont, in Ölfarben, gebrochene Knochen; Nässe rinnt, Schwellungen wie die Spuren von Wasserläufern auf einem Teich; Gaswirbel; \ Beine, ausgebuchtet; die Klimaanlage surrt; £ Aughöhlen, bis über die Brauen gequollen, Fäulnis; enorme Hitzegrade * auf der Zunge: Das ist mein Leib, er wächst wie ein Vulkan im Urmeer, wie die wimmelnden Kaulquappen im Sumpf, wie ein Embryo; ( das Loch in der Seite, sickerndes Wort: Blut, für euch Blut, Pulsen der Nabelschnur, für euch die andere Zeit hinter der Zeit, * für euch die Zellen und ihre unendliche Teilung; das Beben, zitternde Rippenbögen, die an keiner Wärmequelle mehr ruhen, ein Nachhall, wie das Amen ein Nachhall, 1 aus dem die Dinge ihre Sagbarkeit saugen, 60 61 selbst Echos verstummter Namen; Kieferstöße, der Mund zum Luftkanal entstellt, zur Beschreibung: Es ist einer von dreien, nebeneinander hinter Glas. Nichts ist gewesen, nichts folgt mehr, der Stamm, das Bild. Schwarz, der Schlaf, von nichts weiß der Schlafende, unberührt von den Nägeln in den Gliedern, nässenden Wunden, schwebt er am Kreuz. Schlaf eines Mannes, bevor er geboren ist, Schlaf eines Schöpfers ohne Welt, Schlaf eines Keimlings im Samen bei Frost, Schlaf eines vergessenen Toten, über dessen Grab eine Schnellstraße führt. Schwarz, der Schlaf der weder endet noch beginnt. In diesem Augenblick kehrt ein Mensch heim zu sich selbst. (Veldzquez: Crtsto Crucificado) Christian Lehnert Auf Moränen Gedichte Suhrkamp Nur ein Augenblick noch Erste Vigil Unter den Fingerkuppen, die einer Fuge folgen, bis drei Scharten wie ein Alpha wiederkehren, bekommt der Schacht einen Umfang, geschätzt auf acht Meter. Ein alter Brunnen? Verwundeter Bote träumt vom Süßwasser, von immerwährender Strömung unter dem Gestein, von Heilung, wenn die Quelle sich bewegt, weil ein Flügel sie berührt hat, der unsichtbar bleibt. Nässe, Augenschwarz, das ich vor Jahren auf einem Bild von Velazquez sah: Pablo. Ich bleibe, wohin mich Gott gerufen hat: gefangen, als ob ich nicht gefangen wäre; blutverkrustetes Haar, als könnte es genauso das Kopfgehäuse einer Libelle sein, die sich summend erhebt, oder der Anfang eines neuen, noch ganz unvorstellbaren Auftrags im Traum; was ich ergreife, als ergriffe ich es nicht; was ich glaube, als glaubte ich es nicht: Denn die Zeit ist zusammengedrängt, nur ein Augenblick noch. Seid ohne Sorge! 75 Zweite Vigil Dritte Vigil Wer? Ich weiß nichts von den Anfällen. Wenn sie kommen, bin ich nicht in mir. Wenn sie gehen, kehre ich zurück und fange von vorn an, mich zu suchen: Sie hatten ihn am Hafen erwartet und winkten dem Gefangenen, der ans Ufer wankte. Klein und unscheinbar und krank. Er sah niemanden. Paulus, als wäre ich nicht Paulus, zwischen entweder und oder die Spanne Hoffnung, für Sekunden diese Hoffnung, in die ich tauche, wenn ich an das verdorbene Fleisch Gottes denke. Manchmal kündigt ein verändertes Licht den Anfall an: Aus den Astlöchern im Holz des Arbeitstisches, aus den Falten im Leder, in Bahnen geschnitten, aus den Ahlen und Nadeln, aus dem trüben Spiegel, den Pergamenten werden Schatten, lange Schatten, Erinnerungen an jetzt: Die Zeit ist zusammengedrängt, ein Tag nur, kommender Tag und das Licht. Haftstatt, kreisrund, Apostolat. Der Boden ist kalt. Hier lauern die Überlieferer. Er soll sich flach hingelegt und die Arme wie der Gekreuzigte ausgebreitet haben. Kriecht dann vor, schiebt die Hand in einen Mauerriß und fühlt, wie sich draußen der Steinboden ohne Veränderung fortsetzt: Was verbindet ihn mit seinem Glauben? Das Schwarz bei El Greco wirkt im ersten Moment sanfter, doch die weißen Tupfer darin verschärfen den Eindruck einer Kruste, die jeden Augenblick zerbrechen kann. Tag und Stunde durchwuchern die Knochen, ein Schmerz, der sich zuerst in die Kniegelenke bohrt. Eichlohe, scharfer Geruch - wenn es vom Gerber kommt, läßt das Leder die Augenlider flammen, er zerreißt, er setzt zusammen, die Stücke vernäht er zu einem Zelt: Ich, Elender! Wer wird mich erlösen vom Sterben? 76 77 Sie hatten ihn vor den Kaiser geführt, er stand in der Halle, von einer gleißenden Sonne, sengend, von innen verbrannt, die Lippen offen, Haut als ein durchleuchteter Überzug. Billiges Material, über das er sich beim Gerber hat täuschen lassen. Die Augen trüben sich ein gegen Abend wie die der Fische in den Kisten auf dem Markt: Es liegt nicht an jemandes Laufen oder Wollen, an der Gnade liegt es. Er zerreißt, er setzt zusammen, er läßt die Pergamente überschreiben: Ich, Paulus, Sklave des Christus, berufen zum Apostel, ausgesondert zu verkünden das Evangelium ... Unverhohlene Augen. Sie fallen nach innen: Ein Brett trudelt den Tiber abwärts, ins kalkgraue Delta, in gärenden Algenmorast. Der Schrei: Pfahl im Fleisch! Er fällt. Die Pfählung. Vierte Vigil Es folgt kaum mehr als die wörtliche Wiedergabe eines Textes, der vor ihm da war: Wer mich hier sucht, wird mich finden. Als erstes habe ich weitergegeben, was ich empfangen habe: Daß der Christus gestorben ist für unsere Schuld, gemäß der Schrift, und daß er begraben wurde, gemäß der Schrift, und daß er auferstanden ist nach drei Tagen, gemäß der Schrift... Er liest es immer wieder. Buchstaben wie Kohle, verbrannter Wald an einem Vulkanhang, Vermittler ins Schweigen. Danach ist er gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern an einem Ort... die meisten leben noch, einige sind tot... Dann von den Aposteln, zuletzt von mir, der zeitlichen Mißgeburt. Sie legen ihn, hart wie ein Brett, auf eine Decke, seine Augen warme Kiesel ohne Pupillen. Vierundzwanzig Stunden krampfende Muskulatur auf dem Meer, das ihm die Einsicht in die eigenen Grenzen und die verlogene Erwartung zu sterben nimmt: Was ich bin, bin ich der Hoffnung. Nicht ich lebe, der Kommende lebt in mir. 78 79 Fünfte Vigil Sechste Vigil Ein phrygischer Söldner bringt ihm heimlich einen Krug Wein: »Was du von dem Christus sagst, warum sollen wir dir glauben?« Da zeigt der Gefangene seinen Rücken: Narben wie verkrusteter Staub nach einer Gewitterflut in der Wüste, als wären Splittergeräusche hörbar von Stämmen und Knochen, heranpressendes Geröll. Die Nacht ist weit vorgedrungen. Der Tag ist nah. Am Morgen Spuren, Kadaver, aus der Erde gerissene Wurzeln - Buße für den Schlaf, Buße der aufgehenden Sonne für das fortgeschwemmte Aas, das Astwerk. »Sie werden dich hinrichten ...«, und verstummt, der Soldat, als ob ihm zum ersten Mal diese Zeitform auf seinen Lippen begegnete. Geknister, hartnäckige Insekten, die Sonne über dem Hochland vor Damaskus beharrt auf einem Punkt: Leib, obgleich nicht faßlich, den ich von da an jahrelang bespreche, wie Grinde eine Wunde schließen. Leib, sorgsam behandelt mit Namen, bis in den Narbenzustand: Bist du der Messias? Die Sonne steht über Lehmhütten. Weißes Gesicht eines Säuglings, blendendes Gesicht eines Sterbenden: Menschensohn. Es ist absurd, daß er weitergehen soll. Doch sieht er sich gehen: Gesandter, als wäre er kein Gesandter, als wäre er eine Lücke in der Zeit, die fortwandert mit der Zeit. Hoch auf einem Felsen das verkohlte Licht. 80 81 Siebente Vigil Lavendelrispen. Herrischer Salbeigeruch. Schritte eines Mannes, der lange nicht angekommen ist. Von dort her denkt er zurück und sieht sich schreiben: Lavendelrispen, wippend im Wind, der Weg reicht zurück über das trockene Gras. Die Zeit vermag keine Wunde zu heilen. Nein, solange die Zeit ist, keine Heilung. Der Reisende, abends unter den Segeln, sieht das Ufer. Dorngesträuch am Ausgang eines kleinen Hafens. Hang, der in muschelgeschwärzte Steine ausläuft, die in den verströmenden Wellen knistern. Der Messias kommt. Er ist gekommen. Der Messias kommt. Er ist gekommen. Das liegt fern zurück, aber wie einem Starblinden nach dem Linsenstich plötzlich die Farben zufallen, erkennt er, daß er viel Zeit hat, daß es noch immer für fast alles zu früh ist, und will warten, geht. Achte Vigil Die Tage vergehen, als glitten Perlen auf eine Schnur, schillernde, brüchig verwachsene Perlen, kaum hörbar: Klack. Tau auf den Steinen ... Klack. Vogelzug, harrende Geschöpfe. Nachts in Rom. Klack. Geschwollene Knie. Wir wollen euch über die Entschlafenen nicht unwissend lassen, daß ihr nicht traurig seid, als wärt ihr wie die anderen ohne Hoffnung. Gott wird die Schlafenden mit sich nehmen durch Jesus, den Christus. Die Lebenden gehen nicht vor den Schlafenden, und die Schlafenden gehen nicht den Lebenden voran. Der schnelle Wolkenzug. Klack. Das abendliche Land, der Klang des Namens Iberien. Klack. Die Folter. Zeit, zusammengedrängt in den Schmerz: daß ich mich an fast nichts erinnern kann, Hämmern im Kopf, und das langsame Eintauchen in den, der ich zu sein gerufen bin: Paulus. Klack. Zorn und das Schweigen. Klack. Ich bin, doch nicht in mir. Ich lebe, doch nicht ich. Der Christus lebt in mir. Klack. Nein, keine Angst. Als wartete er. 82 83 Neunte Vigil Tagelang ißt er nichts. Er sitzt vor einem Brotlaib, als wüßte er nicht, was er damit soll. Graubraunes Brot. Frierendes Brot. Hockt, erstarrt in einem hellwachen Verstand ohne Verbindung zu sich. Gespannte Kaumuskulatur, zuckender Kehlkopf. Kaltes Brot. Stein und weiches Brot. Er betrachtet lange die Haut seiner Arme, überrascht ob deren Unversehrtheit: Ist noch Zeit? Wißt ihr nicht, daß wir alle, die getauft sind, auf den Tod des Christus getauft sind? Gestorben mit ihm ... und sind doch am Leben? Verwundetes Brot. Nasses Brot. Jetzt. Der Jetzige. Verschlungen. Zerkaut. Erst, als man ihm Hirse gibt, ißt er gierig aus seinem Napf. Zehnte Vigil »Hast du ihn gesehen? Den Christus?« Hörst du? Es geht verloren. Und ich habe nichts um zu halten, was war. Keinen Ausdruck, nur den Schrei, den ich nie erlebt habe. Den Schrei, wenn ich falle. »Hast du ihn gesehen? Bist sein Gesandter?« Das Seufzen, hörst du? Verloren, es... fliehen Dohlenschwärme über die Albaner Berge, fliehen die Flamingos über das Hule-Becken, verloren, das Blut pulst aus den Hälsen der Kälber, wenn ein Kind ausgelöst wird, verloren die Juden, die Heiden ... Was sagen dir Meer, Kalkstein, Nacht? Das ängstliche Harren der Kreatur: wie sich Pupillen zusammenziehen, wie ein Baum fällt, wie ein Tier das Messer anschaut, das in ihm steckt. Verloren im Schrei: Paulus, Nicht-Paulus ... Wir sind wie Abfall geworden, wie Abschaum. »Ich habe nicht viel Zeit. Sie haben mich geschickt, um dich zu fragen, ob du als wirklicher Apostel kommst... Von ihm?« Weil das Vergessene nicht vergessen sein darf, auch wenn es niemand erinnert... Augen, in deren grünem Kranz Seegras wuchert, Algenschlieren in der südlichsten Bucht Kleinasiens, zwei lästige Krebse, der Abend, der Morgen. Ich komme aus Tarsus, 84 85 Scha'ul, ich komme aus Damaskus, übriggeblieben nach dem Brand in meinem Schädelinnem. Übrig, wenn ich falle und der Schrei auslöscht, was war, ins Leben ruft: PAULUS, ausgesondert, der Pharisäer: PAULUS, das Sekret, der Speichel. Sie haben ihn getötet. Ich habe ihm in die Augen gesehen, während sein Kopf leer blutete. »Ihn hast du gesehen, den Christus?« Hoffnung, die man sieht, wie kann sie Hoffnung sein? Wie soll man hoffen, was man sieht? Wenn wir aber hoffen, was wir nicht sehen, wird Geduld. Titus, er, mein Sohn, er ist mir... vorangegangen. Elfte Vigil Zeit, kommst du mich noch einmal besuchen? Ich atme gegen das Verharren: Gläsernes Altern. Gläserne Wundmale. Sie heilen nicht, solange Tage verstreichen: einst der Wind, die Saitenspannung und der Ton des Psalmensängers hallen nach, nach, die Tage ... Zeit, kommst du zu einem Abschiedsbesuch? Sie haben dem römischen Bürger das Schwert gezeigt. Als ich mich frei bewegen konnte, lagen Städte hinter mir. Jetzt ist nur noch ein Augenblick zu warten. Ich konnte nicht wählen in meinem Leben, wie ein Baum nicht wählen kann, wohin der Pollen weht. Pharisäer nach dem Gesetz. Teilhaber des Sterbens Ch damit ich lebe. Zeit, Metronom der Elemente, willst du noch etwas? 86 87 Spur. Spur. Abwesendes. Ich muß fort. Lianendickicht in Tabgha am See Genezareth, im Feuchtland, wo das Schilf wuchert, wo ich lausche, Wortwurzeln in der Luft, die in mich greifen wie Efeu das Gestein und durchwachsen, Körper voller Körper, sie umarmen sich, geben Schutz und Trost und Trance. Ich muß fort. In einer Samenkapsel zu hocken, was bedeutet Glaube? Schmaler Mund, der sich öffnete, 96 Zwanzigste Vigil Vernarbte Haut, aufgehoben in Schrift, in langen Briefen aus der Ferne, daß sich die Kraft in der Schwäche erfüllt, daß dieses Dasein undurchführbar ist. Wörter, die nicht wissen, daß die Sonne im Zenit steht. Wörter, die die Vergangenheit wahren. Dieser Abstand, diese Mühe, die es mir bereitet, G-l-a-u-b-e zu schreiben. Was trage ich das in ein Gesicht ein? Bärtiges, Hungerndes, Strenges, Gerichtetes: Sklave des Christus, berufen zum Apostel, ausgesondert _..____L.-...J____r_. r_______i:_____ 97 Einundzwanzigste Vigil Stein, Bronze und der ausgestreckte Arm des Friedensfürsten, Augustus, die segnende Hand, Stein und die Sklaven in den Ketten hinter den Kriegswagen. »Wann?« Wie ein Schleier, ein Gewebe aus Gold, ein Schleier wie dünne Spitze, ausgespannt über einer Kraterhöhle. Der römische Frieden. »Wann?« Zuerst kommt der Abfall, und der Mensch im Ausnahmezustand wird offenbart... Sagte ich, erinnert ihr euch Erzählt A VJ 1 S^ll tc (701. si r vol siY