Was nehmen wir mit, und was lassen wir da? Der letzte Abend zu Hause Ein langes Stück Geschichte endet so Nach dem Essen waren die anderen noch in der Küche beschäftigt. So ging ich ins Zimmer zu den gepackten Rucksäcken, legte mich vor sie auf den Teppich und sah sie an. Ich wußte, daß Mutter Wäsche und Strümpfe für uns dort eingepackt hatte, daß für jeden eine Decke darin war. Aber war das auch genug? Was, wenn es morgen regnete, für Regenzeug war kein Platz mehr im Rucksack. Die schlesischen Flüchtlinge waren manchmal mit Planwagen bei uns vorbeigefahren, aber damals war es Winter. Solch eine Plane hatte auch nicht jeder. Und wo sollten wir schlafen, wo essen, in welches Haus sollten wir gehen, wenn es kalt wurde? Ich fand keine Antwort. Ich bekam ein drückendes Gefühl in den Bauch, und mir war sehr einsam zumute. Plötzlich fiel mir das kleine Mädchen von heute früh wieder ein. Ich mußte an Minka denken, die das Mädchen nicht haben wollte, weil es nicht Lotti war. In der Puppenecke am Fenster saßen meine Puppen, alle hübsch angezogen und sahen mich mit ihren Puppenaugen lächelnd an. »Ich kann euch nicht alle mitnehmen, wo soll ich euch hinstecken? Ihr seht doch, der Rucksack ist voll, und unsere Hände müssen frei sein, hat Mutter gesagt.« Natürlich bekam ich keine Antwort, nur die gleichen lächelnden Gesichter sahen mich weiter unverwandt an. »Ihr könnt hier warten, vielleicht kommen wir ja wieder zurück, und dich, Katinka, nehme ich mit.« Ich entschied mich für Katinka, weil die Farbe in ihrem Gesicht schon etwas abgeschabt war und sie darum nicht mehr so wertvoll aussah. Denn Wertvolles, das hatte ich gehört, durfte man nicht mitnehmen, das wurde den Deutschen von den tschechischen Soldaten abgenommen. Mutter kam herein. »Hier bist du, Liese, wir haben dich schon gesucht. Großmutter will jetzt doch die Fotos dalassen und dafür lieber etwas mehr zu essen mitnehmen.« Mutter sprach es mit Erleichterung aus. Großmutter folgte ihr mit ihrer braunen Handtasche. Noch gestern hatte sie uns davon überzeugt, daß es wichtig sei, später in der Fremde die Fotos als Dokumente für die Zeit in Prausnitz zu haben. Nun zog sie den dicken Packen wieder heraus, legte aber zwei oder drei Fotos zurück in die Tasche. Der freigewordene Platz reichte aus für ein Säckchen Traubenzucker. Während sie es verstaute, meinte sie: »Das ist Nervennahrung, und die werden wir brauchen.« Und dabei blieb es. »Und das Federbett«, fing Mutter wieder an, »willst du es wirklich mitnehmen?« »Ja, denk doch, wenn jemand krank wird.« Auch dabei blieb es jetzt. Inzwischen waren Christi und Mariechen mit Wolf gang auf dem Arm hereingekommen. »Wenn wir nur das Haus mitnehmen könnten, das ganze Haus, mit allen Zimmern und dem Keller und mit der Küche und mit meinem Bett«, sagte ich. »Ja, das wäre toll, es müßte heute nacht wegfliegen und auf einer schönen Wiese stehenbleiben.« Christi war ganz begeistert. »So was gibts nur im Märchen, aber das hier ist Wirklichkeit, morgen müssen wir fort, und das Haus bleibt hier zurück. Nur wenn Benesch seinen Befehl 60 61