geworfen. Ein Soldat, mit dem ich sprechen konnte, hat es mir gesagt. Es tat ihm leid, und er suchte mit mir zusammen die Strickjacken von den Kindern. Die haben wir gefunden. Dann durfte er mir nicht mehr helfen, weil noch mehr Soldaten hereinkamen, die haben nur gelacht.« »Da vorn gehen sie schon«, sagte Mariechen. Der Zug der Prausnitzer hatte sich schon in Bewegung gesetzt. Großmutter konnte ihren Rucksack nicht so schnell aufsetzen, so blieben wir etwas hinter den anderen auf dem Platz zurück. Da deutete Großmutter auf einen Soldaten. »Dieser da hat mir heut nacht den Mantel weggenommen«, sagte sie. »Ich versuch mal, mit ihm zu reden, vielleicht gibt er ihn uns wieder«, antwortete Mutter. Sie lief zu dem Soldaten und fragte freundlich, ob er Großmutters Mantel nicht zurückgeben könne, sie habe jetzt keinen mehr und sei doch schon so alt. »Und du gib deinen auch her«, war seine Antwort, während er Mutter festhielt und ihr auch noch den ihren auszog. Wir sahen es mit an und konnten nichts dagegen tun. Mit Mutters Mantel, der innen mit Pelz gefüttert war, ging der Soldat weg, und Mutter blieb nichts anderes übrig, als schnell zu uns zurückzukehren und mit uns den schon weit entfernten Leuten zu folgen. Wir mußten uns beeilen, um sie nicht zu verlieren. Wir gingen Richtung Arnauer Bahnhof. »Wohin gehen wir?« wollte Wolfgang immer wieder wissen. »Zum Zug, Wolf gang, wir fahren mit der Eisenbahn«, wurde er von Mutter und Mariechen getröstet. Er freute sich auf die Eisenbahn. Da standen wir nun am Bahnhof. Der Bahnsteig war vollgedrängt von Leuten, alle sahen so aus wie wir, ratlos, mit Rucksäcken auf dem Rücken oder Koffern und Bündeln in der Hand. Es waren nicht nur die Prausnitzer da, aus verschiedenen Gegenden waren sie zusammengetrieben worden. Wahrhaft getrieben, denn hinter uns und den anderen gingen tschechische Soldaten, die riefen: »Vorwärts!« Solange sie so riefen, mußten wir gehen. »Wir Prausnitzer bleiben zusammen«, sagte jemand zu Mutter, und Mutter sagte es dem nächsten weiter, und der sagte es wieder weiter. So kam es, daß wir uns im Zug wieder trafen, die Mertlicks, die Scholzens, Pechs und die Frau von unserem Schuster mit ihrem gelähmten Kind und noch andere, die ich nicht kannte. Als ein Zug einfuhr, dachten wir, dieser kann es nicht sein; es war ein Güterzug mit Waggons, in denen sonst das Vieh transportiert wurde. Aber er hielt, die Soldaten schoben die schweren Waggontüren zur Seite und trieben uns zum Einsteigen an. Es gab keine andere Möglichkeit mehr für uns, wir mußten mit dahinein. Als der Waggon so voll war, daß einer dicht neben dem anderen stand, wurde die Tür von außen zugeschoben. Ich wurde mit Christi auf den Kinderwagen gedrückt, und Woifgang begann fürchterlich zu schreien. Aber ich konnte mich nicht befreien. Mutter sagte immer: »Vorsicht, die Kinder!« aber es half nichts, wir wurden weiter gedrückt, ich konnte mich kaum mehr rühren. Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Allmählich konnte ich mich etwas bewegen und anders hinstellen, die Leute rückten sich zurecht, einige saßen sogar auf ihren Bündeln. Mutter sagte, wir sollten die Rucksäcke abnehmen und uns auch darauf setzen. So hockten wir lange, dicht an dicht. Der Zug hielt oft, die Türen wurden aber nicht von außen geöffnet, und von innen ging es nicht. Durch die Lüftungsschlitze kam nur ein wenig Licht herein. Endlich, der Zug war in einen Bahnhof eingelaufen. 74 Die Tür wurde von draußen zur Seile geschoben, und ein tschechischer Soldat rief: »Reichenberg, zwei Stunden Aufenthalt, nicht aussteigen!« Luft! Wir waren alle froh, daß frische Luft hereinkam, es war stickig heiß im Wagen geworden. Mutter fragte den Soldaten, der draußen stand, auf tschechisch, ob sie zu ihrer Cousine laufen-dürfe, um etwas Eßbares für uns Kinder zu holen. Der Soldat sagte erst gar nichts, er sah Mutter nur an, die ihn wieder auf tschechisch bat. Dann sah er auf seine Uhr und sagte etwas zu Mutter. Sie verstand und sprang aus dem Zug. Das Haus von Tante Lotte war nahe am Bahnhof. Seit Mutter fortgegangen war, sahen wir immer nur heraus und warteten, ob sie wieder auftauchte. Die Zeit wurde lang. Da, dort hinten, tauchte sie auf, sie kam durch eine Seitenpforte auf den Bahnhof. Der Soldat half ihr auf den Waggon. Mutter bedankte sich bei ihm und sagte zu uns: »Lotte wird kommen, sie kocht uns eine gute Suppe. Wir haben Glück, daß gerade dieser Soldat vor unserem Waggon steht, der da drüben läßt niemanden raus.« Wir warteten auf Tante Lotte. Sie kam mit einem großen Topf voll Fleischbrühe, und während wir heißhungrig die Suppe aus dem Topf löffelten, trug sie geduldig einen gefüllten Nachttopf oder Blecheimer nach dem anderen hinüber zum Bahnsteigrand, leerte ihn dort aus und gab ihn den Leuten wieder zurück. Der Soldat bewachte das alles. Mit dem warmen Essen im Bauch fühlten wir uns wohler, mir war auch nicht mehr so übel. Tante Lotte stand da, mit dem ausgelöffelten Topf in der Hand. Sie hatte Tränen in den Augen, als der Soldat die Tür wieder zuschob. Der Zug fuhr, wir sahen es nicht, aber beim Anrucken purzelten wir durcheinander. Bald hörten wir wieder das 76 gleichmäßige Schienenklopfen und ab und zu das Zischen der Dampflok. Keiner wußte genau, wie lange wir so gefahren waren, wir hatten ja unsere Uhren mit den anderen Wertgegenständen zu Hause lassen müssen. Aber es muß eine lange Zeit gewesen sein, denn einige unter uns, auch wir, waren bereits fest eingeschlafen, als der Zug hielt. Er hielt mit einem Ruck, der mich aufweckte. Der Zug stand, niemand öffnete. Dann waren tschechische Stimmen zu hören, sie kamen näher. Die Tür wurde zur Seite geschoben, und ein Soldat rief es laut in den Waggon hinein, so als müßte er damit alle aus dem Schlaf wecken: »Ihr seid da, jetzt geht heim ins Reich!« Wir suchen ein Dach über dem Kopf Vaterunser in der Scheune Heim ins Reich. Heim, hatte er gesagt. Wir gehen heim, hieß es in Prausnitz, wenn wir zurück zum Haus, auf unseren Hof, in die Küche gehen wollten; wenn wir wußten, daß uns da Freundlichkeit, Geborgenheit und warmes Essen erwarteten. Da draußen aber stieg feuchter Dunst auf. »Das ist ja eine Wiese«, sagte jemand, »das muß schon in Deutschland sein. Nur zögernd sprangen die Leute vom Wagen, reichten sich ihre Bündel nach, hoben vorsichtig die alten Leute herunter und halfen bei den Kinderwagen. Keiner wollte weitergehen, alle standen unschlüssig zusammen und warteten. Die Lokomotive pfiff, der Zug fuhr wieder, aber er fuhr rückwärts, leer, mit geöffneten Türen. »Sicher holt er die nächsten«, sagte eine Frau. Sie hatte 77 .... .... .... recht, auch wir waren nur eine Waggonladung gewesen, die man aus den sudetendeutschen Dörfern und Städten wegtransportiert hatte, um sie in Deutschland auf eine Wiese zu entlassen, wie das Vieh auf die Weide. »Kommt, wir müssen eine Straße finden, an den Schienen entlang kommen wir mit den Kinderwagen nicht weiter«, sagten die Leute, und so gingen wir los. Die anderen Menschen, die wie wir an den Schienen gestanden hatten, setzten sich auch langsam in Bewegung. Sie hatten wohl alle den gleichen Gedanken. Nachdem wir ein Stück über das feuchte Gras gegangen waren, trafen wir auf Leute, die in kleinen und größeren Gruppen auf der abgemähten Wiese saßen. Uberall waren Feuerstellen, zusammengestellte Ziegelsteine, in deren Mitte ein kleines Feuer einen Topf erwärmte. Je weiter wir gingen, desto mehr Menschen sahen wir auf der Wiese, es nahm überhaupt kein Ende. Manche riefen uns an: »Wo kommt ihr her?« Dann riefen die ersten zurück: »Aus Prausnitz«, »wir sind aus Trautenau, aus Königinhof, aus . . .«, sie riefen viele Ortsnamen. Sie riefen aber auch: »Wo wollt ihr denn hin, die Stadt ist voll von Vertriebenen, sie gaben uns keinen Platz mehr und schicken auch euch wieder weg.« Sie mußten auf der Wiese schlafen. Unsere Gruppe aber ging weiter. »Es muß doch noch irgendwo ein Dach über dem Kopf geben«, sagte Mutter, »wir haben so viele Kinder dabei.« Mein Rucksack drückte, aber ich mußte weiter. »Die Nacht kommt bald, wir dürfen nicht stehenbleiben«, sagte Mutter und zog mich fort. Endlich sahen wir die ersten Häuser. Wir liefen auf einer breiten Straße in den Ort. Am Straßenrand lagerten Menschen, Flüchtlinge und Vertriebene wie wir, sie saßen im Staub. Ab und zu ging einer von uns in ein Haus und bat um 78 Wasser. Dann füllten alle ihre Flaschen. Aber wir durften nicht stehenbleiben, die Leute schickten uns immer weiter. Einmal fuhr ein Lastauto voll mit Menschen an uns vorbei, wir standen in einer Staubwolke. Weiter, wieder weiter. Vor einem Bauernhaus machten wir noch einmal Halt. Wir gingen alle in den Hof, und ein alter Prausnitzer klopfte an das Tor. Es wurde lange nicht aufgemacht. Ich sah viele Kindergesichter, die hinter den Gardinen aus dem Fenster sahen. Wir konnten einfach nicht mehr laufen und setzten uns auf die Steine im Hof. So blieben wir, alle waren sehr müde und verschwitzt. Endlich, endlich ging die Tür auf. Eine dünne Frau mit einem ganz schmalen Gesicht stand da und sah uns an. »Hier im Haus ist alles voll, doch ein paar Meter weiter, in der Scheune, könnt ihr übernachten, aber morgen müßt ihr hier weg. Und daß ihr kein Feuer drinnen macht. Es kommen jeden Tag Tausende, sie müssen alle weiterziehen.« Die Frau ging gleich wieder ins Haus hinein. Wir hörten, wie sie den Riegel vorschob. »Glaubst du, was sie sagt?« fragte ich Christi. »Ja«, sagte sie leise. Meine Füße brannten beim Wiederaufstehen noch mehr in den hohen Schnürstiefeln, ich hatte mir Blasen gelaufen. Nur gut, daß es nicht mehr so weit war, da drüben konnten wir die Scheune schon sehen. Wir Prausnitzer hatten eine ganze Scheune für uns! Drinnen, auf dem weichen Sandboden, suchten wir uns einen Platz für die Nacht, und dann wurde das herumliegende Stroh gleichmäßig an den Lagerstätten verteilt. Endlich konnten wir uns die Schuhe ausziehen. Oh, wie tat das gut! 79 Mutter und Mariechen bereiteten das Bett vor. Die Kohledecke, wie sie seit der Zeit im Fabrikschuppen hieß, zuunterst, die Rucksäcke wieder als Kissen. Großmutter sorgte für das Essen. Sie schnitt jedem von uns eine Scheibe von Pavelkas Abschiedsbrot ab und gab sie uns. »Das letzte Prausnitzer Brot«, sagte sie, »das müßt ihr mit Andacht essen.« Wir aßen es mit Heißhunger. Draußen wurde es sehr schnell dunkel. Ein alter Mann machte das Scheunentor zu. Es wurde ruhig in der Scheune. Da lagen wir nun, in Deutschland, viele Zugstunden weg von der Fabrik und dazu einen halben Tag mit dem Fuhrwerk fort von Prausnitz. Es war so friedlich. Ich hörte, wie sie sagten: »Morgen müssen wir uns voneinander trennen, wenn wir weniger sind, finden wir eher eine Bleibe«, und »Laßt uns noch zusammen beten und Gott bitten, daß wir einmal wieder in die Heimat zurückkehren dürfen.« Manche Prausnitzer knieten sich auf ihre Decken, viele lagen mit gefalteten Händen da. »Vater unser, der du bist im Himmel, dein Wille geschehe«, so beteten sie. Das Geräusch der mit ruhigem und leisem Ton gesprochenen Worte füllte den Raum. Es war feierlich und schön. Die Tränen, die ich auf allen mir nahen Gesichtern sah, beunruhigten mich nicht. Wohin? Ein Koffer zum Schlafen Nur erstmal von der Grenze weg Früh brachen sie auf. Wieder Abschiede, Umarmungen, Tränen. Die Prausnitzer Gruppe löste sich auf, jeder war jetzt auf sich gestellt. Jeder mußte für seine Familie, für seine Kinder entscheiden, wohin er sich wenden wollte. Und die wenigsten hatten ein Ziel, ratlos und hilflos waren sie. Die Unschlüssigen wollten gar nicht weiter. Sie wollten so nah wie möglich ihrer Heimat bleiben, nah an der Grenze, vielleicht durften sie ja bald wieder zurück. Andere wollten hier warten, sicher würden sie hier ihre Verwandten treffen, die auch ausgewiesen worden waren. Wohin sollten wir nur gehen? Wir kannten niemanden in Deutschland. Alle unsere Verwandten lebten im Sudetenland, oder sie wohnten in Österreich. Und wo sollten wir Vater finden, wo sollte er uns finden ? Wir hatten wieder die Rucksäcke auf dem Rücken, Wolfgang verschwand ganz unter dem Koffer im Kinderwagen. So standen wir noch unschlüssig auf dem trockenen Gras vor der Scheunentür. »Hier im Ort können wir auf keinen Fall bleiben«, sagte Mutter, »das ist ein Durchgangsort für alle Vertriebenen aus dem Sudetenland und für viele Flüchtlinge aus dem Osten. Wir müssen weiter.« »Am besten, wir gehen zum Bahnhof und nehmen einen Zug, der weiter ins Land hineinfährt, damit wir nur hier wegkommen«, meinte Großmutter. 83 81