Sie hängten die vollen Eimer an eine Holzstange, die sie/ auf den Nacken stemmten, und trugen sie über die Wiesen zu ihren Häusern. Unsere Apfel- und Nußernte wurde von Großmutter und Mariechen gebührend bestaunt. Alle freuten sich über die roten Äpfel, und wir beschlossen, die kleinen roten auszusortieren und als Schmuck für den Tannenbaum zu Weihnachten aufzubewahren. Im Keller legten Großmutter und ich die Äpfel in flache Kisten, sie sollten keine Druckstellen bekommen und durften darum nicht aneinanderstoßen. In hohen Regalen an den Wänden standen die Einmachgläser aufgereiht, und die eingeweckten Früchte sahen verführerisch auf mich herab. Gurken in vielerlei Grüns, gelbe Marillen, die hell- und dunkelroten Kirschen, Birnenkompott und viele Marmeladensorten! »Der Winter kann ruhig kommen«, sagte Großmutter, »wir haben vorgesorgt.« »Können wir ein Glas Kirschen mit nach oben nehmen?« fragte ich Großmutter, »sie schmecken so gut!« »Die sind für den Winter, oben könnt ihr Äpfel essen«, antwortete Großmutter bestimmt. So viel ich auch bettelte, das Glas blieb an seinem Platz. »Komm, ich zeig dir was«, sagte Großmutter. Sie ging mit mir in die Speisekammer. Dort stand ein hoher irdener Topf. Sie schob den Holzdeckel zur Seite, und ich steckte meine Nase hinein. Eine scharfe Duftwolke schlug mir entgegen. Ich hüpfte von einem Bein aufs andere und freute mich. Großmutter griff in den Topf und holte einen kleinen, wie ein Brötchen geformten Kloß aus Quark mit Kümmel heraus, einen Quargel. Sie legte ihn bedächtig auf das Brett und schnitt eine Scheibe ab. »Mal sehen, ob er schon reif ist, da, koste mal!« Ich kostete, es schmeckte nach würzigem Käse. »Noch ein, zwei Tage sollen sie durchziehen, dann holen wir Pavelka und halten Quargelschmaus.« Pavelka, ein tschechischer Bauer, liebte Quargeln,/ und er und Großmutter feierten das Quargelessen wie ein Fest. Pavelka kam bald. Obwohl er ein Tscheche war, verstand er uns und sprach so gut deutsch wie wir. Während er mit Großmutter Quargeln verspeiste, saß ich auf seinem Knie und lernte tschechisch zählen; bis sieben ging es schon ohne Stocken. Ich liebte Pavelka. Er war immer lustig, und in seinen Rocktaschen hatte er für mich meistens eine Fundsache, wie er die kleinen kostbaren Gegenstände nannte. Mal war die Fundsache ein geschnitztes Weidenpfeifchen, mal ein Stein, mal ein Schneckenhaus. Heute war sie eine kleine weiße Taubenfeder. Wir pusteten sie zusammen in die Luft und sahen zu, wie sie sich langsam senkte, sachte, wie eine Schneeflocke. Winter im Dorf Ein Christbaum für das Weihnachtsfest Es war Winter geworden, mit Frost und Schnee war er eingezogen. Abends duftete es oft nach Bratäpfeln in unserer Küche, und dann, warm in die Betten eingekuschelt, freuten wir uns auf den nächsten Tag, an dem wir mit den anderen Kindern im Dorf wieder Schlittenfahren würden. In den Wintern davor waren wir Kinder auf Skiern durchs Dorf gelaufen, wir hatten sie jetzt nicht mehr. Mutter hatte sie an einer Sammelstelle im Dorf zusammen mit den Skiern der Erwachsenen für die Soldaten im Krieg abgegeben. Warum sie dazu gerade Skier von Kindern brauchten, die doch viel zu kurz für Soldaten waren, 16 17 konnte uns niemand beantworten. Einen großen Schlitten hatten wir behalten. Die hölzernen Kufen waren vorn nach oben geschwungen und sahen aus wie die Hörner von einem Stier. Unsere Schlittenbahn begann oben beim Friedhof und endete auf einem zugefrorenen Bach. Unter dem Eis hörten wir das Wasser glucksen, aber es konnte uns ja durch die dicke Eisdecke nichts anhaben. Es machte uns einen Heidenspaß, bäuchlings auf die unter dem Eis lauernde Gefahr zuzusteuern. Mit den tschechischen Kindern verstanden wir uns ohne Schwierigkeiten. »Pozor! Pozor!« rief ein Junge, der oben an der Abfahrtsstelle auf seinem Schlitten lag und auf die Rodelbahn zeigte. Wir alle, die wir ihn hörten, zogen unsere Schlitten beiseite, und schon sauste der Junge die Bahn herunter. Klar, daß sein Ruf so etwas wie: »Vorsicht! Achtung!« bedeutete. Manchmal, wenn ich mit meinem Schlitten an der Abfahrtsstelle stand, kam der Pavel auf mich zu. Er zeigte mit seiner Schnur auf die hintere Querleiste meines Schlittens, sagte: »Smim přivázat mé sáňky ke tvým ?« und sah mich dabei fragend an. Ich antwortete dann entweder: »Mach schon« oder »jetzt nicht«. Wir verstanden uns jedenfalls, auch wenn jeder in seiner Muttersprache sprach, und wenn es wirklich mal mit der Verständigung nicht klappte, nahmen wir Hände und Füße zu Hilfe. Jaroslav war der größte und älteste Junge unter uns Schlittenfahrern; wenn er da war, gab es oft eine Rauferei. Er wollte der Anführer sein, aber er hatte einen Rivalen, den Ossi. Ossi hieß eigentlich Oswald. Oswald war ein Deutscher, und Jaroslav war ein Tscheche. Aber wenn die beiden aufeinander losgingen, hielten oft auch tschechi- sche Jungen zu Ossi, weil sie ihn gern mochten. Heute hatte Jaroslav kein Glück, er wurde von Ossi und seinen Freunden so in den Schnee getunkt, daß er aufgeben mußte. Er wischte sich den Schnee aus dem roten Gesicht, und dann sagte er etwas, worüber ich erschrak: »Wenn ihr Tschechen nochmal zu den Nazischweinen haltet, geht es euch dreckig.« Darauf ging er stolz den Schlittenberg hoch zur Abfahrtsstelle und setzte sich, ohne zu fragen, auf den Schlitten eines Jungen, der sich gerade zur Abfahrt abgestoßen hatte. Auf halber Strecke kugelten beide Jungen vom Schlitten herunter in den Schnee. Jaroslav rannte wieder den Berg hoch und sprang noch einmal mit Schwung auf einen gerade abfahrenden Schlitten auf. Ich war froh, daß er uns jüngere Mädchen in Ruhe ließ, dochhätteichgern gewußt, warum er die deutschen Jungen Nazischweine genannt hatte. Ich könnte Pavelka danach fragen. Am nächsten Morgen hatte Mutter eine Überraschung für uns. »Dieses Jahr seid ihr schon groß«, sagte sie zu Christi und zu mir, »ihr könnt mit in den Wald kommen urfci den Christbaum aussuchen helfen.« Den Christbaurffim Wald mit aussuchen dürfen, der an Weihnachtep^fm Wohnzimmer bis zur Decke reichen sollte, das war wunderbar. Pavelka mit Axt und Säge, Mutte.r-'und wir zwei stapften bald durch den glitzernden Schnee, dem verschneiten Obsthang entgegen. Es ging ziemlich schwer den Steig hinauf, weil wir mit jedem Schritt tiefer in den Schnee einsanken, und vor dem nächsten Schritt mußten wir erst mühsam den Stiefel wieder herausziehen. Pavelka rief uns zu: »Geht dqeh in meinen Fußstapfen, das ist leichter.« Tatsächlich, es war leichter, wir traten tief in seine Stiefelaixlrücke hinein und konnten leicht wieder heraus. Oben angekommen, sahen wir den verschneiten Tannen- 18 19 wald, unseren Wald. Seit mehr als einem Jahrhundert gehörte er unserer Familie. / »Euer Urgroßvater hat beim Pflanzen der kleinen Tännchen mitgeholfen, er hätte heute seine Freude-'an dem Wald«, sagte Mutter, »damals war er ein Junge/ungefähr so alt wie ihr.« / Ich versuchte, mir den Wald mit den höhen Bäumen und dem Schnee wegzudenken, und wen/l ich die Augen zusammenkniff, sah ich tausend kleine Baumchen nebeneinander, und dazwischen hüpfte mein Urgroßvater als kleiner Junge herum. »Kommt zur Lichtung«, Pavelka winkte uns mit der Axt ein Stück weiter. Da standen die großen, einsamen Bäume. / »Diesen da drüben woljten wir haben, er ist der allerschönste«, rief ChristL' Er war wirklich wunderbar regelmäßig gewachsen und stand freier als die anderen nah am Abhang. »Wie lange er gebraucht hat, um so schön und groß zu werden«, meinte Mutter. Wie ein Wächter stand er da und schaute weit ins Tal hinein. Pavelka n-ähm die Säge von der Schulter und ging an den Baum hgran. »Nein, nicht absägen, der Baum muß stehenbleiben«, rief ich aus./ Es tat utls allen leid, ihn zu fällen. Die Säge wurde schließlich an einem kleineren Baum angesetzt, der lautlos in den Schnee fiel. Dei/Weg ins Tal herunter war beschwerlich. Die Nadeln stachen durch unsere Handschuhe. Endlich, auf dem festgefahrenen Schnee der Straße ging es leichter. Der Schnee knirschte unter unseren Schuhen, Pavelka ging vor mir, er /pfiff ein Lied vor sich hin. Zu Hause wollte ich ihn fragen, warum Jaroslav so böse auf die deutschen Jungen war. Mit dem Frieden wird Vater wieder nach Hause kommen Tschechen und Deutsche leben zusammen im Land Weihnachten Großmutter wartete schon auf uns, sie hatte einen heißen Tee gekocht und, nachdem wir den Baum in der Diele abgestellt hatten, machten wir es uns in der Küche gemütlich. Die Flammen im Herd knisterten, draußen begann es zu schneien. »Wenn doch Vater jetzt bei uns sein könnte«, sagte Christi, »muß er denn immer noch Soldat sein?« Mutter nahm sich einen vollen Löffel Zucker in ihren Tee und rührte damit lange in der Tasse, während sie antwortete: »Ich verstehe es auch nicht, daß die Nazis nach all den Verlusten und Niederlagen den Krieg noch weiterführen.« Nazis, da war das Wort wieder. »Was sind Nazis?« fragte ich. Mutter sah zu Pavelka herüber und sagte dann: »Das sind die Parteifreunde von Hitler. >Nazis< ist die Abkürzung von Nationalsozialisten, sie sind in Deutschland und hier bei uns an der Macht und lassen keine anderen Gedanken zu als die ihren, nicht einmal den Gedanken, daß der Krieg bald beendet werden soll.« Ich sagte: »Jaroslav hat zu den deutschen Jungen gestern >Nazischweine< gesagt, den Ossi hat er auch damit gemeint.« Pavelka horchte auf. »So, hat er das ?« sagte er. »Das war nicht gut von ihm. Aber verstehen mußt du das schon, wenn die Tschechen nicht immer gut auf die Deutschen zu sprechen sind. Auch in unserem Dorf freuen sich einige Leute, daß Hitler vor sechs Jahren mit seinen Soldaten die rein tschechischen Gebiete besetzt hat. Er tat das, obwohl 20 21 er den Tschechen versprochen hatte, ihre Selbständigkeit nicht anzutasten. Seit 1938 bestimmen nur noch Deutsche hier in der Tschechoslowakei, und wir sind doch ein Land, in dem verschiedene Völker miteinander leben, Tschechen, Deutsche und Slowaken.« »Was haben die deutschen Nazis den Tschechen und Slowaken getan, daß Jaroslav sie Schweine nennen muß ?« bohrte ich weiter. »Die deutschen Besetzer haben den Tschechen viel Leid angetan und ihre Macht oft mißbraucht.« Großmutter goß Pavelka Tee nach, dann sagte sie zu ihm: »Weißt du noch, wie es 1917 war, nach dem Ersten Weltkrieg? Da hatten die Tschechen die Macht in der Tschechoslowakei, und den Deutschen geschah viel Unrecht.« »Ja, Maria«, Pavelka nickte, »das ist wahr. Wenn nur die Menschen begreifen würden, daß es miteinander besser geht als gegeneinander.« »Warum können sich die Tschechen und die Deutschen nicht so gut verstehen wie wir beide?« fragte ich Pavelka. »Weil sie die Sprache der anderen nicht kennen. Die Deutschen können kein Wort Tschechisch verstehen, und die Tschechen verstehen kein Deutsch «, antwortete er, und diese Erklärung war einsichtig für mich. Dann sagte Pavelka: »Vaš čay byl dobrý, u vás se mi to líbí a doufám, že zůstaneme stále přátelé.« »Sag es auf deutsch«, bat Christi. »Das will ich tun«, sagte Pavelka, »damit ihr nichts Falsches annehmen müßt. Gut war euer Tee, bei euch ist es schön, und ich hoffe, daß wir immer Freunde bleiben werden.« Mitten in unser Gespräch klopfte es an die Küchentür. Noch ehe Großmutter »herein« rufen konnte, trat Herr Schmitt, der Polizist aus Berlin, der in der Gendarmerie arbeitete, in die Küche. »Heil Hitler«, sagte er. »Je, der Herr Schmitt«, sagte Großmutter. Mutter sagte leise »Heil Hitler«, Pavelka sagte nichts. Er trank weiter seinen Tee und legte dann noch einen Scheit Holz aufs Feuer. Herr Schmitt trug eine Uniform, an der viele Hakenkreuze aufgesteckt und angenäht waren. Er war also auch ein Freund Hitlers. Ich wollte es genau wissen. »Sind Sie auch ein Freund von Hitler, Herr Schmitt?« fragte ich. Mutter und Großmutter sahen mich entsetzt an, sie fürchteten wohl, daß ich gleich auch noch das mit den »Nazischweinen« sagen würde. Aber das hatte ich nicht vor, irgendwie spürte ich, daß ich Jaroslav nicht verraten durfte. Mutter meinte: »Das ist unsere neugierige Liese, sie stellt immer so viele Fragen.« »Sie hat ja ganz recht«, sagte Herr Schmitt, »selbstverständlich bin ich ein Freund des Führers, und du liebst ihn ja auch.« Er kam nah an mich heran und sah mich an. Ich sah auf den Fußboden und schüttelte den Kopf. »Sonst spielen die tschechischen Jungen nicht mehr mit mir«, sagte ich leise. »Laß deine Kindergeschichten«, sagte Großmutter streng, »die interessieren Herrn Schmitt nicht«, und zu ihm gewandt, fragte sie: »Was möchten Sie denn von uns?« »Ich brauche für die nächste Zeit Quartier für acht Kollegen, Polizei aus Berlin, ihr habt doch noch freie Zimmer und genug Betten im Haus.« Schweigen. Dann: »Das geht nicht, Herr Schmitt.« Großmutter hatte gesprochen. »Wie stehen wir denn da im Dorf? Drei 22 23 Frauen allein, ohne Mann im Haus, und acht fremde Männer einquartiert. Das machen wir nicht.« »Nein, das geht wirklich nicht. Herr Schmitt, Großmutter hat Recht«, sagte Mutter. »Sie sollten mehr zu uns halten«, antwortete Herr Schmitt, und seine Stimme klang scharf, »das kann noch schlecht für Sie alle ausgehen. Sie tun zu wenig für das Deutsche Reich - Und du, Liese«, Herr Schmitt ging schon zur Tür, »du solltest mehr mit den deutschen Kindern im Dorf spielen, die Tschechen brauchen wir sowieso nicht.« Ich war wütend und dachte >Er hat keine Ahnung von uns Kindern im Dorf<. Als er gegangen war, sagte Mutter nachdenklich: »Wer weiß, was die acht Polizisten im Dorf vorhaben.« »Habt ihr Angst vor Herrn Schmitt ?« fragte ich. »Nein, nicht gerade Angst«, antwortete Mutter, »aber wir trauen ihm nicht. Womöglich zeigt er uns bei seinem Vorgesetzten an, weil wir nicht alles tun, was er will. Wir müssen vorsichtig sein.« »Du hattest Mut, Maria«, Pavelka sah zu Großmutter, »sie denken wohl, man muß alle Dummheiten mitmachen.« Bisher hatte ich geglaubt, Dummheiten machen nur wir Kinder. In der folgenden Zeit waren Mutter und Großmutter sehr beschäftigt. Sie buken duftende Plätzchen und Christstollen, wir halfen mit, Sterne und Monde auszustechen und naschten die übriggebliebenen Ränder vom Teig, schnell, noch ehe sie wieder in den knetenden Händen von Mutter verschwanden. Ob Vater wohl nach Hause kommen würde? Er war Soldat. Man wußte nie genau, wo er stationiert war. Die letzte Nachricht war aus Flensburg gekommen, er schrieb: Ich komme Weihnachten nach Haus. Er kam, er kam mit dem Bus ins Dorf, nachdem er die ganze Nacht in einem überfüllten Zug gefahren war. Vater sah schmal aus, er hatte Schatten unter den Augen und war sehr müde. Auf Vaters Uniform war ein Hakenkreuz. »Alle Soldaten müssen es haben«, sagte er. Vater und Mutter sprachen oft vom Frieden, der bald kommen mußte, und von dem Glück, daß wir Kinder mitten im Krieg in einem versteckten Dorf leben konnten - und nicht in einer deutschen Großstadt. Natürlich fand ich, war es ein Glück, in unserem Dorf zu wohnen, und ich wollte auf gar keinen Fall in eine deutsche Großstadt und eigentlich überhaupt nicht fort aus Prausnitz. Am Heiligen Abend stand der Christbaum, den wir aus dem Wald in unser Haus getragen hatten, über und über behangen mit Plätzchen, roten Äpfeln, Sternen, Kugeln und zarten Vögeln aus böhmischem Glas im Zimmer. Er sah so schön und strahlend aus, als die Kerzen angesteckt wurden, und wir saßen glücklich darunter, sangen, hörten die Weihnachtsgeschichte, die Vater erzählte, und knabberten Gebäck. Noch einen Tag, dann mußte Vater wieder abreisen. Alle weinten, Mutter, Großmutter, ja, sogar Mariechen. Ich verstand das nicht. Vater würde doch bald mit dem Frieden für immer nach Hause kommen, er hat das doch gesagt. Mutter sagte leise: »Wir werden uns überall wiederfinden, auch wenn wir fortmüssen.« Vater wiederholte: »Wir werden uns überall wiederfinden, ich komme zu euch, wo ihr auch seid ...« Er hob uns Kinder nacheinander auf den Arm. Ist doch klar, was haben sie nur, Vater kommt bald 24 25 wieder, und ich wünschte mir noch schnell, daß er mir das nächste Mal ein Bilderbuch mitbringen soll. Vater fuhr mit dem Bus fort. Ich sah ihn noch am vereisten Fenster, wie er in seiner Soldatenuniform dasaß und winkte. Der Bus fuhr die Dorfstraße entlang, aus dem Dorf hinaus, nach Mastik zu. Er verschwand hinter einem Hügel. Alle hatten wir ihm nachgesehen. Wir waren wieder allein, Großmutter, Mariechen, Mutter und wir drei Kinder. »Kommt ins Haus, es ist kalt«, sagte Mutter. Flüchtlinge Sie können nicht mehr nach Hause, die Nacht kommt Es war Februar im Jahr 1945. Noch immer lag Schnee, und es war sehr kalt. Zu Hause wurde jetzt oft der Volksempfänger eingeschaltet, so sagten damals die Leute zum Radio. Manchmal rief uns Mutter alle zusammen, wenn etwas Wichtiges durchgesagt wurde. Wir warteten darauf, daß jemand sagte : »Der Krieg ist aus, und alle Väter kommen nach Hause.« Gut konnten wir die Stimmen im Volksempfänger nicht verstehen, hundert Nebengeräusche rauschten mit. So fragten wir am Ende immer: »Was haben sie gesagt?« Aber das, worauf wir warteten, kam nie. Der Volksempfänger hielt alle Leute im Haus in Spannung, oft versetzte er sie auch in Angst und Aufregung. Alle Nachrichten über den Verlauf des Krieges kamen über ihn in unser Haus. Eines Abends stürzte Pavelka herein: »Die Ostfront rückt näher. Die Schlesier flüchten vor den russischen Soldaten.« Diese Nachricht hatte er nicht aus dem Volksempfänger. Großmutter, die abends immer lang beim Radio saß, hatte sie auch nicht gehört. Wie ein Lauffeuer mußte sie von Dorf zu Dorf gegangen sein. Oder - wußten die Tschechen mehr als die Deutschen? Wir, die Deutschen im Norden Böhmens, die man auch die Sudetendeutschen nannte, waren die westlichen Nachbarn der Schlesier. Schon wenige Tage nach dieser Nachricht sahen wir sie, die schlesischen Flüchtlinge. Auf ihrem langen Weg nach Westen kamen sie auch durch unser Dorf, die Dorfstraße entlang, an unserem Haus vorbei. Zu Fuß, mit Säcken, Rucksäcken, Taschen und kleinen Kindern auf dem Arm. Manche zogen Leiterwagen, vollgepackt mit Bündeln und Koffern. Sie liefen am Haus vorbei, nicht schnell, aber stetig, ohne Pause, ein endloser Zug müde und traurig aussehender Menschen. Sie liefen in Gruppen zusammen, ganze Dörfer waren gemeinsam geflüchtet, sagte man uns. Wir sahen fast nur Frauen, Kinder, alte Leute, dann wieder Frauen, Kinder, alte Leute. »Wir werden uns wiederfinden, wenn ihr fortmüßt«, die Worte meines Vaters fielen mir wieder ein. Ob die Väter der Kinder da im Flüchtlingszug wußten, wohin sie gingen, daß sie gerade durch unser Dorf liefen, mitten im Winter, im kalten Februar? Ich saß mit Christi und Wolfgang am Fenster und sah den Menschen nach. Warum nur mußten sie mitten im Winter aus ihren warmen Häusern und den gemütlichen Küchen fort? Wer schickte sie weg? Brauchten die russischen Soldaten die Häuser? Wohin zogen sie, einer hinter dem anderen, wer wußte den Weg? Mutter und Großmutter wichen aus, wenn wir sie fragten. »Vielleicht können sie bald wieder nach Hause«, sagte Großmutter. Sehr sicher klang ihre Stimme nicht. 26 27