hof und den großen Wald. Not brauchten wir deshalb nicht zu leiden. Nein, auf meinen Nachfolger war ich nicht böse, aber auf die damalige'tschechische Regierung war ich nicht gut zu sgre-ehen. Sie gab den Deutschen nicht die Rechte im-Länd, die ihnen zustanden.« Großmutter wurde plötzlich unruhig. Sie hatte im Hof Schritte gehört und trat ans Fenster. »Gottseidank, Pavelka ist dabei«, sagte sie. Ich sah auch hinunter. Auf dem Kies standen sechs Männer, die wild gestikulierend miteinander sprachen. Sie sprachen tschechisch, ich verstand nichts, sah aber, daß Pavelka ihnen mit der Hand abwinkte. Sie gingen wieder. Ich wartete darauf, daß Großmutter etwas sagen würde, aber sie schwieg. »Wer war das ?« fragte ich sie. »Keine Ahnung, aber man weiß ja nie, was alles passieren kann.« »Hast du Angst?« wollte ich wissen. Sie kam nicht dazu, mir zu antworten, Pavelka trat in die Küche. »Sie wollten ins Haus, nachsehen, ob ihr Waffen versteckt habt. Ich konnte es gerade noch verhindern, wer weiß, was sie hier gemacht hätten.« Pavelka setzte sich. Großmutter brachte ihm Tee. Er schlürfte ihn genüßlich. »Wenn Tschechen, die ihr nicht kennt, zu euch ins Haus kommen, sprecht am besten tschechisch, sie werden nicht merken, daß ihr Deutsche seid, ich glaube, es ist für die nächste Zeit besser.« Ich verstand die Welt nicht mehr. Gerade noch war ich sicher, daß die Deutschen im Land was zu sagen haben, jetzt sah es so aus, als müßten wir uns vor den Tschechen fürchten. Obwohl doch so viele Tschechen unsere Freunde waren. Laut fragte ich: »Wer hat hier eigentlich zu bestimmen?« »Ja, wer eigentlich?« Großmutter und Pavelka sprachen es fast gleichzeitig aus; aber sie gaben keine Antwort. Wahrscheinlich dachten sie, ich verstehe das noch nicht. Oder wußten sie es selbst nicht? Im Wald wird geschossen Angst Herr Schmitt jedenfalls hatte bei uns nichts mehr zu bestimmen. Ihn gab es nicht mehr im Haus. Er war vor ein paar Tagen mit einem schwarzen Auto abgefahren. »Ihm ist es hier zu heiß«, flüsterte Mariechen, »er muß wohl auch an die Front«, sagte Großmutter, »jetzt kann ich wieder aufatmen«, sagte Mutter. Ich mochte ihn auch nicht leiden, weil er was gegen Kinder hatte und vor allem gegen tschechische. So waren alle froh, daß er weg war. Bald zogen keine Flüchtlinge mehr durch unser Dorf. Die meisten waren irgendwohin nach Westen geflüchtet, einige waren im Dorf geblieben und wohnten bei Bauern. Sie wollten nicht zu weit von Schlesien fort, weil sie hofften, daß sie doch wieder zurück könnten. Frühling war es geworden. Die Kastanien an der Dorf straße blühten und dufteten durch die Luft. Wir Kinder wollten am liebsten wieder in den Wäldern herumstrolchen und durch die Wiesen laufen, aber Mutter und Großmutter hatten es streng verboten. »Bleibt immer in der Nähe von Häusern und geht auf 32 33 gar keinen Fall in den Wald, dort wird geschossen«, sagte Mutter. Die Erwachsenen im Dorf verhielten sich anders als früher, meist standen sie in kleinen Grüppchen zusammen und redeten leise und aufgeregt miteinander. »Josef, der Besitzer von der Spinnerei, ist vonTschechen in den Wald verschleppt worden, dort haben sie ihn erschossen, und vorher mußte er sich sein eigenes Grab schaufeln«, Christi flüsterte es aufgeregt Mariechen und mir beim Schuheputzen zu. Sie hatte die Nachricht aufgeschnappt, als sie die Gastwirtsfrau beim Kaufmann erzählt hat. »Mariechen, ist das wirklich wahr ? Sag mir, ob das wahr ist.« Mariechen sagte, sie wisse es nicht und dann leise: »Ihr dürft es aber nicht Mutter oder Großmutter verraten, ihr sollt es eigentlich nicht wissen, weil es zu schlimm ist. Aber es werden jetzt oft deutsche Leute von Tschechen erschossen.« »Aber die Tschechen sind doch unsere Freunde«, sagte ich. Ich konnte es nicht glauben, weil ich so viele freundliche Tschechen im Dorf kannte. »Unsere Freunde machen das auch nicht, das sind andere, sie rächen sich an denen, die früher gemein zu ihnen waren.« Ich war fürs erste beruhigt. Wir versprachen Mariechen, daß wir niemandem von unserem Gespräch etwas verraten würden. Mutter und Großmutter wußten es wohl schon, ich überraschte sie gerade in der Küche, als ich Großmutter sagen hörte : »Gut, daß Josefs Vater das nicht mehr erleben mußte.« Sie wurde still, als sie mich bemerkte, und dann redeten sie beide auf mich ein: »Daß du ja nie allein in den Wald läufst, überhaupt darf kein Kind mehr in den Wald, am besten ihr spielt jetzt nur noch im Hof und im Garten.« Ich fragte nichts, ich wußte ja, warum sie auf einmal so streng und ängstlich waren. Wir sollten wohl nicht sehen, was im Wald passierte. Am nächsten Morgen lief ich zur feuchten Oase und kletterte den Sudan hinauf. Niemand hatte mich weggehen sehen. Vom Sudan aus sah ich zum Wald hinüber. Dort, im alten Steinbruch, in dem die Sonne brütete, zwischen den Birkenstämmchen und im Kiefernhain hatten wir im letzten Sommer unsere Spiele gespielt. Jetzt lag er auch in der Sonne, ich sah keinen Menschen und hörte kein Geräusch. Alles war still. Eine Weile lauschte ich, ob auch kein Schuß zu hören war, dann lief ich los, lief durch die Wiese bis zum Feldweg. Ich war schon fast am Wald, ungefähr hundert Meter vor mir standen die ersten Birken. Die weißen Stämme lockten mich. Wieder horchte ich. Ein Eichelhäher erhob sich mit warnendem Ruf und flog hinüber zum Kiefernhain. Er mußte also vorher ganz ruhig im Wald gewesen sein, keine Soldaten, dachte ich, niemand wurde erschossen, sonst wäre kein Eichelhäher dageblieben. Ich lief weiter. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Bald hatte ich den Wald erreicht. Plötzlich, ein Geräusch von knackenden Zweigen - laut unterbrach es die Stille. Ein Schreck durchfuhr mich. Gerade noch sah ich, wie ein Reh durch das Unterholz fortsprang. Wie erstarrt blieb ich stehen, dann drehte ich mich um und lief zurück. Ich rannte so schnell ich konnte, fiel ein paarmal ins Gras, ich sah nichts mehr vor meinen Augen, sie waren voller Tränen. Ich spürte eine wahnsinnige Angst in mir und wußte doch, es war nur ein Reh._____ 4 Als ich im Hof ankam, war zum Glück kein Mensch zu sehen. Ich ging zum Brunnen und hielt die-Häncte in den Wasserstrahl. Das tat gut. Es wardöch nur ein Reh, es war doch nur ein Reh, hänjmerte es in meinem Kopf. Langsam 34 35 Es hatte schon die ganze Woche geregnet. Wir waren kaum draußen gewesen, nur vom Fenster aus sahen wir, wie das Gras auf der Wiese vor dem Haus höher und höher wuchs. Endlich hatte der Regen an einem Nachmittag nachgelassen. Mutter rief uns Kinder. Wir schlüpften in unsere Regenmäntel und zogen Gummistiefel an. Mutter ging mit uns ins Dorf. Sie wollte Brot, Butter und Eier holen, und wir schlugen den Weg zu einem etwas abseits gelegenen Bauernhof ein, in dem das Brot von der Bäuerin selbst gebacken wurde. Ich sah dort immer gern zu, wie der Brotteig in mit weißem Mehl eingestaubte Körbe gelegt und dann mit langen Holzstangen, die vorn einer Schaufel ähnlich sahen, in den Backofen geschoben wurde. Die Bäuerin winkte uns, wir sollten nur ja schnell hereinkommen. Sie war so aufgeregt, man sah es gleich, daß etwas nicht stimmte. Mit der Hand fuhr sie sich ein paarmal über die Augen: »Setzt euch doch«, sagte sie, »komm, Wolf gang, komm zu mir auf die Bank.« Wir setzten uns auf die Holzbank, die am Tisch stand. Drüben am Fenster saß Lena, das Kind von der Bäuerin. Sie war schon dreizehn. Heute blieb sie am Fenster sitzen und schaute nicht zu uns herüber. Sie suchte mit ihren Augen wohl etwas auf dem Fußboden. »Lena, geh, bring den Kindern ein Glas Milch«, sagte ihre Mutter. Lena, die sonst immer gleich auf uns zugekommen war, die den Wolfgang so gern herumschleppte und mit ihm spielte, ging wortlos an den Schrank und holte einen blauen Krug heraus. Sie goß jedem einen halben Becher voll ein. »Solange wir die Kuh noch haben, sollt ihr auch Milch bekommen, da, trinkt.« Die Bäuerin nickte uns zu. Die frische Kuhmilch schmeckte uns. »Gestern sind tschechische Soldaten hier gewesen, sie haben alles mitgenommen, was in der Speisekammer war, den Speck, Butter, Eier und das Mehl. Nur was auf dem Dachboden stand, haben sie nicht gefunden, sonst hätten wir nichts mehr zum Backen. Wir haben die Tschechen nicht hindern können - der eine hat uns mit dem Gewehr bedroht - und die Lena, die haben sie in die Kammer gezerrt und dort...« Hilde, die Bäuerin, sprach nicht weiter. Tränen traten ihr in die Augen, Lena weinte auch. Ich hätte zu gern gewußt, was sie dort mit Lena gemacht haben, aber ich getraute mich nicht zu fragen, die beiden weinten und schluchzten so. »Wir haben gedacht, nehmt nur alles mit, aber laßt uns am Leben«, Hildes Worte waren kaum zu verstehen. Mutter war auch ganz betroffen, ich glaube, sie hatte auch Tränen in den Augen, dann sagte sie: »Bei uns war es gestern ruhig, wahrscheinlich, weil die tschechische Polizeistation im Haus untergebracht ist. Die tschechische Polizei ist in der Gendarmerie, Nachfolger von Herrn Schmitt. Vielleicht ist es besser, du schickst Lena zu uns rüber.« Mutter legte die Brote in die braune Ledertasche, die Lena vom Regal nahm. »Wir gehen jetzt lieber«, sagte sie dann. Draußen war die Luft würzig und frisch. Der Dorfbach rauschte stark, er war vom Regenwasser hoch angefüllt. »Ich möchte so gerne die Hühner sehen«, Wolf gang zog Mutter auf einen Kiesweg, der zur Pfarrei führte. Obwohl Mutter eigentlich nach Hause wollte, ließ sie sich doch überreden, einen Umweg zu machen. Dort, in Pfarrers Garten, gab es nämlich einen wunderschönen Hahn, dem Wolfgang so gern zusah, wie er um seine Hühner herumgockelte. Krähen hörten wir ihn schon von weitem, aber von der stolzen Hühnerschar scharrten nur noch zwei im Garten herum. Die Pfarrersköchin schaute zum Fenster heraus und winkte Mutter zu, als sie uns kommen sah. Sie kam heraus, strich mit den Händen über die 38 39 Schürze und zeigte auf die Hühner. »Das haben sie uns übriggelassen. Gestern haben die Tschechen schlimm im Dorf gehaust, den Michael vom Nachbardorf habe ich wiedererkannt, die anderen waren alles Fremde.« »Sind sie auch in der Kirche gewesen?« fragte ich. »Nein, die waren abgeschlossen, und den Schlüssel hab ich im Stall versteckt.« Das ist gut, dachte ich, und Christi flüsterte ich zu: »Siehst du, da konnten sie nicht rein, das wäre ein gutes Versteck für Vater.« Mutter trieb uns zur Eile an. Wenn sie schlechte Nachrichten hörte, war sie am liebsten mit uns zu Haus. Großmutter wartete schon an der Küchentür. Sie strahlte und zeigte uns ein Stück Butter, länglich geformt, mit einem oben eingedrückten Blumenmuster. »Unsere Freunde, unsere guten Freunde«, sagte sie immer wieder. Ein tschechischer Bauer war dagewesen. Er hatte von der Plünderei im Dorf gehört, und als er seiner Frau davon erzählte, hatte sie ihn gleich mit der Butter zu uns ins Dorf herunter geschickt. »Ich bring euch wieder etwas, pani Wankowa, ich laß eure Familie nicht im Stich«, hat er gesagt. Mutter schnitt das mitgebrachte Brot an, nachdem sie mit dem Messer ein kleines Kreuz darauf gezeichnet hatte, Großmutter strich die saftige Butter auf die Schnitten und gab jedem von uns eine in die Hand: »Eßt nur tüchtig, Kinder, ihr müßt jetzt stark und gesund bleiben.« Rucksäcke für alle Fälle Einschlafen mit Großmutter »Für alle Fälle«, sagte Mutter, »werde ich euch Kindern Rucksäcke nähen.« Sie beschloß es am Abend, als wir alle um den Tisch herum in der Küche saßen. »Wenn wir wegmüssen, trägt jeder sein Gepäck am Rücken/das ist am leichtesten für euch.« / »Und viel dürfen wir sowieso nicht mitnehmen«, sagte Mariechen. / »Müssen wir denn weg?« fragte i'ch ängstlich und ungläubig zugleich. / »Wir wollen auf alle Fälle vorbereitet sein, wenn es sein muß. Und Stoff habe ich auch schon, ganz festen Matratzenstoff.« Mutter stand auf und holte ihn vom Fenster. Er sah graublau aus, mir gefiel er gar nicht. »Ich will aber schöneren Stoff haben, roten oder gelben«, sagte ich. / »Das ist nicht gut«,'meinte Großmutter, »die Sachen auf der Flucht müssen,so unauffällig wie möglich sein.« »Ja, was zu groß ist oder zu kostbar aussieht, wird den Leuten gestohlen«, sagte Mariechen. Sie schaute in ihren offenen Bettkästen hinein: »Viel hab ich ja nicht, aber in einen Rucksack wird es trotzdem nicht passen.« Und dann sagte sie leise: »Wenn ich nur wüßte, ob meine Eltern schon flüchten mußten, oder wo sie sind. Ich gehe jedenfalls mit euch weg.« »Ji, Mariechen kommt mit uns«, rief Christi. Sie umarmten sich beide, und Christi sagte zu ihr: »Du bist 7'eine große Schwester.« Nun beratschlagten wir über die Größe der Rucksäcke, Wolf gang sollte den kleinsten bekommen. 40 41