Hofmannsthal, Märchen der 627. Nacht, Fragen zum Text: 1 Welche klischeehafte Vorstellungen vom des lebensfernen Ästhetentum werden hier thematisiert? - Hang zur Verwischung der Grenzen zwischen Kunst und Leben, die Tendenz das eigene Leben zum Kunstwerk zu stilisieren, gleichzeitig aber Ablehnung jeder direkten Nachahmung des Lebens durch die Kunst. Die Literatur soll aber die ständige Bewegung des Lebens erfassen, Gesehenes und Gehörtes zu einem neuen Dasein hervorrufen. In Hofmannsthals berühmten Gedicht Lebenslied heißt es: Ihm biete jede Stelle Geheimnisvoll die Schwelle; Es gibt sich jeder Welle Der Heimatlose hin. Seinen Gianino aus dem Tod des Tizian lässt er die dunklen Anziehungskräfte der Stadt sehen, in die es ihn aus dem schönen Garten zieht. 253 – Anm. Heft IV, S. 49 Ich war in halbem Traum bis dort gegangen, Wo man die Stadt sieht, wie sie drunten ruht, Sich flüsternd schmieget in das Kleid von Prangen, Das Mond um ihren Schlaf gemacht und Flut. Ihr Lispeln[1] weht manchmal der Nachtwind her, So geisterhaft, verlöschend leisen Klang. Beklemmend seltsam und verlockend bang. Ich hört es oft, doch diesmal dacht ich mehr … Da aber hab ich plötzlich viel gefühlt: Ich ahnt, in ihrem steinern stillen Schweigen Vom blauen Strom der Nacht emporgespült Des roten Bluts bacchantisch wilden Reigen, Um ihre Dächer sah ich Phosphor glimmen, Den Widerschein geheimer Dinge schwimmen. Und schwindelnd überkam´s mich auf einmal: Wohl schlief die Stadt: es wacht der Rausch, die Qual, Der Hass, der Geist, das Blut: das Leben wacht. 2. Wo war Hofmannsthal der Märchensammlung Tausendundeine Nacht am nächsten? In Amgiad und Assad heißt es von dem Bruder, der das Leben wie hinter einer Glasscheibe sieht: Er sieht gleichsam mit einem halben Auge übers Leben hinaus, wie einer, der träumt und die reale Welt hineinspielt, weil er nicht tief genug schläft. Gespenstisch sieht er in allen Tieren sich selbst. an der Betrachtung des Todes erwacht das Lebensgefühl 3. Schnitzler las den Text als Traumdarstellung. Worauf kann eine solche Lesart zurückgehen? Swantje Ehlers: Hermetismus als Kunstverfahren. Formalästhetische Untersuchung zu H. v. H.s »Märchen der 672. Nacht«. In: Sprachkunst 15 (1984), S. 24-30. Was gibt´s Hermetisches an dem Text? 4. Was ist gegenüber dem ersten Entwurf gestrichen worden? Entwurf 65: eine Blume oder ein Gewürz suchen, in dem Genau diese Schöheit liegt: denn direkt ist sie ihm unnahbar. suchte lange, obgleich er wußte, daß er vergeblich suchen werde, nach einer Blume, deren Gestalt und Duft, oder nach einem Gewürz, dessen verwehender Hauch ihm für einen Augenblick genau den gleichen süßen Reiz zu ruhigem Besitz geben könnte, welcher in der Schönheit seiner Dienerin lag 5. Sublimation oder welche Art der Ersatzbefbriedigung liegt vor, wenn er nach Blumen sucht, deren Gestalt und Duft, oder nach einem Gewürz, dessen verwehender Hauch ihm für einen Augenblick genau den gleichen süßen Reiz zu ruhigem Besitz geben könnte, welcher in der Schönheit seiner Dienerin lag? Durch die Hemmung von Triebansprüchen entstehen nach Freud seelische und körperliche Spannungen, die nach Ableitung drängen. Hierfür stehen folgende Abwehrmechanismen zur Verfügung. 1. die Verdrängung, als eine Art des Vergessens, 2. die Verkehrung ins Gegenteil, 3. die Projektion, bei denen eigene unerträgliche Vorstellungen, Gefühle oder Wünsche (unbewusst) anderen Personen oder Dingen zugeschrieben werden, 4. die Verschiebung (Gefühle, die an einer Stelle nicht zugelassen werden, werden an einer anderen erlebt, 5. die Sublimation als Umlenkung der sexuellen Triebenergie auf „nicht- sexuelle“ Ziele. Freud sieht in der Sublimation die eigentliche Quelle für künstlerische, geistige und körperliche Leistungen, die eine Ersatzbefriedigung darstellen. 6. Wie lesen sie den Vergleich sie umkreisen ihn wie Hunde? Schutz oder Bewachung, Berechnung 7. Was löste die schlimmen Ereignisse aus, was zwang ihn zum Verlassen seines Landhauses? Und er ballte die Fäuste und verfluchte seine Diener, die ihn in den Tod getrieben hatten; der eine in die Stadt, die Alte in den Juwelierladen, das Mädchen in das Hinterzimmer und das Kind durch sein tückisches Ebenbild in das Glashaus, von wo er sich dann über grauenhafte Stiegen und Brücken bis unter den Huf des Pferdes taumeln sah. Sein Besitzverhältnis zu dem Diener. Die Aussage als seine Sicht markiert. 8. Wie lesen Sie den Satz: Mit einer großen Bitterkeit starrte er in sein Leben zurück und verleugnete alles, was ihm lieb gewesen war. Er haßte seinen vorzeitigen Tod so sehr, daß er sein Leben haßte, weil es ihn dahin geführt hatte Leiß, Stadler, 176 Die Geschichte eines dem Leben entfremdeten Lebens und dessen Nichtigkeit 177 HvH an LvA-W: Ich gaube das schöne Leben verarmt einen. Wenn man immer so leben könnte, wie man will, würde man alle Kraft verlieren. 9. Welche Parallelel weist Wildes Dorian Gray auf? Gewächshaus-Episode in "Dorian Gray": 17.Kapitel: Landsitz Selby Royal (Dorian, Lord Henry) - Dorian geht ins Gewächshaus: fällt in Ohnmacht, da er James Vane erblickt den "unheimlichen Garten": neben dem "alten", dem "stillen" und dem "verschlossenen". Der "unheimliche Garten" bedeutet, nach Koebner[2], die verkehrte Form des "Gartens des Ästheten". Es sei ein Raum, in dem sich das "schlechte Gewissen des Künstlers gegenüber seinem Ästhetizismis" offenbare. Hofmannsthal: Die vom Erzähler vorgegebene Perspektive führt aus dem Innenraum "schöner Garten" in den Außenraum der "häßlichen Wirklichkeit". 10. Wird der Mythos vom Paradiesgarten umgedeutet? Ursula Renner[3] spricht in ihrem Aufsatz ,Pavillons, Glashäuser und Seitenwege...` von der Umdeutung des Mythos vom Paradiesgarten und dessen Verlust im Sündenfall. Žerebin sieht den Garten des Ästheten positiv: Ein viele Motive des ,Märchens` vorwegnehmendes Fragment Hofmannsthals, mit dem bezeichnenden Titel "Garten des Lebens", schließt mit dem Satz: "In seiner Todesangst ist ihm, als könnte er sein ganzes Leben wieder von sich geben in einem Ballen; trotzdem eine kühne Grabschrift." Und auch am Schluß des ,Lebensliedes` stehen die "Gärten des Lebens" für den Traumzustand des Ästheten, der "glorreich, aber gefährlich" sei. Nicht die Ausgrenzung des Lebens ist sein Ziel. Es geht, im Gegenteil, um die totale Ästhetisierung aller Daseinsbereiche, damit das Leben, im Bereich des Geistes integriert, sein letztes Geheimnis offenbaren kann. So ist es eine Vereinfachung, daß der Garten des Ästheten immer nur als ein "Zufluchtsort" gesehen wird. Er ist auch der Ort der Erkenntnis - und insofern "unheimlich", denn - wörtlich nach Freud - "unheimlich ist alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist." An der viel zitierten Textstelle wird der Kaufmannssohn dafür sehend, dass alles in seinem Garten in einer geheimnisvollen "correspondance" steht und ein Zeichen für etwas anderes abgibt. Er erkennt dieses Andere als das Gesamtleben der Welt, "das göttliche Werk aller Geschlechter", das in seinen schönen Geräten und Ornamenten verschlüsselt ist und von ihm in Besitz genommen werden kann. Er weiß oder ahnt, dass seine Innenwelt nur ein Teilreich und seine stolze Freiheit sinnlos ist, weil sie vor Augen des mächtigeren, kosmischen Schöpfers, dem er sich entgegengesetzt hat, keine Anerkennung findet. Dies mag der Sinn der Weisheit von der "Unentrinnbarkeit des Lebens" sein, an die der Kaufmannssohn sich durch die fordernden Blicke seiner Diener gemahnt fühlt. Er zieht aus, weil er von der Ahnung heimgesucht wird, das große Lebensgeheimnis, das er im Spiegel seiner Kunstschätze wahrgenommen hat, sei lediglich die Projektion seines eigenen Geistes, sein Garten sei nur ein Blendwerk, das jeden Augenblick zur Wüste werden könne. Dem Ästheten fehlt der Glaube daran, dass symbolische Zeichen, die er wahrgenommen hat, Realentsprechungen anzeigen 11. Wo wird die Welt als Projektion des Selbst wahrgenommen? Schluss des ersten Teils Md672N: der typischen Nullpunkt in der Topographie vom Weg des Ästheten. Leopold von Andrian beschreibt diesen Punkt im 'Garten der Erkenntnis' sehr ähnlich. Prinz Erwin hat hier eine Halluzination. Hinter dem Fenster erblickt er ein Frauengesicht, das ihm Zeichen gibt. Als er Licht macht, hat er vor sich kein Fenster, sondern einen Spiegel, aus dem ihm sein eigenes Gesicht entgegenschaut. Die Vorstellung von der Welt als Projektion des Selbst - diese romantische, durch Schopenhauer weitergegebene Erbschaft - bildet den Kern eines weitverzweigten narzißtischen Makrotextes, an dem mehrere Nationalliteraturen, darunter auch die russische, teilhaben. 12. Woran kann man den den Einfluss Nietzsches festmachen? Ist, schließlich, auch der häßliche Kasernenhof, auf dem der Kaufmannssohn den bitteren Tod stirbt, nur eine negative Ersatzszene für jenen Garten der Erlösung, wo die Harmonie zwischen Kunst und Leben, Geist und Fleisch wiederhergestellt werden will. Pate steht hier, offensichtlich, Nietzsche mit dessen Lobpreis der Untergehenden als Hinübergehenden: "Ich liebe den, dessen Seele tief ist und auch in der Verwundung, und der an einem kleinen Erlebnisse zu Grunde gehen kann: so geht er gerne über die Brücke."[4] Der junge Hofmannsthal scheint nicht zu wagen, seine Figuren, die sehr wohl an einem kleinen Erlebnis zugrunde gehen, über diese Brücke in den Garten der Erlösung hineinzuführen. ________________________________ [1] (geh.) mit tonloser Stimme u. einer gewissen Scheu od. Zaghaftigkeit sprechen: »Ich komme wieder«, lispelte sie ihm ins Ohr; ein gelispeltes Merci. [2] Der Garten als literarisches Motiv um die Jahrhundertwende. - In: ders.: Zurück zur Natur. Ideen der Aufklärung und ihre Nachwirkung. Studien. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. 3. Folge, Bd. 121). Heidelberg 1993 [3] Ursula Renner: Pavillons, Glashäuser und Seitenwege - Topos und Vision des Paradiesgartens bei Saar, Hofmannsthal und Heinrich Mann. - Recherches Germaniques, 1990, N.20, S.123-140 [4] Also sprach Zarathustra, Leipzig: Alfred Kroner, o.J., S.5