49 Narrative Verfahren Reinhold Schardt Woran erkennt man eine Erzählung? Welche Strukturen und Verfahren kennzeichnen sie? Diese Fragen zielen auf Universalien, auf unveränderliche und allgemeingültige Strukturen des Erzählens, die den individuellen Erzählungen zugrunde liegen. Für einfache Erzählformen wie Volksmärchen sind solche allgemeinen Strukturen früh postuliert worden (Propp 1928). Schwieriger wird es dagegen bei den literarischen Erzählgattungen, da diese von der spielerischen Auseinandersetzung, vom Bruch mit den Regeln und Konventionen der Sprache und mit den Merkmalen der Gattung und damit von historischer Veränderung leben. Deshalb kann die Beschreibung narrativer Verfahren immer nur eine relative Allgemeingültigkeit beanspruchen. Welches Modell aus der Vielzahl der Analyseverfahren geeignet ist und welche Terminologie sich im Einzelfall anbietet, muß jeweils in bezug auf die konkrete Erzählung entschieden werden. Schon Roland Barthes hat sein rigides Analyseverfahren in der Lektüre einer Novelle von Balzac zurückgenommen und für die Orientierung an der Individualität der Erzählung plädiert (Barthes 1987). Deshalb sollen hier eine Reihe von erzähltheoretischen Grundbegriffen, die zum Teil in unterschiedlichen Theoriekontexten entwickelt worden sind, anhand eines konkreten Textes vorgestellt werden. Textgrundlage ist Stifters Erzählung Der Hochwald (1842). Stifter erzählt die Geschichte einer Adelsfamilie zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Die beiden Schwestern Clarissa und Johanna leben mit ihrem Vater, dem Freiherrn von Wittinghausen, und ihrem Bruder auf einer Burg im Böhmerwald. Der Frieden auf der Burg wird vom herannahenden Krieg bedroht. Darauf entscheidet sich der Freiherr, seine beiden Töchter vor den Kriegswirren in Sicherheit zu bringen, während er selbst zusammen mit seinem Sohn und einem Lehnsmann, dem Ritter Bruno, die Burg gegen die Schweden verteidigt. Er gibt Clarissa und Johanna in die Obhut des Jägers Gregor, der auf seine Anweisung in der Abgeschiedenheit des Waldes ein Haus am Ufer eines Sees erbaut hatte. Nachdem Schutzvorkehrungen gegen Angriffe getroffen sind und sich die Schutzsuchenden im Waldhaus eingerichtet haben, vergehen mehrere Wochen, ohne daß die Kampfhandlungen die Burg erreicht hätten. Die Schwestern besteigen mit Gregor regelmäßig eine Felsenklippe, um von dort mit einem Fernrohr Ausschau auf die Burg zu halten. Die ängstliche Erwartung des Krieges mischt sich mit dem Gefühl der Sicherheit und der Ruhe in der friedlichen Abgeschiedenheit des Waldhauses, bis völlig unerwartet der frühere Geliebte Clanssas und jetzige Parteigänger der Schweden, »Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur: sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben.« (Roland Barthes) »Der Hochwald« 50 Reinhold Schardt der britische Königssohn Ronald, am Waldsee auftaucht. In einem langen Gespräch offenbaren sich beide ihre Liebe; Ronald entschließt sich, sofort zur Burg Wittinghausen zu wandern, um vom Freiherrn die Heiratserlaubnis zu erbitten und zwischen den feindlichen Parteien zu vermitteln. Wochen vergehen, ohne daß etwas geschieht. Schlechtes Wetter behindert den Ausblick auf die Burg. Nachrichten von dort treffen nicht ein. Als die Sicht besser wird, zeigt sich die Burg im Zustand der Zerstörung. Wieder vergehen Wochen ohne Nachricht, und nach längerem Warten kehren die Geflohenen zur Burg zurück. Dort berichtet ihnen der Ritter Bruno vom Tod des Vaters, des Bruders und Ronalds. Clarissa und Johanna setzen die Burg mit Brunos Hilfe wieder notdürftig instand und verbringen dort den Rest ihres Lebens. Erste Differenzierungen: Erzähleinheiten - Geschichte - Erzähldiskurs Was eine solche klassische »Inhaltsangabe« referiert, bezeichnet die strukturale Erzähltheorie, von der hier zunächst undogmatisch ausgegangen wird, als »Geschichte« (histoire), um es von dem »Erzähldiskurs« bzw. dem »Text der Geschichte« (discours) abzugrenzen. Die Unterscheidung geht zurück auf den russischen Formalismus, der von »Fabel« und »Sujet« spricht (Tomaševskij 1985). Der allgemeinsten Definition nach weist eine Erzählung demnach zwei Merkmale auf: sie hat eine Geschichte und wird erzählt - und nicht gemalt, gespielt oder getanzt. Dieses zweigliedrige Modell wurde seit dem russischen Formalismus der zwanziger Jahre stark differenziert. Die entscheidenden Impulse gingen dabei in den sechziger Jahren vom französischen Strukturalismus aus. Grundleg end ist den unterschiedlichen Ansätzen dabei die Annahme, daß sich Sprach- und Erzählstruktur analogisieren lassen. Die Formel von der Sprache als Strukturmodell der Erzählung bildet daher den gemeinsamen Ausgangspunkt strukturaler Erzähltheorien, die die Kombinations- und Differenzierungsregeln untersuchen, mit denen aus einer begrenzten Zahl von grundlegenden Handlungs- und Beziehungstypen eine unendliche Menge an konkreten Erzählungen erzeugt werden können. Von Tzvetan Todorov, Gérard Genette und Roland Barthes wird diese Analogie zwischen Sprache und Erzählung allerdings auf einer je anderen Ebene angesetzt. Insbesondere für Todorov und für Barthes (1988, 105f.) ist die Erzählung der grammatischen Struktur des Satzes vergleichbar. Dem Verb im Satz entspricht die Handlung in der Erzählung, dem Subjekt die handelnde oder leidende Person (Todorov 1972, 271f.). Genette hat dann 1972 den Erzähldiskurs in Anlehnung an die grammatischen Aspekte des Verbs als Zeitform, Aussageweise (oder Modus) und Personalform des Erzählens beschrieben. Barthes dagegen hat in der schulbildenden Ausgabe Nr. 8 der französischen Zeitschrift Communications (1966) ein Schichtenmodell erzäh- lender Texte vorgestellt. Er unterscheidet Erzähleinheiten, Handlungen -(Geschichte) und Erzähldiskurs. Im Mittelpunkt von Barthes' Drei-Schichtenmodell steht die Frage, wie sich aus den Erzähleinheiten und aus einer begrenzten Zahl narrativer Kombinationsregeln der narrative Zusammenhang von Erzählungen herstellt. Die Gesamtheit dieser Regeln wird in Anlehnung an die Linguistik als Erzählgrammmatik oder als narrative Syntax bezeichnet (Barthes 1988, 116ff.; Bremond 1964/1972, 177ff; Todorov 1968/1973, 141ff.; 1972, 272f). Keine von Barthes' drei Ebenen der Erzählung kann unabhängig Integration der Ebenen von den anderen Ebenen Sinn erzeugen. Der Sinn oder die Ordnung entsteht erst vollständig, wenn alle Ebenen zusammengefügt sind. Eine Erzählung gliedert sich in Elemente, sogenannte Erzähleinheiten, die durch verschiedene Kombinationsregeln miteinander verknüpft werden; jedoch erhält jede Erzähleinheit erst ihren vollen Sinn, wenn sie in den größeren Zusammenhang der übergeordneten Ebene integriert wird. In vertikaler Richtung werden die Erzählelemente zu immer größeren und komplexeren Sinngefügen zusammengesetzt. Diese hierarchische Beziehung zwischen den Ebenen nennt Barthes »progressiven Integrationsmodus«. Was also eine Erzählung diesem Modell zufolge auszeichnet, ist die spezielle Art und Weise, wie sie die Elemente zu einem sinnvollen Zusammenhang organisiert. Diese spezielle Organisation der Erzählung wird dann als ihre »narrative« und »diskursive« Ordnung bezeichnet; an ihr erkennen wir intuitiv eine Erzählung. Von einer narrativen Ordnung (histoire) sprechen wir also im Hinblick auf den Zusammenhang der Geschichte und ihre narrative Logik. Die diskursive Ordnung, der Erzähldiskurs (discours), beschreibt dagegen die spezifische Anordnung der Ereignisse, ihre Perspektivierung und ihre sprachliche Realisierung. Analyse der Geschichte I: Die Erzähleinheiten Die unterste und grundlegende Ebene in Barthes' Modell ist die Ebene der Erzähleinheiten (unités narratives). Der erste Schritt der Erzählanalyse besteht darin, solche Einheiten zu isolieren. Im Unterschied zur Geschichte verfügen diese nur über einen begrenzten Sinn. Wenn beispielsweise in Stifters Erzählung ein Geier geschossen wird, so ist das eine in sich sinnvolle Handlung, da es eine zielgerichtete Aktion ist. Aber erst die Verknüpfung mit anderen Handlungen zum Sinnzusammenhang der Geschichte und ihre Anordnung und Kommentierung durch den Erzähldiskurs geben dem Abschuß des Geiers einen speziellen Sinn in der Erzählung. Solche Erzähleinheiten, die eine Handlung darstellen, werden im Strukturalismus als »Funktionen« bezeichnet. Unter einer Funktion versteht man seit Vladimir Propps Märchenanalysen (1928/1972) eine absichtsvolle und zielgerichtete Handlung innerhalb einer Kette von Handlungen. Sie hat rein formal gesehen die Aufgabe, eine andere Handlung einzuführen, die wiederum dieselbe Funktion für eine weitere Handlung hat, das heißt eine 52 Rcmlwhi Schardl »Wenn uns Flaubert in Folge mehrerer Handlungen einzuleiten. Eine funktionale Handlung Ein schlichtes Herz liegt dann vor, wenn sie eine Korrelation bildet, das heißt wenn mehan« einer bestimmten Stelle rere Handlungen im Gesamtzusammenhang wechselseitig voneinanunauffällig mitteilt, daß der abhängen. Erst aus dem Resultat einer Handlung kann ihre Bedeudie Töchter des tung als Voraussetzung und logische Bedingung der Folgehandlung Unterpreffekten von rekonstruiert werden. Betrachtet man einen Handlungsverlauf vom Pont-l Eveque einen Ende, von seinem Resultat aus, dann fügen sich die einzelnen HandPapagei besaßen, so lungen mit kausaler Notwendigkeit ineinander - das erzählte Gedeshalb, weil dieser Papagei später von schehen mußte so und nicht anders ablaufen. Die Verstärkung der Sigroßer Bedeutung für cherheitsvorrichtungen im Waldhaus ist - im funktionalen Zusammenlas Leben Félicités sein nang der Hochawald-Erzählung betrachtet - eine Folge des Schusses auf wird.« (Roland Barthes) den Geier, der Schuß die funktionale Voraussetzung der verstärkten Schutzvorrichtungen. Der Schuß ist aber seinerseits Folge der Ankunft von Ronald am Waldsee usw. Die vermeintlich zwingende kausale Beziehung zwischen den Ereignissen ist eine Wirkung erzählender Texte. Denn im geschlossenen Zusammenhang einer Erzählung erscheint die reine zeitliche Aufeinanderfolge der Ereignisse immer als zwingender Kausalzusammenhang (Barthes 1988, 116ff.). Betrachtet man aber den Handlungsverlauf vom Anfang ausgehend als einen sukzessiven und zum Ende hin offenen Aufbau, so zeigt sich, daß jede Handlung mindestens zwei alternative Handlungsmöglichkeiten eröffnet: eine weitere Handlung auszuführen oder nicht auszuführen. Die Alternativen sind virtuell präsent, auch wenn nur eine der Möglichkeiten im Fortgang des Handlungszusammenhangs realisiert wird (Bremond 1964/1972, 201ff.). Eine funktionale Die Bedrohung der Burg durch das Herannahen des Dreißigjährigen Erzähleinheit Krieges stellt eine funktionale Erzähleinheit von ganz besonderem Rang dar, da sie nicht nur zwei Handlungsmöglichkeiten eröffnet, sondern auch beide realisiert: Verteidigung bzw. Verhandlung über Schonung oder Flucht vor der Kriegsgefahr in ein sicheres Gebiet. Vater und Sohn bleiben auf der Burg zurück, um sie gegen die Feinde zu verteidigen; die Töchter dagegen fliehen in das abgelegene Waldgebiet. Dadurch ergeben sich zwei bis zu einem gewissen Grade voneinander unabhängige Handlungsstränge. Narrativ wird nur der eine Handlungsstrang realisiert: die Flucht von Clarissa und Johanna aus der Burg in den Schutz des Waldhauses. Der zweite Handlungsstrang, die Verteidigung der Burg und der Tod der Verteidiger, wird nicht auf der narrativen Achse entfaltet, sondern in Berichtform vom einzigen Überlebenden erzählt. Die »weibliche« und die »männliche« Sequenz bilden in sich geschlossene Handlungsstränge. Allerdings wird der weibliche vom männlichen Handlungsstrang indirekt bestimmt, da Erfolg oder Mißerfolg des Unternehmens von Vater und Bruder über den weiteren Verbleib der Schwestern entscheiden. Die Aufenthaltsdauer und der Lebensrhythmus der Schwestern werden durch die Nachrichten von der Burg strukturiert. Deshalb ist die Kommunikationsaufnahme mit der Burg von zentraler Bedeutung. Der Krieg stellt den leitenden Gesichtspunkt der Geschichte und des Spannungsbogens dar und tritt dennoch nicht als funktionale Handlung in Erschei- 53 nung. Der Fortgang der Geschichte bis zur Zerstörung der Burg und der Familie wird ständig verzögert und aufgeschoben. Betrachtet man diesen Sachverhalt auf der Ebene der Erzähleinheiten, dann zeigt sich, daß es in dieser Erzählung Handlungen gibt, die weniger als Handlungen denn als Zeichen fungieren. Barthes hat die Erzähleinheiten in zwei Klassen unterteilt: neben den Handlungen mit einer Funktion innerhalb der Ereignislogik gibt es auch Erzähleinheiten, deren Funktion es ist, Auskünfte und Hinweise über Personen und Situationen zu geben. So weisen etwa Beschreibungen von Zuständen, Stimmungen oder Verhältnissen zumeist auf den Charakter oder die Gefühlslage von Personen hin. Diese Hinweise nennt Barthes mit einem zeichentheoretischen Begriff Indizien (indices). Durch eine solche Differenzierung wird die Beschränkung der Erzähleinheiten auf den Handlungszusammenhang aufgehoben. Während die Funktionen auf der horizontalen Achse die einzelnen Handlungen zu einer größeren Einheit kombinieren, verbinden die Indizien auf der vertikalen Achse die Ebene der Funktionen (d. h. der Handlungseinheiten) mit der übergeordneten Ebene der handlungstragenden Personen. Dazu ein Beispiel aus Stifters Erzählung: Der Abschuß des Geiers fungiert als Stellvertreter einer anderen Handlung, der Bedrohung durch den Krieg. Diese Zeichenfunktion des Schusses ist es, welche die Bedrohungssituation wachruft und die Folgehandlung auslöst. Wie die Erzählfunktionen sind die Indizien Glieder einer Korrelation. Das zweite, implizite (nicht ausgesprochene) Glied ist nicht auf der Ebene der Erzähleinheiten zu finden, sondern auf der Ebene der handelnden Protagonisten, der Geschichte oder des Erzähldiskurses. Deshalb sind die Indizien nicht sofort als solche zu erkennen, sondern müssen von einer übergeordneten Ebene aus dechiffriert werden. So ist der Krieg bei Stifter von Anbeginn Gegenstand von Berichten und Erzählungen und wird durch Zeichen ersetzt und eben nicht als Handlung dargestellt. Indizien halten den Krieg präsent und rufen eine Atmosphäre der Bedrohung hervor. Die Möglichkeit des Krieges, seine virtuelle Präsenz in den Zeichen, löst die weiteren Handlungen wie Flucht und Verteidigung aus. Auslöser der Handlungen ist nicht der Krieg, sondern der Bericht des Vaters über die Kriegsgefahr. Es gibt also in Stifters Erzählung zwei Handlungstypen: Handlungen wie Krieg, Kampf, Verteidigung, Flucht usw., die direkte und unmittelbare Folgehandlungen nach sich ziehen, und Handlungen wie Berichten, Erzählen, Interpretieren, Wahrnehmen, deren Gegenstand Zeichen (oder mit Barthes gesprochen «Indizien«) sind und die Folgehandlungen nur indirekt und verzögert auslösen. Die Handlungsfunktion der Erzähleinheiten wird dabei von der Zeichenfunktion überlagert. Das zeigt sich insbesondere an der Eingangsszene der Erzählung. Die Grundatmosphäre der Bedrohung wird hier sorgfältig aufgebaut; beginnend mit einer diffusen Gefahr, die atmosphärisch dicht im Spiegel von Johannas Erzählung vom Wildschützen dargestellt, aber erst einige Seiten später konkret benannt wird. Es handelt sich um den näher rückenden Krieg und die drohenden Verwüstungen. Der Krieg er- 54 Reinhold Schardt scheint im Vergleich mit der Bedrohung, die für Johanna von dem Wildschützen ausgeht, geradezu kalkulierbar. Der Vater berichtet in nüchterner Rede vom Herannahen des Krieges. Daß Johanna die Geschichte vom Wildschützen kolportiert, ist ein Indiz ihrer Leichtgläubigkeit und Furchtsamkeit. Clarissa dagegen wird mit den Zeichen der Gelassenheit und Rationalität, der Tugendhaftigkeit und GottgefälligDer literarische keit codiert. In den beiden Charakteren spiegelt sich in verschiedener Charakter als Produkt Form die Grundstimmung der Bedrohung wider, als panische Angst von Codierungen bei Johanna und als beherrschte Sorge bei Clarissa. Das Ausmaß der Bedrohung wird einzig durch einen sprachlichen Kontrast »indiziert«, der durch die Opposition zwischen »weißen« Schneeflocken und »schwarz«-gebrannten Mauertrümmern erzeugt wird. Dieser Kontrast bringt eine Dissonanz in die von absichtsvoller Verharmlosung geprägte Rede des Vaters und verstärkt gerade damit die Grundstimmung der Bedrohung. Dabei wird von Stifter in der Schwebe gehalten, wovon Gefahr und Bedrohung eigentlich ausgehen, ob von dem Wildschützen, von der mythisch gefärbten Natur, von einem früheren Gefährten des Vaters oder vom Krieg. Dieser Schwebezustand realisiert sich narrativ als Spiel mit der Drohung und Erwartung des Schrecklichen. Dies ist nur ein Beispiel, wie sich die Indizien, in Barthes' Modell eine Unterklasse der Erzähleinheiten, für die Analyse von Stifters Erzählung fruchtbar machen lassen. Analyse der Geschichte II: Zeitstrukturen Zur Beschreibung der Indizien und der Funktionen mußte immer wieder auf die Ebene der Geschichte vorgegriffen werden, weil die Erzähleinheiten nur als Glieder einer wechselseitig aufeinander bezogenen Kette auftreten. Das heißt: die narrativen Einheiten wurden immer als Teile einer größeren Ordnung oder eines Sinnzusammenhangs aufgefaßt. Die Geschichte ist im Hochwald auf den ersten Blick nicht erkennbar, sie verschwindet gewissermaßen unter dem Erzähldiskurs, so daß die Erzählung eigens auf die Geschichte hin analysiert werden muß. Was die Erzählung als Geschichte primär kennzeichnet, ist ihr Verhältnis zur Zeit. Jede Geschichte kann als zeitlicher Ablauf zwischen zwei Zeitpunkten, Anfang und Ende, begriffen werden. Die narratwe Achse der Die zeitliche Gerichtetheit der Ereignisse stellt den einfachen narGeschichte rativen Sinnhorizont einer Geschichte dar; als ein entfalteter Bedeutungszusammenhang verläuft jede Geschichte in einer bestimmten Richtung. Sie entfaltet ihr Handlungsgeschehen immer zwischen zwei Zeitpunkten. Der Verlauf des Geschehens ist ein Fortschreiten von einem Zeitpunkt A zu einem Zeitpunkt B. Dieses Fortschreiten wird als chronologische Sukzession oder Story bezeichnet (Forster, Lämmert). Die Geschichte beginnt mit der bereits angesprochenen Szene. Das Beisammensein der Schwestern wird durch das Eintreten des Vaters unterbrochen, der nach einigen Bemerkungen ankündigt, daß die Kriegsgefahr gewachsen sei und sie daher Zuflucht in einem Waldhaus su- Narrative Verfahren 55 chen müßten. Diese Szene eröffnet mit der Beschreibung der Idylle auf der Burg die chronologische Achse der Geschichte. Die Wiederholung dieser Anfangssituation am Ende der Geschichte markiert den Abschluß der narrativen Achse und gibt der Geschichte ihre Geschlossenheit (vgl. Todorov 1972, 272). Anfangs- und Endsituation sind nicht identisch, sondern durch eine signifikante Differenz gekennzeichnet. Wiederholt werden lediglich die Personenkonstellation und der Raum, in dem die Szene spielt. Die Differenz wird in der Geschichte in eine zeitliche Bewegung übersetzt. Eine Geschichte erzählen heißt, eine Differenz als eine Veränderung, die sich zwischen Anfang und Ende ereignet, zu konkretisieren. Die Anfangssituation ist durch eine stabile Ordnung der Lebensverhältnisse charakterisiert, die Schlußsituation durch die Umkehrung dieser Situation. Die Familienstruktur ist zerstört, die soziale Ordnung und die psychische Stabilität sind in Unordnung übergegangen. Das Ende ist zugleich der Anfang einer neuen Geschichte, in der eine neue Ordnung und eine neue Stabilität hergestellt werden. Sie wird jedoch nicht narrativ entfaltet, sondern nur durch eine Zusammenfassung auf der Ebene des Erzähldiskurses skizziert. Die Veränderung selbst wird durch mehrere Schritte vorbereitet, um dann in einem abrupten Akt Realität zu werden. Die Bedrohung durch den Krieg löst zwei getrennte Handlungsketten aus. Die Schwestern fliehen in den Wald. Die männlichen Familienmitglieder bleiben zurück, um die Burg zu verteidigen. Die zweite Sequenz wird auf der narrativen Achse nicht entfaltet, sondern nur angedeutet. Die Peripetie, der plötzliche Umschlag im Handlungsverlauf, begründet die Veränderung. Sie wird durch das Kriegsgeschehen herbeigeführt. Die Auseinandersetzungen um die Burg werden von den Schwestern nur in ihrer verheerenden Konsequenz, der Zerstörung der Burg und dem Tod der männlichen Familienmitglieder, erfahren. Die beiden getrennt ablaufenden Handlungsstränge werden erzählgrammatisch durch das Verfahren des Einschubs bzw. der Verschachtelung zu einer zusammenhängenden Erzählsyntax verknüpft (weitere Kombinationsverfahren bei Lämmert 1955 und Todorov, 1968/1973, 141ff.). In Stifters Erzählung wird das zentrale Ereignis der Geschichte nicht narrativ entfaltet, sondern in einem Bericht mitgeteilt. Bisher wurde die Verknüpfungsweise der Handlungen zu Handlungssträngen auf der Ebene der Erzähleinheiten (Korrelationsketten, Integration durch Indizien) und auf der narrativen Zeitachse beschrieben. Dabei zeigte sich, daß die Kohärenz der Geschichte nicht allein durch die Kombination von Erzähleinheiten gebildet wird, sondern der Handlungszusammenhang erst durch seine Geschlossenheit zu einer Geschichte wird. Die Geschlossenheit wird durch Wiederholung erzielt. Kombination und Wiederholung sind die elementaren erzählgrammatischen Herstellungsverfahren einer narrativen Syntax. Eine Geschichte erzählen heißt, eine Differenz als eine zeitliche Bewegung zwischen einem Anfang und einem Ende zu konkretisieren Die narrative Syntax 56 Reinhold Schardt Narrative Achse und narrative Struktur Stufen der Abstraktion: Konzeptstruktur, Allegorie, Geschichte Analyse der Geschichte III: Die Konzeptstruktur Um die Organisationsweise der narrativen Syntax und ihre Regeln präziser erfassen zu können, ist es hilfreich, die vornarrative Ebene der Bedeutungskonzepte, wie sie von Karlheinz Stierle beschrieben wurde, zu untersuchen (Stierle 1975, 1977). In seiner Systematik der Narrationsebenen verbindet Stierle Ansätze der Mythentheorie von LeviStrauss mit der strukturalen Erzählgrammatik. Er schlägt vor, die Ordnung der Geschichte in zwei Niveaus zu differenzieren: in die narrative Achse, die das Gerüst der Geschichte bildet und sich in der Dimension der Zeit entfaltet, und in die narrative Struktur, die nicht wie die narrative Achse Teil der Geschichte ist, sondern als ein selbständiges System von Bedeutungen (Stierle spricht von »leitenden Konzepten«) besteht. Die narrative Struktur der Konzepte stellt dabei die allgemeinste und abstrakteste Ebene der Geschichte dar. Auf ihr sind die Begriffe und Konzepte angeordnet, die den Zusammenhang der Geschichte steuern und organisieren. Sie bereiten die semantische Organisation einer Erzählung vor, indem sie einen Bedeutungshorizont bereitstellen, innerhalb dessen sich ein semantisch noch unstrukturierter Geschehens- und Ereigniszusammenhang zur besonderen Sinnhaftigkeit einer Geschichte entfalten kann. Sieht man einmal von Romanen ab, die die leitenden Konzepte ihrer Geschichte schon im Romantitel führen, wie Krieg und Frieden, Schuld und Sühne, Rot und Schwarz, dann ist es in der Regel schwierig, die Konzepte und ihre Struktur zu erkennen, da sie in der Geschichte nicht als Begriffe greifbar sind, sondern anschaulich dargestellt werden. Eine Geschichte kann als konkrete Verkörperung und Veranschaulichung einer solchen allgemeinen und abstrakten Konzeptstruktur, das heißt als Allegorie, gelesen werden. Die allegorischen Formen können entschlüsselt und in klare begriffliche Konzepte übersetzt werden. Häufig sind es die Personen einer Erzählung, aber auch Tiere und Gestalten aus Mythologie, Religion oder Literatur, in deren Charakter, Handeln oder moralischem Wertesystem, ihrer sozialen Rolle, ihrem Bedürfnisund Gefühlshaushalt oder ihrem psychischen Erleben sich solche Konzepte anschaulich verkörpert zeigen. Hilfreich für das Erkennen der Leitkonzepte sind reduzierende und abstrahierende Verfahren, wie vor allem Algirdas J. Greimas und Todorov sie in ihrer erzählgrammatischen Analyse angewandt haben. Dabei werden die Personen auf den vorherrschenden und prägenden Handlungstyp - die sogenannten Aktanten, in der Regel Personen, Tiere oder Götter - und die Beziehungen zwischen Personen auf den charakteristischen Beziehungstyp untersucht (Todorov 1972, 271ff.). Diese Typen lassen sich mit einem abstrakten Begriff ausdrücken und in ein Konzept übersetzen. Wendet man die von Greimas (1967/1972, 224ff.) praktizierte Aktantenanalyse auf Stifters Erzählung an, dann ergeben sich Handlungstypen, wie sie bereits von Propp im russischen Märchen festgestellt wurden. Die Grundoppositionen von Stifters Erzählung sind Frieden-Krieg und Kultur-Natur. Die Burg und die dortige Lebenssituation verkör- Narrative Verfahren 57 pern in einem zweifachen Sinne Kultur, einmal als Inbegriff der vom Menschen geschaffenen, künstlichen Welt und als Frieden zivilisierter Sozialbeziehungen. Die Burg und ihr Innenleben sind ein Produkt zivilisatorischer und kultureller Leistungen. Um seine Fürsorgerolle als Vater erfüllen zu können, nutzt der Freiherr die avanciertesten Techniken der kulturellen Entwicklung seiner Zeit: Handelsverbindungen und Nachrichtentechnik. Handel und Fernkommunikation basieren auf dem Prinzip des Tauschs (bzw. der Substitution) und der Zirkulation. Der Freiherr hat ein Kommunikationsnetz aus Boten aufgebaut, über das die Nachrichten aus den verstreuten Kriegsschauplätzen zirkulieren und in seiner Hand zusammenlaufen. Die Nachrichten ermöglichen es dem Freiherrn, den weiteren Verlauf der Kriegshandlungen und damit die Bedrohung der Burg vorherzusehen und so seiner Rolle gerecht zu werden. Die Burg stellt einen Mikrokosmos dar, in dem Ordnung, Harmonie und Frieden das soziale Leben der Familie prägen. Der Frieden dieses Mikrokosmos wird durch den Krieg bedroht, und die Natur in ihrer Undurchdringlichkeit und Wildheit wird zur Schutzzone für die bedrohte Familie. Die Nachrichtenübermittlung wird von zentraler Bedeutung für die Kommunikation zwischen der Burg (dem Freiherrn) und dem Waldhaus. Nimmt man nun einige Abstrahierungen vor, erhält man die Elementarstruktur dieser Konzepte. Die Burg steht für Ordnung und Frieden und ist von Distanz in der Kommunikation sowie Beständigkeit in den familiären Beziehungen geprägt; sie ist Inbegriff einer von Rationalität bestimmten Kultur. Der Wald steht für die Nähe und Harmonie eines herrschaftsfreien Miteinanders und für die Dynamik des Lebens; er ist Inbegriff einer romantischen Vorstellung von der Natur. Erzählungen sind durch einen vielschichtigen Bedeutungszusammenhang von Konzepten geprägt. Die Konzepte sind einander als Oppositionen zugeordnet und erscheinen formal als Gegensatz, Umkehrung und Ersetzung. Ihre Zuordnung ist abstrakt und noch nicht auf den speziellen zeitlichen und narrativen Sinnzusammenhang und seine konkrete Ordnung hin organisiert. Die narrativen Strukturen stellen die allgemeinste und abstrakteste semantische Ebene der Geschichte dar. Auf dieser vornarrativen Ebene sind die Konzepte einander in abstrakten Beziehungen zugeordnet, sie sind aber noch nicht narrativ gerichtet. Deshalb wird diese Dimension auch als Ebene der Achronie, das heißt der Zeitenthobenheit, bezeichnet. Von einer narrativen Gerichtetheit oder Organisation der Konzeptstruktur kann erst gesprochen werden, wenn sie, in einen zeitlichen Handlungsablauf überführt, zu einem Bestandteil der Geschichte geworden ist. Jede Opposition von Konzepten kann in zwei einfache und eindeutige narrative Strukturen übersetzt werden. Die elementare Form einer narrativen Struktur besteht in einem einfachen Verlauf mit einer eindeutigen Richtung zwischen zwei Konzepten. So kann etwa die Opposition lebendig-tot in eine narrative Struktur transformiert werden, in der Leben zu Tod oder Tod zu Leben wird (vgl. Stierles Analyse von Hebels Kalendergeschichte »Unverhofftes Wiedersehen«). Leitende Konzepte in Stifters Erzählung: Krieg und Frieden, Kultur und Natur Konzeptstrutktur als Oppositionsbeziehungen 58 Reinhold Schardl Konzeptstrukur und Vermittlung in mythischen Erzählungen Konzeptstruktur und Permutationen Claude Levi-Strauss hat in seinen Strukturanalysen von mythischen Erzählungen gezeigt, daß die Aufgabe von Mythen in der narrativen Vermittlung von absoluten, nicht aufhebbaren Gegensätzen wie männlich-weiblich, tot-lebendig, Kultur-Natur, Himmel-Erde, Pflanze-Tier u.a. besteht (vgl. Stierle 1977, Levi-Strauss 1958/1991, 242ff.). Sie machen narrativ, also in der Form von Erzählungen, und mit Hilfe mythisch-wunderbarer Verwandlungen den Übergang von Mensch zu Tier, zu Pflanze usw. plausibel. Beziehungen, die wie Leben und Tod durch einen absoluten Gegensatz bestimmt sind, können nur in fiktionalen Erzählungen als Übergang von einem Zustand in einen anderen vermittelt werden. Die Umkehrbarkeit der Zuordnung ist für die narrative Struktur kennzeichnend. Die entgegengesetzten Konzepte können sich in zwei gegenläufigen Richtungen zugeordnet sein, von lebendig nach tot und von tot nach lebendig. Aus der Verbindung dieser beiden narrativen Strukturen entsteht eine komplexere narrative Struktur, in der die einzelnen Bedeutungskonzepte in paradoxer, scheinbar widersinniger Weise aufeinander bezogen sind. Logisch nicht aufhebbare Gegensätze wie die zwischen Leben und Tod können mit Hilfe anderer Oppositionen in eine narrativ realisierbare Differenz übersetzt werden. Diese Ubersetzbarkeit der Oppositionen hat Levi-Strauss als Permutierbarkeit – als Möglichkeit der Vertauschung und Umstellung – bezeichnet (1973/1975, 157ff.). Werden die narrativen Strukturen verschiedener Bedeutungsoppositionen miteinander verknüpft, einige Oppositionen an verschiedenen Stellen wiederholt, so entsteht eine komplexe narrative Struktur. Das Spiel der Kombinationen, das heißt die Art und Weise, in der die Konzepte miteinander kombiniert, wie sie aufeinander bezogen und einander zugeordnet werden, ist für die Erweiterung der narrativen Struktur bestimmend. So liegt der Geschichte von Stifters Erzählung ein Bedeutungsfeld mit mehreren Leitoppositionen zugrunde: Frieden-Krieg, Handeln-Interpretieren, Mythos-Rationalität, Natur-Kultur, männlich-weiblich. Neben diesen Oppositionspaaren gibt es noch weitere, die sich auf verschiedene Weise in die Basisoppositionen übersetzen lassen. Anschließend kann untersucht werden, wie aus den Basiskonzepten die komplexe narrative Struktur im Hochwald hervorgeht. Der relevante Gegensatz zwischen den Beziehungs- oder Oppositionspaaren verändert sich je nach Kontext, wird umgestellt oder vertauscht. So entsteht über mehrere Permutationen eine Kette miteinander kombinierter Gegensatzpaare. Wird z. B. in der Eingangssequenz der Krieg dem häuslichen Frieden und der familiären Ordnung gegenübergestellt und als Bedrohung des Lebens der Familienmitglieder charakterisiert, dann ist der relevante Gegensatz dieser Sequenz die Opposition lebendig-tot. Wird andererseits in derselben Sequenz der Familienfrieden dem Leben im Wald entgegengesetzt, so ist die Opposition Kultur-Natur der relevante Gegensatz. Mit dieser letzten Umstellung hat sich die frühere Beziehung zwischen Kultur und Natur verkehrt; zunächst war die Kultur dem Leben und die Natur dem Tod zugeordnet. Nach dieser Permutation wird die Kultur mit dem Tod Narrative Verfahren 59 gleichgesetzt, weil in ihr jegliche Veränderung und Bewegung in Starrheit übergegangen ist. Die Umkehrung der Zuordnung von Leben und Tod erfolgt über eine Kette von Permutationen. In dem Handlungsstrang, der den weiblichen Familienmitgliedern zugeordnet ist, wird die Flucht in den Wald in signifikanter Weise in ihr Gegenteil verkehrt. Die Flucht wird zur Wanderung, in der die Bedeutungen einer Prozession in die geheiligte Natur und einer Begegnung mit Gott als Konnotationen mitschwingen. Die Wanderung wird so als feierlicher Akt der Grenzüberschreitung zwischen Profanem und Heiligem (profaner Welt und heiliger Natur), als Initiation in eine paradiesische Harmonie zwischen Mensch und Natur dargestellt. Die Initiation wird an dieser Stelle durch Negation, d. h. durch die Umkehrung des negativen Wertes Flucht in einen positiven Wert, gebildet. Die Transformation der Flucht in die Initiation zeigt, wie die Opposition Flucht-Initiation durch Negation in die narrative Struktur »Flucht wandelt sich in Initiation« übersetzt wird. Der Gegensatz von Flucht und Initiation stellt diese Handlungssequenz unter die Zweideutigkeit von profaner Todeserwartung und säkularisierter Heilserwartung. Diese Zweideutigkeit durchzieht die ganze Sequenz und prägt die narrative Struktur der Opposition von Leben und Tod. Sie ist dadurch charakterisiert, daß der Übergang vom Leben zum Tod (und umgekehrt) verzögert und in der Schwebe gehalten wird. Absolute, natürliche und metaphysische Entgegensetzungen wie Leben und Tod, Natur und Kultur sind - allgemein betrachtet - durch eine unüberwindbare Grenze bestimmt. Die Konzepte werden als unvereinbar und einander ausschließend gedacht. Aufgrund dieser Unvereinbarkeit bedarf es besonderer Vermittlungsformen zwischen den Gegensätzen, die als magische oder wunderbare Überschreitung der unüberwindlichen Grenze Gegenstand des mythischen Erzählens sind. Dadurch wird ein Ausgleich und ein Übergang zwischen den Gegensätzen vorstellbar (Levi-Strauss 1958/1977, 238ff.). Für Stifters Erzählung ist es prägend, daß sie Konzepte, die das mythische Denken als absolute, natürliche und metaphysische Gegensätze begreift, aufnimmt, jedoch die Übergänge zwischen diesen Konzepten anders als die Mythen plausibilisiert. Bestimmend sind ästhetische und moderne Formen der Vermittlung. So wird auf der Wanderung von der Burg zum Waldhaus der Übergang von Kultur in Natur durch die Projektion subjektiver Verschmelzungs- und Harmoniesehnsüchte in eine ästhetisch verklärte Natur erzählerisch verwirklicht. Das moderne Vermittlungsschema der narrativen Struktur im Hochwald ist anders als das mythische Schema aufgebaut; die Gegensätze werden nicht als absolut vorgestellt, Stellenwert und Qualität der Grenze haben sich verändert. Deshalb kann der Übergang als ein Auseinander hervorgehen des einen aus dem anderen und damit als Verwandtschafts- und wechselseitiges Bedingungsverhältnis dargestellt werden. Der Übergang vom Tod zum Leben wird narrativ über die Oppositionen KulturNatur, Frieden-Krieg und tugendhaft-böse bzw. -wild/leidenschaftlich durchgeführt. Ihre Vermittlung ist in der Person Clarissas angelegt. Die Grenzüberschreitungen Mythisches Denken 60 Reinhold Schardt Verlobung mit Ronald ist Zeichen ihrer Hinwendung zu Leidenschaft und Liebe. Die Liebe löst einen inneren Kampf aus zwischen dem Wunsch, sich der Leidenschaft zu öffnen, und dem sozialen Verbot, das ihr die Leidenschaft versagt und Tugendhaftigkeit von ihr verlangt. Der Kampf um die Integration der Leidenschaft in ihr tugendhaftes Leben ist die Bedingung für den inneren Frieden, den Clarissa am Ende findet. Tugend und Leidenschaft erweisen sich als komplementäre, sich notwendig ergänzende Attribute der Persönlichkeitsstruktur Clarissas. Der Erzähldiskurs Erst im Erzähldiskurs wird aus der Geschichte eine erzählte und damit im eigentlichen Sinne eine Erzählung Der Erzählakt und der Erzähler Bisher wurde die Geschichte im Hinblick auf den chronologischen und konzeptionellen Aspekt der narrativen Ordnung behandelt. Ihre endgültige Form erhält sie aber erst durch die konkrete sprachliche Gestaltung. Im Erzähldiskurs arrangiert und komponiert der Erzähler die Geschichte neu zu einem individuellen Zusammenhang. Die narrative Ordnung der Geschichte wird in die erzählerische und sprachliche Ordnung des Erzähldiskurses übersetzt, wodurch aus der Geschichte eine erzählte Geschichte und damit im eigentlichen Sinne eine Erzählung wird. Die spezielle Anordnung der Ereignisse zu einem narrativen Sinnzusammenhang im Gegensatz zur zeitlichen Gerichtetheit der chronologischen Story wird als Plot (Forster), Fabel (Lämmert) oder als Sujet (Tomasevskij) bezeichnet. Die neuere Forschung ist dazu übergegangen, die narrative Ordnung einer Erzählung als Geschichte//histoire und die erzählerische und sprachliche als Erzähldiskurs/discours du récit oder als Text der Geschichte (Todorov, Genette, Stierle) zu behandeln. Die neuen Begriffe decken sich nicht vollständig mit den alten. Der Begriff Geschichte umfaßt nicht nur die chronologische Ordnung der Story, sondern die gesamte narrative Ordnung einschließlich der narrativen Struktur der Konzepte, während die Plotstruktur durch das Schema des Erzähldiskurses dargestellt wird. Stifters Erzählung ist u. a. dadurch charakterisiert, daß die Ebene des Erzähldiskurses die Ebene der Geschichte dominiert und verdeckt. Interpretation und Umgang mit den Zeichen und der Erzählakt selbst stehen im Vordergrund; eine konsequente und klare Darstellung der Geschichte ist dagegen nicht erkennbar. Jede Erzählung lebt davon, daß sie erzählt wird, sei dies in mündlicher Form - wie die Mythen, Sagen und Volksmärchen (vgl. besonders die russische Tradition des »skaz«: Ejchenbaum 1988, I61ff.) und die klassischen, von Rhapsoden vorgetragenen Epen - oder in schriftlicher Form wie Romane oder Novellen. Der Erzählakt ist im Erzähler personifiziert und als solcher vom Autor der Erzählung unterschieden. Man nennt ihn deshalb »fiktiven Erzähler«. Der fiktive Erzähler ist ebenso Teil der Erzählung wie die handlungstragenden Personen. Er tritt jedoch anders in Erscheinung als die Handlungsträger der Geschichte, und zwar mehr oder weniger auffällig. In der Regel ist er als Narrative Verfahren 61 «Stimme« mit unterschiedlicher Intensität in einer Erzählung vernehmbar. Macht man sich bewußt, daß Autor und Erzähler nicht identisch sind, dann wird die Gesichtslosigkeit und Anonymität des Erzählers deutlich, der nur als und durch seine Stimme, die die Geschichte erzählt, wahrnehmbar ist. Anders als bei dieser sogenannten Er-Erzählung, bei der der Erzähler anonym bleibt, verhält es sich bei der IchErzählung. Der Erzähler ist nicht ständig mit derselben gleichbleibenden Deutlichkeit in einer Erzählung anwesend; er kann sich aus der Erzählung zurückziehen und die Protagonisten der Handlung in der direkten Rede (als Monolog oder als Dialog) selbst sprechen oder im inneren Monolog zu Wort kommen lassen. Analyse des Erzähldiskurses I: Erzählakt und Erzähler Das Arrangement der Geschichte kann an die Person eines Erzählers geknüpft sein oder erzählerlos mit der Darstellung der Geschichte und ihrer Personen verschmelzen. Die Verfügungsgewalt des Erzählers über die zeitliche, perspektivische und sprachliche Anordnung der Erzähleinheiten reicht von der Allmacht und -gegenwart des auktorialen Erzählers (z. B. bei Henry Fielding, Laurence Sterne, Jean Paul) bis zu seinem völligen Verschwinden. In dieser personalen Erzählsituation (Stanzel 1991) präsentieren die Personen sich und ihre Geschichte aus ihrem Denken, Handeln, Sprechen und Fühlen heraus, ohne die arrangierenden und kommentierenden Eingriffe des Erzählers. Der auktoriale Erzähler dagegen schiebt sich als wahrnehmende, ordnende und mitteilende Erzählerpersönlichkeit in den Vordergrund. Er unterbricht den Erzählvorgang der Geschichte, um die Geschichte, die Figuren und den Erzählvorgang zu kommentieren oder sich allgemeinen Reflexionen hinzugeben; er leitet die direkte Rede seiner Personen oder ihre freie indirekte Rede - erlebte Rede - durch Wendungen wie »er/sie sagte, dachte, fühlte etc.« ein und schiebt sich auf diese Weise zwischen die Gedanken, Gefühle und Gespräche seiner Charaktere und die Mitteilung an die Leser. Der auktoriale Erzähler ist kein neutraler Vermittler einer Geschichte, sondern vermischt im Erzählen die Geschichte mit seinen eigenen Wahrnehmungen und Urteilen. Allmacht und Verschwinden der Erzähler Analyse des Erzähldiskurses II: Die Zeitordnung Die Abwesenheit von Handlung stellt den Erzähler vor das Problem, Abwesenheit durch negative Handlungsweisen wie Warten und Leiden oder durch eine spezifische Gestaltung des Erzähldiskurses konkretisieren zu müssen, da nur so die Wirkung erzählten Geschehens erzielt werden kann. Das liegt unter anderem daran, daß Erzählen stark mit Handlung, Dynamik und Veränderung einhergeht. Aber schon der Akt des Erzählens selbst besitzt Handlungscharakter und somit eine Zeitkomponente. Das zeigt sich darin, daß Erzählen eine »Wir warteten fünf Stunden" 62 Reinholdt Schardt besondere Form der Darstellung von (fiktivem) Geschehen ist (vgl. Hamburger 1957/1987, 58ff. zur Erzeugung fiktiver Wirklichkeit mit den Mitteln fiktionalen Erzählens). Das darstellende Erzählen unterscheidet sich von der reinen Information. Die Sätze »Wir warteten fünf Stunden.« und »Wir warteten und warteten und warteten.« verdeutlichen den Unterschied zwischen einer Information und einem Erzählen, das eine fiktive Wirklichkeit mit Geschehens- und Handlungscharakter darstellt. Die Aussage des ersten entspricht seinem informativen Gehalt; die des zweiten ist zur zusätzlichen Bedeutung von »des Wartens überdrüssig sein« gesteigert und stellt das Warten als Geschehen dar. So wird die Zeitausdehnung des Wartens u.a. auf der affektiven Ebene erfahrbar. Neben dieser Form der Wiederholung wird die Zeitordnung des Erzähldiskurses auch durch andere rhetorische Mittel strukturiert. Weite Passagen der Hochwald-Erzählung sind durch das Ausbleiben des erwarteten Ereignisses geprägt; die Abwesenheit von Handlung bestimmt sowohl den Duktus der Geschichte als auch den Stil des Erzähldiskurses. Die Zeitordnung des Erzähldiskurses bewirkt zum Ende eine rasante Beschleunigung der Erzählung (vgl. die Zusammenfassung am Ende des 6. Kapitels). Die Plötzlichkeit der hereinbrechenden Katastrophe bildet einen starken Kontrast zum bis dahin sich nur zögernd und schleppend entwickelnden Handlungsverlauf. Erzähldauer und Dauer Solche Effekte können auftreten, da die Ordnung der Geschichte des Erzählten und die Ordnung der erzählten Geschichte sich nicht decken, sondern gegeneinander verschoben sind. Sie stehen in einem Verhältnis der Asymmetrie oder der anachronies, wie Genette (1972, 78ff.) sagt, zueinander. Der zeitliche Sinn des Erzähldiskurses ist ein Resultat des Verhältnisses zwischen der chronologischen Ordnung der Geschichte und der Zeitordnung des Erzählaktes. Eine zeitlich gerichtete Bewegung zwischen zwei Punkten - wie sie die Story prägt - kann räumlich als eine Strecke zwischen zwei Raumpunkten X und Y betrachtet werden. Man kann eine Geschichte als eine fiktive Wirklichkeit in der Vorstellung, aber auch rein formal als etwas Geschriebenes und als Text betrachten. Als Text entfaltet sich eine Geschichte strenggenommen auf der Fläche des Papiers; betrachtet man einen Text rein unter diesen räumlichen Gesichtspunkten, dann entsprechen Anfang und Ende einer Geschichte z. B. der ersten und der letzten Zeile eines Textes. Auf der Grundlage dieser räumlichen Ordnung des Textes können der Aufbau und die Ordnung einer erzählten Geschichte untersucht werden. Ein Textabschnitt von einer bestimmten Länge bezieht sich auf einen Zeitabschnitt in der fiktiven Wirklichkeit der Geschichte. Mißt man die Lektürezeit, die notwendig ist, um den Textabschnitt zu lesen, so verfügt man über ein Zeitmaß des Textes, das erlaubt, die Ordnung der erzählten Geschichte im Text mit der chronologischen Zeitordnung der vorstellbaren Geschichte zu vergleichen. Die Zeitform der erzählten Geschichte (Zeit der Textlektüre, Genette; Erzählzeit, Müller/Lämmert) steht zur Zeit der Geschichte in einem Korrespondenzverhältnis. Im Dialog entsprechen sich die Dauer des Gesprächs und die Dauer des Erzählens oder des Textes. In einer Zusammenfassung (summary, NarrativeVerfahren 63 sommaire) stehen diese beiden Zeitformen in einem Mißverhältnis (discrepancy, anachronies narratives). Die Erzähldauer ist wesentlich kürzer als die tatsächliche Dauer der erzählten Ereignisse. Über derartige Verfahren kann der Erzähldiskurs die Bedeutungen der Konzepte (z. B. Ereignislosigkeit und Statik der Situation, Ereignisreichtum und Dynamik der Handlung) steigern, aber auch zusätzliche Bedeutungen hervorbringen, so wenn ein einmaliges Ereignis unzählige Male erzählt wird oder wenn umgekehrt regelmäßig wiederkehrende Ereignisse nur ein einziges Mal erzählt werden (vgl. Rimmon-Kenan 1983, Kap. 4). Der Ereignislosigkeit und Monotonie während des Aufenthalts im Waldhaus korrespondieren auf der Ebene der zeitlichen Ordnung des Erzählten das einmalige Erzählen wiederholter Ereignisse {iterative telling) und die knappen Zusammenfassungen längerer Perioden der Geschichte. »Dieser ersten Wanderung folgten bald mehrere und mehrere[...] auch wenn sie den Blockenstein bestiegen und durch das Rohr sahen [...] - stand immer dasselbe schöne, reine, unverletzte Bild des väterlichen Hauses darinnen« (258); und weiter: »Es waren schon viele Tage und Wochen vergangen - Erwarten und Fürchten, keines war um die Breite eines Haares vorgerückt! In gleicher Schönheit, sooft sie es suchten, stand das Vaterhaus in dem Glase ihres Rohres« (261). Besonders die Kombination beider Verfahren und der Kontrast zwischen Zusammenfassung einer längeren Zeitperiode der Geschichte, was einer beschleunigten Erzählgeschwindigkeit entspricht, und dem einmaligen Erzählen des immer selben Ereignisses steigern die Bedeutung der Ereignislosigkeit und Statik der Situation. Statik und Ereignislosigkeit im Leben der Figuren werden auch durch den virtuosen Einsatz des literalen Stils besonders hervorgehoben. Der literale Stil ist neben der referentiellen Schreibweise eine von mehreren möglichen Aussageweisen des Erzählens; literaler und referentieller Stil haben eine entgegengesetzte Wirkung (vgl. Todorov 1968/1973, 115ff.). Die referentielle Schreibweise zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Leseraufmerksamkeit ganz auf die Geschichte lenkt, indem auf sprachliche Besonderheiten, Abweichungen von der Sprachnorm und formale Sperrigkeiten verzichtet wird, um das Interesse an der Geschichte und den Lesefluß nicht zu stören. Die Sprache ist in diesem Fall der unsichtbare Vermittler eines Geschehens, das außerhalb der Sprache stattfindet. Man bezeichnet diese Fähigkeit der Sprache, auf Ereignisse und Dinge der Erfahrungswelt zu verweisen und mitzuteilen, als ihre referentielle Funktion. Die bevorzugte Erzählform des referentiellen Stils ist der nüchterne und neutrale Bericht eines Geschehens. Darin ist die Sprache auf die Ereignisse und auf ihren Verlauf hin transparent. In einer Geschichte, die den Leser durch einen fesselnden Handlungsverlauf ganz in ihren Bann zieht, verschwindet die Sprache als eigenständige, Bedeutung hervorbringende Dimension und wird zum reinen Transportmittel für die Geschichte. Im Gegensatz dazu steht der literale Stil, der die Aufmerksamkeit stärker auf die Sprache selbst, d. h. auf die sprachlichen Verfahren der Darstellung und Bedeu- 64 Reinhold Schardt tungserzeugung, als auf die Geschichte lenkt. In Anlehnung an den formalistischen Begriff der Literalität (auch Literarizität) hat Todorov das als literalen Aspekt der Erzählrede bezeichnet. Besonders reflektierende und beschreibende Passagen wirken sich - das zeigt sich gerade bei Stifter - unmittelbar auf die Erzählgeschwindigkeit aus, da sie das Erzählen des Ereignisablaufs unterbrechen und dadurch die Statik der Situation im Erzähldiskurs umsetzen. Sehen und Sagen Der Fokus: Panorama und Detailsicht Analyse des Erzähldiskurses III: Perspektive und Fokalisation Die Ferne zum Ereignis Krieg und ihr Ausschluß vom Handeln zwingt die Schwestern zur Interpretation von Zeichen, die über die Realität des Krieges Auskunft geben müssen. Das Angewiesensein auf die Zeichen und ihre Interpretation macht die Schwestern von einem funktionierenden Informationsfluß abhängig und damit von der Mitteilung von Zeichen und Nachrichten - und vom Erzählen. Dieses Erzählen enthüllt sich als ein Spiel mit Empfängern von Nachrichten und Mitteilungen. Objekte dieses Spiels sind die Schwestern und auch die Leser, denen Informationen über bestimmte Ereignisse vorenthalten werden. Für diese Erzählweise ist etwa charakteristisch, daß beide Hauptfiguren zu keiner Zeit über ein größeres Wissen verfügen als die Leser. Die Erzählung hält für Leser wie für die Protagonisten Wissen begrenzt. Dies führt zu einem weiteren Grundbegriff (Kategorie) des Erzähldiskurses. Es handelt sich um die Wahrnehmung bzw. die Perspektive. Ein Erzähler teilt nicht nur einfach etwas mit, sondern er teilt mit, was er zuvor wahrgenommen hat oder beim Erzählen wahrnimmt. In der Erzähltheorie wurde dieser Unterschied auf die Begriffe Sehen und Sagen gebracht und besonders von Genette in Figures III (1972) mit den Begriffen voix (Stimme, Ausdruck) und focalisation genauer beschrieben. Der Ausdruck focalisation entspricht nur ungefähr den Ausdrükken Perspektive, Standpunkt (point of view) oder Blickwinkel, wie sie von Stanzel (1991) und der angelsächsischen Erzählforschung benutzt werden. Fokalisation bezeichnet den Sachverhalt, daß in der Wahrnehmung die Ereignisse nie rein als solche, sondern immer schon durch einen Filter vom individuell gewählten Blickwinkel der wahrnehmenden Person aus erscheinen. Was gesehen wird, ist dadurch bestimmt, von wem wahrgenommen wird. Ein Ereignis, Gefühl oder Zustand erscheint in Abhängigkeit vom jeweiligen Fokus; je nachdem, auf welchen Punkt die Scharfeinstellung der Wahrnehmung (der Fokus) gerichtet ist, kann eine Detailansicht oder eine panoramatische Übersicht vorliegen. Ein Erzähler teilt mit, was er oder die Protagonisten der Erzählung sehen. Entsprechend der Unterscheidung zwischen Wahrnehmen und Erzählen muß zwischen dem Arrangieren des Wahrgenommenen, also den Ereignissen, Empfindungen und Gedanken (zeitliche Ordnung des Erzählten), und dem Ordnen und Komponieren des Erzählens (Ordnung des Erzählens) differenziert werden. Ein Erzähler kann die handelnden Protagonisten selbst sprechen las- ■ Narrative Verfahren 65 sen, ohne deren Fokalisation vollständig zu übernehmen; er kann aber auch die Fokalisation der Protagonisten ganz in den Vordergrund treten lassen. Teilt sich eine Person im inneren Monolog selbst mit, dann ist nicht nur die Erzählerrolle auf die empfindende und reflektierende Person übergegangen, sondern es wurde auch der Wahrnehmungsfokus verändert. Im inneren Monolog wird die Außenwahrnehmung des Beobachters aufgegeben und durch die innengerichtete Wahrnehmung des Erlebenden ersetzt (interne Fokalisation). In Stifters Erzählung mit ihrem auktorialen Erzählmodell liegt eine panoramatische Beobachterposition mit Außenwahrnehmung auf die Ereignisse vor. Diese externe Fokalisation wird besonders am Anfang und am Ende der Erzählung deutlich, wo die Stimme des Erzählers die Leser anspricht und das selbst Gesehene und Erlebte beschreibt und kommentiert. Der Erzähler gibt jedoch mit dem Beginn der eigentlichen Geschichte die externe Fokalisation auf und verschwindet beinahe vollständig in der Darstellung des Geschehens. Dem entspricht die begrenzte Wahrnehmungsweise Clarissas. Dabei handelt es sich um einen Fall von »interner Fokalisation«. So setzt sich die Dominanz des Erzähldiskurses über die Geschichte über das Ende der Geschichte hinaus fort. Am Ende der Erzählung triumphiert der Erzähler über die Vergänglichkeit und das Vergessen der Natur, die in der Geschichte die Kultur überdauert. Das Erzählergedächtnis verfügt über ein umfassendes Wissen, das auch die Erinnerungen an die Geschichte und ihre Personen miteinschließt. Als autonomer Erzähler hält er die Fäden des Erzählens in der Hand. »Mit Hilfe der Askese soll es manchem Buddhisten gelingen, eine ganze Landschaft aus einer Saubohne herauszulesen. Das hätten die ersten, die Erzählungen analysierten, gerne gekonnt: alle Erzählungen der Welt {sie sind Legion) aus einer einzigen Struktur herauszulesen.« (Roland Barthes) Weiterführende Lektüre Folgende Sammelbände enthalten wichtige Arbeiten der Erzähltheorie des französischen Strukturalismus in deutscher Übersetzung: Blumensath (1972), Strukturalismus und Literaturwissenschaft; Gallas (1972): Strukturalismus als interpretatives Verfahren und Ihwe (1972) (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Gute Uberblicksdarstellungen zur Erzähltheorie bieten u.a. Fietz (1982): Strukturalismus. Eine Einführung; Ludwig (1982) (Hg.): Arbeitsbuch Romananalyse; Rimmon-Kenan (1983): Narrative Fiction. Contemporary Poetics und Lodge (1993): Die Kunst des Erzählens. Neue Forschungsansätze zur Erzähltheorie bieten u.a.: Paul Ricoeur (1989): Zeit und Erzählung und Zeit und Literarische Erzählung; Hayden White (1990): Die Bedeutung der Form.