Zwölf Regeln für literaturwissenschaftliche Hausarbeiten 1. Bei einer literaturwissenschaftlichen Arbeit geht es nicht um die Bedeutung der Literatur 'für mich', sondern um die Analyse und Situierung eines Textes in dessen historischem Zusammenhang. Von sich selbst sollte der Verfasser möglichst absehen. Das erfordert keinen völligen Verzicht auf die Ichform, aber doch Zurückhaltung. 2. Das Thema ist sorgfältig zu wählen und genau zu beachten, Wort für Wort zu prüfen und gegen Nachbargebiete klar abzugrenzen. Bei Unklarheiten oder Unsicherheiten sprechen Sie besser rechtzeitig mit dem Seminarleiter. Suchen Sie vor der eigentlichen Bearbeitung das Gebiet und das Material möglichst gut zu überschauen, und schränken Sie bei Gefahr der Überforderung lieber das Thema - nach Rücksprache - etwas ein. 3. Fragen, Differenzieren und Unterscheiden sind zentrale Formen wissenschaftlichen Arbeitens. Schlüsseln Sie das Thema bzw. das Material von den verschiedensten Gesichtspunkten her auf. Eine differenzierte Erfassung von Nuancen ist besser als plakative Pauschalaussagen, die der Kontrolle am Text dann meist nicht recht standhalten. 4. Man sollte möglichst wenig mit ungenauen Informationen und Vermutungen arbeiten. Hilfreich können hypothetische Überlegungen vor allem als Motor zu weiteren Ergebnissen sein, hermeneutisch gesprochen: als Vorentwürfe zu einer Interpretation, die dann jeweils wieder an den einzelnen Befunden der Textanalyse überprüft werden müssen. 5. Vorsicht bei Werturteilen! Der literarische Geschmack - auch Ihr eigener - unterliegt wie die Kleidermode dem Wandel. Betrachten Sie ältere Texte zunächst durch die Brille der Zeitgenossen. (Rezeptionsästhetisch formuliert: Rekonstruieren Sie den Erwartungshorizont, auf den der Text traf). Bedenken Sie die zeit- und gruppenspezifischen Bedingungen damaliger und späterer Stellungnahmen wie auch Ihres eigenen Urteils. 6. Verwenden Sie die eingeführten Fachbegriffe (z. B. Ironie, Metapher, auktorialer Erzähler) nicht unreflektiert und leichtsinnig. Hier kann man sich schnell blamieren. Prüfen Sie, wenn sie unsicher sind, die Verwendungsweise von Termini anhand eines Fachlexikons (z. B. Gero von Wilperts 'Sachwörterbuch' oder des 'Metzler Literatur Lexikons', möglichst jeweils in der neuesten Auflage) genau nach. Noch schlimmer ist es allerdings, wenn man aus Unkenntnis zu sicher ist; deshalb lieber einmal mehr nachschlagen. Andererseits sollte man nicht blindlings auf 'Definitionen' aus Nachschlagewerken bauen. Viele Fachausdrücke sind historischem Wandel unterworfen oder in ihrer Geltung innerhalb der Literaturwissenschaft umstritten. Auf keinen Fall sollte man sich mit der bloßen 'Anwendung' von 'Definitionen' auf einen literarischen Text begnügen. 7. Unnötig sind die sogenannten 'Werkstatt-' oder 'Regiebemerkungen' (Meyer-Krentler). Sagen Sie nicht umständlich, was Sie tun wollen oder getan haben, sondern tun Sie es. 8. Versuchen Sie bei der Textanalyse der Hauptgefahr der bloßen Paraphrase zu entgehen. 9. Belegen Sie Ihre Ergebnisse durch Textstellen, eventuell durch bloße Stellenangabe ohne ausdrückliches Textzitat. Mancher garniert allerdings seine Arbeit mit Zitaten, ohne zu bemerken, daß diese seine Behauptungen gar nicht wirklich belegen. Man sollte also darauf achten, daß ein Zitat die angestrebte Deutung auch stützt. Reißen Sie im übrigen die Belege nicht ungeprüft aus dem Kontext, sondern berücksichtigen Sie die durch Rollensprecher (z. B. im Drama) oder den Stellenwert im Zusammenhang mögliche Relativierung. Und: Vermeiden Sie, die Zitate grammatisch zu verbiegen. Werden einzelne Wendungen oder Begriffe umgeformt und nicht mehr ganz wörtlich zitiert, sollten sie in 'Häkchen' ('halben Anführungszeichen') stehen. 10. Vermeiden Sie die bloße 'Eindrucksbeschreibung' von Texten ("ansprechend", "ergreifend", "poetisch", "geistreich"). Führen Sie derartige Eindrücke vielmehr auf Textphänomene - grammatikalisch, metrisch, erzähltheoretisch usw. faßbare Kennzeichen - zurück und beschreiben Sie diese. 11. Wer von formalen Details ausgeht, sollte es umgekehrt nicht bei deren Benennung bewenden lassen. Notwendiges Pendant ist allerdings nicht der persönliche Eindruck, sondern die Frage nach der Funktion der Formelemente. Zu prüfen ist etwa auch, ob sie auf überindividuelle (Gattungskonventionen, Zeitklischees) oder individuelle (Absichten des Autors, besonderer Erfahrungshorizont) Faktoren zurückgehen. 12. Forschungsliteratur sollte man zunächst zur Einführung in das Thema heranziehen. Sodann dient die Auseinandersetzung mit ihr dazu, eigene Beobachtungen und Deutungen von Texten und historischen Konstellationen zu entwickeln. Man sollte also - auch wenn dies zunächst nicht erreichbar scheint - das Ideal haben, mehr zu sehen, als bisher zum Thema gesagt wurde. Hauptverbündeter und wichtigster Beweishelfer ist dabei der Text und seine Kontexte. In der Arbeit selbst muß man an jedem Punkt auf die Forschung verweisen, auf die man sich jeweils stützt. Das Literaturverzeichnis am Ende genügt nicht zum Nachweis.