Hermann Grab: Proust-Vortrag - 465 - in: Cramer, Doortje: Von Prag nach New York ohne wiwederkehr. Leben und Werl Hermann Grabs *1903-1949+. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1994. Quelle: Teilnachlaß Hermann Grabs im Besitz Karl Hobis, Vättis (Schweiz) (Bei dem Typoskript handelt es sich um eine Abschrift Hobis.) Marcel Proust als Halbjude gehört, so wird man sagen, nur zur Hälfte in den Kreis der hier besprochenen Autoren. Aber mit Verwendung bekannter Methoden wird man ihn vielleicht dennoch zur Gänze hierher zu zählen haben. Was uns allerdings im ernstlichen Sinne bestimmen muss, in diesem Rahmen unser Augenmerk auf Proust zu lenken, ist zunächst die Tatsache, dass hier manche spezifisch jüdische Problematik in sehr spezifischer Weise aufgedeckt wird, vor allem aber eines; wir haben es bei Proust mit einer Erscheinung von so ungewöhnlichen Ausmassen zu tun, mit einem Romancier von so epochaler Bedeutung, im echtesten Sinne des Wortes, in jenem Sinne nämlich, dass er der Epoche vorangeeilt ist, deren Signum wir noch heute vielfach tragen, kurzum, wir haben eine Gestalt von so eminenter Wichtigkeit vor uns, dass, wollte man sich auf den Standtpunkt stellen, nur die Hälfte habe im Hinblick auf den hier angeschnittenen Fragenkomplex zu gelten, es die Erwiderung gäbe, eine solche Hälfte reicht wahrhaftig aus. Es ist übrigens zu bemerken, dass es in Frankreich befremdend wirken würde, wollte man noch ein Wort verlieren zur Würdigung Marcel Prousts, so selbstverständlich, so unumstritten ist der höchste Rang, den man seinem Werke einräumt. Auch in den angelsächsischen Ländern hat Proust schon längst die Stellung eines Klassikers bezogen. Sein Einfluss auf die Literatur ist ein eminenter. Dass in deutschsprachigen Ländern Proust noch in weitesten Kreisen unbekannt ist, dafür Hessen sich fraglos nur rein äusserliche Gründe finden. Aber keinem Kenner der französischen Literatur scheint es nur im mindesten zweifelhaft, dass Proust schliesslich auch in den Augen der ganzen Welt das vorstellen wird, was heute Balzac, Stendhal repräsentieren. Ich will zunächst über Leben und Werk des Dichters ein paar knappe, äusserliche Tatsachen berichten, will dann, so fragmentarisch es auch die kurze Zeitspanne schon nötig macht, etwas zur Analyse des Werkes sagen und schliesslich versuchen, auf jene Beziehungen einzugehen, welche die Gestalt Proust's mit Problemen des Judentums verbinden. Marcel Proust ist geboren am 10. Juli 1871 in Paris. Man sagt, die Aufre- - 466 - gung, die seine Mutter während des Krieges zu überstehen hatte, hätte >dj*| Schwäche seiner Gesundheit, die Übersensibilität seines Nervensystems entrf scheidend mitbedingt. Der Vater, sehr prominenter Mediziner, Professor der Hygiene, entstammt einer katholischen Familie, die Mutter, mit dem Mädchen-3 namen Weil genannt, ist Jüdin. Mit der Mutter, heisst es, habe er die stärkere Ähnlichkeit gehabt. Sie war übrigens offenbar das Vorbild einer verständnisvollen, hilfsbereiten Mutter, man muss es betonen, denn die Anhänglichkeit an seine Mutter war für ihn einer der bestimmtesten Faktoren. Ihr Tod im Jahre 1905 ist mit mathematischer Genauigkeit als sein schmerzlichstes Erlebnis zu j bezeichnen. Als Gymnasiast hatte er einen Fragebogen auszufüllen, in welchem nach Lieb-lingsbeschäftigung, Lieblingsbüchern, Lieblingsblumen und ähnlichem gefragt war. In die Rubrik, die nach der Vorstellung vom grössten Unglück fragte,' schieb er: "etre separe de maman". In die Zeit der Kindheit fällt der Ausbruch seiner schweren Krankheit: asthmatische Anfälle, die ihn in gewissen Abständen immer wieder furchtbar peinigten, ihn während seines ganzen Lebens ständig bedrohten. Im übrigen hat sich in diesem Leben äusserlich nichts Ungewöhnliches ereignet. Verschiedene Studien werden auf Wunsch der Eltern versucht, die Krankheit tritt immer wieder dazwischen und auch die immer stärkere literarische Neigung, der er schliesslich auf Grund von materieller Unabhängigkeit schrankenlos nachgeben kann. Aber es kommt zunächst nicht viel dabei heraus. Mit 24 Jahren publiziert er allerdings einen Band, "Les plaisirs et les jours" betitelt, eine Sammlung kleiner Skizzen. Das Buch kommt in Luxusausgabe heraus, mit einem schmeichelhaften Vorwort von Anatole France versehen, illustriert von Madelaine Lemaire. Kompositionen von Reynaldo Hahn sind auch dabei, eine Ästhetenangelegenheit der Jahrhundertwende, das zeigt sich schon von aussen. Und wirklich, bedeutend wird man das Buch nicht zu nennen haben. Nur hie und da . leuchtet eine Wendung auf, wie etwa der Satz "les malades se sentent plus pres de leur äme (Die Kranken fühlen sich ihrer Seele näher)". Nur gelegentlich gibt es so eine Vorahnung vom künftigen Proust. Nach diesem Buch schreibt er nichts, oder so gut wie nichts. Er verbringt sein Leben in Gesellschaft, in intellektueller Gesellschaft, und mehr noch in mondäner. Er führt das Leben eines Snobs, das muss man sagen. Die aristokratischen Namen haben für ihn den höchsten Glanz, die Häuser der Aristokratie sind ihm ein Feenreich. Es werden recht merkwürdige Dinge erzählt über die Methoden, die er anwandte, um seine mondänen Ambitionen zu befriedigen, Dinge, die an sich recht fragwürdig wären, stünden sie nicht bei Proust in besonderer Beleuchtung da, in Beziehungen, auf die wir noch zurückzukommen haben. Er ist übrigens das, was man einen erfolgreichen Snob nennen kann. Mit der Prinzessin Mathilde, mit der Baronin Rothschild geht er zum Schneider, das ist so ungefähr sein Leben. Aber plötzlich - er ist 35 Jahre alt - gibt es einen Bruch. Die Mutter stirbt, er zieht sich vom mondänen Leben zurück und in der Einsamkeit, die er nur selten verlässt und in der er auch selten jemanden empfängt, hier wächst sein grosses Werk, die Romanserie "A la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit)". Zuerst sollen es nur drei Romane sein, es weitet sich aber immer mehr, es werden sieben Romane, im Ganzen 15 Bände. - 467 - Im Jahre 13 ist er so weit, den ersten Roman erscheinen zu lassen, "Du coté de chez Swann". Er muss ihn auf eigene Kosten drucken lassen. Das Buch hat einen Achtungsertolg im Kreise einiger Literaturkenner und wird im übrigen nicht sehr bemerkt. Aber im Jahre 19 ändert sich die Situation, der zweite Roman erscheint, "A l'ombre des jeunes filles en fleurs (Im Schatten der jungen Mädchen)" und das Werk wird mit dem Goncourtpreis prämiiert. Proust ist damit der Mann des Tages geworden. Er freut sich über den plötzlichen Ruhm, über die plötzliche Verehrung, deren Zeichen er in seinem Krankenzimmer entgegennimmt. Aber er konnte sich nicht lange freuen. Am 18. November 1922 ist Marcel Proust gestorben. Die Persönlichkeit - sie lässt sich in Kürze nicht charakterisieren -, in ihrer Ubersensibilität, in ihrer Lebensangst und Lebenssehnsucht, mit ihren skurrilen, oftmals schiefen, oftmals raffinierten Wegen, sie führen alle dazu, uns letzten Endes eines aufzudecken, eine kaum dagewesenen Güte, ein kaum dagewesenes Mitleid mit aller Kreatur. Man lese die Biographie von Pierre Quint, sie ist voil erschütterndster Details. Die Publikation des gesamten Werkes hat Proust nicht mehr erlebt. So, wie er es uns hinterlassen hat, ist es vollendet und zugleich auch nicht vollendet, unvollendet allerdings in einem nicht sehr gravierenden Sinn. Er hätte noch hier und dort eine Partie eingefügt, hätte sozusagen noch einen oder den andern Raum möbliert. Aber das Gebäude ist fertig gebaut, die Linien nehmen ihren klaren eindeutigen Verlauf. Was geht vor in diesem Werk? So wird man natürlich fragen. Eine Antwort darauf zu geben, ist unendlich einfach und unendlich kompliziert zugleich. Denn, was uns hier gezeigt wird, ist nicht mehr und nicht weniger als der Ablauf eines Lebens, der Lebenslauf eines Erzählers. in der frühen Kindheit setzt es ein, der erste Band spielt in Combray, in einem Landhaus, das die Familie vereinigt. Hier in der Gegend von Combray sind die meisten von den Personen verwurzelt, die wir in den späteren Bänden durcheinander spielen sehen, aus dieser Gegend, kann man sagen, steigt das ganze Romanwerk auf. Hier leben auf ihrem Schloss, nur von Ferne gesehen und bewundert, der Herzog und die Herzogin von Guermantes, deren Name die Phantasie des Knaben in die merowingische Vorzeit führt, sich mit der Glasmalerei der Kirchenfenster in Combray und den Bildern der Laterna magica zu einer Welt von märchenhafter Pracht verbindet. Hier hat auch Herr Swann seinen Landbesitz. Wir sehen ihn als freudlich harmlosen Nachbarn, seine abendlichen Besuche bedeuten allerdings mitunter ein schmerzliches Ereignis, weil die Mutter dann nicht zu dem Knaben hinaufkommt, um ihm den Gute-nachtkuss zu geben. Die folgenden Bände führen dann sozusagen in die grosse Welt, nach Paris, vor allem aber auch in die Normandie, in das Seebad Balbec und für eine kurze Episode nach Venedig. In Paris zeigt sich Swann in einem neuen Licht. Geborener Jude mit ungewöhnlichen sozialen Ambitionen, mit ausserordentli-chem Takt und mit Geschmack begabt, ist es ihm gelungen, in den höchsten Kreisen festen Fuss zu fassen. Er ist ein Freund des Prinzen von Wales, des Hauses Orleans und der Guermantes. Seine Ehe mit Odette, einer Kokotte, zeigt ihn in anderen sozialen Situationen, die er allerdings bezogen hat, ohne - 468 - dass sich an seinen aristokratischen Freundschaften etwas geändert Erst die Dreyfus-Krise und sein energisches Bekenntnis für Dreyfus bi( eine Wendung mit sich. In dem Leben Swanns ist das Leben des Erzählers gewissermassen vorgo^j formt. Was für Swann Odette bedeutet, das ist für den Erzähler seine Freun*'.': din Albertine. Eine unglückliche Beziehung von Eifersucht zerquält, die auch nach dem Tode der Geliebten durch Aufdeckung ihrer lesbischen Beziehungen immer neue Nahrung sucht. Ähnlich wie Swann hat sich auch der Erzähler gesellschaftlich postiert. Auch in seinem Leben steht die aristokratische Gesellschaft im Vordergrund. Damit ist aber auch das soziale Terrain bestimmt, auf dem wir das Romanwerk sich bewegen sehen. Es bewegt sich in der Tat nur zwischen Grossbürgertum und Hochadel. ,. ; Gegen diese soziale Begrenzung hat man Vorwürfe erhoben, Vorwürfe, die auf den ersten Anhieb treffend scheinen. Wir sehen nur die Leidenschaften und die Sorgen reicher Menschen, wir sehen von allen anderen Schichten gerade nur. die, mit welchen diese Menschen in Berührung kommen, und sehen sie nur so, wie sie mit ihnen in Berührung kommen, - Dienstboten, Kellner und Kokotten -" : das ist alles. Aber der Vorwurf der Einseitigkeit und Abseitigkeit ist nur vom. oberflächlichen Betrachter zu erheben. Denn abgesehen davon, dass unter dem Lichte der Kunst Allgemein-Menschliches in jeder noch so dünnen sozialen Schicht in Erscheinung tritt, ist eines mit allem Nachdruck zu betonen: Bei kaum einem modernen Autor sehen wir die Menschen gerade in ihrem gesellschaftlichen Sein so problematisch wie bei Proust, bei kaum einem ist ein so starker, wahrhaft sozialrevolutionärer Effekt verspürbar. Und eben von der Betrachtung der oberen Schicht her ergibt sich dieser Effekt. Nicht allerdings durch irgend eine Art von Tendenz-Literatur. Die Menschen, die uns vorgeführt werden, sind zum grössten Teil durchaus harmlos und anständig, aber, was' erdrückend wirkt, ist die immense innere Fragwürdigkeit der von Proust gesehenen Welt, die innere Fragwürdigkeit der Menschen, der Beziehungen, der Gesellschaft im Ganzen. Ehe ich aber diese Dinge bespreche, habe ich noch ein paar Äusserlichkeiten zu dem Werke zu sagen. Ich nenne von weiteren Figuren noch die Person der Grossmutter mit ihrer Weisheit, mit ihrer Diskretion und ihrer Tapferkeit, eine. der schönsten Romanfiguren, die wir kennen. Ich nenne Francoise, das Faktotum, treu, boshaft, beschränkt, ein Stück französischen Bauerntums in die Pariser Luft verpflanzt. Unter den Guermantes ist neben dem etwas harmlosen Saint-Loup eine einzigartige, grandiose Figur zu nennen, ein einzigartiges psychologisches Meisterstück, der Baron Charlus, eine Mischung von Bosheit und grenzenloser Güte, ein Päderast, bigott, närrisch, ein scharfer Intellekt, grotesk in seinem Adelsstolz, bewundernswert in seiner Bildung, ein Konglomerat aller Leidenschaften, Tugenden und Laster. Wir haben noch den Schulkollegen Bloch zu nennen, den alten Diplomaten Norpois, die etwas deklassierte Madame de Villeparisis, die intellektuelle Furie der Madame Verdurin, den Komponisten Vinteuil, den Maler Elstir (zu dem, wie man sagt, Claude Monet Modell gestanden hat) und den Schriftsteller Bergotte (in dessen Gestalt man Anatole France wiederzufinden glaubt). Fragt man sich, was Proust mit diesen Menschen anfängt, dann muss man - 469 - sagen, er zeigt nur, wie sie leben, nicht mit grossen äusseren Erschüttefrungen, und dennoch für uns in höchstem Masse erschütternd, ganz einfach, weil sie in unseren Augen in höchstem Masse wirklich sind. Zeitlich erstreckt sich das Werk von den Siebzigerjahren bis in unsere Tage, und wir haben damit zugleich die lebendigste Bilderfolge der verschiedenen Jahrzehnte, von der Dreyfuskrise vor allem, vom Krieg und auch von der Nachkriegszeit. Was sich vom Erzähler aus begibt, kann man, um es kurz und banal zu sagen, folgendermassen zusammenfassen: In dem Masse, in dem er den Dingen, den Menschen, der Gesellschaft näherrückt, wird er immer mehr desil-lusioniert. Zum Schluss trifft sich alles nach dem Kriege auf einer Gesellschaft bei einem Guermantes. Die persönlichen, die gesellschaftlichen Barrieren, die Unterschiede, welche in der Jugend immer wieder das Objekt einer masslosen Neugier und Erregung waren, sind zum Teil gefallen, zum Teil vergessen, zum Teil belanglos geworden. Nicht etwa, dass der Rahmen der Gesellschaft jetzt schon auseinandergefallen wäre, aber die persönlichen Veränderungen sind im höchsten Grade symbolisch, und die Gesellschaft selbst wiederum ist symbolisch zu nehmen für jene objektive Gleichgültigkeit, in die wir die Dinge angesichts des Todes verfallen sehen, für jene wahrhaft verlorene Zeit - um diesem Titel die handgreiflichste, gröbste Deutung zu geben -jene verlorene Zeit, die eine wiedergefundene Zeit nur mit Hilfe gewisser, innerer Ereignisse, welche vollkommen abseits von dem herkömmlich für wichtig gehaltenen Erleben liegen, aber bei denen allein die Kunst ansetzen muss. Allein diese Ereignisse kann die Kunst ergreifen, um so in die Sphäre der Ewigkeit vorzustossen. Wo liegt der Ansatzpunkt der Proustschen Kunst? Was ist also, grob gesprochen, das Besondere seiner Art? Dass es ein sehr Besonderes, vollkommen Neues ist, das uns hier begegnet, wird auch schon auf den ersten Anhieb evident sein. Ich möchte zunächst, um etwas von der Proustschen Manier anschaulich zu machen, eine Stelle aus dem Romanwerk vorlesen. Die Stelle handelt von der Frühzeit des Telefons. Der Erzähler befindet sich in Doncieres in einer Garnison, wo er seinen Freund Saint-Loup für längere Zeit besucht, und will von hier aus mit seiner Grossmutter telefonieren, die er in Paris weiss: "..." Was uns hier wohl zunächst auffällt, ist ein ganz ungewöhnlicher Reichtum an dem, was man gemeinhin als Psychologie zu nennen pflegt, ein Reichtum an Nuancen, eine Fähigkeit exaktester Differenzierung. Die Differenzierungen sind das erste Moment, welches die Kunst Prousts uns besonders nahebringt. Was immer er zeigt, die verschiedenen Formen des Einschlafens und Aufwachens, die Art, wie ein Kunstwerk uns entzückt oder enttäuscht, ein Liebespaar, wie es in seinen Gesprächen den Akt des physischen Besitzes umschreibt, einen Menschen vor dem Krankenbett eines andern, immer und überall muss man sich sagen: gerade so habe ich das empfunden, mit der letzten Exaktheit, mit den allerletzten Nuancen ist das hier gezeigt. Dass bei Proust die Kunst der Nuancierung in erster Linie steht, das werden wir aber nicht als blosse Zufalls-Tatsache bezeichnen können, sondern eben mit dieser Tatsache ist das Romanwerk Prousts tief in der Zeit verwurzelt und im Ablaufe der Geschichte. Gerade mit dieser Tatsache ist es im höchsten - 470 - Grade aktuell und zugleich im höchsten Grade überaktuell. (Denn nur, was : aktuell ist, kann ja einen Anspruch auf Überaktualität erheben.) "i! Warum ist diese Kunst als aktuell zu bezeichnen oder zumindest als aktuell im Augenblick ihres Auftretens? Man wird sagen, wir sind Nervenmenschen, wir brauchen eine Nervenkunst. Eine solche Deutung liesse sich vielleicht schon in der Voraussetzung bestreiten, zeigt aber vor allem nur eine Oberfläche. Man muss nach tieferen Gründen forschen, muss gewisse Hintergründe des allgemeinen Geschichtsverlaufes aufzudecken suchen. Eine allgemeine geschichts-philosophische Konstruktion, wie ich sie zur Klärung des Tatbestandes gerne zeigen würde, kann ich allerdings in der Kürze hier nicht versuchen. Nur auf eines möchte ich mir gestatten, Ihr Augenmerk zu lenken. Sieht man sich in der universal-historischen Linie die Veränderungen der symbolischen Formen an, in denen der Mensch sich äussert, dann wird man meiner Meinung nach recht deutlich eines konstatieren können. Das, was man etwa Gestalt des Lebens nennen kann, ist zunächst ausserordentlich greifbar, ist gewissermassen körperlich gegeben. Der Geist, das Gesetz, die Kunst manifestiert sich körperlich monumental. Dass allerdings beim Judentum, und gerade beim Judentum die Dinge anders liegen, scheint mir, nebenbei gesagt, einer der entscheidendsten Gründe für die ganz spezifische Weltstellung des Judentums zu sein. Wir werden aber in anderem Zusammenhange noch diese Frage streifen und haben uns vorläufig noch die allgemeine Entwicklung anzusehen. Die Gestalt, sagte ich, manifestiert sich ursprünglich in der Oberfläche, ist in der Oberfläche greifbar, in der Oberfläche liegen grell und scharf gegeneinander abstehend die Kontraste des Lebens. Und was ist nun die Entwicklung? Die Gestalt zieht sich immer mehr aus der Oberfläche zurück, verliert damit sozusagen die Kraft, die Oberfläche in ihre wenigen klaren Kontraste zu gliedern, die Konturen verschwimmen, die Farbenflächen zersplittern sich gleichsam, spielen immer stärker durcheinander. Die Oberfläche wird immer vibrierender, das Leben wird also, um es kurz zu sagen, immer impressionistischer. Die dahinterstehende Gestalt ist jetzt durch die reich schattierte Oberfläche hindurch nurmehr in blassen Konturen sichtbar. Ich darf Sie hier nicht mir diesen äusserst komplizierten, geschichtsphilosophischen Erwägungen in Anspruch nehmen, es gilt die hier gezeichnete Entwicklung meiner Meinung nach für alle Lebenssphären. Aber ich darf Sie bitten, an die Entwicklung der Malerei zu denken, und es wird Ihnen klar sein, was ich meine. Die Entwicklung der Malerei bis zum Impressionismus gibt uns für die literarische Entwicklung bis zu Proust ein ungefähres Gegenstück. Leider muss ich es mir versagen, auf die darüber hinausgehende Entwicklung einzugehen. Wir bleiben also beim Impressionismus. Die Kunst des Impressionismus in der Malerei und die Kunst Marcel Prousfs, hier gibt es in der Tat immer wieder Analogien zu finden. Ich greife willkürlich ein paar Sätze heraus, zum Beispiel den folgenden: "..." Sie sehen in diesen Sätzen, wie die Farben durcheinander schiessen, wie ganz verschiedene, zunächst ganz auseinanderliegende Kategorien aufeinander bezogen werden. Das Lächeln der Herzogin ist blau, der rote Wollteppich der Sakristei bekommt im Sonnenlicht eine Wagnerische Süsse. Die Hyazinthe - 471 - reisst ihr nährend Herz auf, damit ihre steigende Blüte von Lila und Atlas ertöne. Der französischen Lyrik waren solche Wendungen gewiss nicht neu, aber in der Prosa haben sie ihren ganz besonderen Platz schon dadurch, dass sie bei Proust in einem Satze stehen, der seinerseits im Grossen dasselbe Far-benschillern und eine ungewöhnliche Bildervielfalt sehen lässt. So erklärt sich auch die ausserordentliche Länge der Proustschen Sätze. Sie sind gewissermassen aufgesprengt, sind angefüllt mit den disparatesten Elementen. Ein Satz von Proust sieht eben aus wie ein Gemälde Renoirs, klingt wie das Orchester Debussys. Besonderen Reiz hat das Zusammentragen auseinanderliegender Elemente oft dadurch, dass Proust die gesamte humanistische Bildungssphäre, die Kunst, die Geschichte in Bereitschaft hat, um sie zu Vergleichen mit den alltäglichsten banalen Dingen und Situationen heranzuziehen. Damit haben wir zugleich auch eines der Hauptelemente der Proustschen Ironie gegeben. So heisst es zum Beispiel: "..." Manchmal hat diese Ironie den Geschmack des tödlich Tragischen, wenn es etwa heisst, die Kranken seien übertrieben in der Höflichkeit, ganz wie die Könige. Immer aber gibt diese Mobilisierung der ästhetischen Sphären den Sätzen einen ausserordentlichen Glanz. Ich zitiere einen Satz aus jener berühmten Stelle, in welcher von dem Schlafe Albertines die Rede ist: "Ihr Haar, entlang dem rosafarbenen Gesicht herabgestiegen, lag neben ihr auf dem Bett, und ein paar losgelöste Strähnen gaben dieselbe Perspektivwirkung wie jene mondbeschienenen zarten und blassen Bäume, die man im Hintergrund der raphaelesken Bilder Elstirs sich kerzengrad erheben sieht". Beachten Sie bitte die Übersteigerung der Nuancen. Es genügt nicht, von den Bäumen im Hintergrunde der Bilder eines im übrigen fiktiven Malers zu sprechen, es müssen unter den Werken dieses Malers gerade diejenigen sein, die an Raphael erinnern. Denselben reizvollen Kontrastwirkungen geht Proust auch im Persönlichen sehr gerne nach. Swann liebt es, mitunter seine Gesellschaften so zusammenzustellen, dass in sozialer Beziehung die verschiedenartigsten Elemente sich zusammenfinden, und er hat daran die Freude des Raritätensammlers. Eine ausserordentliche Wirkung der Kontraste aber ergibt sich, wenn im Fortgang des Werkes die persönlichen Fäden durcheinanderlaufen, wenn etwa die ehemals so unerreichbare Herzogin von Guermantes dem Erzähler jetzt zu nichts anderem mehr gut ist, als ihn zu beraten, wenn er seiner Geliebten ein neues Kleid machen lässt. Dieses letztere Detail steht allerdings auch mit einem anderen Tatbestand bei Proust in Beziehung, mit dem Perspektivenerlebnis, von dem wir noch zu sprechen haben. Versuchen wir nochmals zu fixieren, was wir unter der impressionistischen Situation verstehen können, dann werden wir es vielleicht auch so exemplifizieren können: Das Grunderlebnis liegt sozusagen nicht mehr an der Obei— fläche des Erlebens, nicht mehr die grossen Kontraste nehmen hier klar abgegrenzte grosse Flächen ein, sondern auf demselben Raum fluktuieren die verschiedensten Erlebnismomente durcheinander, die alle gleichwertig sind, während das Grunderlebnis blasser konturiert dahinter steht. Das ist die Erlebnissituation, die sich im Proustschen Satzbau widerspiegelt. Unzählige - 472 - Einschachtelungen, unzählige Relativsätze. Der Satzbau als solcher ist also weniger greifbar, klingt aber durch das Gesamtgefüge mit einem Überaus natürlichen Rhythmus durch. Dasselbe Bild aber gibt uns nicht nur der Satzbau, sondern auch der Bau des gesamten Romanwerkes. Wer anfängt, zu lesen, findet keine Aktion, keine Entwicklung. Es ist so, weil tausenderlei durcheinanderlaufende Erlebnismomente den Bau des Romanwerkes auseinandergesprengt und ungeheuer geweitet haben. Erst derjenige, der das Ganze liest, bekommt durch die bewegte Oberfläche hindurch die Umrisse einer geschlossenen Aktion zu sehen. Die Häufung kontrastierender, kleiner Reize ist es, welche die Oberfläche des Proustschen Romanwerkes okkupiert. Allen Nuancen dieser Reize nachzugehen, wird, wie wir schon sahen, erreicht durch einen kaum wiederzufindenden Grad von Sensibilität. Der Geschmack, den ein Löffel Tee in Verbindung mit dem Stück eines bestimmten Kuches im Munde spürbar macht, dieser sehr bestimmte Geschmack ist es, der die ganze Erinnerung an die Kinderjahre in Combray heraufbeschwört. Eine analoge Wirkung haben ähnliche Minimal-Nuan-cen von ähnlichen minimalen Situationen: Der bestimmte Klang eines Löffels, der gegen einen Teller stösst, die Sensation, welche der unerwartete Höhenunterschied zweier Pflastersteine, auf die man tritt, bereitet. Versuchen wir das objektive Korrelat dieser gesteigerten subjektiven Reiz-samkeit zu nennen, dann werden wir sagen müssen - und damit ist das eminent geschichts-philosophische Gewicht des Proustschen Werkes gegeben -, die Gegenstands-Welt ist bis zu einem kaum vorher dagewesenen Grade aufgelöst oder, um es exakter zu sagen, in ihrer Oberflächenwirkung zersetzt. Aber nicht nur die Gegenstandswelt, auch die Persönlichkeit. Kein Romanwerk finden wir soweit entfernt von jenem Studium der Anschauung, auf dem bestimmte Persönlichkeiten bestimmte Tugenden oder bestimmte Laster repräsentieren. In der Tat lässt Proust dem Nebeneinanderwohnen der verschiedensten Neigungen, Tugenden und Untugenden bei ein und derselben Person einen unendlich breiten Raum. Ausserordentlich viele Beispiele Hessen sich anführen zu diesem Punkte. Ich möchte nur eines, ein recht äusserliches erwähnen: Durch neun Bände hindurch begegnet uns das Ehepaar Verdünn nicht anders als mit allen denkbar üblen Eigenschaften behaftet. Egoistisch, hart, kleinlich, nachträgerisch, neidisch, feige, boshaft, schadenfroh. Plötzlich erfahren sie, dass ein alter Freund, noch ohne dass er es selbst recht weiss, sein Einkommen verloren hat. Sie beschliessen, ihm eine Rente auszusetzen, die sie zwingt, in ihrem eigenen Leben gewisse Einschränkungen vorzunehmen. Niemand aber darf von dieser Rente etwas erfahren, und auch der Beschenkte selbst weiss, solange er lebt, nicht, woher die Rente kommt. Eine merkwürdige Konsequenz ergibt sich aus dieser Konzeption der Persönlichkeit. "Unsere Tugenden", so heisst es, "besitzen an sich selbst nicht die freie Beweglichkeit, die uns ständig über sie verfügen Hesse. Sie gehen im Laufe der Zeit enge Verbindungen mit den Gelegenheiten ein, bei denen sie aus Pflicht von uns geübt werden". So sehen wir die Menschen im Verlaufe des Romans tatsächlich je nach der Situation, in der sie sich befinden, oftmals in verschiedener moralischer Beleuchtung. Von Bloch heisst es, nachdem er ein arrivierter Bühnenschriftsteller gewor- - 473 - den war: "Er war diskret geworden in seinen Reden und in seinen Handlungen. Seine Stellung und das Alter hatten ihm diese Eigenschaft gegeben, eine Art sozialen Alters sozusagen. Gewiss, Bloch war früher indiskret ebenso, wie er unfähig gewesen war, wohlwollend zu sein oder einen guten Rat zu erteilen. Aber gewisse Fehler sind weniger an ein Individuum gebunden als an bestimmte Lebensums tände". Diese durch die Zersetzung fester Gegebenheiten der Dingwelt und der Personenwelt sozusagen in Bewegung gebrachte Oberfläche gerät noch stärker in Bewegung in einer Situation, der Proust immer wieder an verschiedensten Stellen ein ganz besonderes Augenmerk gewidmet hat, dem Erlebnis einer sich verschiebenden Perspektiven Wirkung. Äusserst bezeichnend ist die Stelle, die schildert, wie den Knaben zum ersten Male eine dichterische Inspiration überkommt. Auf einer Wagenfahrt nämlich, beim Anblick dreier Kirchentürme, die sich perspektivisch gegeneinander verschieben. Da ihn zum zweiten Male geradezu schmerzlich das Gebot trifft, eine Situation festzuhalten, ist er wieder auf einer Wagenfahrt und beobachtet die Bewegung dreier Bäume. In einer schönen Studie über Proust hat übrigens auch Ernst Robert Curtius auf die besondere Stellung des Perspektivenerlebnisses verwiesen und hat im Zusammenhang damit darauf aufmerksam gemacht, eine wie zentrale Bedeutung die Situation des Fahrens bei Proust gewinnt. Ich glaube, man kann darüber noch hinausgehen und sagen, dass die verschiedenen Aspekte einzelner Personen auch als Resultat verschiedener Perspektivenwirkungen zu verstehen sind, als Resultat gewissermassen einer Fahrt durchs Leben. Das Fahren, die Perspektive, dieser Zusammenhang ist bei Proust nicht wichtig genug zu nehmen. Er führt uns auch über die rein ästhetische Betrachtung hinaus. Denn das Vorbeifahren an den Dingen und die Beobachtung verschiedener Perspektivenwirkungen, damit enthüllt sich die Weltstellung Prousts im allgemeinsten Sinne, die Situation eines, der am Leben nicht aktiven Anteil nimmt. Äussere Umstände haben die Postion gefestigt. Vor allem muss man sagen - so grausam es klingt -, die Krankheit hat diese Position und sozusagen das Vertiefen, das Verbeissen in diese Position begünstigt (Materielle Geborgenheit unterbindet in krankhaftem Sinne die Zusammenh. mit dem Leben ...). Interessant in dieser Beziehung ist eine Stelle im ersten Band des Werkes. Er streift in den Wäldern in Combray herum, besessen von der Idee, dass er schreiben möchte, und unglücklich, weil ihm nichts einfällt. Aber es gibt einen rettenden Gedanken: "Mitunter dachte ich, ich könne auf meinen Vater bauen, er würde die Sache in Ordnung bringen. Er war doch mächtig, so beliebt bei hochgestellten Persönlichkeiten, dass es ihm gelang, für uns die Übertretung von Gesetzen zu erwirken, die ich, von Francoise belehrt, für zwingender hielt als die Gesetze über Leben und Tod. Er war so mächtig, dass es ihm gelang, durchzusetzen, dass die Putzarbeiten an unserem Hause, als einzigem im ganzen Viertel, auf ein Jahr zurückgestellt wurden, ferner für den Sohn von Frau Sazerat, die ans Meer gehen wollte, beim Minister zu erwirken, dass er zwei Monate früher seine Prüfung machen konnte, in der Reihe der Kandidaten, deren Name mit A anfing, statt zu warten, bis der Buchstabe S darankam. Wenn ich plötzlich schwer krank geworden wäre oder von Räubern gefangen- - 474 - genommen, dann wäre ich fest davon überzeugt gewesen, dass mein Vater über viel zu gute Verbindungen mit den höchsten Gewalten verfüge, über viel zu unwiderstehliche Empfehlungsbriefe beim lieben Gott, als dass meine Krankheit oder meine Gefangenschaft etwas anderes hätte sein können als ein leeres Wahnbild ohne Gefahr - und ich hätte in aller Ruhe die unausbleibliche Stunde der Rückkehr zur guten Wirklichkeit, die Stunde der Befreiung oder der Genesung erwartet. Vielleicht war dieser Mangel an Genie, dieses schwarze Loch, das sich in meinem Innern auftat, wenn ich den Stoff zu meinen künftigen Schriften suchte, auch nur eine Illusion ohne Bestand, die durch die Intervention meines Vaters verschwinden würde, der es wahrscheinlich bereits mit der Regierung und mit der Vorsehung abgemacht hatte, dass ich der grösste Schriftsteller des Zeitalters sein solle". Niemand darf übrigens aus dieser Lebensabseitigkeit den Schluss ziehen, dass ihn das Werk nichts angehe. Die Protektion des Vaters war es nicht, die Proust zum ersten Schriftsteller des Zeitalters gemacht hat. Ich habe die ungünstigen Momente, die Krankheit und die Lebensuntüchtigkeit nur als begünstigende Momente angeführt, die eben seine Weltstellung gewissermassen gefestigt haben. Denn eines ist bei dieser Weltstellung ungeheuer entscheidend. Das Leben bringt keine Erfüllung, das Leben ist nichts, es ist nur das Material, an dem die Sehnsucht sich entzündet, die Sehnsucht, bei der es für Proust feststeht, dass sie immer nur Dingen nachgehen kann, die hinter dem Leben liegen, denn im Augenblicke, wo ein Ersehntes erreicht wird, ist es enttäuschend und im selben Augenblick sehen wir das Objekt der Sehnsucht schon wieder hinter das Leben springen. "Das Glück", so lesen wir immer wieder, "wird nicht erreicht". Vom Schriftsteller Bergotte, der in vieler Beziehung mit dem Autor identisch ist, heisst es: "Er hatte nie die Geselligkeit geliebt, oder er hatte sie, besser gesagt, nur einen einzigen Tag lang gemocht, um sie wie alle andern Dinge zu verachten und zwar in seiner Art, die darin bestand, nicht zu verachten, wenn man etwas nicht erlangen kann, sondern im Augeblicke, wo man es erlangt hat". So ähnlich finden wir den Autor immer wieder. Er ist verliebt, er geht den Spuren eines Mädchens nach, ist aber im Augenblick enttäuscht, wo er erfährt, das Mädchen ist für ihn zu haben. So kommt es, dass die einzige adäquate Form der Liebe jene ist, die ihres Objektes nicht gewiss ist, die von Eifersucht gepeinigte Liebe, die Liebe Swanns zu Odette, die Liebe des Erzählers zu Albertine. In der Liebe des Erzählers zu Albertine, in der wir alle denkbaren Formen der Eifersucht abgewandelt sehen, hier wird uns gezeigt, wie in allen einzelnen Stadien der Annäherung bis zur physischen Besitznahme, ja bis zu vollkommen äusseren Beherrschung des Lebens der Geliebten - der Erzähler hält sie als Gefangene in seiner Wohnung fest - es wird uns gezeigt, wie in allen diesen Stadien das eigenliche Objekt der Liebe, die Kommunikation der Seelen immer weiter hinausgeschoben wird. Nicht einen Augenblick lang gibt es Gewissheit über die Geliebte, die Kommunikation der Seelen funktioniert nicht. Aber im ganzen Werk finden wir diese Kommunikation prinzipiell nicht realisiert. Immer und überall stossen wir auf Missverständnis, falsche Auslegung der Handlung des anderen. Auf der ganzen Linie sehen wir immer wieder: Das Leben bringt keine Erfüllung. Aber dieses - mit Kant gesprochen - dunkle Gewühl des Lebens, zeigt es für - 475 - Proust gar nichts? Keinen Ausblick, keinen Schimmer einer echten Realität? Bleibt es gewissermassen rein negativ? Hier gibt es eine im Proustschen Sinne klare, sehr entscheidende und in gewissen Grenzen sogar tröstliche Antwort. Das Leben selbst bleibt für ihn negativ. Aber es muss als negatives erkannt werden, damit es nämlich in seiner wahren Konstitution gesehen werden kann, und zwar als Abglanz, als Reflex einer dahinterstehenden echten Realität. Es ist die Sphäre des Geistigen, in der das Kunstwerk wohnt. Die Kunst Verdu-rins, die Kunst Vinteuiis, die Kunst Elstirs, die Kunst Bergottes, das sind für Proust die eigentlichen Realitäten. Und seine eigene Kunst. Ihr wendet er sich am Schlüsse des Werkes zu, sie ist ihm die wiedergefundene Zeit. So kommt es, dass man vom Platonismus Proust 's gesprochen hat. Sehr bezeichnend ist folgendes Detail. Bergotte lässt sich in vorgerücktem Alter immer wieder kleine Kokotten kommen. Er hat das Gefühl, sich dadurch eine Atmosphäre zu schaffen, die für die literarische Produktion besonders günstig ist. "Man gelangt", so heisst es, "nicht dazu, glücklich zu sein. Aber man macht Beobachtungen über die Gründe, welche uns daran hindern, es zu werden". Diese Beobachtungen, Beobachtungen über die wahre Natur dieses negativen Lebens, Beobachtungen darüber, die Negation wovon es sei, der Abglanz welcher Realität, diese Beobachtungen sind eben identisch mit dem künstlerischen Schöpfungakt, sie führen geradewegs in die Sphäre der echten Realität, in die Kunst. Aber nicht die Kunst allein ist es, welche diese Sphäre okkupiert, wir können sie im allgemeinen verstehen als Sphäre des Geistigen, des Gesetzes, der Norm. Die Verbindlichkeit der Normen, der ästhetischen ebenso wie der moralischen, sie ist es, welche die Realität einer geistigen Sphäre garantiert und - das ist beim Tode Bergottes ausdrücklich ausgesprochen - die Realität eines Reiches unsterblicher Seelen. Versuchen wir nochmals uns das, was wir impressionistische Situation genannt haben, in Erinnerung zu rufen, dann wird sich ein Zusammenhang mit dem Weltaspekt, der sich hier offenbart, ohne weiteres ergeben. Die Gestalt, das Lebensgesetz, die echte Realität ist weit hinter die Oberfläche des Lebens gerückt, so weit, dass sie eben noch gerade sichtbar, nicht aber greifbar ist. Die schillernd bewegte Oberfläche gibt uns eben nurmehr einen Abglanz der Gestalt, die Oberfläche tritt damit als Oberfläche und nur als Oberfläche in Erscheinung. Sie zeigt ihr wahres Oberflächensein allerdings für einen Augeblick nur, um gleich wieder zu zergehen. An der nachimpressionistischen Entwicklung wäre das zu exemplifizieren. Aber zu solcher Problemstellung ist hier leider nicht die Zeit. Nur eines ist zu sagen. Hier ist der Punkt, an dem der eminent sozial-dynamische Sinn des Proustschen Kunstwerkes sichtbar wird. Denn dass sich bei Proust die Oberfläche als blosse Oberfläche offenbart, das zeigt sich mit letzter Deutlichkeit in der gesellschaftlichen Sphäre. So, wie das Leben sich nur als Oberfläche darbietet, als Abglanz einer durch die Oberfläche hindurch nicht greifbaren Gestalt, so tritt die Gesellschaft bei Proust - zum ersten Mal in der Literatur, kann man wohl sagen - mit ihrer blossen Oberfläche in Erscheinung als blos-ses Spiel nutzloser Formen, die in ihrer Abgelöstheit vom Leben, in ihrer Nutzlosigkeit vielleicht zu ersten Mal ihre ganz ästhetische Faszination uns spüren lassen. Zum ersten Mal und auch zum letzten Mal, denn dass diese Situation eine Situation der Auflösung oder des Umschlagens ist, wird jedem geschichtsphilosophisch Denkenden selbstverständlich sein. - 476 - Im Offenbarmachen des Nutzlos-Ästhetischen liegt auch der Sinn der ari-; stokratischen Gesellschaft im Werke Prousts. Man darf bei der in diesem Werke spürbaren sozialen Dynamik selbstverständlich nicht gerade nur an die aristokratische Gesellschaft denken, sondern an die Gesellschaft im allgemeinsten Sinne. Man muss aber an französische Verhältnisse denken und an die Tatsache, dass gerade in der französischen Republik die alte soziale Hierarchie, wenn auch nicht praktisch, so doch sehr vorhanden ist, dann wird man begreifen, dass sich Proust der zwar nicht praktisch verwertbaren, aber eben noch vorhandenen Position des Hochadels bemächtigt, um gerade an dieser Stelle die Fassade der Gesellschaft zu beleuchten, einer Gesellschaft, die eben nur mehr als Fassade in Erscheinung tritt. Die Gesellschaft bei Proust ist ein Haus, das in Brand steht. Das Innere ist schon fast vernichtet, die äussere Mauer ist noch intakt. Aber aus dem Innern schlagen die Flammen heraus und beleuchten sie. Erst in dieser neuen Beleuchtung übersehen wir die ganze Anlage der Fassade. Wir sehen sie ohne Schattenwirkungen in vorher nicht dagewesener Klarheit, wir sehen Architektur-Details, die wir vorher nicht bemerkten und die uns jetzt erst ihre Schönheit zeigen, im letzten Augenblick, bevor das Haus zusammenstürzt. Wir sehen eben, dass das erste Genie, das Snob sein durfte, offenbar das letzte war, das Snob sein konnte. In allen Lebensspharen hat sich für Proust die Fassade, die Aussenseite erleuchtet. Dass er aber das Leben von der Aussenseite sieht, nur von der Aussenseite sehen kann, darin liegt die eigentliche Tragik der Erscheinung, eine Tragik, die bei Proust in ihrer Tiefe, in ihrer Allgemeinheit und mit der Tiefe des Leidens, das in ihr verwurzelt ist, uns die erst ganzen Dimensionen der Erscheinung sichtbar macht. In dieser letzten Tiefe nun, in dieser letzten Tragik, in der Tiefe dieses Leidens ist Proust mit seinem jüdischen Stamm verbunden. Er sieht, wie wir bemerkt haben, die Fassade der Dinge, er sieht als Outsider. Bei wem aber wäre dieser Weltaspekt leichter zu vermuten als bei dem, weichem das Outsidertum gegenüber der Sozietät, die ihn umgibt, schon seiner Abstammung nach mitgegeben ist? Die Wichtigkeit der jüdischen Komponente bei Proust wird ohne weiteres einleuchten. Denn offenbar haben wir es dieser Komponente zu verdanken, dass sich ihm jene Oberfläche der Dinge im letzten Glanz ihres Unterganges offenbaren konnte. Er kann die Oberfläche des Lebens sehen, weil er eben selbst nicht ganz darinnen steht. Wir finden stark Jüdisches bei Proust schon in der ursprünglichsten Form, in der er dem Leben gegenüber steht, in welcher das Leben ihm keine Erfüllung bietet, in der es ihm nur als Reminiszenz oder als Hoffnung von Bedeutung ist. Der Augenblick gilt nicht, das ist in der Art, wie wir es bei Proust finden, ausserordentlich jüdisch. Aber wir finden bei Proust auch die andere, die lichte Seite dieser Einstellung, jene andere Seite, von der aus die Lebensstellung, die wir als jüdische erkennen, überhaupt erst ihr Gewicht erhält, die Richtung auf das Metaphysische. Die Frage, ob die Fremdheit den Lebensdingen gegenüber und die Erhaltung der metaphysischen Gerichtetheit, ob diese Grundeinstellung als die Konsequenz des Lebens in der Diaspora aufzufassen ist oder ob das Leben in der Diaspora - 477 - eben durch diese Grundeinstellung, durch die metaphysische Gerichtetheit erst ermöglicht wurde, diese Frage zu erörtern, würde uns von unserm Thema allzusehr entfernen. Angesichts Prousts aber ist es zunächst von höchstem Interesse, eines festzustellen, dass nämlich seine jüdische Deszendenz nicht als bloss zufällige Tatsache zu buchen ist. Fraglos ist es kein Zufall, dass es gerade ihm, also einem irgendwie Aussenstehenden, vorbehalten war, die Dinge zu sehen in dem Augenblick, wo sie sich nur mehr von der Aussenseite darbieten konnten. Vielfältig sind die Beleuchtungen, in denen jüdische Dinge uns im Werke Marcel Proust's begegnen. Es kann der Versuch nicht unternommen werden, in der knappen Zeit hier erschöpfend zu berichten. Von rein Äusserlichem muss ich nur darauf hinweisen, dass im zweiten, dritten und vierten Band der Dreyfu-sprozess sehr stark im Vordergunde steht, dass wir über Dreyfusianer und Antidreyfusianer interessante psychologische Intimitäten erfahren. Die Beschäftigung mit dem Dreyfusprozeß ist allerdings nicht als eine Angelegenheit des Romanciers aufzufassen, der "Zeitkolorit" zu geben sucht. Die Auseinandersetzung der beiden Welten, die Auseinandersetzung des Juden mit der ihn umgebenden Welt werden wir überhaupt als eines der Hauptthemata Prousts begreifen müssen. Man muss erkennen, wie in seiner ganz allgemeinen Weltstellung sehr vieles von diesem Spannungsverhältnis spürbar ist, in seiner Einsamkeit, in seinem Outsidertum und in der Art seiner Ausrichtung über das Leben hinaus. Aber auch als spezielles Romanthema tritt uns dieses Spannungsverhältnis entgegen, allerdings in echt Proustscher Art, in der Art seiner echten Künstlerschaft, nicht im Gewände des nackten Problems, sondern in der peripher-sten Wirklichkeit demonstriert, an der periphersten Wirklichkeit des Gesellschaftlichen. Wir sehen Juden sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen, jeder in seiner Weise, meist dadurch in schiefer Situation befindlich. Sogar eine so kräftige Natur wie die Grossmutter sehen wir in solch schiefer Situation. Ihrer Distinktion entsprechend sehen wir sie allerdings nur in übertriebener Zurückhaltung. Sie weicht sinnloserweise ihrer alten Pensionsfreundin, der Marquise de Villeparisis aus, um nicht den Anschein zu erwecken, dass sie sich um sie bemühe. Die gegenteilige Tendenz sehen wir in Blochs Familie vorhanden - in verschiedenen Abstufungen. Der alte Grossonkel, Herr Nissim Bernard, phantasiert von seinen engen freundschaftlichen Beziehungen zu hochgestellten Persönlichkeiten, die er niemals gesehen hat. Herr Bloch senior ist darin etwas subtiler, er sagt nur, er kenne den und jenen ausgezeichnet und meint, er kenne ihm vom Sehen. Bloch junior geht schon so weit, diese Beziehungen zu realisieren. Am Anfang ist er noch etwas linkisch in seiner Streberei (er sagt noch Leift statt Lift). Wir finden bei ihm auch die für manche Juden sehr typische Art, den Gegensatz zur Umwelt durch eine eingeklammerte, parodisti-sche Redeweise zu überbrücken. Bloch bedient sich in seiner Jugend ständig der Homerischen Sprache; aber am Schluss ist die Assimilation perfekt, als gefeierter Schriftsteller mit dem Namen Jaques du Roszier behaftet, betritt er das Haus eines Guermantes. Ist Bloch der gemeine Snob, so ist Swann der Edelsnob zu nennen. Er ist als Snob begabter, wie er als Mensch eben auch subtiler ist. So sehen wir ihn - 478 - gleich zu Beginn am Endziel der snobistischen Karriere. Es ist sogar Prousts besonderes Raffinement, dass er uns ihn am Anfang in einer Situation zeigt, wo er - hauptsächlich mit Odette beschäftigt - seine mondänen Beziehungen schon stark vernachlässigt. Swann ist geradezu als Studienobjekt für die Beziehungen des Juden zu seiner Umwelt zu demonstrieren. Im Grunde genommen lebt er in der Umwelt nicht, im Grunde genommen ist sie ihm fremd, ist ihm ein Objekt, das er überwunden, ein Material, das er geknetet hat. Seine gesellschaftliche Position ist ein Kunstwerk, das er sich geschaffen hat, unnütz, zum Leben nicht gehörig, aber mit dem Glanz des Kunstwerkes behaftet. Er muss seine aristokratischen Freunde jahrelang nicht sehen, nur weil ihn gerade eine dumme kleine Dirne interessiert. Aber er hat eine ungeheure Genugtuung bei dem Gedanken, dass, würde er vom Schlag gerührt, die ersten Menschen, die sein Diener verständigen würde, der Herzog von Chartres, der Fürst von Reuss wären, der Grossherzog von Luxemburg und der Baron Char-lus. Gerade dieser unernste, dieser spielerische Gedanke zeigt die Tiefe der menschlichen Einsamkeit, in der sich Swann befindet. Es ist dieselbe Einsamkeit, die auch die Weltstellung Prousts bekundet: Die Einsamkeit des Outsiders, dem sich das Leben nur mit seiner Aussenseite zu nur ästhetischer Beziehung darbietet, es ist die Einsamkeit des jüdischen Menschen überhaupt darin enthalten. Aber Swann scheint aus dieser Einsamkeit zu erwachen. Der Dreyfusprozess rüttelt ihn auf und führt ihn zu seinen Ursprüngen zurück. Die aristokratischen Freunde wenden sich ab von ihm. Sein Kunstwerk hat er also zerstört, aber er hat sich selbst gefunden. Die letzten Worte, die wir den sterbenskranken Swann sprechen hören, sind die ersten, die uns eine direkte, eine aktive Beziehung zum Leben offenbaren. Die Entwicklung Blochs und die Entwicklung Swanns, soweit sie uns gezeigt werden, das sind genau entgegengesetzt laufende Entwicklungen jüdischer Menschen. Sehen wir uns an, wie Proust das Endstadium der beiden zeichnet: Von Bloch heisst es: "Eine englische Eleganz hatte tatsächlich sein Äusseres verändert, seine Haare, die früher gekräuselt waren, waren nun glatt gekämmt, in der Mitte gescheitelt und hatten einen künstlichen Glanz. Seine Nase war gross und rot geblieben, schien aber eher geschwollen durch eine Art permanenten Schnupfens, welcher den nasalen Ton erklärte, in dem er nachlässig seine Sätze servierte." Und Swann dagegen: "Die Nase Swanns, lang, gewissermassen aufgesogen in einem glatten Gesicht, schien jetzt mächtig geschwollen, gerötet und glich eher der Nase eines alten Hebräers als der eines seltsamen Valois. Übrigens liess vielleicht in diesen letzten Tagen die Rasse den charakteristischen physischen Typus stärker hervortreten, zugleich mit einem Gefühl der moralischen Solidarität mit den anderen Juden, einer Solidarität, die Swann während seines ganzen Lebens vergessen zu haben schien und die nun verschiedene Umstände in Verkettung miteinander geweckt hatten: die Todeskrankheit, die Dreyfusaf-faire, die antisemitische Propaganda. Es gibt gewisse Juden, sehr distinguierte Weltleute, bei denen zwei Figuren sich im Hintergrund halten, sozusagen hinter der Kulisse, um, wie in einem Theaterstück, in einer bestimmten Lebensstunde, - 479 - auf der Bühne zu erscheinen, ein Grobian und ein Prophet. Swann befand sich im Alter des Propheten." Ein Grobian und ein Prophet, es sind die unverlorenen und offenbar unverlierbaren jüdischen Elemente vitaler und geistiger Kraft, die wir hier durchschlagen sehen durch die Oberfläche der Assimilation. Wir stehen immer wieder vor dem wunderbaren Rätsel der Erhaltung dieser Kräfte. Ich habe zu Anfang dieser Erörterung ganz flüchtig die Idee einer allgemeinen Geschichts-Konstruktion angedeutet. Das Judentum, meinte ich, steht ausserhalb dieser allgemeinen Entwicklungslinie, in der die Völker sich äussern, sich ausgeben und altern. Es steht ausserhalb und dennoch nicht ganz ausserhalb. Denn im Augenblick, wo die Völker ihren eigenen Lebensformen als fremden Formen gegenüber stehen, vermag der Jude, der hier dem Leben selbst als Fremder gegenüber steht, diese Formen zu ergreifen, um sie zu ihrer letzten geistigen Dichte zu sublimieren. Das ist die Aufgabe, der Marcel Proust sich unterstellt hat. Damit aber enthüllt sich eine neue Alternative der Wege, eine Alternative, die tiefer liegt als die Alternative Bloch - Swann. Es ist die Alternative, in der sich der Weg Swanns vom Wege des Erzählers scheidet. Beide sind einsam, beiden ist das Leben fremd. An der Beziehung zu ihren beiden menschlich so inferioren Frauen wird es am deutlichsten, wie irreal für sie das Leben ist. Swann rettet sich aus der Irrealität des Lebens in die Realität seines Volkstums. Der Erzähler rettet sich aus der Irrealität seines Lebens in die Realität seiner Kunst, in die Realität der Sublimierung des fremden Lebens. Zwei Wege, und beide offenbar auf der Linie des jüdischen Schicksals liegend. Wie immer wir uns aber nun entscheiden mögen, ob der hunderttausendfältige Dreyfusprozess, den wir im Augenblick mit ansehen müssen, uns den Weg Swanns und allein den Weg Swanns in seiner letzten Konsequenz zu gehen gebietet, oder ob es unsere Aufgabe sein muss, nach einer Synthese zu suchen, die beiden Wege zu vereinen, eines ist gewiss: Was keinesfalls zu schwinden hat, ist das Vertrauen auf den Fortbestand der vitalen und der geistigen Energien. Das Lebenswerk, das wir heute betrachtet haben, das Werk, an dem Jüdisches so entscheidenden Anteil hat, vielleicht das letzte grosse Epos im Abendschein der europäischen Kultur, dieses Werk wird uns in dem Vertrauen bestärken, im Vertrauen auf ein Volk der Grobiane und Propheten, ein Volk, das glücklicherweise grob genug ist, stark genug, als dass aus seiner Mitte die Prophetenstimme noch erklingen kann.