Frißt kan Zucker Sagt er, Trinkt kan Wein Sagt er, Welcher Äff Sagt er, Kann das sein?« Der Klavierspieler schaute dem Präsidenten More mit traurigem Kopfschütteln in die Augen: »Ein freches Volk das, die Wiener! Überhaupt Kaisertreue, die findet man ergebenst nur bei uns.« »Was singen Sie da? Lauter, bitte!« rief Leutnant Kohout Nejedli an. Der aber nahm stramm Stellung: »Herr Leutnant, melde gehorsamst, ein alter Schlager, der Herrn Leutnant nicht interessieren wird.« Der Leutnant bestätigte das: »Ich hab nur die allerneuesten Schlager gern. Also, Nejedli, spielen Sie etwas Fesches!« Daraufhin begann Nejedli mit seinen Gichtfingern einen Walzer aufs Klavier zu dreschen, der schon mindestens zehn Jahre alt war. Die Damen tanzten, zumeist miteinander. Nur Grete hielt Doktor Schleißner, den sie hoch überragte, schwelgerisch im Arm. Ludmilla stand in der Tür und wandte allen den Rücken zu. schmalen Gasse verhallt war, konnte sich Ludmilla nicht länger bezwingen und öffnete, was den Damen streng verboten war, die Tür in die Nacht. Oskar stand vor ihr. Sie hätte es gerne zurückgewürgt, aber über den Schreikrampf, der sie erfaßte, hatte sie keine Macht mehr. VIII Nun saß Ludmilla neben Oskar in der Küche, wo die Tische gedeckt waren. Die Küche bedeutete das wahre Heiligtum dieses Hauses und sie war auch wirklich ein Prachtraum mit ihrem Kachelherd und den vier weißen wachstuchbespannten Tischen. Wer hierher eindringen durfte, der spielte nicht mehr die Rolle des Gastes, des Fremden, der Würzen, der blieb in jeder Beziehung taxfrei, der gehörte zur Sippschaft, der teilte die Geheimnisse des weitverbreiteten Standes. Die dämmrige Vier-Uhr-Stunde des Sommers war indessen angebrochen und die Zeit des großen Mahles gekommen. An Wichtigkeit wurde diese Vier-Uhr-Morgenstunde nur noch von der SechsUhr-Abendstunde übertroffen, wenn die Damen darangingen, sich für das Geschäft zurechtzumachen, und der Figaro mit seiner Brennschere von einer zur andern eilte. Gemütlicher aber war's am Morgen, wenn man mit heißer Suppe allen Fusel und Nikotindunst hinunterspülte, sich dem Schlaf entge- genfreuend. Vor jedem Platz standen zwei Teller übereinander auf dem Tisch, eine Serviette ruhte in ihrem Ring, und was es in den vornehmsten Etablissements nicht gab, silbernes Besteck strahlte neben dem Geschirr. 49 Dieses silberne Besteck verpflichtete. Wer auch nur eine kurze Zeit damit gelöffelt und gegabelt hatte, war für alle Zukunft geadelt. Er konnte schwerlich mehr auf das Niveau von >Napoleon< zurücksinken. Viel häufiger führte der Weg empor. Ludmilla hatte Oskar verziehn. Verziehn?... was für ein großartiges Wort! Was hätte sie denn tun sollen, was blieb ihr übrig? Schmollen vielleicht, ihn sekkieren, sich die kurze Zeit verderben, die er bei ihr sein konnte?! Wenn er hinaus durchs Tor trat und mit zehn Schritten in der Eisengasse stand, war sie Luft für ihn, ärmer als die Ärmste, konnte ihm nicht drohen wiejedes andere Weib, ihn nicht beschenken, ihn nicht in Angst versetzen, hatte im Guten und Bösen nicht die leiseste Macht. Mußte er es nicht ablehnen, - und mit voller Berechtigung, - wenn sie Ausgang hatte, gemeinsam mit ihr den Nachmittag zu verbringen? Sie sah das vollkommen ein. Durfte sie sich denn an seiner Seite zeigen, ohne den aufstrebenden Künstler zu kompromittieren? Sie wollte auch gar nicht mit ihm zusammen sein dort draußen, auf der Straße, in fremden Zimmern. Dies war der Grund, warum sie ihre Ausgangsrechte jetzt immer andern Mädchen abtrat. Hier allein, hier in diesem Haus, in dieser Küche konnte er sie finden. Sie aber konnte ihn nirgends finden. War es nicht schon viel, daß er gekommen war? Wer zwang ihn denn überhaupt zu kommen? (Wenn er heiratet, die Seinige, die wird ihn schon zwingen!) Sie wußte nicht einmal seine Adresse, um 50 ihm einen Brief zu schreiben. Nein, sie hat ihn niemals um die Adresse gebeten! Aber so ein Schweinehund, so ein Mann, bemerkt das gar nicht. Jetzt war er da! Dankbar mußte sie sein, nichts als dankbar. Heiße Freude belebte sie, daß sie zwei Tage lang nicht unterlegen war, daß sie zwei Tage lang, hierin diesem Hause, allen Feinden trotzend, sich ihre Kraft und ihren Willen hatte beweisen können. Sie verschwieg ihren Kampf, denn Oskar hätte auch für diese Tapferkeit kein besonderes Interesse gezeigt. Nun aber saß er neben ihr, nun galt ihr alles gleich und sie war selig, daß sie den Hungrigen füttern und ihm ihre Suppe hingeben durfte. Während Oskar, ohne den Blick zu erheben, schlürfte und schluckte, sammelte Ludmilla rasch wie ein Räuber die Züge ihres Geliebten und raffte sie in sich hinein, damit ihr viel von ihm bliebe ... Inzwischen waren die andern Damen zum Mahl erschienen. Der wüste Zwist, die Rauferei hatte keine Spuren zurückgelassen. Ein paar kleine Flecke und Kratzer waren nicht der Rede wert. Merkwürdig, die Explosion schien alle Gehässigkeiten bereinigt zu haben und die Scham über den widerlichen Vorfall band selbst Feindinnen aneinander. Es herrschte zuvorkommende Kameradschaft, Herzlichkeit, die ein wenig übertrieben und lauernd war. Selbst Manja, die Mürrische, bezeugte durch die langhinklagenden Töne eines slawischen Volksliedes, daß sie nunmehr zu heiterer Versöhnlichkeit entschlossen sei. 5i Die Mädchen hatten die lockende Kostümierung des Abends abgelegt und trugen unsaubere Schlafröcke, Nachtjacken, ja selbst an den Füßen statt der silbernen oder goldenen Tanzschuhe vertretene Schlapfen und Pantoffeln. Auch war ihr Haar zerzaust und die Strümpfe hingen schlecht gespannt an den Beinen. Ein träges Löffeln und Schmatzen erhob sich ringsum. Oskar, der neben Ludmilla am Mahl der Damen teilnahm, erklärte ihr leise die Gründe seiner langen Abwesenheit. Die Direktion des Theaters hatte ihn aufgefordert, die Rolle eines erkrankten Kollegen im letzten Augenblick zu übernehmen. Es war eine gute Rolle, eine klassische Rolle, die hier Kainz zuletzt gespielt hatte, und vor allem Oskars erste g r o ß e Rolle. Da durfte er sich doch nicht besinnen, die beiden letzten Nächte dem Studium zu opfern. Ludmilla, die sonst so Mißtrauische, sah ihn mit berückten Augen an. I h m glaubte sie leidenschaftlich. Seine Gründe waren ja so einleuchtend. Wort für Wort wiederholte sie Oskars Rechtfertigung laut, um sich vor ihren Kolleginnen ihrer Liebe nicht schämen zu müssen. Grete fragte nach dem Titel des Dramas und vergaß dabei nicht zu prahlen: »Mein Papa hat mich zu allen Stücken ins Theater mitgenommen. Kannten Sie Christians, Herr Os- kar?« Oskar kam einen Augenblick in Verlegenheit, ehe 52 er antwortete. Ludmilla hatte ihn nicht nach dem Namen seiner Rolle gefragt. Er verplapperte sich und nannte ein Drama, das zur Zeit gar nicht gespielt wurde. Schnell blickte er zu Ludmilla hin. Aber sie war ganz Glaube. Eine weit plumpere Lüge noch hätte sie ihm nicht angesehn. Da geschah es, daß Oskar von dieses Mädchens Liebe und von ihrer jetzt verklärten Anmut mitgerissen wurde und gegen seine träge Gewohnheit des Geliebtwerdens selber Zärtlichkeiten erfand und der Lauschenden schöne Dinge vorträumte. Ilonka mußte von dem Geflüster etwas erhascht haben, denn sie lachte auf: »Hört Ihr!? Aushalten will er sie.« Und zu Ludmilla gewandt: »Ja, aushalten wird er dich, aushalten, mit dem Hintern zum Fenster hinaus...« Ludmilla dachte lange mit beschatteter Stirn und gesenkten Augen scharf nach, ehe sie plötzlich mit fremder und tiefer Stimme fragte: »Weißt du, Oskar, was deine allergrößte Gemeinheit war?« Und sie gab mit langsamen Silben selber die Ant- wort. »Daß du heute wiedergekommen bist, das ist deine größte Gemeinheit!« Aber ehe Oskar und die andern diese neue Wendung noch begreifen konnten, war Edith, die Wirtschafterin, eingetreten, und ihre Worte konnten ein ahnungsvolles Entsetzen nur schlecht verhehlen: 53 »Kinder, ich weiß nicht, was los ist, aber im Zimmer von Herrn Maxi stöhnt es so merkwürdig. Ich hab mich gar nicht getraut anzuklopfen, so viel Angst hab ich...« Da sahen sich alle an und vor jedem Blick tauchte das gelbe, erbärmliche Bild des Herrn Chef auf. Und alle wußten mit einem Mal und hatten es immer gewußt, daß Maxi ein schwerkranker Mann war. Doch hatte man sich niemals Gedanken darüber gemacht, denn selbst die rangälteste Dame erinnerte sich nicht, je einen Herrn Maxi gekannt zu haben, der nicht gelbsüchtig, kurzatmig, todmüde und komisch gewesen wäre. Das gehörte ja zu ihm. Auch wollte niemand jemals aus seinem Mund eine Klage vernommen haben. Und ein altes BauernSprichwort lautet: Zu einem Gaul, der frißt, holt man keinen Tierarzt. Jetzt aber war es klar, daß man den Schweinsbraten mit Kraut und Knödel müsse kalt werden lassen. Ein Ausbruch von angstvoller, ja mütterlicher Zärtlichkeit antwortete der Botschaft Fräulein Ediths. Die ganze Schar erhob sich, selbst Ludmilla ließ Oskar stehn. Und über die Treppen, die von Venus und dem Trompeter von Säckingen bewacht wurden, bewegte sich ein Zug von schlampig gewandeten jungen Weibern, die sich nicht mehr in Knien und Hüften wiegten und die der lockenden Drehung ihrer runden Rückenformen nicht mehr selbst bewußt waren. Dieser Zug glich eher dem Gedränge von Dienstmägden und vernachlässigten Laden- 54 mädchen, die zu einem Stellenvermittlungsbüro die Treppe emporklimmen. Je höher aber die Schar kam, je mehr sie sich dem Zimmerchen des Chefs näherte, um so dumpfer und unerklärlicher wurde die Furcht, die sich plötzlich um alle Nacken schlang wie ein nasses Tuch. Die Mädchen hielten sich, zitternd, dicht aneinander, als Edith vergeblich drei-, vier-, fünfmal an die Tür klopfte. Endlich - kein Stöhnen mehr war zu hören öffnete sie vorsichtig die Tür, und ehe ihre Hand noch den Schalter des Lichts gefunden hatte, drängten ihr die Verwegensten in die Finsternis nach. Keine hatte je dieses Zimmer betreten dürfen. Das verbot ein strenger Paragraph des Hausgesetzes. Das Licht offenbarte seltsamerweise vor allem eine Unmenge von Madonnen- und Heiligenbildern, welche die Wände zierten. Dann erst offenbarte das Licht den Herrn Chef, der mit halbem Körper leblos aus dem Bette hing. War er ohnmächtig geworden, war er tot? Edith und Valeska hoben den Leib aufs Bett. Die andern liefen durcheinander und holten jammernd aus ihren Zimmern Eau de Cologne, Parfüm-, sinnlose Arzneiflaschen, deren Essenz sie in verschwenderischen Mengen über Maxis tiefgelbe Stirn und offene Lippen gössen. Grete schrie immerfort, daß sie diesen Anblick nicht ertragen könne. Ilonka hingegen plapperte erregt und ganz in ihrem Element, daß es in solchen Fällen n u r ein Mittel gäbe, gehackte Zwiebel mit 55 Speichel verreiben und dem Bewußtlosen in die Nasenlöcher und auf die Augenlider streichen. Sie wüßte dieses Mittel noch von ihrer Großmutter, und wer hätte sich in solchen Dingen besser ausgekannt als diese Großmutter. Edith erinnerte sich des gerahmten Anschlags, der in der Küche hing: »Erste Hilfe bei Unglücksfällen.« Aber sie fand nicht den Mut, den entfremdeten Körper noch einmal zu be- rühren. Nur Manja, die Tochter des Totengräbers von Rokycan, lachte verächtlich, trat zum Bette, drängte mit sachlichen Armen die andern als Unbefugte zurück und lüpfte die Augenlider des Daliegenden. Dann wandte sie sich um und sagte mit überzeugter Amtsmiene: »Er ist tot!« Und der Arzt, den Edith sogleich holen ließ, konnte nichts anderes tun, als Manjas Wort bestäti- gen. VIII Schwierigkeiten aller Art häuften sich. Das erstemal, wenn man von den sagenhaften Messerstechereien ältester Zeit absieht, lag hier ein Toter im Hause. Und ein Toter, welcher nicht als Gast von einem regellosen oder gewaltsamen Ende erreicht worden, sondern hauszuständig, nach amtsärztlicher Auffassung eines durchaus ordnungsgemäßen Todes verstorben war. Letztwillige Verfügungen lagen nicht vor, worüber sich niemand wundern wird, der Herrn Maxi nur ein einziges Mal gesehen hat. Dem Verblichenen hatte ja oft die Kraft gefehlt, sein Mittagessen einzunehmen, wo sollte er da die Energie hernehmen, sich mit der Welt nach seinem Tode und ihren Interessen zu beschäftigen. Den Anteil am anderweitigen Hausbesitz seiner Eltern hatte er vor Jahren schon um ein Linsengericht an Bruder Adolf verkauft, der allerdings seinerseits diese Reichtümer sehr bald dunklen Gläubigern abtreten mußte. Herrn Maxi war nichts anderes übrig geblieben, als in die Gamsgasse zu ziehen, wo er dann in einer Kammer zu Häupten seiner Pensionärinnen wohnte. Unklar blieben vorläufig die Verhältnisse von Herr und Haus. Die gesetzlichen Erben, entfernte 57 Verwandte, meldeten sich erst - sie werden gewußt haben warum - am vierten Tag nach dem Todesfall. So lag alles auf Fräulein Ediths Schultern. Aber diese Schultern waren überaus tragfähig. Zwar richtete sich das Interesse der Polizei- und Verlassenschaftsbehörde mit besonderem Nachdruck auf derartige, so plötzlich verwaiste Unternehmungen. Aber die Beziehungen, die Edith nicht nur bei der Polizei, sondern bei sämtlichen Landesund Staatsämtern unterhielt, waren hochmögend, vertrauensvoll und dauerhaft. Nach flüchtig vorgenommener Prüfung der Lage ließ man ihr freie Hand, und sie war weitblickend genug, die Dinge zu ihrem eigenen Nutzen, zum angemessenen Wohl des Personals und zur pietätvollen Ehrung der Leiche zu regeln. Nicht genug hoch kann es ihr angerechnet werden, daß sie die große Summe, die sie gestern noch vom Chef empfangen hatte - mit nachlässiger Freigebigkeit pflegte er das Betriebsgeld der Wirtschafterin auszuhändigen, - daß sie diese noch ungebuchte Summe treulich zur Seite legte. Sie schloß sie sogar in einen Briefumschlag ein, auf den sie mit zärtlichen Buchstaben »Herr Maxi« schrieb, andächtig hinter den Namen ein Kreuz malend. Sie war so uneigennützig, dieses Geld für ein Begräbnis würdigen Ranges zu bestimmen. Aber gerade in der Tatsache dieses Begräbnisses lag die Hauptfülle der Schwierigkeiten. Die religiöse Frage zuvörderst! 58 Herr Maxi war jüdischer Abkunft. Sie, Edith, hatte die Erziehung der Ursulinerinnen genossen und immer wieder bekannte sie, daß ohne jene strenge Erziehung, ohne das Glück innigen Kirchenglaubens sie es niemals in jungen Jahren so weit gebracht hätte, zur Wirtschafterin eines der vornehmsten Häuser Europas nämlich. Hielt man ihr vor, daß der Beruf, dem sie diente, nicht im Sinne der Religion gelegen sein könne, pflegte sie die Geschichte einer Beichte zu erzählen. Der junge Heilige im Beichtstuhl hätte sie mit folgender Tröstung entlas- sen: »Mein Kind«, dies waren seine Worte, »Ihr Leben ist gewiß sehr sündig. Gott aber hat die Eigenschaften und Berufe über die Menschen verteilt nach seinem Willen. Und auch Ihren Beruf hat er - so unbegreiflich es ist - immer geduldet. Es wäre besser, Sie fänden einen andern Beruf. Vermögen Sie das aber nicht, so müssen Sie doch stets eingedenk bleiben, daß Sie ein Kind der Kirche sind. Dann werden Sie nicht verzweifeln. Und ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die gemeinsten Unanständigkeiten der Menschen immer nur aus der Verzweiflung kommen.« Fräulein Edith wechselte den Beruf nicht und sündigte weiter, aber mit Fanatismus hing sie fürderhin der Kirche an. Aus diesem Fanatismus erklärt sich auch ihre Neigung zur Seelenfängerei. Wer anders nun wäre ein näherer Gegenstand ihres Bekehrungseifers gewesen 59 als Herr Maxi? Und tatsächlich, als der Chef an Ediths Seite zum erstenmal das Schauspiel der Messe in der Kirche des heiligen Gallus erlebte, war er wie verwandelt. Seitdem besuchte er an jedem Sonntag mit Edith die Vormittagsmesse, was keine geringe SelbstÜberwindung bedeutete, wenn man erwägt, wie ausgedehnt und trubelnd gerade das Nachtgeschäft des Samstags zu sein pflegt. Aber Edith vermochte noch mehr, sie brachte ihn dahin, das Wesen der Himmelskönigin zu erfassen und sein Zimmer mit Heiligenbildern zu schmücken. Nur in einem, im entscheidenden Punkt, in dem der Taufe, leistete er Widerstand. Täglich kam Edith auf diese letzte Notwendigkeit zu sprechen, ohne die es keine Seelenrettung gäbe. Aber Herr Maxi begegnete der ergreifendsten Vorhaltung immer mit den gleichen Sentenzen: »Ein traut's Kind wär ich!« Wenn Edith sich aufs Bitten verlegte, quäkte seiner Stimme weinerliche Gleichgültigkeit: »Was sollen Sie nebbich mit mir anfangen?« Und wenn dann die Eifernde alle widerwärtigen metaphysischen Folgen der Ungetauftheit mit feuerroten Farben malte, schloß Maxi das Gespräch stets mit dem Bekenntnis ab: »Laß dir dienen, Edith! Ein Jud bleibt ein Jud.« Dennoch kann es nicht verschwiegen werden, daß Herr Maxi lange vor Ediths Zeit schon, aus nicht mehr erklärbaren Gründen, jenes gestempelte Do- 60 kument eingebracht hatte, das man »Konfessionslosigkeitserklärung« nennt und das den Staatsbürger seiner religiösen Pflichten und Leistungen enthebt. Ediths Herzenswunsch wäre es gewesen, wenn der Herr des Hauses ein christliches Begräbnis mit allen vorschriftsmäßigen Gebräuchen erlangt hätte. Sie lief deshalb zum Hauptpfarrer des Kirchsprengels von Sankt Gallus. Aber wie sehr auch der geistliche Herr guten Willens war, er hatte gebundene Hände, und ohne Taufschein gab es keine kirchliche Bestattung. Hingegen machte er darauf aufmerksam, daß die Einrichtung der heiligen Seelenmessen an keinerlei Bedingung gebunden sei, und Edith erwarb auch sogleich drei dieser Seelenmessen. Beim Abschied gab Hochwürden der Wirtschafterin auf lächelnde und joviale Art noch zu verstehen, daß die Erscheinung eines amtierenden Priesters an solchem Ort und in unserer niederträchtigen Zeit nur Ärgernis und das Hohngelächter der Freidenker erregen würde. Wohl oder übel sah sich Edith nun gezwungen, die israelitische Kultusgemeinde aufzusuchen, in deren Matrikeln der Name des Verewigten eingeschrieben war. Dort sagte man ihr, daß sie auf der mosaischen Abteilung des Olschaner Friedhofs eine Grabstätte für den Toten käuflich erwerben müsse. Hingegen könne an einen zeremoniellen Kondukt nicht gedacht werden. Herr Stein wäre ein Abtrünniger, er hätte dem väterlichen Glauben die Treue gebrochen und sei auch sonst keine Persönlichkeit gewesen, die 61 einer Glaubens- oder Volksgemeinde zur Zierde gereiche. Wolle man das Begräbnis von der Leichenhalle des Zentralfriedhofs ausgehn lassen, so könnte vielleicht, wenn man gnädig beide Augen schlösse, dies oder jenes geschehn. Die Partei aber werde doch im Ernst nicht glauben, daß ein Seelsorger das Lokal in der Gamsgasse betreten könne. Als Edith die Anweisung für das Grab in Empfang genommen hatte, fragte sie der Beamte noch, ob Herr Stein Söhne hinterlassen habe, denn es müsse doch »Kaddisch«, das Seelengedächtnisgebet, für ihn gesagt werden. Er bekam die Aufklärung, daß an diesem Grabe niemand anderer trauern werde, als ein paar weibliche Wesen. Da schaute der alte Mann die Wirtschafterin mißbilligend über seine Brillen an und nickte ironisch, als wollte er sagen: >Keine Söhne! Das sieht dem Herrn Stein ähnlich.. .< Ohne von der Kundschaft die Erfüllung irgendwelcher Bedingungen zu fordern, erbot sich am frühen Nachmittag schon die Firma François Blum durch persönliches Offert, die Beerdigung billigst und bestens durchzuführen. Jedermann, der in der hier geschilderten Stadt herangewachsen ist, wird sich der großen Firmatafeln entsinnen: »François Blum. Entreprise de pompes funèbres. « Und mehr noch, er wird sich der Auslagen in Schwarz und Silber erinnern, welche die genannte Firma an einigen belebten Punkten der Stadt eingerichtet hatte. In diesen Auslagen reihten sich, meist zu beiden Seiten eines Prachtsarges - be- 62 stimmt, einem Vorweltriesen im Todesschlafe zu dienen — der Größe nach andre Särge bis zu den armen Schatullen der kleinen Kinder. Den ganzen glänzenden Schauder umwand schwarzes Tuch in effektvoller Faltung und Palmenzweige, die staubigen Requisiten himmlischen Friedens, bedeckten ihn. Die Vorsehung hatte in der Firma François Blum ein wohlassortiertes Mementomori der hastenden Stadt einverleibt, denn wenn das genußfreudige Auge sich eben noch an einer Auslage voll Hummern, Wildbret, Ananas und Kaviar ergötzt, oder eine Anordnung von Frauenwäsche, von Juwelen, Blumen, ein geistverlockendes Angebot von Büchern und Musikalien bewundert hatte, plötzlich schreckte es zurück, denn schwarz und silbern, mit vertrockneten Palmzweigen prahlend, starrte es der Tod aus seinen Spiegelscheiben an. Ach, es war nicht Thanatos, der Knabe mit der gesenkten Fackel, nicht der Mäher mit der Hippe, nein, es war der kleinbürgerliche Tod, der großstädterische Tod, der moderne Tod, der Tod ohne Sinn und Bildnis, ein lächerliches Ding, aus Silberfarbe, papiernen Palmen, schwarzem Tuch, Kalk und Verwesung gemengselt. Immerhin blieb dieser Tod eine der wenigen Festlichkeiten, die das Leben der Menschen kannte. Niemand war sich dessen stärker bewußt als die Damen des Etablissements in der Gamsgasse. Und so mußte Fräulein Edith trotz beträchtlicher Mehrkosten sich entschließen, bei der Firma Blum eine »Aufbahrung« zu bestellen. 63 Nach der ersten Nacht voll Angst und Schauder, eine Leiche im Hause, in i h r e m Hause zu wissen, hatten sich die Mädchen schon am nächsten Tage in den traurigen Umstand gefunden. Das Lokal mußte selbstverständlich bis zum Abend nach der Beerdigung geschlossen bleiben. Schon diese unerwarteten Ferien, die mit allerlei Besorgungen, Ausgängen verbunden waren, welche den gewohnten Stundenplan umstürzten, erfreuten als etwas Neues, Abwechslungsreiches. Dazu kam der erregte Eifer, sich in aller Eile, wenn auch nur mit dürftigen Mitteln die notwendigen Trauersachen zurechtschneidern zu müssen. Die Küche war in eine Flickwerkstätte verwandelt. Nähmaschinen rasselten, den Boden bedeckten Stoffreste, Herd und Geschirr duckten sich schüchtern. Arbeit gab es in Hülle und Fülle. Da es den Damen unheimlich war, die oberen Stockwerke zu betreten, lärmte alles Leben im Erdgeschoß. Die Nacht fiel von den Geschöpfen dieser Stätte ab, wie eine Krankheit. All diese Kinder von Frühaufstehern, Töchter von Bauern, Arbeitern, kleinen Geschäftsleuten, Amtsdienern, Schaffnern, Aufwärterinnen genossen mit wahrer Gier das ihnen Verbotene, das Tagesleben. Durch einen Todesfall beurlaubt, trieben sie sich selig in den Straßen herum und fuhren, bewegungstoll, mit der elektrischen Bahn sinnlos von einem Ende der Stadt zum andern. Selbst Ludmilla wurde, trotz ihres Schauspielers, von dem allgemeinen Eifer mitgerissen. Sie nähte, 64 änderte, gustierte wie alle andern. Und daß sie im schlanken Schwarz trauernder Bürgermädchen die Hübscheste sein würde, das bezweifelte nicht einmal Ilonka in ihrem Herzen. Für die Aufbahrung war der Große Salon bestimmt. Wenn man auch keine Gäste erwarten durfte, so gehörte es sich doch, daß irgendwo für alle Fälle ein kleiner Imbiß und Getränk bereit stand. Dieser Zweck wurde dem Blauen Salon zugedacht. Am nächsten Tag donnerten die Arbeiter mit ihren mächtigen Stiefeln über die schwächlichen Treppen und im Salon begann ein wildes Geschrei und Gehämmer. Dieser Raum hatte Tageslicht nie gesehn, er zwinkerte unbehaglich wie ein halbblindes Nachttier, das man in seiner Höhle aufgestört hat. Ach wie klein, wie nichtig zeigte sich im nüchternen Scheine dieses Tier, das sich zu seiner Stunde so phantastisch zu dehnen wußte. Die Geister aller Tänze, Lieder, Couplets, Witze und Zoten, die hier je erklungen waren, sträubten sich und jagten die Wände entlang. Es half ihnen nichts. Die Wände wurden schwarz ausgeschlagen, der Katafalk erhob sich langsam vom Boden, ein strapazierter Palmen- und Lorbeerhain wurde mit Hüh und Hott durch die Tür spediert. Ja selbst ein großes Kreuz hatte Edith, unbefugterweise, zu Häupten des Katafalks aufstellen lassen. Die Entreprise des pompes funèbres machte ihrem guten Ruf alle Ehre. Doch steht es dahin, ob sie es war, welche jene Notiz in die Zeitung einrücken 65 ließ, die einigen Lesern wegen der in ihr enthaltenen schicksalshaften Paradoxie aufgefallen ist: »Gestern starb hier Herr Max Stein im achtundvierzigsten Lebensjahre. Das Leichenbegängnis findet vom T r a u e r h a u s e Gamsgasse 5 aus statt.« Alles ging in bester Ordnung seines Weges. Ein einziger Umstand nur machte sich störend bemerkbar: Der charakteristische Geruch im Hausflur, jener Geruch von heißem Badewasser, in das man Parfüm geschüttet hat, von Seifenschaum, Vaseline, Hautcreme, Schminke, Schweiß, Alkohol und scharfgewürzten Speisen war durch kein Mittel zu vertreiben. Die Damen verbrannten stundenlang Weihrauch im Flur, aber der Geruch wurde dadurch — man kann es gar nicht anders bezeichnen — nur noch unanständi- ger. VIII Es gehört zu den Unwahrscheinlichkeiten, die man dem Leben gern, den Autoren ungern verzeiht, daß Herr Präsident More, gewiß der genaueste Zeitungsleser der Stadt, jene paradoxe Todesfallnotiz übersehn hatte. Eine gewisse Erklärung für die Unwahrscheinlichkeit liegt freilich in dem Umstand, daß in jenen Tagen des Hangens und Bangens alle Blätter voll der entscheidendsten Nachrichten waren, und daß in jeder Zeile Krieg und Frieden, das Schicksal der Welt auf dem Spiele stand. Herr More hatte in tiefen Gedanken sein Kaffeehaus verlassen. Patriotische Wallungen bewegten sein Gemüt und vor seinem geistigen Auge wogte Krieg. Mores Krieg war ein sehr zurückgebliebener Krieg. Er zeigte nicht die »moderne Leere des Schlachtfelds«, keine betonierten Schützengräben, Fliegergeschwader und Gasangriffe, er war ein stürmisches Gemälde voll Lustigkeit und Kavallerie. Herrliche Denkmalspferde bäumten sich zum Himmel, Granaten platzten rot, grün, gelb und blau, gleich kostbaren Feuerwerkskörpern, Verwundete griffen sich ans Herz wie Sänger bei hohen Tönen. Die Weltkatastrophe so farbenbunt vorträumend, überquerte der Präsident den Obstmarkt und schritt 67 an der Front der Universität entlang die Eisengasse hinab, als er rechterhand auf dem Kleinen Platz einen zweispännigen Fourgon dritter Klasse und drei Trauerlandauer warten sah. Er überlegte sogleich, wer hier gestorben sein könnte, — dies zu wissen gehörte ja zu seinem Beruf, - und ging mit Eifer die bekannteren Firmen und Familien durch, die in der Gegend ihren Wohnsitz hatten. Er verwunderte sich selber, daß i h m ein Todesfall entgangen sein konnte. Zugleich aber - da er wußte, wo er sich befand - wandelte ihn eine Lust an, der er in früheren Jahren manchmal nachgegeben hatte. Herr Doktor Schleißner mochte sich immerhin einbilden, daß er es sei, dem der Präsident die Kenntnis »dieser heiligen Hallen« zu verdanken habe. Mores Art war es nicht, die Nacht zum Tage zu machen und sich vor allen Leuten bloßzustellen. Gott, ein einziges Mal mochte es hingehn! Er aber kannte das Haus in der Gamsgasse längst und zu besseren Stunden als in denen des Pöbels. Als jüngerer Mensch war er hier öfter insgeheim um die Nachmittagszeit eingekehrt und hatte immer ein befriedigendes Vergnügen gefunden. Seine Handlungsweise erschien ihm nicht nur diskreter, sondern auch sittlicher und vor allem hygienischer, als die der Allgemeinheit. Der Präsident blieb stehn. Erschüttert fühlte er in diesem Augenblick den Anbruch eines neuen Zeitalters. Doppelten Wesens war es. Ernst auf der einen Seite wie eineleichenbitterische Suite bärtiger Herren 68 mit Zylinder und Kaiserrock, schneidig auf der andern Seite und frisch-fröhlich landsknechthaft. Mores Phantasie stellte in der Tat Landsknechte hin und beschwor Vorstellungen aus der einschlägigen Literatur wie: Troß weibel, Würfelspiel und Lagerdirnen. Morè sah den Leichenwagen an, dachte der schweren Zeit einerseits und der Sittenlockerung andererseits, die in der Luft lag und beschloß, da er für die nächsten Stunden nichts vorhatte, seinen Wünschen heute nicht im Wege zu stehn. An dem wartenden Fourgon vorbei, dessen Rappen schwarznickende Federn auf dem Kopfe trugen, trat er, selber nickenden Schrittes, in die schmale Gasse. Er fand die sonst so streng verschlossene und dichtverhängte Tür weit geöffnet... Indessen war im Hause alles zur Abschiedsfeier bereit. Der Sarg stand auf dem Katafalk, von ein paar losen Blumen und einem dürftigen Kranz bedeckt, denn zu reicherem Schmuck reichte die von Edith so edelmütig auf die Seite gebrachte Summe nicht mehr hin. Wegen des Sarges hatte es übrigens zwischen der Entreprise des pompes funèbres und Fräulein Edith eine Unstimmigkeit gegeben. Er war nichts als eine einfach rohe Holzkiste, wie sie die jüdische Satzung den Toten vorschreibt. Gott selber spricht ja durch die Schrift: »Staub bist du und Staub sollst du werden!« Jeder Schmuck, jede Verschönerung dieses gottgewollten Prozesses ist daher unfromm und blasphemisch. Die Wirtschafterinjedoch war durch- 69 aus anderer Ansicht. Ein Sarg muß schön und großartig sein, mit Silber beschlagen, mit Emblemen geziert, und auch ein weißer Spitzenvorstoß darf nicht fehlen. Schweres Geld hatte sie bezahlen müssen, damit solch eine Holzkiste geliefert werde. »Echt jüdisch«, rief sie, wäre das. Selbst die Religion diene dazu, einen »Rebbach« zu machen und die Kunden übers Ohr zu haun. Es hielt sehr schwer, die Erregte davon zu überzeugen, daß die Erde des israelitischen Friedhofs nur einen vorschriftsmäßigen Sarg in sich aufnehmen dürfe. Die Damen in ihrer ärmlich improvisierten und zugleich aufgedonnerten Trauer hatten sich versammelt. Einige kleine Leute aus der Nachbarschaft waren auch gekommen, sogleich aber auf betrübten Zehenspitzen in den Blauen Salon geschlichen, wo man sich gratis mit Likör und Topfenkuchen bedienen konnte. Dort machte Herr Nejedli die Honneurs und mußte die Nachbarn, die Angestellten der Entreprise des pompes funèbres, sowie sich selbst nicht viel zum Essen und Trinken nötigen. Leider war kein Gast, kein Sechser-Dragoner, kein Artillerist, Intellektueller, Nachtvogel, kein Schleißner, kein Peppler, kein Oskar, mit einem Wort kein staunendes Auge da, um den berühmten Großen Salon nicht wiederzuerkennen. Das Tanzparkett war zum größten Teil vom Katafalk in Anspruch genommen, die Glühbirnen glosten finster verhüllt, die Amoretten über den Spiegeln hatten schwarze Négligés angetan, ein Kreuz erhob sich zu 70 Häupten des jüdischen Sarges, große Kirchenkerzen brannten, und eine besonders zahlreiche Familie stark gepuderter Kleinbürgerstöchter in Trauer weinte, weil es sich so gehörte, weil man den Verstorbenen gekannt hatte, weil das Leben traurig, weil der Tod erschütternd und eine seltene Festlichkeit freudebringend ist. Während rote Nasen sich schneuzten und es ringsum schluchzte, hatte der Große Salon, dieser todesschwarze Raum, keine Vergangenheit. Und wiederum ging unbemerkt ein Augenblick vorüber, der gesättigt war von den erhabenen, den shakespeareschen Widersprüchen des Lebens. Aber ewig konnte man nicht schluchzen, sich schneuzen und den Sarg bestarren. Etwas mußte jetzt geschehn, jemand mußte ein Wort sagen, dem Toten einen Abschiedsspruch zurufen. Edith wurde immer verlegener. Schmerzlich machte sich das Fehlen des Priesters fühlbar, der große Mangel ihrer Veranstaltung, der sie doch so entsagungsvoll eine runde Summe geopfert hatte. Sie war außer sich, denn wie sollte ohne Gott und heilige Handlung die Feier ihren Fortgang nehmen? Alles war prächtig hergerichtet, jede Seele des erschütternden Abschieds gewärtig, und dennoch stand man schon zu lange umher, peinliche Fragen schienen die Luft zu verdicken; es war ein stiller Skandal. Edith zerbiß sich die Lippen, nichts Rettendes fiel ihr ein. Sie sandte verzweifelte Blicke umher... Und, siehe, plötzlich fielen diese verzweifelten 7i Blicke auf den Präsidenten More, der lang und schwarz in der Tür stand. Keiner der »Gäste« hatte sich eingefunden. Ihn aber führte sein warmes Herz und eine edle Denkungsart hierher. Edith pries die Weisheit des Schicksals und die Seele Mores. Seine Erscheinung ragte wie erschaffen für den Trauerpomp; jetzt konnte nichts mehr geschehn, da dieser unvergleichliche Funktionär des Todes, dessen Name selbst an Mors erinnerte, aufgetreten war. Die Wirtschafterin fiel flüsternd über ihn her und binnen zehn Sekunden war die Situation geret- tet. Daß der Präsident der Spinoza-Gesellschaft, der Ordensmeister der >Söhne des Bundes< eine bedeutende Rednergabe besaß und daß ein Grabsteinagent die Oratorik der Friedhöfe beherrschte, war selbstverständlich. Zu dieser Gabe trat (eine übliche Folge des Talents) die unbändige Sucht hinzu, bei allen Gelegenheiten, bei Eröffnung und Schließung von Sitzungen, Versammlungen, Kongressen, bei feierlichen und unfeierlichen Anlässen, bei Hochzeiten, Jubiläen, Trauerkommersen und harmlosen Gastereien, überall, wo es anging und nicht anging - die unbändige Sucht, auch Reden halten zu wollen! So war Edith jetzt nicht minder erfreut über die Zusage des Präsidenten, als er über ihre Bitte. Mit einem rasch-mißtrauischen Umblick erkundigte er sich danach, ob nicht etwa ein Unbefugter, ein Journalist gar, hier Zutritt gefunden habe. Dann erst stellte sich More an den Katafalk, hob den 72 Kopf, um der Inspiration zu lauschen und schloß die schmerzensvollen Augen. Nun begann er seine Rede zu halten, die ebensosehr und ebensowenig für den Toten hier unterm Bahrtuch als für irgend einen andern Verstorbenen Geltung haben konnte. Es war aber, und einzig daraufkommt es an, eine sehr schöne Rede. Der Präsident zitierte gleich eingangs Goethe und dessen Feststellung, daß der strebend bemühte Mensch erlöst werden könne. Der naheliegenden Gefahr, angesichts so vieler Bajaderen die »feurigen Arme der Unsterblichen« zu zitieren, welche »verlorene Kinder zum Himmel emporheben«, entging More im letzten Augenblick und rettete sich in jene unbedenklichere Strophe, in welcher der Neuling die Huri am Paradiesestor auffordert, »ihn immer nur ohne Federlesen hereinzulassen, weil er ein Mensch gewesen sei«. Die Zuhörer, vom unverstandenen Dichterwort angeschauert, erstaunten nicht über des Präsidenten Zumutung, sich Herrn Maxi als strebendbemühten und schwertumgürteten Kämpfer vor der Paradiesespforte vorzustellen. Vielleicht hat Herr Maxi allein sich über diese Vorstellung verwundert, wenn die Annahme einiger Geheimlehrer, daß die »Intelligenzen« der Toten ihre eigene Leichenfeier beobachten, zutreffend ist. Aber nicht allein bei Goethe blieb es. Der Redner berief auch noch Spinoza, Lessing, Jesaja, Haeckel und führte so bei einem traurigen Anlaß die geist- 73 vollsten Männer der Welt in den Großen Salon der Gamsgasse ein. Die Rede erreichte ihren Höhepunkt, als der Präsident sich mit männlich-herbem »Du« unmittelbar an den Toten wandte, den gewitterschwülen Ernst der Zukunft prophezeite, und in dem Abgeschiedenen das Sinnbild einer genußfrohen, heiteren und unbeschwerten Zeit pries, die nun auf der Bahre liege, um dahinzufahren für immer. Es sei bestimmt in Gottes Rat, daß man jetzt Abschied nehmen müsse von einem liebenswürdigen Menschen, und vielleicht, wer weiß, Abschied auch von der eigenen leichtbeschwingten Jugend. Bei dieser Stelle schlug das schwelende Schluchzen zur Flamme eines lauten Geheuls hoch. Ludmilla, von hoffnungsloser Liebe gepackt, schrie in ihr Taschentuch. Auch Oskar lag ja dort und wartete, noch heute begraben zu werden. Ilonka zerschlug sich in plötzlicher und düsterer Raserei die Brust. Manja, die harte Totengräberstochter, wand sich vor Schmerz. Edith kniete in fassungsloser Tränenzerknirschung vor dem Katafalk. Nur Grete hing mit trockenen, aber brennenden Augen an dem wortgewaltigen Munde des Spre- chers. Mit einem tröstlichen und weihevollen Ausklang schloß nun die Rede. Die aus dem Schmerzenstraum erwachten Damen benahmen sich linkisch wie Schulkinder oder Dienstmägde, als einer jeden von ihnen der Herr 74 Präsident mit strenger Beileidsmiene die Hand drückte. Am schnellsten erholte sich Edith von ihrer Erschütterung. Sie genoß dankbar das Glück, diese Feier, die ja ihr Werk und Verdienst war, einen erhebenden Verlauf nehmen zu sehn. Nach solch einer aufwühlenden Ansprache aber war es die Musik allein, die noch etwas zu sagen hatte. Die Wirtschafterin drängte deshalb Herrn Nejedli energisch zum Klavier. Es erwies sich aber, daß im Laufe der langen Jahre das Repertoire des ehemaligen »k. k. Titularwunderkindes Kaiser Ferdinands des Gütigen« bedenklich zusammengeschmolzen war. Tänze, Märsche, Schlager, ja, die saßen noch gut in den Fingern, aber man konnte doch unmöglich den Auszug eines Toten mit dem elektrisierenden >Einzug der Gladiatoren* feiern. Sehr schlimm stand es um die ernste Musik. Herrn Nejedlis Hände waren weder eines populären Chorals noch auch Chopins Trauermarsches mächtig. Alles in allem beschränkte sich sein gemütvolles Programm auf drei Nummern: >Lohengrins Brautzug<, Arie aus: >DieJüdin< und >Barcarole< aus >Hoffmanns Erzählungen*. Der Alte verwarf Lohengrin, ohne zu zaudern und entschloß sich zur Jüdin: »Großer Gott, hör mein Flehn! Hör mein Flehn, großer Gott!« 75 Niemand nahm Anstoß an der bewegten, fast lustigen Leidenschaftlichkeit dieses Allegros, und als Nejedli gar auf verbotenen Umwegen zur >Barcarole< hinüber modulierte, da sahen sich alle an, denn die Barcarole war ja Maxis Herzensmusik gewesen, bei der er immer »weinen mußte wie ein kleines Kind«. - Sinniger, verklärter konnte die Totenfeier nicht enden, als mit diesen ewigen Klängen, die auflichtbekränzten Barken über finstere Wasser gleiten: »Süße Nacht, du Liebesnacht, O stille mein Verlangen...« Die Träger mit dem Sarg ächzten und polterten an der goldbronzierten Venus und am Trompeter von Säckingen vorbei über die kranke, hustende Treppe. Die Damen folgten. Aber nicht mehr Trauertöne, sondern Geflüster und leises Gelächter war zu vernehmen. Vorhin, ja, da hatten sie sich ausgeweint bis zur Tränenneige. Tränen, sie löschen den göttlichen Durst unserer Seele, und deshalb sind wir glücklich und satt, wenn wir geweint haben. Die Damen waren glücklich und satt. Mehr noch, der freudige Stolz erfüllte sie, der aus allem Gelingen emporwächst. VIII Die Firma Blum lieferte nicht nur im Aufbau des Pomps wahre Expreßarbeit, vielmehr noch bewährte sie sich in der Abrüstung ihrer Schleier, Bespannungen, Draperien und Podeste. Rasch besorgte sie den Szenenwechsel zwischen Tod und Leben, wie ein guter Bühnenmeister seine Verwand- lungen. In diesem Fall besonders war Eile dringende Forderung, denn am Abend schon sollte das Haus dem Vergnügen wieder offen stehn und kein Rest des Todes durfte sich drückend auf die Seele der Gäste sen- ken. Hier war Schnelligkeit wirklich Hexerei. Kaum hatte der Kondukt sich in Bewegung gesetzt, flogen alle Fenster auf, Geschrei und Hammerschlag erscholl von neuem, und der Große Salon, von seinen unnatürlichen Fesseln befreit, fand zu sich selber zurück. Auch der durch Weihrauch, Kerzenqualm und unnatürliche Ausdünstungen getrübte Hausgeruch dehnte sich, nun wieder er selbst geworden, im Flur. Als nach zwei Stunden die Trauernden in ihren Landauern vom Friedhof heimkehrten, lag kein sichtbarer Schatten mehr über den Räumen und sie waren die alten. Mit einem leichten Fremdheitsgefühl durchschrit- 77 ten die Damen die alt-neuen Gemächer, denn jede Wohnstätte hat ihre Epochen und die Insassen fühlen es. Zwischen heute und heute lag ein Abgrund, klaffte das Grab, darein man vor einer Stunde die nackte, ungehobelte Holzkiste versenkt hatte. Präsident More war mit der Gesellschaft von der Beerdigung zurückgekehrt. Dort draußen in Olschan, wo er eine bekannte Persönlichkeit war, hatte er sich um seines Rufes willen ein wenig abseits gehalten, aber man konnte diese Zurückhaltung wohl als stille Bescheidenheit deuten. Der Präsident genoß wegen seiner erschütternden Trauerrede unbegrenzte Hochachtung. Mit scheuer Verlegenheit sahen die Mädchen zu ihm empor. Und dann, er war der einzige von allen »Gästen«, der ein menschliches Verhältnis zu ihnen und ihrem Leben gefunden hatte. Mit keiner anderen Absicht war er ja heute hierhergekommen, als dem Toten die Reverenz abzustatten und den Trauernden sein Beleid auszusprechen. Fräulein Edith wußte die erwiesene Ehre vollauf zu würdigen. Wahrhaftige Dankbarkeit in den Augen trat sie an More heran, hielt seine Hand zärtlich in der ihren und erklärte, daß sie nun wisse, w e r von den Freunden des Hauses ein wirklicher Mensch und Mann von Herz sei. Der Präsident zuckte trauervoll die Achseln und meinte, er kenne das Leben und wäre sich über den Lauf der Welt im klaren. Daß aber, wenn schon kein andrer, auch der Doktor Schleißner heute den Weg hierher nicht gefunden habe, das setze ihn doch in 78 Erstaunen. Edith gab zu verstehn, daß ein Mann ein Mann bleibe und keinen andern Zweck verfolge als echt männliche Schweinerei. Der Präsident sei eine Ausnahme. Das hätte sie ihm gleich angespürt. Ihr könne man keinen Schwindel vormachen; sie habe nichts, aber die Menschenkenntnis sei auch kein schlechtes Kapital. Da traten dem ernsten Biedermann Tränen in die Augen, weil das Schicksal ihm Gelegenheit gegeben hatte, sich tugendhafter zu bewähren, als diese Menschenkennerin es von der Mannheit im allgemeinen erwartete. Der wahre Grund seines Kommens war vergessen. Er begann zu glauben, daß die Humanität selbst, deren klassischen Meistern und Meisterwerken er rastlos diente, ihn heute hierhergeführt hatte. Die Damen umstanden die düster-würdige Gestalt im Kreis wie einen Lehrer, lauschten ihren Worten, und die ortsgemäßen Phrasen und Bemerkungen, die tagelang schon geschwiegen hatten, auch jetzt noch wagten sie sich nicht hervor, obgleich Ilonka eine schier unüberwindliche Verlockung empfand, ein paar saftige Kernworte ihres Berufsjargons in die Unterhaltung zu werfen. Der Große Salon, dessen Läden, wie es sich gehörte, geschlossen waren, lag wieder in seiner ihm eigentümlichen Beleuchtung und harrte mit rotem Plüsch, Marmortischen, Renaissancespiegeln und frisch gebohnertem Tanzparkett dem Lärm der Nacht entgegen. Nach und nach begannen die Mädchen trotz ihrer Trauerkleider den wiegenden Schritt 79 des Abends zu proben, den sie drei Tage lang vermieden hatten. Nur Ludmilla fehlte, die in einer Vorstadt zurückgeblieben war, um bei Verwandten Besuch zu ma- chen. Der Präsident, mit sich selber höchlich zufrieden, überlegte lange, ob er als solider Kaufmann in diesem Hause nicht auch seine Kundschaft sehen müsse. Er kam trotz gewisser moralischer Einwendungen zu dem Schluß, daß es als Zeichen beginnender U n tüchtigkeit und geschäftlicher Schlaffheit zu deuten wäre, wenn er sich bei so günstigen Umständen einen Kunden entschlüpfen ließe. So gab er sich denn einen Ruck und begann, diesmal ohne jedes Pathos, aber dafür mit klingendem Herzton abermals zu sprechen. »Kinder« - so etwa lautete seine Ansprache, wobei er Grete und Anita neben sich Platz nehmen ließ und einen Seufzer vorbrachte - »der Mensch stirbt und wir alle werden sterben. Wie dieses Sterben tut, das weiß keiner, und wer es weiß, Kinder, der weiß es auch nicht mehr. Gut! Damit muß man sich abfinden. Aber die Geschichte hat noch einen anderen Haken ...« Seine Stimme klang nun wissensschwer und resigniert : »So ein Grab, wenn es nicht gepflegt wird, verfällt, und ich gebe mein Wort darauf, innerhalb weniger Monate ist es ein Misthaufen. Ich spreche aus Erfahrung.« 80 Manja bestätigte das und More fuhr fort: »Die Pflege eines Grabes aber, meine Damen, kostet Geld, so häßlich es ist, die E r i n n e r u n g kostet Geld. Wer gibt dieses Geld? Anständige und korrekte Hinterbliebene! Wenn aber ein Mensch niemanden hat, was dann?!« Der Präsident schaute vielsagend von einer zur andern, ehe er sich anschickte, die Herzen zu treffen: »Was dann?! Fragt euch selbst, ob ihr dereinst jemanden haben werdet!« Das Argument saß. Wen würden sie dereinst haben?! Spital, Versorgungshaus, Anatomie und bestenfalls ein hartes Brot, so lautete des Märchens Ende, das man ihnen so oft erzählte. Der Präsident lächelte väterlich: »Nun, Herr Max Stein hat wenigstens so herzensgute Mädchen, wie ihr es seid, zu Hinterbliebenen. Aber wohin werdet ihr im kommenden Jahr verschlagen sein? Ihr könnt es nicht wissen!« Auch dieses Argument saß. Heute war man in der erstklassigen Gamsgasse beschäftigt und speiste mit silbernem Besteck. Aber dieJahre vergehn und nicht jede kann zur Wirtschafterin avancieren, Haupttreffer in der Lotterie und im Leben sind selten. Es hatte dutzendweise Manjas, Anitas, Ilonkas gegeben, die zu >Napoleon< zurücksanken und dann immer tiefer und tiefer in der Provinz verkamen. Der Präsident wollte niemanden betrüben, plötzliche Erleuchtung zeigten jetzt seine Züge: »Mir kommt eben ein guter Gedanke! Wie wäre 81 es, wenn ihr unter euch eine kleine Sammlung veranstalten wolltet, um dem Toten ein Steinchen mit seinem Namen aufs Grab zu setzen. Ich spreche aus Erfahrung! So ein Marmor (es muß natürlich nicht gerade Marmor sein, auch Sandstein zum Beispiel macht sich recht gut); aber Marmor vor allem erhält ein Grab in alle Ewigkeit jung. Selbstverständlich geschmackvollste Ausführung, keine Bildhauerarbeit, einfache goldene Schrift! Wer dann in vielen Jahren vorübergeht, liest: >Max Stein<, sagt Aha und erinnert sich. - Was meint ihr? Wollen wir nicht eine kleine Kollekte eröffnen? Das heißt, nur wenn es euch wirklich einleuchtet. Denn mir selbst kann es ja gleich sein. Ich denke aber an alles und habe zufällig einen Preiskurant mitgebracht. Von dreihundert Kronen aufwärts erhält man schon ganz passable Denkmäler...« Vom Herzen der Damen war der Druck dieser letzten Tage noch nicht gewichen. Noch fühlten sie sich auf dem Parkett des Großen Salons nicht zu Hause. Das Bild des Friedhofs stand vor ihren Augen. Die Frage: »Wen werdet ihr haben?« wohnte noch in ihrem Ohr. Gern hätten sie sich von dem Gedanken an das Schicksal losgekauft, das ihnen doch angstvoller drohte als andern Menschen. Und ist der Tod nicht jene Naturerscheinung, die in allen einfachen Völkern und Personen den Trieb anregt, Opfer darzubringen? So waren die Worte Mores auf fruchtbaren Boden gefallen. Mehr oder weniger eifrig begab sich alles 82 auf die Zimmer. Die Barschaften und Ersparnisse wurden gezählt und wieder gezählt. Je nach dem Maß von Großherzigkeit, Glauben, Geiz und Geberlaune fiel das dargebrachte Opfer aus. Valeska, das eitelste und gutmütigste Herz von allen, kam, weil sie von der Kollekte schon beim U m kleiden betroffen worden war, oder nur weil sie das Bedürfnis hatte, sich in ihrer Pracht zu zeigen, kurz, sie kam splitternackt herunter, um die fünfundzwanzig Kronen ihres Tributes an den Tod dem Geschäftsvertreter des Todes persönlich einzuhändigen. Und wunderbar! Als in dem noch immer verstimmten Düster des Großen Salons plötzlich die freudige Fleischfarbe dieses Frauenleibes aufblühte, schien er das erstemal nach Maxis Tod wirklich zu sich kommen zu wollen. Der erschöpfte Raum lächelte matt und holte zögernd Atem wie ein Kranker, dessen Zustand sich dem Leben zuwendet. Valeska aber drehte sich berauscht um ihre eigene ansehnliche Achse. Es war ein traulicher, ja anheimelnder Augenblick. In der nächsten Viertelstunde hatte Präsident More die meisten Mädchen mit ihren bürgerlichen Namen und mit angemessenen Beträgen in eine Spendenliste eingetragen. Nur Fräulein Edith, die das Ihre getan, und Manja, die Eingeweihte, die den Schwindel kannte, versagten ihre Teilnahme. Der Grabsteinagent konnte die schöne Ordre in sein Taschenbuch eintragen und auch er tat - gerührt 83 über sich selbst - ein Übriges, indem er seine Provision von den üblichen fünfzehn auf sieben und ein halbes Prozent herabminderte. Die Ankleidezeit und mit ihr der Figaro waren gekommen. Die gewohnte Erregung fuhr in die Damen. Man drängte schreiend über die Stiegen ins Stockwerk der Garderoben. Mächtig erklang Ilonkas Lieblings-Kraftwort, das sie nun aus befreiter Brust hervorjubelte. Grete allein blieb neben dem Präsidenten im Salon sitzen. Sie griff nach seiner Hand. »Also! Ein großes Loch! Da wird man hineingeschüttet! Dreck und fertig!« Der Vorsitzende der Spinoza-Gesellschaft wehrte, ohne seine Weltanschauung deutlicher preiszugeben, kurz ab. »Das ist nicht das Wesentliche!« Grete erstaunte: »Sag' mal, Präses, du glaubst doch nicht an den Himmel wie Edith?« Der Präsident begnügte sich, mit Doktor Faust zu bemerken: »Und sehe, daß wir nichts wissen können.« Grete aber war noch nicht am Ende ihrer Metaphysik angelangt. Sie sah More scharf an und betonte jedes Wort: »Wenn es möglich ist, daß wir in den Himmel kommen, warum regnet's dann immer, wenn einer begraben wird?« Sie triumphierte. Aber der Präsident entkräftete 84 ihren feinen Syllogismus durch trockene Berufser- fahrung: »Ich habe in meiner Praxis auch schöne Begräbnistage erlebt.« Grete fragte plötzlich: »Du Präses! Was hat Spinoza gesagt?« »Der hat vieles gesagt, mein Kind!« »Hat das Spinoza geschrieben: >Sör, geben Sie Gedankenfreiheit !L< in seinem Namen zahlen müssen? Was? Das war großartig fein von dir, daß du heut gekommen bist, Präses!« Der Präsident lächelte herablassend und fuhr bedächtig mit seiner großen behaarten Hand Gretes lange Beine hin. Sie seufzte an seiner Brust: »Du sollst mein Gebieter sein und darfst mir kein Geld geben.« Da aber kannte sie den Präsidenten schlecht. Er erhob sich zu seiner vollen Höhe und erklärte, er sei ein Gast wie jeder andere und verzichte darauf, eine Ausnahme zu machen. Gern wolle er sich jetzt mit ihr aufs Zimmer begeben. Geschenke aber nehme er nicht an. Wie käme sie dazu und wie käme er dazu. Ordnung müsse sein! Das Paar verschwand. Zu gleicher Zeit erhielt Edith von Ludmilla die Botschaft, daß sie nicht mehr in die Gamsgasse zurückkehren werde. VIII Hier müssen diese kurzen und flüchtigen Aufzeichnungen notgedrungen enden, denn die Geschichte des altehrwürdigen Hauses in der Gamsgasse e n det hier. Eine unbeträchtliche Chronik »letzter Tage« umschließen unsere Blätter, wenn man, ohne jede geschichtliche Schwärmerei, nüchternen Sinnes annimmt, daß dieses berühmte Haus nach der Schlacht auf dem Weißen Berge etwa gegründet worden ist. Die glanzvolle Vermutung, daß schon dreihundert Jahre früher Kaiser Karl der Vierte von Luxemburg sein Schöpfer gewesen sei, gehört wohl nur in das Reich der Sage. Aber dies ist ja das Wesen des Ruhmes; auch die Taten und Leistungen unbekannter Männer schreibt er dem strahlenden Namen zu. Warum soll Karl, der große Städtebauer, dem wir die Neustadt, die Universität und alte Brücke verdanken, nicht auch den Grundstein zum Großen Salon der Gamsgasse gelegt haben? Gewaltige Epochen jedenfalls und ein riesiges Lebensalter waren ihm beschieden zwischen dem dreißigjährigen und dem Weltkrieg. Diese großartige Lebensdauer hätte ein romantischeres Ende verdient, als in der Person eines dekadenten, halbschwachsinnigen »Letzten« auszulöschen. Aber gehen die mächtigen Reiche der Welt dann effektvoller 87 unter? Sie glauben zu bestehen, sie führen Krieg, und eh sie noch wissen wie, sind sie aufgelöst und als Beute verteilt. In dem paradoxen Augenblick, wo Herr Maxi im Großen Salon auf der Bahre lag, hatte sich das Schicksal des Etablissements erfüllt, mochte es sich auch bis zum Umsturz noch hinschleppen. Die Erben taugten nichts. Das beweist zur Genüge der Umstand, daß Fräulein Edith, die frömmste und umsichtigste aller Wirtschafterinnen, schon in den ersten Tagen des neuen Regimes ihre Kündigung einbrachte. Diese Kündigung und die Sittenstrenge der neuen Staatsmänner gaben der Unternehmung den Rest. Das Haus steht noch. Aber der Lederhandel der Umgebung hat es erobert und selbst der eigenartige, einst unüberwindliche Duft des Vorraums soll, sicherem Vernehmen nach, vom Juchtengeruch völlig vertilgt worden sein. Im übrigen ist jeder Tod ein höherer Wahrspruch, und nichts stirbt, dessen Zeit nicht gekommen ist. Wenn man heute, nächtlicherweile, durch die von Lichtreklamen durchgellten Straßen geht, liest man an jeder Ecke die Aufschriften von Lokalen, welche der Freude nicht, aber dem Tanze geweiht sind. Das Saxophon des Negers quäkt. Durch die grellen Portale gehn wirkliche Damen aus und ein, und ihre herrlichen und freien Beine locken deutlicher, als es einst selbst in der Gamsgasse die Regel war. 88 Vergrämt, durch eine ungebuchte und schier unendliche Neben-Buhlschaft ums Brot gebracht, zieht müde die Straßendirne über den verlassenen Strich. Wer weiß, ob es überhaupt noch öffentliche Häuser gibt? So kann vielleicht unserer Schilderung, wenn kein anderer, doch ein historischer Wert zugesprochen werden. Nach den unwichtigen Schicksalen höchst unwichtiger Personen wird sich niemand erkundigen. Sie hatten ja auf diesem Bilde nur die Rolle der Staffage inne. Auch würde die Erkundigung den Gefragten in Verlegenheit setzen. Natürlich wird er sofort herausplatzen: »Wissen Sie, daß Oskar ein ganz Prominenter geworden ist und das schönste Landhaus in einer amerikanischen Filmstadt besitzt?« Diese Frage aber geht verloren, da doch jeder Zuluneger Oskar von der Leinwand her kennt. Hingegen sieht man Ludmilla mehrmals in der Woche an allen wichtigen Abenden in den Theatern der Stadt. Sie ist nicht eigentlich dicker geworden, nur im Kampfe mit dem Doppelkinn scheint das Doppelkinn Sieger bleiben zu wollen. Man kann sie noch immer hübsch nennen. Ihre schlanken, klassischen Beine feiern, von der Mode begünstigt, auf der Straße alltäglich Triumphe. Ihre alten Bekannten haben längst das Wagnis aufgegeben, sie zu grüßen. Sie dankt nur jenen Herren, die sie erkennt, und gerade ihre alten Bekannten 89 erkennt sie nicht. Sie blickt ihnen mit angestrengten Kinderaugen in die Gesichter, an die sie sich - sie mögen noch so wissend lächeln oder schmeicheln beim besten Willen nicht erinnern kann. Auch Oskar, der sich auf einer europäischen Triumphreise befindet, erging es jüngst nicht anders. Die angestrengten Kinderaugen erkannten ihn nicht, und nichts anderes bekam er in diesen Augen zu lesen, als die gelangweilte Verwunderung einer Weltdame über zudringliche Blicke. Er aber blieb eine ganze Weile verstört und sprach nichts, was wieder einmal beweist, daß der Mann eitler ist als das Weib. Wer wollte Ludmilla ihr schlechtes Gedächtnis vorwerfen? Mit Blut hat der Krieg noch ganz andere Erinnerungen weggeschwemmt. Auch ist sie längst schon die Frau eines einflußreichen Abgeordneten der Republik. Der Zufall wollte es, daß er in den enthusiastischen Tagen des Umsturzes ein Glied jener parlamentarischen Kommission war, die unter dem Vorsitz einer bekannten Frauenrechtlerin die »kasernierte Prostitution« zu Fall brachte und mithin auch das Schicksal des Großen Salons entschied. Frau Ludmillas Gatte gilt als Idealist, er war bisher in keinen der zahlreichen Korruptions-Skandale verwickelt, und ist, wie man hört, eine große politische Hoffnung. Nun, ihr und dem Staate wäre es aufrichtig zu wünschen, daß er bei Bildung des nächsten Kabinetts Minister würde.