Franz Werfel: Barbara oder Die Frömmigkeit. Wien: Zsolnay, 1929. Zweites Lebensfragment. Zweites Kapitel. Chronik. S. 161-162 Mama und ihre Schwester hatten jederzeit einer bestimmten, nicht gerade vorurteilsfreien nationalen Rangordnung gehuldigt. Über die Deutschen der Monarchie, zu denen man selbst gehörte, sprach man nicht viel. Sie waren ein wertvoll-tüchtiges, aber glanzloses Volk, dem anzugehören weder eine Schande noch eine Ehre bedeutet. Die Slawen verachtete man. Sie galten als Dienstbotennation, sie gehörten in die Küche, sie besaßen keine Gesellschaft und demzufolge keine höheren Manieren , sie sannen auf Abfall, in ihrem Herzen schlummerten die gefährlichsten Gegensätze der Sklavengesinnung: Weichmut und blutrünstiger Haß. Unter ihnen leben, glich einer Art von Verbannung. War man fern von den beiden Mittelpunkten der Doppelmonarchie ans slawische Land gefesselt, kam man sich wie ein alter Römer in barbarischen Provinzen vor. Ernst Weiß: Franz Werfel, Barbara oder Die Frömmigkeit Ernst Weiss booktitle Die Ruhe in der Kunst title Literaturkritiken publisher Aufbau-Verlag Berlin und Weimar printrun 1. Auflage editor Dieter Kliche year 1987 Kap. 22 »Barbara oder Die Frömmigkeit« heißt der neue Roman Werfels. Es ist ein schwerer Band von über achthundert Seiten, und ebenso gewichtig wie sein Format ist der Bereich dessen, was er umfassen, erschöpfen will: ein großes Weltgebäude der Vorkriegs-, Kriegs-, Revolutionszeit und der Gegenwart. So umschreibt der Dichter selbst seinen Gegenstand, so setzt er sich sein Ziel. Träger dieses universalen Geschehens ist ein junger Mensch. Jung nicht nur deshalb, weil er, Ferdinand R., am Ende des Buches (oder vorausgenommen schon am Anfang) sich uns als etwa Dreißigjähriger vorstellt, sondern jung vor allem, weil er von seiner Mutter nie loskommt und sein ganzes Leben lang unter dem (wohltätigen) Schatten dieser gütevollen Mutter Barbara bleibt bis zum Schlusse. Es ist nicht die leibliche Mutter, sondern eine Pflegebefohlene, besser gesagt: eine zur Pflege geborene, eine zum Pflegenkönnen begnadete Frau, die alte Dienstmagd Barbara. Ist sie also die Verkörperung der »Frömmigkeit«? Fast könnte es so scheinen beim ersten Lesen des Werkes. Aber sie ist zu glücklich in ihrem Glauben, um – so paradox es klingt – wahrhaft fromm zu sein. Denn Heilige sind nicht die leichthin Glücklichen im Glauben, sondern Kämpfende um den Glauben sind es, Schwankende, Zweifelnde, endlich Obsiegende, der Versuchung Widerstehende. Heiliger ist, wer an sich nach Art der »Versuchung des heiligen Antonius« des Flaubert das ganze grandiose, lust- und schaudervolle Weltgebäude in seiner Universalität von der unbegreiflichsten Qual bis zur unbegreiflichsten Seligkeit an sich vorüberwandeln lassen kann und der dann am Morgen nach der von Versuchungen ungeheuerlich bedrängten Nacht nur neu gestärkt in seinem Glauben aufstehen kann. Dieses »am Morgen nach einer von Versuchungen ungeheuerlich bedrängten Nacht in seinem Glauben neu gestärkt Aufstehen«, das trifft aber viel eher zu auf den jungen Ferdinand. Barbara ist also der praktische Sinn, die Ordnung, auch im Himmelreich auf Sauberkeit bedacht, die irdische Liebe, zur rechten Seite des ewigen Quells, Ferdinand aber ist der Träger der himmlischen Liebe, die an allen irdischen, fleischlichen Glückseligkeiten sich nicht satt essen kann. Ebensowenig aber wird einer solchen Art Menschen mit der billigen Lösung der Geistesfragen durch organische Systeme, seien es theologische oder marxistische, gedient sein. Nur bei Menschen wie Barbara »geht Gott in Ordnung« – um ein infernalisches Wort Werfels zu wiederholen, das dieser einem ärarischen Pseudogeistlichen in den Mund legt, der, entgegen seiner Mission und entgegen aller Menschlichkeit, drei Unschuldige, zum Erschossenwerden Verurteilte bei ihrem letzten Gange trösten soll. Ferdinand ist aber ebenfalls zu diesem Standgericht verurteilt. Nicht zum Erschossenwerden, sondern zum Erschießen. Nicht zum Leiden verurteilt, sondern zum Kommandieren, zur Verantwortung. Zum unmenschlichen Kommando als Offizier des Weltkrieges ist er bestimmt – aber er versteht die Stimme noch nicht, bei Menschen seiner Art geht Gott nicht in Ordnung. Die Waage schwankt. Zum erstenmal und in entscheidender Weise schwankt sie hier in dem fabelhaft packend und aufregend geschilderten Augenblick dieser Exekution, wo Ferdinand, der Zarte, Schwächliche, die Unsoldatennatur, die Kraft finden soll und findet, nein zu sagen. Statt »Feuer« kommandiert er dem Exekutionsdetachement »Schultert«. Leicht ist es noch, die irdischen Folgen dieser Insubordination auf sich zu nehmen. Er wird sofort strafweise in eine höchst exponierte Stellung geschickt, wird also selbst (auch er ohne Gericht, ohne Gesetz) zum Tode verurteilt, zum Tode durch Erschießen durch die Russen. Schwer verwundet wird er aufgelesen, mühselig geheilt – es entrollen sich die grauenhaftesten Schilderungen von Krieg, Leiden und Verwesung. Aber das Gesetz wird nicht ausgesprochen. Es ist ja den vom Gesetz Betroffenen nicht bekannt, aber es muß dennoch gelebt werden – das ist der Sinn dieser aneinandergereihten Wechselpanoramen. Göttliche und menschliche Ordnung gehen, darf man sagen, in altösterreichischer Schlamperei durcheinander. Einmal heißt es sehr merkwürdig, sehr bezeichnend an einer nicht weiter bedeutsamen Stelle: »... Nun sah Ferdinand aus einer engen Luke auf das traurige Feld: Konservenbüchsen, Stangen, Traversen, Senkgruben. Dennoch erkannte er, daß sein Posten, der im vordersten Graben lag, eine Gnade Gottes und Hauptmann Prechtls war. Da krähte ...« Wird der Hahn krähen, der den Heiland im Apostel verrät? Nein, bloß der Telefonapparat, den der junge Soldat Gottes bedient. So handelt es sich bei allem vielfältigen Geschehen nicht um die Schuld eines einzelnen und noch weniger um eine Sühne. Handelt es sich überhaupt? Wirken die einzelnen Figuren dieses Werkes aufeinander, werden sie besser, schlechter, reicher, ärmer, klüger, trauriger durcheinander, oder leben sie nur nebeneinander hin, einander ebensowenig beeinflussend, wie es die gewirkten Figuren an einem Gobelin aus dem sechzehnten Jahrhundert tun? Das ist die Stärke und die Schwäche dieses groß angelegten Werkes. Was geschieht, sind nur aufgeblätterte Erinnerungen. »Das einzige Geheimnis, das Ferdinand hat, ist das einer ganz seltenen und mächtigen Erinnerungskraft. Es gibt sehr wenige Menschen, in denen ein ähnlich umfangreicher und 312 farbenprächtiger Bilderschatz lebt, der bis in die tiefste Kindheit hinabreicht.« Der Schiffsarzt Ferdinand R., dreißigjährig, steht auf dem Verdeck eines Schiffes und erinnert sich. Das ist das Buch. Alte Tage kommen wieder, der Vater, die Mutter, die Kadettenanstalt, das Priesterseminar und eine unabsehbare Reihe von Menschen, die wohl nach der Natur gezeichnet sind. Man wird in einer dieser Figuren Egon Erwin Kisch porträtgetreu wiederfinden, in einer anderen den tragischen Dichter Otfried von Krzyzanowsky, in einer dritten den kokain- und philosophiesüchtigen Sohn des hervorragenden Strafrechtslehrers Groß ... Menschen, Menschen, Gesichter über Gesichtern. Oder sind es Gesichte, das heißt Gesichter, die einen Sinn haben, eine Bedeutung, eben das Gesetz, nach dem Werfels Freund Franz Kafka Tag für Tag seines schweren Lebens vergebens, verzweifelnd suchte? Also einzig und allein um den Sinn dieser tausendfach verzweigten Ereignisse und Gestalten handelt es sich – um sonst nichts. Werfel sagt von seinem Helden nach der großen Entscheidung, nach der Auflehnung gegen die Ungerechtigkeit der Welt: »Schrie nicht alles nach Erlösung? Eine Stunde der Größe hatte er selbst erlebt. Millionen Zertretene harrten des Menschen, der sie sammeln und gegen das Schandgesetz der Macht führen würde ... Als Ferdinand zum erstenmal die Zusammenhänge der Weltschuld ahnte, verfiel er – die Heilung war damals noch nicht vollendet – in krampfhafte Erregungszustände ... in der Folge kam eine schmerzliche Verwirrung, die ihm aber selbst als Klärung erschien. ... Oft dachte er daran, dem Kriegsdienst öffentlich abzuschwören ...« Und so kommt es. Seine Rettung ist Reinigung. Er tut das Grauen der Welt von sich ab, dieser junge, zarte, weltscheue Mensch – er kommt »dem ahnenden Wissen« näher. Wie weit kommt er ihm näher? Gelangt er zu der »wissenden Entscheidung«? Der typischen? Der für andere Menschen gültigen? Oder stellt er das Exempel eines durch alle Höhen und Tiefen gejagten Lebens – stellt er das Exempel eines einzigartigen Lebens beispielgebend für sich selber auf? Seine Frömmigkeit soll Weltfrömmigkeit sein. Nach Art der Chassiden ist dieser katholische Offizierssohn um so frömmer, je glücklicher er ist. Wird er glücklich? Ist er fromm? Zum Schlusse steht der Mann auf der Schiffsbrücke. Die immense Erinnerungskurve hat zu ihrem Beginn zurückgefunden. Er ist wieder bei Barbara. Ihr Vermächtnis zu Lebzeiten, einen schweren Beutel mit echtem, hundertprozentigem Golde wiegt er in der Hand. Das Gold schüttet er ins Meer und wirft den Leinwandbeutel hinterdrein. Vielleicht hat er erreicht, was er wollte. Ist er dort, wo irdische Reichtümer den Menschen nicht mehr beseligen können? Ist er jetzt den Menschen wirkend zugewandt, hat er, wenigstens für sich, den Weg, den Sinn gefunden, um den es in diesen achthundert Seiten geht? Ich weiß es nicht. Denn folgendermaßen lautet der Schluß des Buches: »Barbaras Gold ruht von Stund an in der Tiefe der Welt... Ferdinand hält noch immer die Hand ausgestreckt. Das Schiff aber ist weitergerückt, und seine Hand segnet nicht mehr das Opfer, sondern eine fremde und gleichgültige Stelle des Meeres. Noch drei Pulsschläge lang verharrt er. Dann wendet er sich um. Die Augen brennen, und die Knie zittern. Aber der Körper ist von wachsenden Kraftfluten durchströmt. Seine Gestalt, sein Schritt, sein Gesicht atmet jetzt eine solche Strenge und Unnahbarkeit aus, daß ihn der Beobachter hinter einer Ankerwinde ruhig vorübergehen läßt ...« Anfang oder Ende?