Tschitrakarna, das vornehme Kamel "Bitt' Sie, was ist das eigentlich: Bushido?" fragte der Panther und spielte Eichelas aus. "Bushido? hm", brummte der Löwe zerstreut. "Bushido?" "Na ja, Bushido", – ärgerlich fuhr der Fuchs mit einem Trumpf dazwischen, – "was Bushido ist?" Der Rabe nahm die Karten auf und mischte. "Bushido? das ist der neueste hysterische 'Holler'! Bushido, das ist so ein moderner 'Pflanz', – eine besondere Art, sich fein zu benehmen, – japanischen Ursprungs. Wissen Sie, so was wie ein japanischer 'Knigge'. Man grinst freundlich, wenn einem etwas Unangenehmes passiert. Zum Beispiel, wenn man mit einem österreichischen Offizier an einem Tisch sitzen muß, grinst man. Man grinst, wenn man Bauchweh hat, man grinst, wenn der Tod kommt. Selbst wenn man beleidigt wird, grinst man. Dann sogar besonders liebenswürdig. – Man grinst überhaupt immerwährend." "Ästhetentum, mhm, weiß schon, – Oscar Wilde – ja, ja", sagte der Löwe, setzte sich ängstlich auf seinen Schweif und schlug ein Kreuz, – "also weiter." "Na ja, und der japanische Bushido wird jetzt sehr modern, seit sich die slawische Hochflut im Rinnstein verlaufen hat. Da ist z. B. Tschitrakarna – –" "Wer ist Tschitrakarna?" "Was, Sie haben noch nie von ihm gehört? Merkwürdig! Tschitrakarna, das vornehme Kamel, das mit niemandem verkehrt, ist doch eine so bekannte Figur! Sehen Sie, Tschitrakarna las eines Tages Oscar Wilde, und das hat ihm den Verkehr mit seiner Familie so verleidet, daß es von da an seine eigenen einsamen Wege ging. Eine Zeitlang hieß es, es wolle nach Westen, nach Österreich, – dort seien nun aber schon so unglaublich viele – –" "Kscht, ruhig, – hören Sie denn nichts?" flüsterte der Panther –. "Es raschelt jemand –" Alle duckten sich nieder und lagen bewegungslos wie die Steine. Immer näher hörte man das Rascheln kommen und das Prasseln von zerbrochenen Zweigen, und plötzlich fing der Schatten des Felsens, in dem die vier kauerten, an zu wogen, sich zu krümmen und wie ins Unendliche anzuschwellen – –- – Bekam dann einen Buckel, und schließlich wuchs ein langer Hals heraus mit einem hakenförmigen Klumpen daran. Auf diesen Augenblick hatten der Löwe, der Panther und der Fuchs gelauert, um sich mit einem Satz auf den Felsen zu schnellen. Der Rabe flatterte auf wie ein Stück schwarzes Papier, auf das ein Windstoß trifft. Der bucklige Schatten stammte von einem Kamel, das den Hügel von der andern Seite erklommen hatte und jetzt beim Anblick der Raubtiere in namenlosem Todesschreck zusammenzuckend sein seidenes Taschentuch fallen ließ. Aber nur eine Sekunde machte es Miene zur Flucht, dann erinnerte es sich: – Bushido!! blieb sofort steif stehen und grinste mit verzerrtem käseweißem Gesicht. "Tschitrakarna ist mein Name", sagte es dann mit bebender Stimme und machte eine kurze englische Verbeugung, – "Harry S. Tschitrakarna! – Pardon, wenn ich vielleicht gestört habe" – dabei klappte es ein Buch laut auf und zu, um das angstvolle Klopfen seines Herzens zu übertönen. Aha: Bushido! dachten die Raubtiere. "Stören? Uns? Keineswegs. Ach, treten Sie doch näher", sagte der Löwe verbindlich (Bushido), "und bleiben Sie, bitte, solange es Ihnen gefällt. – Übrigens wird keiner von uns Ihnen etwas tun, – Ehrenwort darauf, – mein Ehrenwort." Jetzt hat der auch schon Bushido, natürlich jetzt auf einmal, dachte der Fuchs ärgerlich, grinste aber ebenfalls gewinnend. Dann zog sich die ganze Gesellschaft hinter den Felsen zurück und überbot sich in heiteren und liebenswürdigen Redensarten. Das Kamel machte wirklich einen überwältigend vornehmen Eindruck. Es trug den Schnurrbart mit den Spitzen nach abwärts nach der neuesten mongolischen Barttracht. "Es ist mißlungen" und ein Monokel – ohne Band natürlich – im linken Auge. Staunend ruhten die Blicke der vier auf den scharfen Bügelfalten seiner Schienbeine und der sorgfältig zur Apponyikrawatte[Zdenek Ma1] geschlungenen Kehlmähne. Sakerment, Sakerment, dachte sich der Panther und verbarg verlegen seine Krallen, die schwarze, schmutzige Ränder hatten vom Kartenspiel. Leute von guten Sitten und feinem Takt verstehen einander gar bald. Nach ganz kurzer Zeit schon herrschte das denkbar innigste Einvernehmen, so daß man beschloß, für immer beisammen zu bleiben. Von Furcht war bei dem vornehmen Kamel begreiflicherweise keine Rede mehr, und jeden Morgen studierte es "The Gentlemans Magazine" mit derselben Gelassenheit und Ruhe wie früher in den Tagen der Zurückgezogenheit. Zuweilen wohl des Nachts – hie und da – fuhr es aus dem Schlafe mit einem Angstschrei auf, entschuldigte sich aber stets lächelnd mit dem Hinweis auf die nervösen Folgen eines bewegten Vorlebens. Immer sind es einige wenige Auserwählte, die ihrer Umgebung und ihrer Zeit den Stempel aufdrücken. Als ob ihre Triebe und ihr Fühlen wie Ströme geheimnisvoller lautloser Überredungskunst sich von Herz zu Herz ergössen, schießen heute Gedanken und Ansichten auf, die gestern noch mit kindlicher Angst das zagende, sündenreine Gemüt erfüllt hätten und die vielleicht schon morgen das Recht der Selbstverständlichkeit werden erworben haben. So spiegelte sich schon nach wenigen Monaten der erlesene Geschmack des vornehmen Kamels überall wieder. Nirgends mehr sah man plebejische Hast. Mit dem stetigen gelassenen, diskret schwingenden Schritte des Dandy promenierte der Löwe – weder rechts noch links blickend, und zum selben Zwecke wie weiland die vornehmen Römerinnen trank der Fuchs täglich Terpentin und hielt streng darauf, daß auch in seiner gesamten Familie ein gleiches geschah. Stundenlang polierte der Panther seine Krallen mit Onglissa, bis sie rosenfarbig in der Sonne glänzten, und ungemein individuell wirkte es, wenn die Würfelnattern stolz betonten, sie seien gar nicht von Gott erschaffen worden, sondern, wie sich jetzt herausstellte, von Kolo Moser und der "Wiener Werkstätte" entworfen. Kurz, überall sproßte Kultur auf und Stil, und bis in die konservativen Kreise drang modernes Fühlen. Ja, eines Tages machte die Nachricht die Runde, sogar das Nilpferd sei aus seinem Phlegma erwacht, frisiere sich rastlos die Haare in die Stirne (sogenannte Giselafransen) – und bilde sich ein, es sei der Schauspieler Sonnental. Da kam der tropische Winter. Krschsch, Krschsch, Prschsch, Prschsch, Krschsch, Prschsch. So ungefähr regnet es zu dieser Jahreszeit in den Tropen. Nur viel länger. Eigentlich immerwährend und ohne Unterlaß von Abend bis früh, von früh bis Abend. Dabei steht die Sonne am Himmel, mies und trübfarbig, wie ein Lebkuchen. Kurz, es ist zum Wahnsinnigwerden. Natürlich wird man da gräßlich schlecht aufgelegt. Gar wenn man ein Raubtier ist. Statt sich nun eben jetzt eines möglichst gewinnenden Benehmens zu befleißigen – schon aus Vorsicht –, schlug ganz im Gegenteil das vornehme Kamel des öfteren einen ironisch überlegenen Ton an, besonders, wenn es sich um wichtige Modefragen, Schick und dergleichen handelte, was naturgemäß Verstimmung und mauvais sang erzeugen mußte. So war eines Abends der Rabe in Frack und schwarzer Krawatte gekommen, was dem Kamel sofort Anlaß zu einem hochmütigen Ausfall bot. "Schwarze Krawatte zum Frack darf man – man sei denn ein Sachse – bekanntermaßen nur bei einer einzigen Gelegenheit tragen" – hatte Tschitrakarna fallen lassen und dabei süffisant gegrinst. Eine längere Pause entstand, – der Panther summe verlegen ein Liedchen, und niemand wollte zuerst das Schweigen brechen, bis sich der Rabe doch nicht enthalten konnte, mit gepreßter Stimme zu fragen, welche Gelegenheit das denn sei. "Nur, wenn man sich begraben läßt", hatte die spöttische Erklärung gelautet, die ein herzliches, den Raben aber nur noch mehr verletzendes Gelächter auslöste. Alle hastigen Einwendungen wie: Trauer, enger Freundeskreis, intime Veranstaltungen usw. usw. machten die Sache natürlich nur noch schlimmer. Aber nicht genug damit, ein anderes Mal – die Sache war längst vergessen – als der Rabe mit einer weißen Krawatte, jedoch im Smoking, erschienen war, brannte das Kamel in seiner Spottlust förmlich nur darauf, die verfängliche Bemerkung anzubringen: "Smoking? Mit weißer Krawatte? Hm! wird doch nur während einer Beschäftigung getragen." "Und die wäre?" war es dem Raben voreilig herausgefahren. Tschitrakarna hüstelte impertinent: "Wenn Sie jemanden rasieren wollen" – – Das ging dem Raben durch und durch. In diesem Augenblick schwor er dem vornehmen Kamel Rache bis in den Tod. Schon nach wenigen Wochen fing infolge der Jahreszeit die Beute für die vier Fleischfresser an, immer knapper und spärlicher zu werden, und kaum wußte man, woher auch nur das Allernötigste nehmen. Tschitrakarna genierte das natürlich nicht im geringsten; stets bester Laune, gesättigt von prächtigen Disteln und Kräutern, lustwandelte es, wenn die andern mit aufgespannten Regenschirmen fröstelnd und hungrig vor dem Felsen saßen, in seinem raschelnden wasserdichten Mackintosh – leise eine fröhliche Melodie pfeifend – in allernächster Nähe. Und das ging Tag für Tag so! Mitansehen müssen, wie ein anderer schwelt und selbst dabei verhungern!!! "Nein, hol's der Teufel", hetzte eines Abends der Rabe (das vornehme Kamel war gerade in einer Premiere), "hauen wir doch dieses idiotische Gigerl in die Pfanne. Tschitrakarna!! Hat man denn was von dem Binsenfresser? – Bushido! – natürlich Bushido! – ausgerechnet jetzt im Winter; so ein Irrsinn. Und unseren Löwen – Bitte, sehen Sie doch nur, wie er von weitem aussieht jetzt, – wie ein Gespenst – unseren Löwen, den sollen wir glatt verhungern lassen, hm? Das ist vielleicht auch Bushido, ja?" Der Panther und der Fuchs gaben dem Raben rückhaltlos recht. Aufmerksam hörte der Löwe die drei an, und das Wasser lief ihm zu beiden Seiten aus dem Maul, während sie ihm Vorstellungen machten. "Töten? – Tschitrakarna?" – sagte er dann. "Nicht zu machen, gänzlich ausgeschlossen; pardon, ich habe doch mein Ehrenwort gegeben", und erregt ging er auf und nieder. Aber der Rabe ließ nicht locker: "Auch nicht, wenn es sich von selbst anbieten würde?" "Das wäre natürlich was anderes", meinte der Löwe. "Wozu aber all diese dummen Luftschlösser!" Der Rabe warf dem Panther einen heimtückischen Blick des Einverständnisses zu. In diesem Augenblick kam das vornehme Kamel nach Hause, hängte Opernglas und Stock an einen Ast und wollte eben einige verbindliche Worte sagen, da flatterte der Rabe vor und sprach: "Weshalb sollen alle darben: – besser drei satt, als vier hungrig. Lange habe ich – –" "Verzeihen Sie recht sehr, ich muß aber hier allen Ernstes – schon als Älterer – auf dem Rechte des Vortrittes bestehen", damit schob ihn der Panther – nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Fuchs – höflich aber bestimmt zur Seite mit den Worten: "Mich, meine Herrschaften, zur Stillung des allgemeinen Hungers anzubieten, ist mir nicht nur Bushido, ja sogar Herzenswunsch; ich äh – ich äh – –" "Lieber, lieber Freund, wo denken Sie hin", unterbrachen ihn alle, auch der Löwe (Panther sind bekanntlich ungemein schwierig zu schlachten), "Sie glauben doch nicht im Ernst, wir würden – Ha, ha, ha." Verdammte Geschichte, dachte sich das vornehme Kamel, und eine böse Ahnung stieg in ihm auf. Ekelhafte Situation; – aber Bushido, – übrigens – ach was, einmal ist's ja schon geglückt, also Bushido!! Mit lässiger Gebärde ließ es das Monokel fallen und trat vor. "Meine Herren, äh, ein alter Satz sagt: Dulce et decorum est pro patria mori! Wenn ich mir also gestatten darf – –" Es kam nicht zu Ende. Ein Gewirr von Ausrufen ertönte: "Natürlich, Verehrtester, dürfen Sie", hörte man den Panther höhnen. "Pro patria mori, jauchhu, – dummes Luder, werde dir geben Smoking und weiße Krawatte", gellte der Rabe dazwischen. Dann ein furchtbarer Schlag, das Brechen von Knochen, und Harry S. Tschitrakarna war nicht mehr. Tja, Bushido ist eben nicht für Kamele. 1 Masarykova univerzita v Brně Filozofická fakulta Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky TÉMA PRÁCE Versuch einer Einbettung „Tschitrakarna, das vornehme Kamel“ in den politischen, sozialen und ästhetischen Kontext. Seminární práce k předmětu: Deutsche Literatur des XX. Jhts. I Autor: Michaela Holíková UČO: 361982 Typ studia: prezenční Ročník: 3. Počet znaků: 9221 Brno Datum odevzdání: 6.2.2012 2 Tschitrakarna, das vornehme Kamel „Tschitrakarna, das vornehme Kamel“ ist eine Geschichte von Gustav Meyrink, die am 25.Juli 19051 in Montreux fertiggestellt wurde aber erst im Jahre 1913 in der Sammlung „Des deutschen Spießers Wunderhorn“ erschienen war. - Binder, Hartmut: Gustav Meyrink. Ein Leben im Bann der Magie. Vitalis, Prag, 2009. - Cersowsky, Peter: Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Kafka- Kubin-Meyrink. 2.,unveränd. Aufl. Wilhelm Flink Verlag, München, 1989. ________________________________ [Zdenek Ma1]Graf Albert Apponyi von Nagyappony (* 29. Mai 1846 in Wien; † 7. Februar 1933 in Genf) war ein ungarischer Aristokrat und Politiker.