LUDWIG WINDER Turnlehrer Pravda Novelle 1 Der Turnlehrer Pravda kam in den Turnsaal, wo die Schüler der Größe nach in einer langen Reihe aufgestellt waren, sprach kein Wort, sagte nicht einmal »Ich bin euer Turnlehrer«, sondern ging dreimal langsam die Front ab. Die Klasse wurde von einer unerklärlichen Aufregung ergriffen, niemand wagte, den neuen Lehrer anzusehen, nur ein Funkeln fühlte jeder um sich, über sich, ein Funkeln, ein Strahlen, ein Blitzen. Das waren die Augen des Turnlehrers. Und plötzlich begann der ganze Turnsaal nach Akazien zu duften. »Der stinkt nach Parfüm«, tuschelte der rothaarige Toman seinem Nachbar, dem blonden Pytlik, zu. In diesem Augenblick drehte der Turnlehrer sich um, machte ein paar rasche Schritte, blieb vor Pytlik stehen, sah ihn lange an. Wenn er mich noch eine Minute so anblickt und dann nach meinem Namen fragt, weiß ich ihn nicht, dachte der Elfjährige. Der Turnlehrer fragte aber nichts, sondern sagte leise: »Ein hübscher fescher Kerl bist du.« Pytlik lächelte geschmeichelt, senkte errötend die Augen. Der Turnlehrer ging weiter, blieb vor dem langen dreizehnjährigen Bauernsohn Havlas stehen. »Wie alt sind Sie?« fragte er laut. Die Antwort schien ihn zu befriedigen, er sagte liebenswürdig »Freut mich, daß ihr so nette Kerle seid.« An der Wand, nächst den Kletterstangen, am äußerstem Ende der Reihe, stand der magere Hugo Bandler, der einzige jüdische Schüler des neuerrichteten tschechischen Gymnasiums. Die andern hatten ihn dorthin gedrängt, obwohl er nicht der Kleinste war. Es bekümmerte ihn nicht, er maß der 508 Winder Turnlehrer Pravda 309 Turnstunde keine Wichtigkeit bei, seine Fähigkeiten lagen auf anderem Gebiet. Aber nun erwachte seine Neugierde. Der Turnlehrer hatte begonnen, jeden einzelnen genau zu besichtigen und auszufragen. Bei manchem blieb er eine Minute stehen, bei manchem nur eine halbe. Hugo wagte nicht, den Kopf zu drehen, obwohl er gern gewußt hätte, wem diese oder jene Ansprache galt. Er nahm sich vor, laut und ungeniert zu antworten. Aber je näher das Parfüm kam, desto unsicherer wurde er. Endlich stand er mitten in der Duftwolke. Sein Nachbar wurde vom Turnlehrer angesprochen. Was sie sprachen, verstand Hugo nicht, es mußte etwas Lustiges sein, denn die andern kicherten. Jetzt trat der Turnlehrer einen Schritt zurück, Hugo begann vor Aufregung zu zittern, riß gewaltsam die Augen auf. Aber der Turnlehrer schien ihn nicht zu bemerken, drehte sich um. Hugo war weiß vor Wut, gleichzeitig schämte er sich so sehr, daß er die Augen schließen mußte. Das dauerte aber nicht lange, er begann zu denken, zu lächeln. Er dachte: Ein Turnlehrer! Es ist verächtlich, Turnlehrer zu sein. So einer kann mich nicht beleidigen. Der Turnlehrer kommandierte: Ruht! Nun gafften ihn alle nach Herzenslust an. Nur Hugo blickte demonstrativ zur Kletterstange auf, als säße oben etwas unerhört Interessantes. »Glaubst du, daß er ein Mieder trägt? Er hat eine Taille wie meine Schwester«, sagte einer halblaut. Als es läutete, sagte der Turnlehrer: »Ihr werdet euch ein weißes Turnhemd mit roten Streifen und eine blaue Turnhose anschaffen. Wer keine wohlhabenden Eltern hat, bekommt alles von der Schule.« Hugo ging gedankenvoll nach Hause. Er sagte sich hundertmal: Er hat mich gedemütigt! Die Eltern saßen bereits beim Essen, er ignorierte es, ging in sein Zimmer, starrte sein Spiegelbild an. Ich bin häßlich! keuchte er, häßlich, häßlich! Und plötzlich durchfuhr ihn ein Schrecken: Vielleicht ist das Gesicht noch nicht das Häßlichste an mir, ich hab mich ja noch nie von rückwärts gesehen, vielleicht bin ich bucklig und weiß es nicht, weil man mir es verheimlicht. Er legte furchtsam die Hände auf den Rücken, schob sie langsam hinauf, vorsichtig tastend, bis zum Hals, dann rieb er heftig den Rücken, atmete auf. Wie froh bin ich! dachte er. Wie herrlich, daß ich nicht bucklig bin! Er lief ins Speisezimmer, aß die Suppe und sagte unvermittelt: »Mutter, bin ich bestimmt nicht bucklig? Sag mir die Wahrheit!« »Dummer Bub«, ärgerte sich die Mutter, »warum sollst du bucklig sein? In unserer Familie ist niemand bucklig.« »Bucklig bist du nicht, aber blöd«, lachte der Vater. »Das macht nichts«, sagte Hugo ruhig, »blöd will ich gern sein, daraus mach ich mir nichts, aber bucklig will ich nicht sein! Und häßlich will ich nicht sein!« Der Vater lächelte: »Ein Mann darf auch häßlich sein. Nur ein Mädel nicht, sonst ist's ein Malheur.« Hugo schwieg. Er sah Vater und Mutter an. Er konnte nichts mehr essen. 2 Der Turnlehrer hatte sechs Lieblinge. Der liebste von allen war ihm der blonde Pytlik. Nur zweimal wöchentlich war Turnstunde. Hugo träumte von der Turnstunde jede Nacht. Der Traum begann immer mit dem Nahen des Parfüms. Plötzlich war die Duftwolke da, die sechs Lieblinge wiegten sich in den Hüften, lächelten dem Turnlehrer entgegen. Er legte den Arm um den Hals des blonden Pytlik und flüsterte ihm etwas zu, nur die fünf andern Protektionskinder wußten, was es war. Alle andern mußten klettern, springen, Übungen machen. Der Turnlehrer blieb bei seinen Lieblingen, streichelte ihre Körper, fuhr ihnen schmeichelnd übers Haar. Wie sie lächelten! Wie sie sich wiegten! Hugo fürchtete sich vor des Turnlehrers Hand. Sie duftete, sie war weiß wie eine weiße Rose, sie war grausam, wenn sie einen Schüler berührte, den er verachtete. Einmal hatte er einem, der ich vor dem Bock fürchtete, den Hals zugedrückt und hei- 310 Ludwig Winder Turnlehrer Pravda 311 ser geflüstert: »Springen oder ich erwürge Sie!« Jede Nacht sah Hugo diese Szene. Die kleine weiße Hand krallte sich an dem roten zusammengepreßten Hals fest, ließ nicht locker, ein Gurgeln zirpte durch den totenstillen Saal, dann packte der Turnlehrer den Röchelnden mit beiden Händen, warf ihn über den Bock, ließ ihn liegen. Mit zwei Schülern hatte sich der Turnlehrer noch nie befaßt. Der eine war Vladimir Hanak, der Sohn eines Bureaudieners, ein blatternarbiger Lümmel, dessen Nase immer tropfte. Der andere war Hugo. Diesen beiden schenkte der Turnlehrer keinen Blick, er strafte sie nicht einmal. Sie waren schlechte Turner, er bemerkte es nicht. Alle andern mußten klettern, springen, Gelenkübungen machen, diese beiden nicht. Sie waren nicht vorhanden. Zuerst hatten alle gedacht, für Hugo müßten böse Zeiten anbrechen, er war ungeschickt und feig, sie freuten sich auf die erste Kletterübung, erwarteten, der Turnlehrer werde ihn zum Klettern zwingen. Hugo versuchte, sich an der Stange festzuhalten, die ganze Klasse lachte, der Turnlehrer wandte sich angeekelt ab. Der Blatternarbige und Hugo, sie waren die Ausgestoßenen. Sie waren die einzigen, die keinen Turnanzug hatten. Den andern Kindern armer Eltern ließ der Turnlehrer alles, was zum Turnunterricht gehörte, Hemd, Hose, Ledergürtel, Turnschuhe, ausfolgen. Die beiden, deren Anblick ihm widerlich war, brauchten offenbar keinen Turnanzug, es war weniger aufreizend, sie im Schulanzug vor sich zu haben. Hugo trug sich lange mit dem Plan, die Eltern um einen Turnanzug zu bitten. Der Vater war zwar nur ein kleiner Bureauangestellter, aber dem einzigen Kind schlug er nichts ab. Dennoch zögerte der Knabe. Er blieb oft vor dem Laden stehen, wo die Turnanzüge ausgestellt waren. Die Hemden sind zu tief ausgeschnitten, dachte er bedrückt, dadurch wird der ganze Hals sichtbar, mein häßlicher langer brauner Hals. Er stand versunken, sah sich im Turnanzug, gelobte täglich, von heute an viel zu essen, damit die Turnhose straff sitze. Seit der ersten Turnstunde wußte er, was Schönheit war. Der Turnlehrer war schön. Kein Mensch hatte so kleine weiße Hände. Kein Mensch hatte Augen wie diese, so unerträglich strahlend, daß man sich von ihnen wie von der Sonne blitzschnell abwenden mußte, um nicht geblendet zu werden. Sie waren so zauberisch, daß jeder Gegenstand schön wurde, den sie anblickten. Zauberisch waren die Augen, war die Hand. Der Turnlehrer legte die Hand auf den Bock, und das Turngerät verwandelte sich in ein feuriges Fabeltier. Er stützte sich auf eine Kletterstange, und man hörte im ganzen Saal das Holz singen. Wie schön wurde Pytlik, der dumme, von allen Professoren verachtete Pytlik, wenn der Turnlehrer ihn berührte! Wenn er mich nur einmal, nur ein einzigesmal berühren wollte, träumte Hugo. Wie konnten die andern glauben, dieser unvergleichliche Mann heiße wirklich Pravda, einfach Pravda, Turnlehrer Pravda! Er war kein Turnlehrer, sah ein Lehrer, ein Gymnasialprofessor so aus? Der dicke Doktor Kohoutek mit dem buschigen Schnurrbart und der Schnupftabakdose: das war ein Gym-nasialprofessor. Der vollbärtige Doktor Sebesta, der in der Geographiestunde mit dem rechten Zeigefinger die Städte auf der Landkarte zeigte, mit dem linken in der Nase bohrte: das war ein Gymnasialprofessor. Ein Geographieprofessor ist sogar etwas Besseres als ein Turnlehrer; das wußte jeder. Ein Turnlehrer muß ein Jägerhemd tragen und wie ein Affe klettern und springen; auch das wußte jeder. Die dummen Jungen! Keiner erriet, daß der Turnlehrer Pravda aus einer Welt gekommen war, die niemand ahnte. Vielleicht war er ein Marquis, ein französischer Marquis. Wer hatte jemals einen französischen Marquis gesehen? So konnte nur ein französischer Marquis aussehen. Warum gab er sich aber den nichtssagenden Namen Pravda und warum lebte er jetzt in dem häßlichen Städtchen in der schmutzigen Schule als Turnlehrer? Darüber dachte Hugo oft nach, er konnte es nicht begreifen. Nur im Traum glaubte er manchmal dem Geheimnis des Turnlehrers näherzukommen. Er sah ihn auf 312 Ludwig Winder Turnlehrer Pravda 313 dem Marktplatz vor der Kirche stehen, da kamen die drei jungen Gräfinnen aus dem Schloß herangeritten, sprangen ab und knicksten vor dem Turnlehrer: »Guten Morgen, Durchlaucht, küß die Hand, Durchlaucht!« (Also noch mehr als Marquis, viel mehr sogar, dachte Hugo beschämt.) Der Turnlehrer sagte: »Meine Damen, wir wollen jetzt unseren Morgenritt irgendwohin machen, wo uns der Pöbel nicht behelligen kann.« Dann schwang er sich auf den Bock aus dem Turnsaal, der plötzlich vor der Kirchentür stand, und ritt elegant auf die Kirchturmspitze, der Bock sah aus wie ein Pferd aus Feuer, die drei Gräfinnen ertrugen nicht den Anblick, verdutzt und furchtsam standen sie unten und blickten zu Boden, nur Hugo fürchtete sich nicht, blickte beherzt hinauf, sah den Reiter auf dem Feuerroß in die Tiefe springen und erwachte schweißgebadet. Diesen Traum hatte er einigemal. Im November, zwei Monate nach der ersten Turnstunde, bat er die Eltern um den Turnanzug. Er wußte zwar, daß er nicht voller geworden war, er sah schlechter aus als am Beginn des Schuljahrs, aber er konnte nicht länger warten. Die Mutter wollte mit ihm den Turnanzug kaufen gehen, er duldete es nicht, sie durfte nicht sehen, wie eitel er war. Vor dem Kommis war er hemmungslos, sämtliche Turnanzüge ließ er sich zeigen, er probierte alle, stand streng und fordernd vor dem großen Spiegel. »Dieser paßt gut, junger Herr, dieser steht Ihnen glänzend, junger Herr«, höhnte der Kommis, zog die Hose straff, zog den Gürtel straff, lächelte kameradschaftlich-unterwürfig. Hugo ließ ihn reden, prüfte streng, erbittert Anzug für Anzug, drehte sich vor dem Spiegel hin und her, keiner paßte, keiner war ihm schön genug. Endlich wählte er, besinnungslos vor Wut, den ersten besten aus dem aufgestapelten Bündel, stürzte aus dem Laden, rannte in die Schule. Von vier bis fünf war Turnstunde, vorher Geometrieunterricht. Während der Geometrieprofessor zeichnete, streichelte Hugo mit beiden Händen unter der Bank unaufhörlich sein Paket. »Was hast du da?« fragte der blatternarbige Hanak, der neben ihm saß. »Nichts«, fuhr Hugo ihn an. Der Blatternarbige riß ihm das Paket aus der Hand, öffnete es, gab triumphierend die Nachricht wei-tcr: »Unser Jud hat einen Turnanzug.« »Der Jud hat einen Turnanzug«, ging es von Bank zu Bank, nach der Stunde johlten alle: »Der Jud wird den Turnanzug anziehn.« Hugo rcagierte nicht auf Zurufe und Püffe, legte im Garderoberaum des Turnsaals den Turnanzug an, mit zitternden Fingern band er dreimal die Schleifen der Turnschuhe, bis kein Endchen der Schnüre den Boden berühren konnte, dann stellte er sich in Reih und Glied. Korrekt und zitternd stand er am äußersten Ende der Reihe, an der Wand nächst den Kletterstangen, zur Rechten des blatternarbigen Hanak. Novemberwind bog die Bäume vor dem hohen Fenster, das Hugo anstarrte, Novemberwind blies Kälte in den schlecht geheizten Turnsaal. In diesem Augenblick fühlte sich Hugo von Gottes kaltem Hauch berührt. Gott saust im Novemberwind durch die Welt, dachte er, er war fromm, frommer Eltern frommes Kind. Er fror, er glühte. »O daß er mich nicht verwürfe«, betete er unhörbar und vergaß, daß Gott vor den Fenstern vorüberrauschte, zur Tür heftete er die Blicke, nun mußte es geschehen, nun mußte wahrwer-den der nie geträumte Traum, die Gnade und Herrlichkeit. Der Turnlehrer trat ein. Die sechs Lieblinge wiegten sich in den Hüften, lächelten ihm entgegen, er neigte sich dem blonden Pytlik zu, sie flüsterten. Hugo sah nichts, ahnte alles, Ahnung großen Unglücks beschlich sein Herz. Ein feindliches Geflüster war im Saal, hier und dort leises Ge-lächter. Nun verließ der Turnlehrer die Gruppe seiner Lieblinge, ging die Front ab, musterte jeden Schüler. Das tat er immer am Beginn jeder Turnstunde, aber heute dauerte es viel länger als sonst, schon eine Viertelstunde war vorüber, und er stand erst in der Mitte, bei den Mittelgroßen, rügte bald die Körperhaltung eines Bequemen, bald eine liederli-che Adjustierung. Hugo erniedrigte sich so sehr, den Blat-ternarbigen zu fragen: »Kommt er schon? Ist mein Turn- 314 Ludwig Winder Turnlehrer Pravda 315 anzug in Ordnung?« »Gut siehst du aus«, war die Antwort. Hugo schüttelte sich wie in kaltem Wasser, warf den Kopf zurück, er zitterte wie in kaltem Wasser, aber er stand stramm und fühlte, wie er wuchs, indem er stramm stand. Vielleicht wird er sagen: »Es ist gut, daß Sie jetzt auch einen Turnanzug haben«, dachte er, damit wollte er sich zufrieden geben, es war schon eine Belohnung, wenn auch eine unzureichende. Vielleicht sagt er gar nichts und lacht, lacht mich aus, dachte er gleich darauf. Das Geflüster beunruhigte ihn, brachte ihn auf diesen Gedanken. Wenn er das wagt, spucke ich ihm ins Gesicht, entschloß er sich; dann fliege ich aus der Schule und alles ist gut. Wie ein Mann will ich ihm gegenüber stehen, wie ein Mann, das muß er bemerken, das wird ihm gefallen. Das Geflüster am andern Ende der Reihe artete in lautes Lachen aus, ebenso auffallend wurde es in der nächsten Nachbarschaft stiller und stiller, nun stand sogar der Blatternarbige stramm, der Akazienduft näherte sich. Noch vier, mit dem Blatternarbigen fünf, vor mir, dachte Hugo, welches Glück, daß ich noch Zeit habe, mich zu sammeln, es kann noch zwei Minuten, vielleicht sogar fünf Minuten dauern. Aber schon im nächsten Augenblick war die Duftwolke da, der Turnlehrer hatte die Kleinsten keiner Ansprache gewürdigt, stellte sich vor Hugo auf. Es war im Saal totenstill geworden. Sogar die sechs Lieblinge hielten den Atem an. Hugo stand geblendet. Nur einmal, vor zwei oder drei Jahren, hatte ihn Licht so geblendet: beim Augenarzt, in der Dunkelkammer, als plötzlich die ungeheure Glühlampe seine Stirn gestreift hatte. Plötzlich erblickte er die Zähne des Turnlehrers, überdeutlich sah er plötzlich den Mund des Turnlehrers, der wie vor einem Schrei offen stand. Gleichzeitig ließ die Betäubung, die das Parfüm verursacht hatte, ein wenig nach. Erstaunt merkte Hugo, daß er vollkommen bei Bewußtsein war, daß er sich sogar die Kraft zutraute, zu sprechen, wenn es notwendig wäre. Nun drehte sich der Turnlehrer um, machte zwei Schritte nach rückwärts, stand hinter Hugo, die Aussicht aufs Fenster war wieder frei. Der Knabe zitterte stärker, begann zu schwitzen. Das halte ich nicht aus, dachte er, im ganzen Saal hörte man ihn keuchen. Der Turnlehrer trat wieder vor, öffnete ein wenig den Mund und sagte leise, aber weithin vernehmbar: »Nehmen Sie Ihren Mantel und gehen Sie nach Hause den Hals waschen. Wenn Sie mit schmutzigem Hals wiederkommen, sperre ich Sie ein.« Hugo wankte in die Garderobe, nahm den Mantel und ging nach Hause. Die Mutter, die ihn kommen sah, lief ihm entgegen, schrie: »Um Gottes willen, warum gehst du im Turnanzug auf die Gasse? Es ist kalt wie im strengsten Winter!« Er antwortete nicht, warf den Mantel ab, stand im Turnanzug da, zitternd, mit einer wilden Entschlossenheit, die der Mutter neu war. »Mutter, sieh nach, sieh genau nach, ob mein Hals schmutzig ist«, befahl er. Sie betrachtete erstaunt seinen Hals, entrüstete sich: »Wer sagt, daß dein Hals schmutzig ist? Ich laß mein Kind nicht schmutzig herumlau-len, wer hat das gesagt, antworte!« Er antwortete nicht, ging langsam zum Waschtisch, begann den Hals mit Seife und Bürste zu reiben. Wie mit einem Hobel bearbeitete er seinen Hals, mit starrer Entschlossenheit. Dieses Auf und Ab des weit ausholenden eckigen Arms hatte etwas Wahnsinniges, die Mutter sah es wohl. Er rieb und rieb, bis der Hals rot aufgerieben war. Die Mutter forderte, er solle zu Bett gehen und Tee trinken. Er antwortete nicht, nahm den Mantel, schickte sich an, in die Schule zurückzugehen. Im letzten Augenblick zwang ihn die Mutter, über dem Turnanzug einen warmen Anzug anzuziehen. Er ging rasch; als er vor dem Turnsaal ankam, läutete es gerade. Er trat nicht ein, leg-te Mantel und Winteranzug ab, blieb gesenkten Hauptes vor der Tür stehen, rot leuchtete sein wundgeriebener Hals. Der Turnlehrer trat aus dem Turnsaal, blickte auf den roten Hals nieder, lächelte spöttisch, eilte vorbei. Dann kam die Horde aus dem Turnsaal. Es dröhnte im Chor: »Schmutziger Jud.« Hugo wartete, bis alle sich ausgetobt hatten, betrat als letzter den Garderoberaum, sperrte den Turnanzug in das ihm gehörende Fach. 316 Ludwig Winder Turnlehrer Pravda 317 3 Es war halb sechs, als er das Gymnasium verließ, es war schon Nacht. Der Turnlehrer wußte nicht, daß Hugo ihm folgte, mit kleinen tänzerischen Schritten ging der parfümierte Mann durch die engen Gassen des Arbeiterviertels, an der Gasanstalt vorbei zum Fluß. In der Nähe des Friedhofs, dicht am Fluß, wohnte er in einem alleinstehenden winzigen Haus. Hugo ging auf den Fußspitzen, er wollte das Klappern seiner genagelten Schuhe vermeiden. Der Novemberwind blies seinen Mantel an, der sich bauschte, irrsinnig flatterte. Wie eine dunkle Wolke wanderte er langsam zwanzig Schritte hinter dem Turnlehrer. Wie er sich wiegt! Wie sein ganzer Körper lächelt! dachte Hugo. In den Augen des Knaben funkelte Haß. Er ging wie ein Mörder in der Wolke seines flatternden Mantels. Der Mond war aufgegangen. Der Friedhof lag in großem Glanz. Hugo lehnte sich an die niedrige alte Mauer, sprang hinauf, setzte sich, sah den Turnlehrer in das Haus am Fluß eintreten. Das Knarren des Haustors war deutlich zu hören, der Abend verdeutlichte jeden Laut. Nun war nichts als Novemberwind, Novemberdunkel, es schwieg die Nacht. Beunruhigend war dieses Schweigen, Hugo wünschte, der Fluß möge rauschen, er sehnte sich nach Lärm, nach Getöse, aber der Fluß war ausgetrocknet und dürftig, ein armseliges Rinnsel, in dem schmalen Flußbett lagen nur Kieselsteine. Nun sitzt er im warmen Zimmer und lächelt, dachte Hugo, vielleicht aber steht er mitten im Zimmer und reckt sich und dehnt sich und freut sich seines schönen Körpers, trinkt, raucht eine Zigarette, hat vielleicht eine schöne Dame bei sich, nimmt sie auf den Schoß . .. Der Frierende biß sich in die Zunge. Nie hatte er sich so allein gefühlt. Er wollte das Haus nicht mehr sehen, drehte sich auf der Mauer um, legte vorsichtig den linken Fuß auf die Innenseite der Mauer, den rechten Fuß, den ganzen Körper. Nun blickte er in den Friedhof. Der Mondschein reichte bis zur Mitte des Fried- hofs. Die beleuchtete Seite ist die unheimlichere, dachte Hugo, man sieht ja auf allen Gräbern die Augen der Toten! Er warf sich auf die Außenseite der Mauer zurück, sprang hinunter, wollte nach Hause gehen. Plötzlich Schritte. Eine Gestalt näherte sich dem Hause des Turnlehrers, lief zuletzt, klopfte ans Haustor. Es war ein Knabe. Hugo erkannte ihn im letzten Augenblick. Es war Pytlik. Der Turnlehrer öffnete, zog den Blonden ins Haus, sperrte zu. Hugo kehrte zum Friedhof zurück, schwang sich wieder auf die Mauer. Nach einer Stunde hielt er es nicht mehr aus, ging auf das Haus zu, näherte sich vorsichtig, auf den Fußspitzen, dem erleuchteten Fenster, versuchte hineinzublicken. Der Vorhang hinderte ihn daran. Es war auch nichts zu hören. Ich hasse ihn, hasse ihn! bellte der Erstarrte vor sich hin, während er sich auf den Fußspitzen entfernte. Ich hasse den Bösewicht, der mich gedemütigt hat. Er griff sich an den wundgeriebenen Hals, es würgte ihn Haß, er ging langsam, traumhaft. Plötzlich glaubte er, ein Geräusch zu hören. Er drehte sich rasch um, das Geräusch kam vom Fluß her. Vielleicht sind sie zum Fluß gegangen, dachte er sofort, vielleicht gehen sie am Fluß spazieren. Er schlich zum Fluß, erblickte Pytlik. Mitten im ausgetrockneten Flußbett ging der Blonde stadtwärts. Hugo schlich ihm nach, holte ihn ein, erst im letzten Augenblick hörte Pytlik den Verfolger, schrie wütend: »Was spionierst du? Was hast du da zu su-chen?« Hugo entging nicht die Verlegenheit, die sich hinter der Wut verstecken wollte. Warum ist er so verlegen? fragte er sich. Ist es eine Sünde, beim Turnlehrer gewesen zu sein? Der Esel — er weiß gar nicht, daß jeder andre ihn um diese Auszeichnung beneiden würde. Wieviel Jahre meines Le-liens gäbe ich für diese Auszeichnung! Aber ich, ich, ich bin der Judenjunge mit dem schmutzigen Hals. Er empörte sich aufs neue, unbändige Lust befiel ihn, den Liebling des Turnlehrers zu demütigen, an ihm sich zu rächen. »Du warst beim Pravda«, sagte er lauernd, »ich hab dich gesehn.« 318 Ludwig Winder Turnlehrer Pravda 319 »Einen Dreck war ich bei Pravda«, stampfte Pytlik auf, warf sich auf Hugo, warf ihn zu Boden, schrie ihm ins Gesicht: »Ich werde dir geben, du wirst mir nachspionieren, du Schleicher, du Ekel mit dem schmutzigen Hals, pfui, ich will dich gar nicht berühren, damit der Dreck nicht an mir kleben bleibt.« Hugo stand auf, beschloß, eine neue Taktik zu versuchen, lächelte: »Beschimpfen kann man einen leicht, das ist keine Kunst, das trifft jeder. Du hast mich grundlos beschimpft, dadurch hast du dich selbst ins Unrecht gesetzt. Ich wollte dir übrigens nichts Unangenehmes sagen. Wenn du nicht bei Pravda warst, warst du nicht bei Pravda. Was geht mich das an.« »Ich war nicht bei Pravda«, versetzte Pytlik, noch immer in drohendem Ton, »ich geh hier jeden Tag spazieren, das ist alles.« »Aha«, lächelte Hugo, »du willst deine neuen Schuhe ruinieren, deshalb gehst du im Flußbett spazieren.« »Sakra, das ist wahr«, erschrak Pytlik, lief aus dem Flußbett, begann eifrig die Schuhe zu reinigen. »Jetzt hast du dich verraten«, sagte Hugo ernst. »Ich werde alles deinem Vater erzählen.« »Was alles, was kannst du alles erzählen, du Armitschkerl«, schnaufte Pytlik. »Alles«, wiederholte Hugo und sah, wie Pytliks Gesicht dunkelrot wurde, »alles, alles, alles, alles, alles.« »Das rat ich dir nicht«, drohte Pytlik, »es wäre deine letzte Stunde, ich müßte dich erschlagen.« »Wenn du mir aber die Wahrheit sagst, erfährt niemand etwas, das schwöre ich dir«, lockte Hugo. »Also gut, ich war bei Pravda«, sagte Pytlik trotzig, »aber wenn du es einem sagst, erschlägt er dich.« Mittlerweile waren sie im Arbeiterviertel angelangt. Hugo begann hastig zu sprechen, sie näherten sich schon bedenklich Pytliks Wohnhaus: »Du warst also bei Pravda und niemand darf es wissen, wie? Hat er dir gesagt, daß du es keinem verraten darfst?« Pytlik schwieg, Hugo spritzte ihm jedes weitere Wort ins Ohr: »Pravda hat dir befohlen, nicht auf der Straße, sondern im Flußbett zu gehen, damit dich niemand sieht. Ist es so? Ist es so?« Pytlik blieb stehn, versuchte zu lachen: »Dir kann man alles einreden, es ist ja gar nicht wahr, daß ich bei Pravda war. Was sollte ich dort machen?« Du hast ja bereits gestanden«, sagte Hugo erbittert. »Jetzt gibt es kein Geheimhalten mehr. Jetzt mußt du mir sagen, was du dort gemacht hast.« Pytlik stieß ihn in die Hüfte, schrie: »Ein Märchen hat er mir erzählt, ich will dir es wiedererzählen. Es war einmal ein Jüdlein, das hatte einen schmutzigen Hals.« Im nächsten Augenblick war er lachend in einem Haus verschwunden, Hugo stand in finstrer Nacht. I Er ging früher als sonst zu Bett. Er zog die Bettdecke über die Ohren, er schnitt sich von der Welt ab, die Bettdecke schloß ihn ab, schloß ihn ein. Kein Laut drang durch, kein Schnarchen der Eltern, kein Uhrticken, kein Mäuse-knabbern, er war allein mit seinem Atem, allein mit seinem Herzen, das schlug und schlug. Nun drang er ein in die andre, in die verschlossene Welt, stand auf der Schwelle des Hauses am Fluß, sah den Turnlehrer mit Pytlik auf persischen Teppichen sitzen. Nicht im Traum sah er das. Er war überwach. Er schwitzte, lüftete die Decke, sah den Horizont wachsen und wachsen, die Kommode, das Büchergestell, das Fenster, Mondschein und Welt. Er streckte sich aus, dachte an Flucht. 4. Nach drei Tagen verwarf er den unsinnigen wiedergekehr-ten Fluchtgedanken. Er sprach mit sich, wie sein Vater, um Rat befragt, mit ihm gesprochen hätte. Er wußte, wie ein Fluchtversuch enden mußte, empfand das Lächerliche der Idee. Er wollte kein Idiot sein, der dem Vater Geld stiehlt, in die Welt rennt, nach zwei Tagen aufgegriffen wird und trotzig oder aufheulend in die Arme der Eltern zurückkehrt. Das alles war unter seiner Würde, er fand es dumm und unreif. Er wußte auch, daß diese Flucht eine Feigheit gewesen wäre: das war noch wichtiger. Er wollte stark, vernünftig, Mann sein. Während der Unterrichts-stunden dachte er 320 Ludwig Winder Turnlehrer Pravda 321 ununterbrochen: gestern, vorgestern, in den ganzen zwei Monaten seit Schulbeginn war ich ein Dummkopf. Um vier Uhr begann die Turnstunde. Die Probe, ob das alles auch stimmte, begann. Hugo stand in Reih und Glied. Der Turnlehrer trat ein. Hugo wollte sich zwingen, ihn anzublicken, wagte es aber nur, den Blick auf die zierlichen Lackschuhe zu heften. Es begann nach Akazien zu duften. Er wollte sich zwingen, der ganzen Gestalt mit einem prüfenden Blick standzuhalten, aber dazu kam es nicht. Nur bis zur Betrachtung der Hände gelangte er. Wie zwei weiße Flammen flackerten die Hände. Wenn ich seine Augen sähe, müßte ich erblinden! erkannte er und schloß die Augen. An diesem Tag machte es ihn froh, daß er vom Turnlehrer keines Blicks gewürdigt wurde, er blieb mit geschlossenen Augen in seiner Ecke stehen. Nach der Turnstunde schlich er zur Friedhofsmauer, hielt Wache. Er sah den Turnlehrer nach Hause gehen, beobachtete den »kleinen Paradeschritt«; so nannte man in der Schule Pravdas militärischen, aber damenhaft zierlichen Gang. Es begann zu schneien. Im Hause des Turnlehrers wurde Licht gemacht. Gleich darauf: Schritte. Jemand ging im Flußbett, sprang auf die Wiese, ging auf das Haus zu. Es war ein großer Lackel in Röhrenstiefeln. Es war der Bauernsohn Havlas. Der Bauernsohn Havlas war es, der Größte und Älteste der Klasse, einer der sechs Lieblinge. Wie folgsam er ist, dachte Hugo; er macht wirklich den Umweg über den Fluß, als ob er sich dadurch unsichtbar machen könnte. Havlas klopfte nun; seine derben Bauernfäuste klopften laut und täppisch ans Haustor. Dummer Kerl, lächelte Hugo; zuerst versteckt er sich im Flußbett, dann macht er Radau, daß man ihn meilenweit hören muß. Inzwischen hatte der Turnlehrer das Tor geöffnet, den Gast ins Haus gezogen. Diesmal wartete Hugo nicht auf das Ende. Er ging nach Hause, blickte in die Schulbücher und dachte: Einer wird mir schon alles sagen. Wenn Pytlik schweigt, wird Havlas reden. Es sind ihrer sechs. Einer wird sich verraten. Einen werde ich fangen. Er hatte nicht gewußt, daß Pytlik nicht der einzige war, der diese Besuche zu machen pflegte. Aber was kann es sein? zermarterte er sein Hirn. Warum kommen sie so geheimnisvoll? Ist es denn eine Schande, einen Professor zu besuchen? Es ist doch nicht verboten! Wenn Pravda ein Mädchen wäre, könnte ich alles verstehen. Aber ein verkleidetes Mädchen ist er doch nicht, kann er doch nicht sein – kann er nicht sein? kann er nicht sein? Das saß. Das bohrte. Hugo sperrte sich ein, warf sich aufs Kanapee, dachte nach. Er lag in der Duftwolke, sah die Augen, die Hände, die Füßchen des Turnlehrers, sah ihn nackt. Grauenhaft war diese Vorstellung, niederschmetternd und betörend. - Nie hatte er ein Mädchen nackt gesehen, aber die Brüste der Mutter kannte er, sie wusch sich noch jetzt manchmal in seiner Gegenwart - immer zitterte er heimlich, wenn er sie sah. Er stellte sich den Turnlehrer mit Weiberbrüsten vor - da fiel ihm ein, daß einer in der ersten Turnstunde gesagt hatte: »Glaubst du, daß er ein Mieder trägt? Er hat eine Taille wie meine Schwester.« Die Duftwolke berauschte ihn, er riß sich Haare aus, zerkratzte den Plüschüberwurf des Kanapees, sein Körper war heiß, er sehnappte nach Luft, warf die Kleider ab, strich mit brennenden Fingern über den Körper. 5. Der Schloßteich war zugefroren. Hugo stand vor der Holzbude, wo die Schlittschuhe angeschnallt wurden, und sah dem Turnlehrer zu. Auch andere Leute, Fremde, standen bewundernd. Der Turnlehrer war ein großer Eiskünstlcr. Langsam und feierlich glitt er in einem riesigen Bogen an den bewundernden Menschen vorüber, dann sprang er über einen unsichtbaren Berg und tanzte. 322 Ludwig Winder Turnlehrer Pravda 323 Auch Pytlik und Havlas und die andern waren auf dem Teich, aber der Turnlehrer sprach keinen an, blickte keinem nach, sie mußten allein ihre armseligen Kunststückchen machen. Hugo freute sich darüber. Wie er im Turnsaal, waren sie hier verschmäht, unwürdig befunden. Der kecke Pytlik zog seine Kreise in der Nähe des Turnlehrers, immer vor seinen Augen, immer fast in Atemnähe, aber vergebens. Auch die jungen Damen, die dem Eiskünstler feurige Blicke zuwarfen, hatten kein Glück bei ihm. Er lächelte spöttisch, fast mitleidig. Sie mußten sich mit den Ingenieuren aus dem Gaswerk und mit dem Turnlehrer der Bürgerschule begnügen, die bisher als die besten Eisläufer gegolten hatten. Plötzlich sah Hugo, daß Pravda dem Blonden mit einer Handbewegung befahl, sich zur Holzbude zu begeben. Niemand hatte es bemerkt, nur Hugo. Er trat hinter die rückwärtige Bretterwand, die so schlecht gezimmert war, daß sie jeden Schall durchließ. Auch hineinsehen konnte man. Hugo stand und lugte, horchte. Pytlik trat in die leere Bude, klopfte den Schnee von den Schlittschuhen, gleich darauf kam der Turnlehrer herangesaust, legte den Arm um Pytliks Nacken, flüsterte: »Komm gegen sieben.« Dann drückte er ihm die Hand, sauste auf die Eisbahn zurück. Pytlik steckte die Hände in die Hosentaschen und glitt langsam in entgegengesetzter Richtung den andern zu. Hugo stand zerrissen an der Wand, die großen schneebedeckten Kastanienbäume schwankten hin und her. Im Hintergrund lag, schwach beleuchtet, das gräfliche Schloß. Nur im Erdgeschoß war Licht. Im ersten Stock wohnen die jungen Gräfinnen, die Reiterinnen, träumte er einen Augenblick, ihnen hätte ich ihn gegönnt. Warum geht er nicht zu ihnen, zu den schönen Gräfinnen, zu den samtenen Reiterinnen? Warum läßt er Pytlik, den dummen Pytlik, zu sich kommen? Er rang um Atem, begann atemlos zu laufen. Atemlos lief er auf den Marktplatz, sah nach der Turmuhr, es war viertel sieben, atemlos rannte er weiter, durch die Vorstadtgassen, durchs Arbeiterviertel, an der Gasanstalt vorbei zum Haus am Fluß. Er stand an der Schwelle, klopfte zaghaft, einmal, zweimal, dreimal, niemand öffnete. Rasend schlug er mit der Faust ans Tor. Im nächsten Augenblick schlurften Schritte im Flur, ein Schlüssel wurde umgedreht, ein altes Weib öffnete, fragte: »Was wünscht der junge Herrr?« »Ich soll Herrn Professor Pravda in seinem Zimmer erwarten«, stotterte Hugo. Das Weib nickte, öffnete eine Tür. Er schloß hinter sich, wartete bis die Pantoffelschritte der Alten nicht mehr zu hören waren, drehte sich um, blieb an der Tür, die Arme weit ausgespannt, stehen, weiß und fahl. Er sah den glühenden Ofen nicht, spürte nicht die Hitze, zitternd nahm er das Taschenmesser aus der Tasche, tastete sich zum Fenster. Da war der geblümte Vorhang, den er draußen immer wütend angestarrt hatte, der Vorhang, der ihm das Geheimnis verbarg. Die Hand, die das Messer hielt, zur Faust geballt, stand er vor dem Vorhang, dann riß er sich hoch, riß das Messer auf, riß ein Loch in den Vorhang, atmete auf. Mit beiden Händen betastete er zehnmal das Loch, er war zufrieden, es war klein, unauffällig. Er schlich zum Haustor, drehte den Schlüssel um, tappte zum Fenster, dunkel stand Nacht am Fenster, er konnte nicht feststellen, ob das Loch im Vorhang groß genug war. An der Friedhofsmauer kauerte er sich hin, ließ den Schnee auf die Hände rieseln, es schneite in großen weißen Flocken. Starr ward sein frierender Körper, aber die starren-den Augen waren schmerzhaft heiß, die Flocken fielen auf die Wimpern wie glühende Glassplitter. Der Turnlehrer kam. Im Haus flammte Licht auf. Die Turmuhr schlug sie-ben. Im Hall der letzten Schwingungen hallte Pytliks tasten-den Schritt. Hugo hörte das Knirschen der Schritte, hörte nicht das Knirschen seiner Zähne. Wenn sie nur freund-schaftlich beisammensäßen und über mich lachten, wie wäre ich froh, dachte er. Wenn sie Zigaretten rauchten und Wein tränken, ich müßte Pytlik beneiden, aber ich könnte mir den Neid aus dem Herzen reißen. Nur nichts anderes, nur nicht das, was ich ahne, fürchte, beinah schon weiß, 324 Ludwig Winder Turnlehrer Pravda 325 nur das nicht, du mein Gott, nur das nicht, es würde mich töten! Er stand auf, die Woge des Schnees nahm ihn auf. Er kam unhörbar zum Fenster: zum winzigen Loch im Vorhang. Er blickte hinein ... 6. Nicht Scham warf ihn nieder. Nicht Schrecken lähmte ihn. Es war das Entsetzen über sich selbst, das ihn hinstreckte. Er wühlte sich aus dem Schnee, als der Schlüssel umgedreht wurde, raste in die Stadt, setzte sich zu den Eltern und aß. Er bildete sich ein, er stopfe frischgefallenen Schnee in den Mund, so gelang es ihm, Sauerkohl mit Kartoffeln hin-unterzuwürgen, ohne zu erbrechen. Gleich nach dem Essen zog er sich zurück. Er entkleidete sich eine Stunde lang, das Kleiderablegen war in dieser Stunde das ablenkende Problem, das ihn alles vergessen ließ. Er wollte seinen Körper nicht berühren, das war schwer, deshalb brauchte er eine Stunde zum Entkleiden. Dann lag er im Bett und warf sich in großen Schwüngen von links nach rechts, von rechts nach links, wie einen riesigen Mistkäfer warf er seinen Körper hin und her. Links und rechts rasselten die Messingstangen seines Kinderbetts, die grünen Schnüre des Netzes zitterten in singenden Wellen. Er sprang aus dem Bett, aber da störten ihn seine Füße, er schlug verzweifelt an die Wand, aber da sah er seine Hände, überall war der Körper, von dem er sich trennen wollte. Er löschte das Licht, rollte sich im Bett zusammen und begann den Monolog aus »Wilhelm Teil« zu sprechen, den er als Siebenjähriger auswendig gelernt hatte. Aber als er sich heiß redete, tollwütig die Verse hervorsprudelte, unfähig, ein Wort zu begreifen, spürte er seinen dampfenden Atem, hielt sich den Mund zu, das war noch entsetzlicher, denn nun war er nichts als heiße Hand und heißer Mund. Er streckte die Arme aus, wiederholte einigemal den Monolog, schlief nach Mitternacht ein. Am Morgen wollte er mit den Eltern sprechen, aber unglücklicherweise war der Vater wegen des bevorstehenden Jahresabschlusses schon um sieben ins Bureau gegangen; mit dcr Mutter allein zu reden hatte keinen Sinn. Endlich war dic Schule aus, das Mittagessen erledigt, der Vater bei der Zigarre. »Etwas muß ich euch bitten«, begann Hugo zu keuchen, »ihr müßt in die Schule gehn und mich vom Turnunterricht befreien.« »Was heißt das, was ist das schon wie-dcr?« paffte verdrießlich der Vater. »Alle lachen mich aus, weil ich nicht klettern und springen kann, das ist der Grund«, log Hugo. Der Vater strammte sich: »Unsinn, laß sie lachen, turnen muß jeder Bursch, das ist gesund, stärkt die Muskeln.« »Ich will aber nicht«, überschlug sich Hugos Stimme, schon tränennah. »Das ist der Professor Pravda«, kam die Mutter ihm zu Hilfe, »der ist ihm aufsässig. Weißt du nicht mehr, wie er ihn unlängst nach Haus geschickt hat, weil sein Hals angeblich schmutzig war? Und er war gar nicht schmutzig, ich hab mir ihn genau angesehn.« »Aufsäs-sig!« brauste der Vater auf, »red ihm nur nicht solche Sachen ein, ich bitt dich. Warum soll der Professor ihm aufsässig sein? Übrigens kann man j a mit dem Professor einmal reden. Er verkehrt jeden Tag bei Fräulein Kwet, sie wird ihn angeb- lich heiraten. Ich muß ohnehin nächste Woche zu ihr Zins zahlen gehn, bei der Gelegenheit kann ich mit ihr reden oder gleich mit ihm, wenn er dort ist.« »Schau dir ihn an, wie er zittert«, unterbrach ihn die Mutter, »was ist dir, Hugo? Warum zitterst du so?« Der Vater legte die Zigarre weg, beugte sich über den Knaben, schüttelte den Kopf. Die Mutter winkte, der Vater verließ das Zimmer, sie setzte sich neben Hugo, sah ihm in die Augen: »Was hast du, Hugo? Ich will dir helfen, sag mir nur alles.« Die mütterliche Be-rührung beruhigte ihn ein wenig, er rang um Worte, strei-chelte die Arme der Mutter, flüsterte endlich: »Ist das wahr, Mutter, daß er Fräulein Kwet heiraten wird?« Erstaunt und 326 Ludwig Winder Turnlehrer Pravda 327 befreit nickte sie: »Es heißt so. Aber was geht uns das an? Deshalb regst du dich auf?« Sie wollte aufstehen, er hielt sie fest, stammelte »Mutter!« begriff, daß er sich lächerlich machte und bemühte sich, zu lächeln. »Es interessiert mich, Mutter«, lächelte er mühsam, »es interessiert mich sehr, erzähl mir das ausführlicher! Wie ist das, er heiratet Fräulein Kwet, die alte Schachtel? Warum, warum heiratet er sie?« »Wahrscheinlich, weil sie Geld hat, es gehören ihr die drei neuen Häuser auf dem Marktplatz und unser Haus und das nebenan.« »Aber sie ist doch nicht schön und schon alt und ... und ...« »Sein Gusto«, brach lachend die Mutter die Unterredung ab. Hugo ging langsam auf den Marktplatz. Der Kirche gegenüber wohnte Fräulein Kwet. Er stellte sich vor die Kirchentür, las einigemal die goldenen Lettern über dem Eingang »venite adoremus«, drehte den Hut in der Hand, trat zögernd ein. Er war noch nie in der Kirche gewesen, fürchtete, gesehen zu werden, verbarg sich hinter der Tür, starrte zu den Fenstern des Kwetschen Hauses auf. Wenn die Mutter nicht lügt, muß er oben sein, dachte er immer verbissener, je weiter die Zeit vorrückte. Es schlug dreiviertel zwei, um zwei mußte er in der Schule sein. Noch fünf Minuten, dachte er verbissen, dann renn ich in die Schule. Er hatte aber die Gewißheit, vor Ablauf dieser fünf Minuten werde der Turnlehrer aus dem Kwetschen Haustor treten. Plötzlich schlug es zwei, gleichzeitig tauchte am schmalen Ende des Marktplatzes der Turnlehrer auf. Er ging rasch am Kwetschen Hause vorüber, sah sich nicht um, verschwand in der Gasse, die zum Gymnasium führte. Hugo blickte ihm nach, betrat das Kwetsche Haus. Er wußte nicht, daß er ging, er ging wie ein Schlafwandler, suchte die Tür, läutete. Es näherten sich Schritte, der Kopf des Fräuleins zeigte sich am Guckloch, sie öffnete, drei graue Katzen huschten vor die halbgeöffnete Tür, flüchteten aus der Kälte zurück ins warme Vorzimmer. »Wer ist?« fragte das Fräulein, die kurzsichtigen Augen strengten sich an, erkannten den Knaben. »Bist du nicht der kleine Bandler?« fragte sie, »komm nur herein, es ist kalt draußen.« Er trat ein, sie stieß ihn ins Zimmer, plötzlich saß er ihr gegenüber. »Nun, was läßt der Vater mir sagen«, begann sie leutselig, »ist etwas in der Wohnung nicht in Ordnung?« Er hörte sie nicht, ihm graute. Er hatte das Parfüm des Turnlehrers entdeckt, es war ganz schwach in der Luft zu spüren, die nach Mandelseife roch. Diese Mischung war grauenvoll. »Nun, rede doch«, sagte das Fräulein ungeduldig mit erhobener Stimme, sie schrie beinahe, eher neugierig als zornig. Er er-wachte wie unter einem Hieb, blickte auf und entdeckte eine große Photographie des Turnlehrers in verschnörkeltem Metallrahmen auf dem Tisch. Das Fräulein erstaunte immer mehr. »Also was ist, was sollst du ausrichten?« drängte sie und trommelte mit der rechten Hand auf der grünen Plüsch-decke. Der Knabe streckte die Hand aus, stieß die Photogra-phie um, erschrak aber nicht, sondern fixierte die dünnen trommelnden Finger, stand auf, fixierte das winzige gelbe spitznäsige Gesicht der Vierzigjährigen. Sie stand auf, sagte verdrießlich: »Wenn du nicht reden kannst, werde ich mich bei deinem Vater selbst aufhalten, bis ich nächstens vorbeikomme.« In diesem Augenblick stürmte er vor, blieb zit-ternd knapp vor ihr stehen, sie wich erschrocken zurück, da sah sie in seiner Hand die Photographie, hörte ein Gekeuch, der Knabe keuchte: »Er ... Er ... Er ...« Zitternd standen sie sich gegenüber. Plötzlich glaubte das Fräulein alles zu verstehen. Sie legte die Hand auf Hugos Schulter, lächelte geschmeichelt: »Soll ich bei ihm ein Wort für dich einlegen? Ist er sehr streng, soll er weniger streng sein?« Hugo starrte sie an, das Bild in den zerkrampften Händen, sprang aus dem Zimmer, sprang aus dem Haus. Sie riß das Fenster auf, blickte ihm nach, glotzte verständnislos, bis er in der Gasse, die zum Gymnasium führte, verschwunden war. 328 Ludwig Winder Turnlehrer Pravda 329 7. Bis sechs Uhr mußte er strafweise nachsitzen, weil er zu spät in die Schule gekommen war. Von fünf bis sechs war er ohne Aufsicht. Er hatte die Photographie vor sich auf der Bank. Er fuhr unablässig mit beiden Händen über das Glas, ritzte sich die Finger an dem spitzen Rahmen wund. Als der Schuldiener kam, ihn entließ, stopfte er das Bild so hastig in die innere Rocktasche, daß das Futter riß. Er beeilte sich nicht, langsam ging er durch die Stadt, wie ein Mörder schlich er sich heran. Das Haus am Fluß war beleuchtet. Er konnte nicht hineinblicken, der Vorhang hatte das Loch nicht mehr. Vorsichtig schlich er zur Friedhofsmauer, schloß die Augen, er sah mit geschlossenen Augen. Jetzt öffnete sich das Haustor, jetzt öffneten sich seine Augen. Er sah den blonden Pytlik das Haus verlassen. Es tappte im zugefrorenen Flußbett. Es tappte schwächer und schwächer. Die Welt ward still. Die Friedhofsstille sank über die dunkle Welt. In der Wolke seines Mantels glitt Hugo zum Haus am Fluß, nahm die Photographie aus der Rocktasche, klopfte mit der metallenen Spitze des verschnörkelten Rahmens ans Fenster, steckte das Bild wieder in die Tasche, stellte sich zum Haustor. Der Turnlehrer öffnete. Die Kerze in seiner Hand warf weißes Licht auf sein Gesicht. »Sie? Was wünschen Sie?« fragte er unruhig, sein Gesicht verzog sich, als wäre eine Ratte vorbeigehuscht. »Ich habe etwas .. zu überbringen«, stotterte der Knabe feig, furchtsam. »Kommen Sie«, sagte der Turnlehrer freundlicher, ließ ihn eintreten, bot ihm Platz an. Hugo hatte die Augen geschlossen. Er saß in der Duftwolke. Er hatte ein nie geahntes Gefühl der Leichtigkeit: er spürte seinen Körper nicht, er war getrennt von seinem Körper. Wenn er mich jetzt ersticht, erschießt, in den Ofen wirft - mir kann er nichts anhaben, dachte er. »Also los«, erscholl die Stimme des Turnlehrers, »was haben Sie mir zu bringen?« Der Knabe öffnete die Augen, ein Beben ging durch sei-nen Körper. Er blickte den Turnlehrer an, ertrug den unerträglichen Glanz der Augen, den er nie ertragen hatte. »Ich weiß alles, deshalb bin ich gekommen«, sagte der Knabe leise. Der Turnlehrer stürzte auf ihn zu. Seine Hand duftete, sie war weiß wie eine weiße Rose. Die kleine weiße Hand krallte sich an dem roten Hals des Knaben fest, ließ nicht locker, ein Gurgeln zirpte durch den totenstillen Raum. Wie oft habe ich das geträumt, dachte Hugo. Drück zu, mach ein Ende. Aber die würgende Hand ward schlaff, plötzlich lag sie schlaff und hilflos auf dem Kinn des Knaben, begann zu streichein, zu flehen. Erschauernd fühlte Hugo, daß die Hand schmeichelnd auf seinem Körper lag. Er sprang auf, riss die Photographie aus der Tasche, legte sie auf den Tisch: »Das habe ich Ihnen gebracht.« »Von wem?« »Von ihr.« »Von wem?« »Von mir.« - Der Turnlehrer zitterte: »Du hast mich angezeigt?« Der Knabe sah in die glühenden Augen, sein Gesicht ver-zerrte sich höhnisch, er flüsterte: »Ich .. lasse .. Sie laufen.« Der Turnlehrer ballte die Fäuste. Der Knabe flüsterte: »Rasch, bevor es zu spät ist. Noch eine Stunde, und es wäre zu spät.« Der Turnlehrer riß das Fenster auf, nahm den Mantel, lief, lief. Der Knabe beugte sich aus dem Fenster, sah ihn verschwinden. Dann löschte er die Lampe. Er sank in die Knie.