MAX BROD IM KAMPF UM DAS JUDENTUM R LÖW1T VERLAG WIEN 1920 B E J? Ĺ J N 10 VN A .—3. Taiisejid *1ÖÖ2309659* PRESEfJČNÍ FOND Copyright 1920 by R. Löwü Vorlag, Wien und Berlin. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten. A Druck der Gesellschaft für graphische Industrie, Wien VI. Mitte Oktober 1918 wurde der »Jüdische Nationalrat« in Prag begründet Am 28. Oktober — es war genau eine Stunde vor Ausbruch der Revolution — überreichte er dem tschechischen Nationalausschuß sein Memorandum, in dem er Anerkennung der jüdischen Nation, volJe Gleichberechtigung der Juden, Demokratisierung der Kultusgemeinden und kulturelle Autonomie verlangte. Das erste dieser Postulate ist im offiziellen Motiven-bericht zur Verfassungsurkunde der tschecho-slowakischen Republik erfüllt worden (März 1920) — ein historisches Faktum in der Galuth-Geschichte, nicht unwichtig, wenn man es an den Mißerfolgen und Leiden unseres unglücklichen Volkes mißt, und doch nur ein winziger Schritt auf unserem Weg. Der Kampf geht weiter. Gegen äußere Feinde und gegen das innere Assimilantentum jeglicher Gestalt. Meinen Mitkämpfern und Freunden im »Jü-dischenNationalratfür die tschecho-slowakische Republik? widme ich diese Sammlung von Aufsätzen, mit denen ich in Zeitschriften aller Art meinen Kampf um das Judentum geführt habe. Meine Freunde, an wie viel Tagen, in viel Nächten haben wir unsere Nerven aufgewühlt bis auf den Grund, wie hat uns die gemeinsame Sorge aneinandergeklammert, wie haben wir Seite an Seite geliebt, gehaßt, gehofft, gelitten, gelacht, gekämpft! Erinnern wir uns! Blättern wir zurück! Dann wollen wir wieder an unser Werk gehen. 93 JUDEN, DEUTSCHE, TSCHECHEN Eine menschlich-politische Betrachtung. (Juli 1918) Ist es ertaubt, politische Dinge als Mensch, schlechthin als Mensch zu betrachten ? Das heißt: mit der letzten, rücksichtslosesten Offenheit, ohne kluge Abwägung der Folgen, mit einem Worte: möglichst weit distanziert vom Stil eines Parteicommunique's? Ist es erlaubt, auch in politicis Individuum zu bleiben, fühlendes Herz, Künstler, Liebender, Sehnsüchtiger? — Jch nehme mir diese Erlaubnis, denn sie ist mir in der letzten Zeit mehr und mehr lebensdringendes Bedürfnis geworden. Ich will die Wahrheit sagen. Sie ist meine Wahr-heit, nicht mehr und nicht weniger. Ich spreche nur für meine eigene Person. Noch offener: nur für meine eigene heutige Person, deren zukünftige Eindrücke ich nicht bemessen kann .J. Im Grunde also ein unendlich winziger Ausschnitt der Wirklichkeit, den ich biete. Und doch ist dies wohl das Äußerste an Umfang, was auch sonst irgend ein anderer unter strengster Ehrl ich keits- und Gewißheitsforderung zu überblicken vermag. Eine Inventaraufnahme meines politischen Seelenbestandes, — die »Politisierung der Geistigen«, von der jetzt so viel gesprochen wird; kann und darf zunächst nicht mehr als solche individuelle politische Glaubensbekenntnisse verlangen. Ob diese rückhaltslosen Beichten unbedingt zum >Zusammenschluß«, zum ^Aktivisinus* führen, ist eine erst nachher zu erledigende Frage ... Für die zionistische Partei, der ich angehöre, und ihre Politik in Österreich sagt mein individuelles Bekenntnis natürlich nichts aus. — Es ist mir notwendig geworden, meine Beziehung zum Deutschtum und zum Tschechen-tuni, meinen ^ariz persönlichen Standpunkt zu den immer neu auftauchenden Konflikten lokaler und allgemeiner Art klarzustellen. Obwohl ich überzeugt davon bin, daß es für jeden sehr heilsam wäre, auf seine eigene Weise eine analoge Klarstellung zu versuchen, fühle ich doch sehr stark, wie meine Lösung von den Zufällen einer subjektiven Blickrichtung abhängig ist, wie sie nur mich selbst, kaum einen zweiten, geschweige denn eine ganze Partei bestimmen kann. — Ich bin also von vornherein darauf gefaßt, daß man meine Resultate als »interessant, aber unpraktikabel < disqualifiziert. Meine Resultate (sind sie wirklich Resultate? Oder nur Entwicklungskeime?) wollen ja gar nicht »praktikabel« (im Sinne einer allgemeinen oder parteimäßigen Benützbarkeit), freilich wollen sie doch etwas mehr als »interessant« sein. Ich beginne an einem beliebig herausgegriffenen Punkte der komplizierten Materie, Das Maiheft der Monatsschrift »Deutsche Arbeit« (Prag) bringt einen Artikel über das Deutschtum in Mähren. Inhalt: Es ist ein Irrtum, daß die mährischen Deutschen ebenso wie die Deutschen in Böhmen eine völlige Zweiteilung des Kronlandes wünschen. Eine Provinz Ceutschmähren analog der geforderten Provinz 8 Deutschböhmen? Nein! Das wäre national schädlich, Preisgabe wichtiger Minderheiten usw. Die Deutschen in Mähren verlangen wie die Deutschen der Alpenländer Autonomie im Rahmen der ungeteilten Kronländer. — Der Artikel verhält sich sachlich referierend, es ist nichts gegen ihn zu sagen. — Ganz anders fällt das Licht, wenn man ihn mit einem Leitartikel von Professor Samassa zusammennimmt, der in der Tageszeitung »Bohemia« (Prag) am 7. Mai 1918 unter dem Titel »Staat und nationale Autonomie* dagegen auftritt daß eine Flugschrift des deutschen Abgeordneten Lodgmann für alle Nationen Österreichs dieselben autonomen Rechte wie für Deutschböhmen verlangt hat Ich zitiere die markantesten Sätze dieses Leitartikels: »Mit der Forderung nach der Errichtung der Provinz Deutschböhmen hat diese Erklärung (das heißt daß tn ganz Österreich territorial-nationale Autonomie herrschen soll. — Von mir hinzugefügt M. B.) an sich nichts zu tun ... Der Zusammenhang wird erst hergestellt, wenn man meint daß die Verwirklichung dieser Forderungen nur auf dem Wege einer allgemeinen Neuordnung zu erzielen ist durch die der Staat in eine Reihe nationaler Territorien zerlegt wird .. Das Programm der nationalen Autonomie, wie es Bauer-Renner-Popovici am grünen Tisch theoretisch ersonnen haben, ist nirgends in der Welt verwirklicht... Lodgmann meint ich wäre ja auch für die nationale Autonomie, wollte sie aber nur für Oalizien und Dalmatien, während er sie eben für alle Völker wolle. Dieser Vorwurf der politischen Inkonsequenz ist auch von Renner wiederholt gegen die deutsch nationalen Programme erhoben worden ,., Oute Politik scheint mir nicht so sehr 9 in der Umsetzung schön ausgeklügelter Theorien in die Wirklichkeit als in der geschickten Verteidigung der Interessen des eigenen Volkes oder Staates zu bestehen.. Wenn eine weitgehende Autonomie .., Oaliziens oder Polens vom deutschen Standpunkte erträglich oder wünschenswert ist, so werde ich mich mit den Polen darüber verstandigen, ohne daß mich der Gedanke einen Augenblick beschweren wird, daß ich den Tschechen und Südslawen das Gleiche nicht gewähren kann usw.« Hier ist mit der Miene, als sei es die natürlichste Sache von der Weit, ein Begriff von Politik aufgestellt, gegen den ich mich mit Seele und Leib wenden muß. Hier verkündet sich ein Opportunismus, wie er gerade das Kennzeichen der sogenannten »radikalen* Parteien ausmacht, wie ich ihn als Mensch, der wesenhaften Radikalismus zu leben wünscht, bekämpfe. Denn solche radikal-opportunistische Politik bedeutet: Verewigung des nationalen Kampfes, daher auch des Krieges, Perpetuierung des Blutbades auf Erden. Wenn man das Interesse des eigenen Volkes und seine »geschickte Verteidigung« als schlechthin geltendes, allerhöchstes Gesetz annimmt, über dem keine Instanz der Menschheitssolidarität, der Gerechtigkeit anerkannt wird, wenn man jeder politischen Inkonsequenz und Unbilligkeit, wie es Samassa scheinbar in bester Überzeugung tut, höchstens den Rang eines »Schönheitsfehlers« zubilligen mag, so daß es tatsächlich den Eindruck macht, als fehle diesem Professor ein normal ausgebildetes Gerechtigkeitsorgan (so wie es ja Menschen gibt, die mit einem halben Lungenflügel zu existieren vermögen), wenn man jeden Versuch einer allseitig gerechten Regelung als 10 »am grünen Tisch« »schön ausgeklügelt« verwirft, dann verdient man nichts anderes als die Greuel, in denen wir heute ersticken und denen ja tatsächlich der »grüne Tisch« der Friedensverhandlungen chimärenhaft entrückt bleibt Genau so, nicht um ein Haar besser, steht es auf tschechischer Seite. Auch die tschechische Politik versucht es gar nicht, ihre Forderungen nach dem Maße der Gerechtigkeit zu beschneiden. Auf dem Gebiete der Politik ist auch den Tschechen das Schlechteste gut, das Unlogischeste logisch genug. Von deutschem und tschechischem Chauvinismus möglichst schroff abrücken: darin sehe ich einen notwendigen Wesenszug aller wahrhaft jüdischen Politik. — Ich will als Jude das Wohlergehen meines Volkes, aber nur im Rahmen der Gerechtigkeit, im Rahmen einer allmenschlichen Versöhnung. Sollten einmal menschliche und jüdische Interessen miteinander kollidieren, so werde ich nicht zögern, das Volksinteresse zurückzustellen. Hier ist die absolute Grenze meines Nationalismus. Die Grenze jedes wahren Nationalgefühls ist wahre Menschlichkeit Denn hier beginnt die übergeordnete Kategorie des Religiösen.-- Nun ist es allerdings leicht begeisterten Angesichts solche und ähnliche Formeln zu sprechen. — Halten sie aber tiefere Prüfung aus? — Zweifel überschütten mich: Was ist Menschlichkeit? Führen nicht auch extremste Chauvins und Kriegshetzer dieses Wort im 11 Munde? Nach welchem Maße bestimmt man, was einem Volke »gerechterweise* zukommt, was nicht? Ist es nicht die immanente Tragik des Menschen, daß er nicht anders leben kann als auf Kosten anderer und über die Leichen anderer hinweg? Wachsen Völker nicht, bedürfen sie nicht immer größerer Ausbreitungszonen ? Oilt nicht von Völkern ebenso wie von einzelnen das Wort Dehmels: Ich stand und fühlte das Gesetz: wer lebt, hilft töten, ob er will, ob nicht I Und liegt nicht gerade für den Nationaljuden, dessen Gemeinschaft vorläufig nur in der Idee existiert, die Gefahr nahe, die Gerechtigkeits- und Ausgleichsrnöglich-keiten der praktischen und politischen Welt, deren reale Erfahrung ihm fehlt, zu überschätzen?; Mit anderen Worten: wird nicht auch der Jude, soSald er ein wirklich vorhandenes, nicht bloß gedachtes Palast!na zu verwalten, zu verteidigen haben wird, von allmenschlicher Harmonie zu träumen aufhören und sich, um nicht unterzugehen, „nach der Weise der Völker" einrichten müssen — das heißt, die ganze Skala vom Verteidigungs-zum Präventivkrieg und Annexionismus hinabgleitend ? Auf diese Fragen gibt es keine abstrakte Autwort, nur ein antwortendes Gefühl, das etwa aussagt, daß nicht alles menschliche Unglück gottgewollt und gottwohlge-f all ig ist — daß es zwar edles, unbehebbares, aber auch unedles, behebbares Leid gibt und daß das politische Leid des Nationalitätenhaders in seinem Kernteil zu letzterem gehört, zur auflösbaren Tragik des Menschseins, nicht zu seiner >E>bsünde«y VI Gewiß, die nationalen Reibungen haben keinen statischen Charakter, können nicht ein für allemal erledigt werden. Denn die Völker wachsen, wachsen ungleichförmig, und so wechseln auch ihre Ansprüche auf Boden und Bewegungsfreiheit, es sind dynamische Gestaltungen, Angelegenheiten des Lebens. Aber Leben ist nicht unbedingter Kampf, Leben ist auch Liebe, auch Opfer... Daß ein Volk auch freiwillig, also nicht als Besiegter, einzelne seiner Rechte aufgeben kann, die ihm minder wertvoll als dem Nachbar lästig sind, das ist ein Gedanke, dessen europäisches Aufdämmern noch nicht einmal gesichtet worden ist Nur der Jude Trotzki hat auf der Friedenskonferenz in B rest- Líto wsk, die dann nachher den Triumph des nacktesten Machtprinzips gebracht hat ähnlichem Gefühl Ausdruck gegeben. Die unsterbliche Torheit seines Idealismus wird alle nüchterne Klugheit unserer »großen Zeit« um einige Sternenjahre überdauern! — Völkerfrieden, zartestes Gefühl für um erlogenes Selbst-bestimmungsrecht Versöhnung ... ja, ich weiß es, es sind schwer oder gar nicht erreichbare Ideale. Aber ein anderes ist es, die Tragik dieser schweren Erreichbarkeit keuchend eingestehen und dennoch die vielleicht vergebliche, jedenfalls erhabene Richtung festhalten — ein anderes, mit Professor Samassa von vornherein und prinzipiell auf Gerechtigkeit verzichten oder, wie es die Tschechen nach englischem Beispiel machen, mit der Gerechtigkeit nur herumfuchteln, um sich auch dieses Argument im Kampfe nicht entgehen zu lassen. Der deutschreaktionären Methode, sein Unrecht von vornherein »ehrlich* eingestehen und dem Entente-Pnnzip, sein Unrecht möglichst kaunopolitisch als Recht drapieren (die Wahl fällt einem schwer, welche dieser beiden »Moralen« übler riecht) — muß zumindest als denkbar eine dritte Möglichkeit entgegengestellt werden: die Schwierigkeit und Fast-Unmöglichkeit einer gerechten Ausgleichung der nationalen Ansprüche sehen und dennoch diese Ansprüche niemals anders als im Sinne einer objektiven Gerechtigkeit beurteilen wollen. Auf das Wollen kommt es an. Ein solcher Beurteilungswillen hätte die Existenznotwendigketten einer Nationalkuitur, die Minimalbedingungen ihres Wachstums festzulegen — auf diese Art ein wahrhaftes Völker-Recht zu begründen, dessen Basis aber nie auf Kodifikation allein, stets auch auf lebendigem Gefühl gegenseitiger Achtung und — darf ich es wagen, klingt es heute nicht komisch — auf lebendiger Liebe von Volk zu Volk ruhen müßte. Liebe kann freilich nicht kommandiert werden. Und so stehen wir hier schon in der unauflöslichen Urtragik mittendrin, mit andern Worten: wirmüssen auf die genialen Persönlichkeiten warten, die uns durch ihr Beispiel zeigen, wie man von Volk zu Volk liebt, die uns zu solcher Liebe mitfortreißen, wie uns ihre Vorgänger in der Liebe zum eigenen Volk erzogen haben. 'Mein besonderer Fall: ich bin Jude, mein politisches Interesse gilt in erster Reihe der allmenschlichen Gemeinschaft, der ich am intensivsten innerhalb meines unverlogenen Volkstums zu dienen glaube, wobei die obere Grenze des Volkes in mir durch menschlich-religiösen Dienst gegeben isU In die naturhafte Tiefe der Seele greift das Volk vermutlich unendlich weit hinab. Ich fühle mich nicht als Angehöriger des deutschen Volkes, doch bin ich ein Freund des Deutschtums und außerdem durch Sprache und Erziehung, durch vieles von dem, was die Soziologie mit Schallmayer »Traditionswerte« im Gegensatz zu * Generationswerten« (Erbwcrten) nennt, dem Deutschtum kulturverwandt Ich bin ein Freund des Tschechentums und im Wesentlichen (mit den folgenden Einschränkungen) dem Tschechentum kulturfremd. Eine einfachere Formel eines jüdischen Diaspora-Daseins in einer national geteilten Stadt ist mir unmöglich. Ja schon die vorstehende Formel bedarf eines nicht zu knappen Kommentars. * Freund, doch nicht Angehöriger des deutschen Volkes. — Ist diese Stellungnahme für einen deutsch-erzogenenJuden logisch möglich? Gewiß, denn ich fühle sie als unvcrlogen. Sie umschreibt meinen heutigen Geisteszustand völlig, wenn ich den Terminus >Freund« noch durch das Merkmal der »Kulturverwandtschaft« ergänze. Kulturverwandtschaft aber ist nicht Blutsverwandtschaft Ich mag den hold-leichtsinnigen Wahn im Scherzo eines Schubert-Trios, diese hingehauchte Morgenluft mit Gesumm eines Wiener Wirtshausgartens (Ausflugsort), mit windig hergetragenen Spaziergängerstimmen und Sonnenschein, ich mag die Innigkeit einer Kleistschen Wortfügung, eines fiauptmannschen Menschenlächelns noch so sehr lieben — es bleibt doch alles, sofern der Zugang nicht vom Allgemein-Menschlichen aus erfolgt, auf Assoziationen angewiesen, die auf Erlerntes, auf 14 15 Erfahrenes innerhalb eines fremden Volkstums, nicht auf Angeborenes zurückführen. Im Grunde ist Schuberts geliebte, wolkenlose Heiterkeit für mich — etwas Exotisches. Daß sie auf mich nicht ebenso exotisch wirkt wie etwa eine malayische Gefühlsäußerung, verdanke ich erstens ihrem fallweisen Mehrgehalt an Menschlichem, zweitens gewiß dem Verständnis, das ich mir durch mein Leben unter Deutschen für das Gefühl dieses Volkes erworben habe. Bedarf es des Nachweises, daß auch das beste Verständnis niemals mit jenem eigenen schöpferischen Gefühl zu verwechseln ist, das der Kontrolle nicht mehr bedarf und sie auch nicht mehr ertrüge, diese Kontrolle an einer erlernbaren fremden Existenzform? — 'Gewiß kann, wenn einmal Schöpferkraft vorhanden ist, diese Kraft auch Material, das einer fremden Existenzsphäre angehört, verwenden und zu einem beseelten Ganzen steigern. Es steht dann nur zur Entscheidung, ob das so geborene Leben Seele von der Seele des Materials ist oder vielmehr aus der im Grunde dem Material gleichgültigen, besser gesagt: ihm nur durch das Allmenschliche verbundenen Seelenquelle entspringt^ Ich gebe zu, daß hier in Grenzfällen (das heißt, gerade bei sehr starken Menschen, leidenschaftlichen, großlinigen Lebensführungen und äußersten Kunstwerken) die Unterscheidung schwer fällt — Verdis »Aida« etwa! Ist hier nicht aus dem wie in alle Poren dieser Musik, in Rhythmen und Tonfolge eingesogenen Afrika-nismus, aus Nilglanz und monotoner Fellachenschalmei ein Werk entstanden, das im vollsten Sinne als *echt« anzusehen ist? Hat nicht das Genie des Schöpfers alle verborgenen Seelenkräfte, die im Material der wesensfremden ägyptischen Kultur schlummerten, aus ihrem 16 Schlafe auf und zu sich herübergerissen ? — Und dennoch! Ich getraute mich nachzuweisen, daß selbst in einem solchen äußersten Fall der Beseelung wesensfremden Materials die Scheidewände undurchdmngcn geblieben sind. »ATda* ist selbstverständlich nicht ägyptische, sondern italienische Nationaloper, italienisch in jedem Akkord, in jedem Molekül der Struktur, Invcntion, Empfindung. Man stelle sich nur etwa vor, wie ein Ägypter, vielleicht auf Grund desselben volkstümlichen Melodiematerials, eine ägyptische Nationaloper komponieren würde — um wie viel fremdartiger, unzugänglicher, gleichsam lichtioser — ja mit jener glanzlosen, keuschen und dabei gewissermaßen schrulligen Einfachheit, die ein ganz aus dem Volkstum gestiegenes Werk (etwa Janáčeks slowakische Bauernoper »Jenufa«) unfaßlich seltsam umwittert. — Das Genie holt sich natürlich seine Bausteine aus entlegenster Sphäre und es würde eine Verarmung der Welt bedeuten, klänge italienische Derbheit und Tonfülle nicht einmal auch in Berliozens facettierter Verfeinerung, all diese Mönchs- und Serenaden- und Riuberromantik unendlich zart ziseliert, das französische Herz unter Paganinis italienischem Viola-Steg aufbebend. Aber für italienische Musik wird man natürlich »Harald en Italie«, »CelJini« usw. nicht nehmen; ebensowenig Mahlers »Knaben Wunderhorn « für deutsche ... 'Sprache, Erziehung, Lektüre, Kultur haben mich zum dankbaren Freunde des deutschen Volkes gemacht, nicht zum Deutschen..., Gegen diese Einsicht spricht nicht» 17 daß sie sich erst allmählich, mit zunehmender Reife in mir entwickelt hat Daß ich erst allmählich gelernt habe, das Übernommene und das Schöpferische in meiner Seele scheiden — darf ebensowenig als »Abfall vom Deutschtum c angesehen werden wie der Umstand, daß ich bescheiden-demütig nur »Freund« sein will und nicht »Volksangehöriger* — »Feindschaft gegen das Deutschtum« bedeutet Solche und ähnliche Äußerungen, so absurd sie klingen, sind gegen mich gemacht worden. Der togischen Richtigkeit meiner Stellung sicher, verhehle ich mir doch nicht, daß etwas anderes denkmäßige Konsequenz, etwas anderes politische Wirklichkeit bedeutet J . . Die Schwierigkeiten und Konflikte auf diesem Gebiete will ich nicht verkleinern, Sie herauszustellen ist ja gerade der Sinn meiner Überlegungen ,.. Logisch unanfechtbar ist es, sich nicht als Deutschen zu bekennen, wenn man sich nicht als Deutschen fühlt Wie sieht es aber praktisch-politisch aus, welchen realen Effekt übt es etwa auf dem Boden einer heißumkämpften deutschen Minorität, wie es Prag, meine Heimatstadt ist ? Bedeutet es hier nicht wirklich eine Schwächung des Deutschtums? Wird der Zionismus nicht gerade aus diesem Grund von den Tschechen freundlich beurteilt, weil er durch Bekenntnis zur jüdischen Nationalität die Zahl der Deutschen in Prag und anderen tschechischen Orten mit deutschsprechender Minorität verringert? Und kommt also hier nichteine noch so ehrliche Erkenntnis »Von heute an weiß ich, daß ich nicht Deutscher bin«, obwohl diese Erkenntnis nichts Willkürliches hat obwohl sie nur einen faktischen Tatbestand ausdrückt — kommt säe nicht trotzdem in ihrer Wirkung einem »Abfall vom Deutschtum« gleich? Schädigt 18 sie nicht das Deutschtum? Widerspricht sie nicht der Dankbarkeit die ich meiner deutschen Erziehung schulde? Liegt nicht am Ende die Gefahr vor, daß man das Deutschtum gerade an seinen bedrohten Punkten im Stiche läßt das heißt dort, wo es Opfer und Mut verlangt, sich zum Deutschtum zu bekennen, während man gleichzeitig anderwärts, dort wo es einem gleichsam nichts kostet von der Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis profitiert? Führt eine solche Auffassung des jüdischen Nationalismus nicht nahe an eine Nützliclikeits- und Bequemlichkeitsmoral, und dies (was das Ärgste ist) unter dem heuchlerischen Schein einer besonderen Ehrlichkeit? Buber hat solche und ähnliche Bedenken durch die Formel »Primat des Judentums« bannen wollen. Mir reicht diese Formel nicht aus. Sie sagt zu wenig. Sie mag für Deutschland langen, wo der Jude einem einzigen Volke gegenübersteht Im zweisprachigen Gebiet bedarf es eingehenderer Untersuchung. (In Böhmen gewiß. — Auch in Ostgalizien? — Ich weiß es nicht) 'Ich gestehe, daß ich lange Zeit die Schwierigkeiten meiner moralischen Stellung unterschätzt habej Ich lebte im glücklichen Traum meines gefundenen Judentums. Doch wenn es nun Ernst wird? — Die Schwierigkeiten rächten sich dafür, daß ich sie vernachlässigt hatte, und brachen plötzlich in unübersehbarer Fülle hervor. Medusenhäupter... Ich will den Weg angeben, auf dem ich mich langsam aus meiner Erstarrung losgemacht zu haben glaube. Ich begann zwei Begriffe zu scheiden: politische Stellung und sprachliches Bedürfnis. — Was zunächst den zweiten Punkt anlangt: Ich bejahe mein sprachliches Bedürfnis als deutschsprechender Jude Ich werde 19 * nie anders als deutsch denken, >schreiben, reden können; zumindest in der Diaspora niemala Mein sprachliches Bedürfnis verlangt also, daß (um das für mich praktisch wichtigste Beispiel zu nennen) in Prag gewisse deutsche Institutionen erhalten bleiben, Vereine mit deutscher Geschäftssprache, deutsche Vorlesungen und Vorträge, deutsches Theater, deutsche Presse, deutsche Schulen usw. Dieses Bedürfnis hat sich dadurch, daß ich mich zum nationalen Judentum bekenne, nicht im mindesten geändert. Allerdings habe ich nur an der deutschen Sprachlichkeit dieser Institutionen Interesse, nicht an ihrer deutschen Politik, sofern ich diese Politik nicht aus andern Gesichtspunkten hervor billige (zum Beispiel aus allgemein-menschlichen Gerechtigkeitserwä-gungen oder wegen des notwendigen Zusammenhanges mit der Deutschsprachlichkeit). Nicht etwa bloße Bequemlichkeit veranlaßt mich zu diesem Festhalten an der deutschen Sprache, sondern absolute Notwendigkeit:' denn mein Denken, mein Sprachgefühl und alles Verwandte ist unübersetzbar deutsch. Auf die deutsche Sprache verzichten, hieße für mich, meine Persönlichkeit um ein lebenswichtigstes Organ reduzieren — tödliche Amputation^] Aus diesem Verwachsensein mit der deutschen Sprache und daraus, daß ich fast alles sprachlich Erlebte deutsch erlebt habe, erwächst meine Kulturverwandtschaft mit dem Deutschtum, zärtliche Liebe zu vielen seiner Erscheinungsformen (es schiene mir vermessen, sie aufzählen zu wollen). Diese Liebe hindert mich aber nicht, andere Erscheinungsformen desselben Deutschtums als mir durchaus fremd zu empfinden, so etwa die immer (bis tief in Novalis hinein) wiederkehrende »Poesie des Krieges«, »historische« 20 Weltansicht usw. Was macht den Deutschen? Daß er die Fäden zwischen den ihm sympathischen und unsympathischen Seiten des Deutschtums als notwendige Zusammenhänge fühlt, daß der Bruch, wenn er hier einen Bruch konstatiert, durch seine eigene Seele geht... Ich komme von außen. Was ich an deutschen Werten liebe, nehme ich in mich auf. Was mir an ihnen mißfällt, ist mir nicht nur unsympathisch, sondern — fremd. Ich kann mich vielleicht nach mit äußerster Anstrengung und Bereitwilligkeit dazu zwingen, die geheimnisvoll hin- und herlaufenden Fäden zwischen dem Geliebten und dem Fremden innerhalb des Deutschtums zu sehen, vielleicht sogar sie als notwendig einzusehen. Sie fühlen, sie in meiner eigenen Seele fühlen, eine Bruchstelle dieser Verbindung als eigene Bruchstelle fühlen: das kann ich niemals, das ist nicht meine Sache. Meinem sprachlichen Bedürfnis entspricht (beispielsweise) eine deutsche Zeitung in Prag. Daß diese Zeitung , aber den Standpunkt der deutschen Hegemonie in \Weiberwirtschaft* und anderen) von diesen tiefen Erschütterungen Zeugnis abzulegen. Es scheint mir, daß auch meine besondere Liebe zur tschechischen Musik darauf beruht, daß ich mit der Landschaft und mit den Menschen, denen diese Ur-klänge entspringen, vertraut bin. Diese Art von Kulturverwandtschaft kann freilich nicht so leicht mit Blutsverwandtschaft verwechselt werden, wie es mit meiner deutschen Kulturverwandtschaft der Fall ist Obwohl die Gefahr eigentlich hier a priori ebenso nahe liegt wie dort.—'Und bei Juden mit tschechischer Umgangssprache realisiert sie sich denn auch, ja bei ihnen mit doppelter Kraft da für sie die beiden Kulturfaktoren, Sprache und Erleben des Volkshaften, die ich auf Deutsche und Tschechen zu verteilen habe, in eins zusammenfallen. So entsteht denn für sie selbst der ehrlich gefühlte Eindruck, daß sie ganze Tschechen seiery ein Eindruck, den sie in einzelnen bedeutsamen Fällen mit ergreifendem Ernst und bewußter Märtyrerschaft zu verteidigen wissen, so etwa Richard Weiner, Jude und tschechischer Schriftsteller, im »Närod» (13. Juni 1918). Besonders sympathisch berührt es, daß Weiner auf jede führende Rolle verzichtet, ja daß er sich in konsequenter Durchdenkung des Assimilationsprinzips eine freiwillige Klausur innerhalb des Wahlvolkes, ein Leben der Entbehrung auferlegt: dies meiner Ansicht nach die einzig mögliche anständige Folgerung aus der Assimilation, die in radikalster Ausführung zu völligem Abwarten, Verstummen, zur Selbstauslöschung führen muß. — Lästerlich wäre es, gegen solche Unbedingtheit (die ich gerade für das Tiefjüdischeste an Weiner halte) zu polemisieren. Nur ganz äußerlich und in Analogie zu eigenem Erleben kann ich andeuten, daß mir die Gründe, mit denen Weiner seine tschechische Substantialität belegen will und deren subjektive Schlagkraft ich nicht anzweifle, objektiv nicht stichhaltig scheinen. Weiner sagt unter anderem: Smetanas »Mein Vaterland« ist schöne Musik, aber auch Beethovens »Fünfte« und »Neunte« sind es, ohne daß ich bei ihrem Anhören etwas wie mütterliche Umarmung fühle. Die fühle ich, wenn ich Smetana höre — Ich verrate hier dem Tschechen Weiner, daß auch mich Juden Smetanas Symphonienkreis viel tiefer und heimatlicher anrührt als sehr vieles von Beethoven. Aber ich bin natürlich weit entfernt davon, diese tiefere Wirkung durch tschechische Substanz in mir erklären zu wollen. Genügt es nicht 26 27 daß in diesen erhabenen, reinen Harmonien Smetanas das Milieu, in dem ich lebe, das ich täglich erfahre und verarbeite, für alle Ewigkeit emporgehoben und verklärt ist? Wozu die mystische Tiefe des eigenen Volkstums aufrufen, wo die (durchaus nicht unmystischen) Elemente des äußeren Erlebnisses, der Erfahrung hinreichen? Die Volkstiefe spielt freilich auch beim Erlebnis der Smetana-symphonien eine Rolle. Es entsteht nämlich eine seltsame, unwillkürliche Transposition ins Jüdische, die bei aller Wirksamkeit ganz unbewußt und unbemerkt bleiben kann. Das jüdische Volkstum, das ich realiter in mir habe, schwingt (als Resonanz gleichsam) überall mit, wo Sehnsucht, historische Größe, goldene Zeit und Zukunft irgend eines Volkes ins Blickfeld tritt [ Und schwingt desto stärker, desto mehr »mütterliche Umarmung* mit, je genauer ich dieses fremde Volk mit seiner Geschichte, seiner heutigen Lage, seiner Eigenart und Landschaft kenne. Und da sollte es bei dem geradezu an die Lungen fahrenden Waldesrauschen in Smetanas »Böhmischen Hainen« nicht in sanfte Raserei geraten? Haben diese Haine ohnedies nicht alles, was ich der Natur an Andacht hinzugeben hatte, auf ihren Opferaltären empfangen? Ich gebe zu, daß solche und ähnliche Gefühle, die bei mir durch Sprachfremdheit isoliert sind, einem tschechischsprechenden Juden die Suggestion der Kultureinheit vermitteln können. Analog einem Juden im einsprachig deutschen Kulturgebiet die Illusion der Zugehörigkeit zum Deutschtum, mit dem ihn Sprache und volkstümliche Erfahrung verbinden. Doch in meinem Sinn ist auch diese doppelt fundierte Gemeinschaft von Blutsverwandtschaft weit entfernt Das Argument Weiners, daß Abkömmlinge 28 aus deutschen Häusern wie Rieger, Fügner usw. prominente Tschechen geworden sind, spricht (Richtigkeit der Fakten vorausgesetzt) natürlich nur für die rassenhafte Verwandtschaft oder vielleicht beiderseitige Rassenunbestimmtheit der Deutschen und Tschechen, beweist aber für das rassenmäßig so fest umschriebene, seit Jahrtausenden unvermischte Judentum nicht das Geringste — Ebenso wenig kann sich der unvermischte Judentyp auf Leistungen jüdischer Mischlinge (Vrchlicky, Zeyer) berufen. Neben Kulturnähe und Kulturfremdheit in den dargestellten Grenzen wirkt bei meinem Verhältnis zu den Tschechen der politische Faktor mit Die Tschechen sind wie die Juden ein kleines Volk, das nach Autonomie strebt Das ergibt Berührungspunkte, mögen die Ziele im einzelnen noch so verschieden sein. — Wie ich mir aber den Deutschen gegenüber trotz gemeinsamer Sprachlichkeit eine freie Kritik des Politischen wahren muß, so umgekehrt den Tschechen gegenüber bei gewissen Analogien und Gleichrichtungen im Politischen die sehr un* befangene Selbständigkeit in der Sprachenfrage. Sprachlich bin ich Deutscher und es muß den Tschechen genügen, daß ich mich politisch von gewissen deutschen Forderungen absondere, die an sich, das heißt vom deutschen Standpunkt gesehen, durchaus billig sind, jedoch mir im Wesen fremd bleiben. t: So ist es zum Beispiel eine an sich gerechtfertigte Stellungnahme der Deutschen oder doch ihrer Majorität, daß sie die äußere Politik Österreichs in einem Sinne beeinflussen, der deutschen Charaktereigentümlichkeiten entspricht etwa im Sinne der traditionellen Ordnung und Ordnungsliebe, von sozialer Neuregelung wegsteuernd\Zu meinem sprachlichen Dasein 29 steht dieses undemokratische Ideal des Historismus in keiner Beziehung. Ich habe keinen Zugang zu ihm, meine Substanz bleibt völlig unbeteiligt.. . Sobald aber die sprachliche Existenz des Deutschtums in Böhmen, in Prag angetastet wird, bin ich in ganz anderer Weise mitbetroffen. Um deutscher Straßentafeln willen werde ich mich allerdings nicht erhitzen. Man kann von jedem Deutschen in Prag so viel Elementarkenntnisse der anderen Sprache verlangen, daß er die tschechischen Gassenn amen kennt Nun gibt es aber viele, sehr viele Tschechen, die sogar das laute Deutschsprechen auf der Gasse als »Provokation« empfinden. Gassennamen sind kein Ausdruck des Geistigen, das Gespräch ist es manchmal. Deshalb rückt öffentliches Sprechen in den Rang eines Minoritäten rechtes auf und es darf niemandem aus nationalem Fanatismus gestattet sein, den sprachlichen Ausdruck einer fremden Geistigkeit zu unterbinden. (Selbst bei Begründung durch Reziprozität, die immer wohheil zu haben ist, bleibt es unwürdig.) — In alten solchen und ähnlichen Fragen muß ich also, ohne in Kleinlichkeiten hinabzusteigen, dem kleinlichen Radikalismus einer unter den Tschechen sehr einflußreichen Partei entgegentreten. Diese Partei (ihr deutsches Gegenstück ist natürlich vorhanden) scheint mir manchmal von dem Wahn besessen, als gäbe es irgendwo in der Luft unsichtbare Zählmaschinen, die jedes in Prag gesprochene deutsche oder tschechische Wort in besondere Rubriken registrieren, von dem Ausfall dieser Zählung hänge dann die sogenannte »Reinheit des tschechischen Charakters der Stadt« ab. Als ob es tatsächlich darauf atikäme, was geredet wird, und nicht auf das, was gilt und Geltung p 30 behält. Oder wird vielleicht von noch geheimnisvolleren Maschinen jedes Wort aufgefangen, kondensiert und in Form einer kleinen Mumie irgendwo aufbewahrt gibt es ungeheuere Wort-Lagerhallen für ewige Zeiten? Wenn es so ist dann wäre es vielleicht ein teuflischer Plan der Minorität recht viel und recht rasch zu sprechen, und auf diese Art könnte sich schließlich Prag bei einer der nächsten Lagerhauskontrollen zu allgemeiner Überraschung als deutsche Stadt entpuppen, so wie umgekehrt (laut »Bohemia^) durch Aufführung einer tschechischen Oper Wien in Gefahr kommt als tschechische Stadt beansprucht zu werden. * Nicht minder als sie der Leser empfindet, ist mir während des Schreibens die peinliche Kompliziertheit meiner Situation bewußt geworden. Fast könnte man an der Lebensfähigkeit eines in so viele Fächer eingeteilten Nationalgefülils zweifeln. Doch glücklicherweise sind im Leben diese Herzkammern kommunizierend, die Ubergänge minder gewaltsam, die Nuancen verfließender als in der harten Reflexion, deren ich mich bedienen mußte, um zu zeigen, wie es ist Wie es ist — nicht etwa: wie es sein sollte. Aus der qualvollen Deskriptive des Seienden, allzu Mannigfachen entspringt vielmehr die allerernsteste Forderung, sich zu einem einheitlichen Sein zu bilden. Diese Forderung ist für mich: der Zionismus. Alles Voranstehende läßt sich überdies in folgende Maximen zusammendrängen und erscheint dann vielleicht minder widerspruchsvoll: Innerhalb der Grenzen der Gerechtigkeit erkenne ich die Bedürfnisse jedes Volkes an — 31 Gerechtigkeitspflicht Mich selbst der ich nicht müßiger Zuschauer bin, ordne ich nach meinen realen Bedürfnissen unter diese Völker ein — Wahrheitspflicht So erkenne ich mich als wesentlich jüdischen Menschen, dessen Bedürfnisse aber bis zu einem gewissen Grade auch an der deutschen, in geringerem Maße an der tschechischen Sphäre teilhaben. Bleibt mithin die schon einmal berührte Frage offen: ob die Beziehungen der Völker zueinander einer »Regelung nach Gerechtigkeit« fähig sind oder ob sie ihr von Natur aus und für immer widerstreiten, indem einfach schon die vitalsten Interessen der Nationen einander kreuzen und eine die andere fressen muß, um nicht gefressen zu werden. Im letzteren Falle gäbe es dann nur zwei Möglichkeiten: völligen Verzicht auf die Nationalität (der Standpunkt der Pfemfertschen »Aktion«, mancher Christen usw.) oder ewigen Krieg. Ich bin Nationalist, ohne die Notwendigkeit immer wiederkehrender Kriege zuzugeben. Allerdings ist mein Nationalbegriff ein gründlich anderer als der heute selbst bei sogenannten gemäßigten Nationalisten herrschende Nattonal-lmperialismusJMein Nationalismus faßt die Möglichkeit, ja die Pflicht freiwilligen Opfers nationaler Interessen zugunsten der Menscheiht in sich, während nach heutiger Ansicht nur der völlig Besiegte verzichten mag und darf. iDer Nationalegoismus gilt heute noch als Selbstverständlichkeit mehr noch: als Sittlichkeit Wir leben eben im primitiven Stadium des Nationalismus. — Im Jahrbuch »Das Ziel« (1916) habe ich ausgeführt, daß nur auf die physischen Minimalbedingungen ihrer geistigen Höchstleistungen jede Nation ein unver- 32 äußerliches Anrecht hat Zu diesen Minimalbedingungen gehört fraglos ein autonomes Kulturzentrum. Autonomie über das ganze Gebiet, in dem das betreffende Volk die Majorität besitzt ist ein schöner, angenehmer Zustand. Minimalbedingung? Kriegsgrund? Nein. Es genügt, daß ein Volk irgendwo auf der ganzen Welt ein nicht zwerghaftes, autonomes Zentralgebiet in autonomer Verwaltung hat. Auf diesem Gebiet strebe es seinen kulturellen Gipfeln entgegen. Es ist eine lächerliche Verirrung und nur durch die heute herrschende Vermengung des Machtstandpunktes und seiner sehr materiellen, opulenten, nie ersättlichen Postulate mit dem Kulturstandpunkt erklärlich, daß man die geringste Volksparzelle, jedes Randgebiet als unentbehrlich für die geistige Wohlfahrt und Höchstleistung eines Volkes anspricht Für die italienische Kultur ist es höchst gleichgiltig, ob die paar hunderttausend Italienerin Trient und Triest zu Italien oder zu Österreich gehörenl Man meint Macht und sagt Kultur, man meint wirtschaftliche Expansion und sagt geistige Befreiung der Volksgenossen.; (Analog steht es mit dem Baltenland.) — Die neue Staatsmoral wird verlangen, daß ein Volk, sobald es ein für seme geistige Kultur ausreichendes autonomes Zentralgebiet besitzt die Kraft aufbringe, auf Erweiterung dieses Gebietes durch Angliederung kleiner Randstreifen, in denen es die Majorität hat zu verzichten. Die Umsiedlung der Einwohner solcher Randstreifen und jener Auslands-Volksgenossen, die sich nicht mit Minoritätsrechten zufrieden geben wollen (Minoritätsschutz muß natürlich überall strengstens durchgeführt werden), die Umschichtung von Sprachinseln usw. hat an Stelle von Kriegen zu treten. Utopisch, daß ganze Dörfer und Städte mit ihrer 33 s beweglichen Habe auswandern? — Aber haben wir es denn nicht erlebt? In Galizien, Ostpreußen, in Nordfrankreich, Oörz, Palästina usw.? Überall, wo der Feind einbrach, überall, wo »Kriegsraison* es vorschrieb I — Aber es ist eben das Merkwürdige, daß großartige Mühseligkeiten, wie zum Beispiel Evakuierungen, nur im Kriege ertragen werden, sogar mit verhältnismäßiger Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit ertragen werden, niemals aber, um Kriege zu verhüten. In diesem Falle ist plötzlich eine auch nur geringfügige Veränderung als * unorganisch«, als »Umsturz« verpönt! Wann wird man endlich aufhören, den Krieg als das einzig Heroische zu empfinden und im Friedenstiften, in feuriger Gerechtigkeitssehnsucht nur eine geistlose, waschlappige, mechanistische Flucht vor der Wirklichkeit zu sehen? Gerechtigkeit ist ein Wagnis, Frieden stiften und Frieden halten sind atemraubend schwierige Unternehmungen, Spiele auf Leben und Tod — der Krieg dagegen scheint mir öd, langweilig und nebst seiner Grauenhaftigkeit auch noch von alltäglicher, gemeiner, bloß-geschickter Physiognomie. Nichts wäre nötiger, als die Färbung der Begriffe »Krieg* und »Frieden* in dieser Weise richtigzustellen. Dann würde auch der Mißbrauch unter den Völkern aufhören, Räuberinstinkte als ehrenhaft, als heilig, ja als sittliche Pflicht zur Schau zu tragen. Es steht heute in der Tat so, daß jedes Volk dadurch, daß es ein Bedürfnis empfindet, ein Anrecht auf die Befriedigung dieses Bedürfnisses zu haben glaubt Man braucht nur nachzuweisen, daß der eigene Handel, die eigene Industrie durch den Besitz dieses Hafens, jenes Kohlenbeckens gefördert würden, und man hat damit schon sein Recht auf diese Objekte erwiesen. — Mit aller Schärfe muß diesem heutigen Nationalismus, der den Kultur- und Geisteswert des Volkstums zu kapitalistischer Pleonexie vergewaltigt ein neuer Nationalismus entgegengesetzt werden. Und wenn sich die Völker Europas nicht anschicken, diesen neuen Nationalbegriff zu verwirklichen, wenn sie entweder »zu viel« oder »zu wenig« tun zu müssen glauben, entweder imperialistisch ausschweifen oder in kosmopolitisch-christlicher Eintönigkeit die geistige Mannigfaltigkeit der national gegliederten Menschheitsklänge abschleifen {als ob es zu wünschen wäre, daß es zum Beispiel nur eine Sprache gebe oder nur eine allgemeirie Musik statt tschechischer, spanischer usw, Nationalmusik) ■—/dann ist es eben Sache der jüdischen Nation, durch ihr Beispiel zu zeigen, wie man sich als Volk, als staatliche Gemeinschaft konsolidieren und dabei doch den Nationalbcgriff abbauen kann. Denn das ist das Wesentlichste: der National begriff muß abgebaut werden, indem die Idee des Verzichtes auf alles, * was dem Volke als geistigem Wesen nicht lebensnot- . wendig ist in das allgemeine Bewußtsein tritt Die Krämer müssen aus dem Tempel des Nationalgeistes gejagt werden. Es darf nicht mehr höchste Staatsklugheit heißen, alle erreichbaren Vorteile zu erlangen und nichts herzugeben, wozu man nicht gezwungen ist — In der Privatsphäre, von Einzelmensch zu Einzelmensch ist es längst (wenigstens theoretisch) anerkannt, daß man sich nicht dadurch, daß man alles nimmt, was einem nützlich wäre, als sittlichen Menschen erweist Wie weit stehen wir in der Staatensphäre? »Vossische Zeitung* vom 21. Juli 1918, Freiherr Arnold Senfft von Ptlsach, 34 35 3» Landeshauptmann der Provinz Westpreußen, Führer der Vaterlandspartei, äußert im kraftvollsten Bewußtsein seiner Sittlichkeit: »Die Tugend der Entsagung darf in der Politik nur in seltenen Ausnahmefällen geübt werden. In der Regel hört sie auf, Tugend zu sein, weil die entsagenden Staatslenker nicht auf eigene, sondern auf Kosten der Völker nachgeben.« — Genau das ist es, was ich bekämpfe. Mein Axiom lautet gerade umgekehrt: »Politik der Nichtentsagung darf nur in seltenen Ausnahmefällen geübt werden, nämlich nur dann, wenn offenbar wird, daß Entsagung die geistige Gesundheit, die sittliche Entwicklung eines Volkes in der Wurzel schädigen würde« Die nächste Stufe der Staatenmoral wäre also: diesen Grundsatz der fast unbedingten Verzichtpolitik als einzig sittlichen Grundsatz zur theoretischen Anerkennung bringen. Von dieser Stufe sind wir noch unendlich weit entfernt Daß seihst dann, wenn diese theoretische Anerkennung erreicht ist für die prakti sehe Durchführung des Grundsatzes einer sittlichen (Verzicht-)Politik nichts oder fast gar nichts geschehen ist weiß ich sehr wohl. Praktische Durchführung, ehrliche Verwirklichung kann nur aus Liebe kommen. L'Amor che muove il sole e l'altre stelle, das ist Gott — der Gott Dantes, der Gott des 5t. Psalms, in dem Schaffung eines reinen Herzens erfleht wird und »Bringe in mich einen neuen gewissen Geist*. t ZIONISMUS (August ^Ql8) Der Zionismus ist kein abstraktes Gedankensystem, keine Aneinanderfädelurig von drei oder vier Theorien — sondern lebendiger Lebenswille der jüdischen Nation. Die jüdische Nation will ihre geistige Eigenart die Jahrhunderte lang hinter sichtbaren und unsichtbaren Ghettomauern nur passiv oder inoffiziell, infolgedessen verdorben zur Geltung kam, als aktives Element der Menschheit im vollen Lichte der Öffentlichkeit rein und wirksam machen. Über einige Spaßvögel, die heute noch an der Existenz einer jüdischen Nation zweifeln, kann man zur Tagesordnung übergehen. Daß die Juden zumindest im Osten alle Merkmale eines Volkes (eigene Sprache und Kultur im Hauptsiedelungsgebiet) aufweisen, ist im Kriege jenen, die von der Fachliteratur nicht Notiz nehmen wollten, durch Feldpostbriefe bekannt geworden. Heute ist der Zionismus nahe daran, sein äußeres Ziel zu erreichen. Dieses äußere gegenständliche Ziel hat der erste Baseler Kongreß, von Theodor Herzl einberufen, mit der bekannten Formel fixiert: »Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk eine öffentlich rechtlich gesicherte Heimstätte« Doch mißversteht man diese Formel, wenn man sie für erschöpfend hält. Die besondere religiöse Eigenart 37