punkt im Osten erhalten. Die alte Funktion Prags, ,,Kreuzweg der Völker" zu «ein, aber auch die „Turmuhr der Welt", setzt sich wieder durch. An einer solchen Stelle ist es manchmal etwas zugig — das ist nicht zu leugnen. Aber zugleich gedeihen in der Präger Luft heute kostbare Werte menschlicher Entwicklung: die Vereinigung von Nationalgcfühl und übernationaler Gesinnung — und ein freibauender Zukunftssinn, der dennoch nicht von vorne anfängt* sondern sich vom vorhandenen Kulturgut das Lebenskräftigste zur Weiterbildung auswählt. Das alt-neue Prag ist ein Stück lebendigster Gegenwart und eine Hoffnung für die Zukunft. PAUL EISNER ZWEI LITERATUREN UND EIN ARGOT TSCHECHISCHE SCHRIFTSTELLER IN PRAG Die uralte Stadt an der Moldau entzieht sich durchaus nicht dem biologischen Gesetz der Metropolen: als Wiege wichtiger nationaler Persönlichkeiten sind sie allesamt wenig fruchtbar. In der politischen, ebenso aber in der Geistcsgcschichte des tschechischen Volkes kommt Prag auffallend 6cltcn als der Geburtsort eines für die Nation wichtigen Menschen vor. Wir wollen eine kleine Musterung halten, gewiß die erste in deutscher Sprache Von den Männern, deren Wirken entscheidend war für die politi sehen Schicksale der Tschechen, kommt kein einziger aus Prag: Hus, Žižka, Palacký, Havlíček, Rieger, Kramář, Masaryk, Stcfánik, Svehla, Beneš sind ausnahmslos NichťPrager. Nicht-Prager sind Štítný, Chel-čický, die Böhmischen Brüder, Komenský. Nicht an der Moldau unter dem Vyšehrad oderHradschin geboren sind Dobrovský, Jungmann, Kollár, Šafařík, Čelakovský, Karel Jaromír Erben, die Němcovi, Vítězslav Hálck, V. Šolc, A, V. Smilovský, Svatopluk Čech, Jaroslav Vrchlický, J. V. Sládek, Alois Jirásek, Jan Herben, Alois und Vilém Mrštík, K. V. Rais, Josef Holeček, J. S. Machar, Petr Bezruč, Viktor Dyk, K. M. Čapek Chod, Antonín Sova, Otokar Březina, Karel Toman, Otakar Theer, Fráňa Šrámek, Jakub Demi, Růžena Svobodová, Marie Majerová, Jiří Mahen, Božena Benešová, Jaroslav Durych, Josef Hora, Vítězslav Nezval, Vladislav Vančura und eine Unzahl anderer Dichter und Schriftsteller. Nicht-Prager der Herkunft nach ist sogar Prags großer Historio-graph V. V. Tomek. Nicht-Pragcr sind die Kunst- und Kulturphilosophen Josef Durdik und F. X. Šalda. Nicht aus Prag kommen Smetana und Dvořák und Janáček; nicht aus Prag die großen Maler und Bildhauer der Tschechen. Doch halten wir uns an die Literatur. Prag gibt ihr an Gestirnen erster Größe nur Karel Hynek Mácha, Jan Neruda, Karolína Světlá, Julius Zeyer; an bedeutenden Dichtern und Schriftstellern noch Karel Sabina, Jakub Arbes, Zikmund Winter, Tereza Nováková, Karel Hlaváček, St. K. Neumann, Jiří Karásek, Anna Maria Tilschová; dazu noch den politischen Feuerkopf (und Schriftstelicr) J, V. Fric; auch noch den genialen Schauspieler J. J. Kolar; der Wissenschaft im Zeitalter der Wiedererweckung den Begründer der tschechischen Botanik Jan Sv. Pres!. Namen und Lebenswerke, an deren Bedeutung nicht gemäkelt werden darf, zusammen ergeben sie an sich ein kleines national« Pantheon: aber doch nur ein sehr geringes Segment der politischen, der kulturellen, der geistigen, der künstlerischen Gesamtleistung in den Jahrhunderten der nationalen Geschichte, vor allem in den entscheidenden anderthalb Jahrhunderten seit 1780, seit 1790. In diesem Sinne stofflichster Herkunft ist die relative Sterilität Prags kaum zu leugnen. Diese relative Sterilität aber steht in scharfem Gegen' satz zu der Tatsache, daß die nationalen Geschicke seit jeher ganz ein' deutig und mit gesetzmäßiger Trieb- und Schwerkraft nach Prag ten' dieren, die nationalen Geschicke üi jederlei Sinne, im politischen wie im abgelöst-geistigen: die Präger Zentralisation alles Nationalen ist unverbrüchliches Gesetz der nationalen Geschichte seit den in mythische Feinen sich verlierenden Tagen, da der mittelböhmische Stamm der ,Cechenl (im engsten Sinne des Wortes) die Hegemonie über alle anderen tschechischen Stämme an sich riß (die große politische Tat der ersten Přemysliden). Schon das gesamte für die historische Erkenntnis lotbare tschechische Mittelalter kreist um Prag, ohne jemals zu schwanken—man erinnere sich nur, wie durchaus die tschechische Reformation mit allen ihren Schwergewichten nach Prag verlagert ist. Um Prag, in Prag werden auch alle geistigen Schlachten geschlagen, alle geistigen Entscheidungen ausgetragen, in der Neuzeit in lückenlosen Frontbildungen von Dobrovský bis auf Masaryk. Seit jeher ist Prag das Caput regni im denkbar tiefsten Sinne des Wortes. Es gibt Metropolen, deren Vorherrschaft auf dne geopolitische Dominante zurückgeht, auf Gegebenheiten der materiellen Sphäre; andere wieder, die es kraft eines diktierenden Machtwillens zum Range der Metropolis gebracht haben, wie in besonders eindeutiger Ausprägung Berlin; noch andere endlich, die aus cmer politischen Konzentration, aus einem zentralisierenden Willen geboren werden, gleich darauf aber auch der geistige Brennpunkt der Na-36 tion werden für alle Zeit, aus der geistigen Führung die Legitimation für die materielle holen —■ so Paris. Und an Paris erinnert Prag in diesem Betracht; mit dem sehr wichtigen Unterschied, daß von Prag drei Jahrhunderte lang alle materielle Machtfülle genommen war und daß die Stadt dennoch niemals auch nur das Geringste von ihrer die ganze Nation versammelnden Geistigkeit einbüßte, das Mekka des schöpferischen nationalen Geistes blieb, wegweisender Stern und Pilgerziel der Slova-ken Dobrovský und Šafařík, des fernen Mahrers Palacký, aller Söhne aus der böhmischen und mährischen Provinz. Als physische Gebärerin konnte die Stadt an der Moldau sparsam sein und kargen; denn kein einziger von den wichtigen Söhnen des Landes konnte ihr entgehen, ob er nun, wie die weitaus meisten, auch körperlich zu ihr gerissen und nicht mehr losgelassen wurde, ob er, wie dieser und jener, dem Zauberberg an der Moldau wieder den Rücken kehrte: die große, ja schicksalhafte Tatsache der Gemüter, der Seelen, der Geister war Prag für alle. Ohne Prag vor allem keine tschechische Literatur, keine tschechische Kunst, was Impulse, Befruchtungen, Sinngebungen angeht: denn Prag ist eben etwas anderes als eine bloße Metropole, diese eine Stadt war seit jeher das Sinnbild der nationalen Vergangenheit, des nationalen Loses, Symbol der Nation selbst, ihrer Schicksalsgezeiten, ihres Unglücks, ihrer unauslöschlichen Hoffnung, ihres unversieglichen Zukunftswillens. Die Tatsache einer solchen unvergleichlichen Bedeutung einer Stadt für eine Nation spiegelt sich in der tschechischen Literatur auch stoffgeschichtlich: beginnend mit den Prag anrufenden Sonetten aus Koliirs Slávy dcera von 1824 bis zu dem im Dezember 193 ó erschienenen Gedichtband „Prag mit RegenfingenT des genialen tschechischen Surrealisten Vítězslav Nezval türmt eine von der Stadt auch ganz unmittelbar-stofflich inspirierte Dichtung und Literatur einen gigantischen Berg von Denkmälern Prags auf, ein gewaltiges Zeugnis der Liebe, der Hoffnung, der unveräußerlichen Hingabe an die magische Stadt. Wie kümmerlich geht daneben in der österreichischen Literatur Wien, in der gesamtdeutschen Berlin aus; nicht zu reden von der Tatsache, daß um Prag auch noch eine zweite Literatur immer wieder ge- 37 werben hat, die sudetendeutsche, in Auseinandersetzungen einer elementaren Haßliebe, in Dokumenten der Liebe, aber immer ohne die Mög-lichkeit eines völligen Loskommens von der großen Verlockung und sauberischen Heimsuchung, die von dieser einen Stadt und nur von ihr kamen. Die Gegebenheiten der elementaren Anziehung für den schöpferischen Geist werden erst in den letzten Jahrzehnten, seit 1918 vor allem, auch noch durch jene verkehrstechnische Tatsache ergänzt, die man den literarischen Betrieb nennt oder nennen zu sollen glaubt. Die Tatsache, daß mit der einzigen Ausnahme der Lidové noviny alle wichtigen tschechischen Zeitungen in Prag erscheinen, daß alle leistungsfähigen tschechischen Verlage in Prag konzentriert sind, daß nur in Prag sich die Schicksale des tschechischen Autors, Dramatikers, Musikers, bildenden Künstlers, Kritikers und Kunsttheoretikers, Schauspielers, Gelehrten und sonstigen Geistesarbeiters entscheiden können, sofern es die Schicksale einer großen und wegweisenden Leistung werden sollen, diese Tatsache einer betriebstechnischen Zentralisation stellt dem seit jeher gültigen Gesetz der innern Gravitation auch noch das andere einer materiellen Anziehung zur Seite: mit sehr wenigen Ausnahmen werden die großen tschechischen Gedichte, die entscheidenden Prosawerke in Prag ge-schrieben, von Menschen, die in Prag nicht geboren, wohl aber an der Moldau für immer seßhaft geworden sind. Prag ist nicht die Mutter der tschechischen Dichter, nur selten gebiert sie einen; aber die Stadt ist die Adoptivmutter fast aller, und ist sie es einmal nicht für Lebensdauer, so ganz gewiß für die entscheidenden Jahre der Entwicklung, innern Formung und Reifung- In diesem Sinne sind Prag und die tschechische Literatur beinahe eine Tautologie. Trotz einem solchen elementaren Urbanismus, einem solchen Pragen-sismus der tschechischen Literatur gibt es für das tschechische Geistesleben kein „Asphaltproblem" und in der tschechischen Literatur nichts, das auch nur die tendenziöseste Schlagwortprägung als „Asphaltlitera-tur" bezeichnen könnte. Im Banne der Vorgänge im nachbarlichen Reich wurde vor einigen Jahren eine solche Prägung versucht; sie ist längst 38 wieder vergessen, sie war zu absurd, und denkt noch jemand an sie zurück, so nur mit der belustigenden Erinnerung an eine kulturpolitische Blamage. Die Gründe sind ja auch durchaus klar, und das den Absatz einleitende adversative „Trotz einem solchen elementaren Urbanismus" ist in solcher Gegensätzlichkeit im Grunde sehr unlogisch. Weit eher müßte es heißen: Die elementare Anziehungskraft Prags läßt keinen „Asphaltis-mus" aufkommen. Denn genau so wie die Stadt an der Moldau sich im Allgemein-Populationistischen, in ihrer Gesamtbevölke' rung immer wieder durch den Zustrom von auswärts verjüngt, rekrutiert sie auch für die „Prager Literatur" immer wieder, ja mit noch größerer Werbekraft, neue Kontingente neuer Menschen, nichtgroßstädtischer Menschen aus der Provinz, aus den entlegensten Provinzen. Eine seelisch-geistige Dynamik von ganz besonderer Potenz und Spannungskraft ist die Folge: junge Menschen, deren Vater noch tief in Südböhmen, weit und tief in Mähren hinter dem Pflug einherging oder in einer sonstigen Schollenbindung ein mit Ländkchkeit und ländlicher Volksnatur hermetisch verbundener Landsasse war, kommen nach Prag, nehmen das Uralte und das ganz Neue auf, aus dem die doppelgesichtige Stadt besteht, verarbeiten es, amalgamieren es mit dem mitgebrachten Urfonds, mit ihrer Erbmasse, werden durch solche Vereinigung des Widerstrei' tendsten zu Schöpfern. Großstädtische Bauern- und Landsassensöhne, großstädtische Provinzler, das sind die Prager tschechischen Dichter und Schriftsteller so gut wie alle; und es ist für dieses überaus jähe Verschmelzen des Heterogensten denkwürdig bezeichnend, daß etwa der äußerst raffinierte, mit genialen Zügen ausgestattete Surrealist der Tschechen, der Schöpfer der großstädtischen tschechischen Lyrik des Der surraalisfiicha Lyriker V [liiilay NetvaJ 39 20, Jahrhunderts, daß Vítězslav Nezval auf schnurgeradem Wege aus der Tiefe der ländlichen mährischen Provinz nach Prag kam. Der große Reil, die enorme Vitalität seines großstädtischen Raffinements besteht eben darin, daß bei ihm das Rustikale immer wieder durchschlägt, daß nicht ein abgelebtes Blut, sondern nicht im geringsten angekränkelte Ur-säfte des Dinghaften, des Körperlichen und Körperlichsten die elektrischen Leiter der kompliziertesten Großstadtsensationen werden. Aber auch bei einem Karel Čapek (er ist der Sohn eines Landarztes), auch bei diesem in seinen Vorzügen und Schwächen so urtschcchischen und zugleich so sehr europäischen Menschen ist das Rustikale nicht etwa nur der Gegenstand einer betonten Vorliebe, sondern weit mehr: eine konstitutive Dominante des ganzen Menschen. Schon der physische Habitus des Prager tschechischen Dichters und Schriftstellers hat nichts mit überzüchteter Großstadt zu tun. Oft genug Zeigen Gesichtszüge und Skelett auf den ersten Blick den Bauernsohn und Provinzmenschen. Die angeborene und erworbene Intellek-tualität äußert sich, wenn's hoch geht, in einem Lehrer-Habitus, Sie sehen wie kleine, die zu Ansehen gelangten, wie mittlereBe-amte aus — und das sind sie ja auch zu einem großen Teil, denn von der Literatur leben kann in Prag kaum jemand. Noch ein besonderer soziolo' gischer Zug bewahrt den tschechischen Dichter und Schriftsteller vor dem ausartend Großstädtischen. Die Bohéme ist endgültig tot, man kann also nicht Bohemien werden. Die an- 40 Paul Leppin Karel Capok und Ferdinand Peroutka Photo Rádi dere großstädtische Möglichkeit aber, der gesellschaftliche Arrivismua, ist in Prag völlig versagt. Die literarischen Salons sind zum Glück längst verstorben, soweit es sie in Prag gab. Die wenigen Reichen von früher her, die vielen Neureichen von heute sind — ein großes Glück! — ganz und gar ungeistig, sie lassen die Produsenten geistiger Dinge ungeschoren. Und wollten sie auch anders verfahren, sie hätten es herzlich schwer. Der tschechische Dichter und Schriftsteller haßt, meidet, flieht alles, was man im allgemeinen „die Gesellschaft" nennt. Seit jeher zieht es ihn zur Volkstiefe, sei es die bäuerliche, sei es die des städtischen Proletariats. Er lebt in der Hauptstadt und kennt zumeist nicht einmal flüchtig und oberflächlich die Menschen, die sich einbilden, die Großstadt zu repräsentieren. Vorab verzichtet er auf Klub und Salon, auf Rout und Empfang. Ob ein Ultra, ob konservativ — triebhaft steht er in Opposition zu den Stützen der Gesellschaft. Überdies ist er ein harter Arbeiter, anders geht es gar nicht. Tagsüber die Redaktion oder das kleine Amt mit dem subalternen, zuweilen sogar mit dem Ratsdienst; abends der Schreibtisch, die kleine Weinstube. Lebt er aber nur von seiner Feder — es ist der seltenste aller Fälle — dann hat er um so mehr Grund, die Welt auszulassen, in der man sich aufs großstädtisch langweilt. Die Provinz und ihre Menschen sind auch in der Großstadt die Modelle seiner schreibenden Bemühung; sonst aber die Volkstiefen des Proletariats, der Peripherie. Ein tschechischer Salon-Autor, ein Prager Maurice Dekobra gar ist etwas völlig Undenkbares; er fände auch schwerlich Leser. Übrigens ist die ganze geistige Struktur des tschechischen Menschen, eines jeden, durchaus abhold aller Überspitztheit, aller Klügelei im luftleeren Raum, allen Trapezkünsten einer Geistigkeit, die sich weitab von Volk und Leben etabliert hat. Was im Deutschen den unästhetischen, aber unübetrefflieh zutreffenden Namen „Klugscheißerei" trägt, ist in den Bereichen des tschechischen Geistes undenkbar. Undenkbar auch in den Bereichen des tschechischen Wortes. Es sperrt sich einem jeglichen Leerlauf, der Sprachgenius selbst postuliert sogar für die abgelösteste denkerische Spekulation eine solide dinghafte Fundiertheit; ein jeder tschechischer Satt, eine jede Satzaussage in dieser Sprache ist in ihrem inhaltlichen Substrat greifbar und kontrollierbar, meßbar und wägbar wie ein Laib Brot — oder aber die Schaumschlägerei und der Schwindel entlarven sich von selbst und losen, von einer in Tag- und Nachtschichten arbeitenden ätzend scharfen öffentlichen Kritik vorgenommen und in ihrer verstiegenen Kläglichkeit entlarvt, das unauslöschliche Gelächter einer Nation aus, die noch keinen Namen, keinen Ruhm unbesehen hin-genommen hat und deren Geist der Geist einer konkreten Logik ist. Und dann ist freilich die Stadt selbst da als das wirksamste Prophy-lakrikum gegen alles Nur-Papier und alles geschriebene Blech. Sie läßt es zu, daß man ihre Straßen mit Asphalt belegt, bildlicher Asphalt aber kann in ihren Mauern gar nicht aufkommen. Altes unverweslich zu bewahren, Neues und Urfremdes mit dem Augenblick bodenständig machen, da es in ihre Mauern einkehrt, ist seit jeher ihre Funktion, Sie, die ewige Stadt an der Moldau, ist die Muse einer ganzen nationalen Literatur. Es gab noch keinen menschlichen Willen, der stark genug gewesen wäre, sich ihr zu entziehen. In Bejahung, im Protest — man kann nur ihr Sohn, ihr Adoptivkind sein. Prag ist das Schicksal des tschechischen Dichters und Schriftstellers; und da Prag das Insiegel des nationalen Schicksals ist, stimmt eine jede Probe und Gegenprobe; mag er links, mag er rechts stehen, der tschechische Dichter, der tschechische Schriftsteller kann gar nicht anders als ein legitimer Sohn dieser Stadt, dieses Landes, dieses Volkes sein. PRAG UND DIE DEUTSCHE LITERATUR Seit der Geburt aller neuzeitlichen Literatur werben zwei Schrifttümer um die Seele der böhmiächen Landschaft* die tschechische und die deutsche; und die Verewigungen der böhmischen Landschaft in der regio-nalistischen Literatur der Tschechen und Deutsehen ergeben eine lückenlose Landkarte der Liebe vom Egerland bis tief nach Mähren und Schlesien. Nicht anders ist es der Hauptstadt Böhmens ergangen. Die ungeheure Vielfalt ihrer stofflichen und seelischen Spiegelungen in der 42 tschechischen Literatur wird durch deutsche Zeugnisse noch vermehrt, und nicht bloß vermehrt, auch auf das organischeste ergänzt und integriert. Denn für den tschechischen Dichter und Schriftsteller Zeigt die Stadt an der Moldau ein wahres Janusgesicht mit allen Zügen des Geheiligt-Uralten, des Heutigen, des in dämmernde Zukunftsfernen Weisenden. Und in dem tschechischen Aspekt überwiegt, sobald nur die nationale Wiedergeburt sich durchsetzt, der Lebenswille der Nation erstarkt und unzählige Köpfe und Hände sich zu regen beginnen einer lichteren Zukunft entgegen, das Prag von heute und von morgen, die Tagansicht der ewigen Stadt. Anders in der deutschen Literatur. Es ist, als hätte der große deutsche Genius Böhmens, als hätte Adalbert Stifter ihren Aspekt Prags vorge-Zeichnet, als er in seinem „Witiko" die ferne Vergangenheit der Stadt verewigte, den Vyšehrad eines frühen Přemysliden in zauberischem Licht erstehen ließ. Der Aspekt Prags in der deutschen Literatur ist hiiro-risch, er gilt der Vergangenheit der Stadt, der Stadtseele einer abgeschie-denen Zeit, den steinernen und atmosphärischen Denkmälern des Gewesenen und zeitlich Entrückten. So etwa gleich in der Lyrik eines prototypischen Prager Dichters, wie Hugo Salus es war. Es bleibt aber nicht bei dem bloß Historischen, Die tiefgehende Politisierung eines Teiles der sudetendeutschen Literatur bringt literarische Zeugnisse einer um Prag kreisenden Haß-Liebe hervor, Prag ist in ihnen die große Verlockung, das geliebte feindliche Karthago. So in einer ganzen Tracht politischer Studentenromane, so ganz besonders in Hans WatzUks Roman „O Böhmen11 (1913). Max Brod Die große Verlockung ... Die deutsche Sprachinsel in Prag ist ein künstliches gesellschaftliches Gebilde ohne irgendeine Verwundung in Volkstiefen welcher Art immer. Daher an der aus Prag kommenden Jauschen Literatur das Subjektiv-Hochgesteigerte, das Spirituelle und Spekulative, das Halluzinatorische, das Mystische. Es bildet sich in dieser Literatur ein geisterhafter und spukhafter Aspekt Prags heraus. Das besonders starke erotische Fluidum der Stadt — auch die vorhin erwähn-ten völkischen Studentenromane haben dafür einige Witterung — geht mit dem Urvergreisten, Vampyrischen, Lemurenhaften eine hermetische Bindung ein. Die einzelnen Tönungen dieses Prager Aspekts, dieses mitternachtig'halluzinatorischen und aus Fiebertraumen aufsteigenden Prag findet man etwa in der büßerischen Ekstatik Paul Lcppins, in der den Expressionismus, ja unsern Surrealismus genial vorwegnehmenden Lyrik des früh vollendeten Viktor Hadwiger, in der Spukwelt Gustav Meyrinks und ihrer für diesen Prager Aspekt unendlich bezeichnenden Vermischung der drei Dimensionen mit der vierten, in der Novellistik des geheimnisvollen Pseudonyms Percgrinus Tyß, in der Erotik Max Brods. Abseits halten die drei weitaus Größten. Das deutsche Prag gibt der deutschen Lyrik, gibt der Weltlyrik einen so großen Namen wie Rainer Maria Rilke, dessen westöstliche Erlebniswelt auch stofflich auf das unmittelbarste von Prag ihren Ausgang nimmt. Gleich nach ihm kommt Franz Werfel, der mit Prag im stofflichen Sinne nur ganz lose zusanv menhängt, inhaltlich aber nur mit dem seelischen Schlüssel der Stadt zu erschließen und ?u deuten ist. Und endlich scheint Prag auch in dem Werk Franz Kafkas zu fehlen, wenn man von dem großartigen Veits' dorn-Kapitel im „Prozeß" absieht; aber in einem um so tieferen und wesenhafteren Sinne genetischer Deutung sind Werk und Sinn des deutschen Proust und Dostojevskij in einer Person — und ein solcher ist Franz Kafka — nicht3 weiter als eine geniale Sublimierung der Prager Nachtansicht, des Prager deutschen Judentums, eines Inselschicksals an der Moldau. Das Erlebnis Prags hat der deutschen Literatur viel Anselmliches, Be- 44 deutendes und überdies auch noch die große Dreifalt Rilke, Werfel, Kafka gegeben. Es ist denkwürdig und vielleicht eben darum noch nicht gesagt worden: auf den Wegen des Prager Erlebnisses, der Prager Sym' biose entstehen die einzigen drei dichterischen Lebenswerke, die aus der sudetendeutschen Literatur in die Weltliteratur eingegangen sind: Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Franz Werfel. Braucht es noch Worte der Rühmung für den Genius einer Stadt, der in zwei Sprachen, in zwei Literaturen in alle Ewigkeit so fortzeugend fortwirkt? ZWEI SPRACHEN UND EIN ARGOT Prag ist nicht bloß Geschichte, Kulturgeschichte, Geistesgeschichte: schon darum ist Prag auch ein gewaltiges Stück Sprachgeschichte. Die Stadt war tschechisch; bekam deutsche Bürger; germanisierte sich ausgiebig in den Jahrhunderten nationalen Niederganges; wurde in dem Jahrhundert der nationalen Renaissance, im neunzehnten also, wieder tschechisch, der Prozeß ging von den sogenannten niederen Klassen der Stadtbevölkerung aus, die zu germanisieren niemals gelungen war, und von dem ländlichen Zustrom in die Stadt; bis zum Weltkrieg verbheb dann eine materiell, zum Teil auch kulturell sehr „gehobene" deutsche Minderheit, zusammengesetzt aus hohen Bürokraten, Hofräten, Offizieren, Industriellen, Kaufherren, Hochschulprofessoren; in einer Stärke von etwa 50.000 Menschen für ganz Groß-Prag behauptet sich diese ihrer Machtfülle längst entkleidete deutsche Minderheit fort. Das Ergebnis ist die relative Zweisprachigkeit, die in gewissen Lebensbezirken noch immer fortbesteht. Prag ist nicht mehr die berühmte Stadt der Straßenschilder, deren es eben darum so viele gab, weil ein jeder Kaufmannsladen sich in zwei Sprachen der Aufmerksamkeit des P. T. deutschen und tschechischen, späterhm des tschechischen und deutschen Publikums empfahl; die Prager Straßen kennen nicht mehr die Weltkunosa von Schildern und Tafeln etwa nach Art dieser Firmierung: RUDOLFa EIDLITZe ***** Nachfolger 45 Dies gibt es nicht mehr; noch immer aber gibt es die Tatsache, daß zehn-tauscnde angestammter Prager eine andere Sprache als die eigentliche Sprache der Stadt sprechen, in dieser andern Sprache denken und leben, in dieser andern Sprache die Dinge der Stadt und ihre Schicksale mit-konstituieren. Eine solche Tatsache ist im geistigen Betracht immer ein Vorteil und Vorzug. Was aber ist sie im sprachlichen Betracht? Hier muß unterschieden werden. Vom Standpunkt der tschechischen Sprache: der Präger Bilinguismus ist abgetan, die Germanismen sind ausgemerzt, einen kleinen Rest duldet die Sprache der Prager Straße zu Zwecken einer humorig-koloristischen Ergänzung ihres Vokabulars. Die Sprachsymbiose der Stadt vom Gesichtspunkt der Deutschen: sie wurde nicht genützt, man lebte auch sprachlich aneinander vorbei, die hermetischeste Chinesische Mauer trennte die deutschen Zirkel und Klüngel von den tschechischen. Der Prager Deutsche wurde von tschechischen Domestiken bedient, von tschechischen Ammen gesäugt, von tschechischen Kindermädchen gewartet; war er Unternehmer, so waren tschechische Arbeiter seine „Mitarbeiter", aber er betrat eine Straße, die ihm fast so fremd war, wie dem Kolonial-Englander die Straßen Singapoors sprachfremd sein mögen. Er verständigte sich mit dieser frem-den Sprache mittels ein paar schauerlich beschaffener Wortbrocken und Satzfetzen. Aber den Gesetzen einer Symbiose entrinnt man nicht; und was ein Segen auch in allem Sprachlichen hätte werden können, wurde ein Fluch. Denn es ist ja so, daß die besinnliche Beherrschung und Verwendung einer fremden Sprache, der tägliche Umgang mit ihr mein Ohr für die Eigentümlichkeiten, Werte, Geheimnisse meiner Muttersprache zu schärfen vermag wie keine andere Sprach schule der Welt; und daß ein gedankenloses Hinleben in einem fremden „Sprachraum" mich an-fällig machen muß für ein unbewußtes und schleichend'tückisches Beeinflußtwerden. So wurde das Prager Deutsch in dem ignorierten tschechischen Ambiente ein phonetisch slawisiertes, lexikalisch, syntaktisch, phraseologisch von Austriazismen, Bohemismen, Pragensismen durch' setztes Deutsch, bis zur gelegentlichen baren Unverständlichkeit für 46 den Besucher aus dem Reich. Der Segen einer solchen Sprachsymbiose hingegen: der Prager Rainer Maria Rilke wird durch ein symbiotisch geschärftes Hörvermögen, durch die solcherart erlangte Wahrnehmungsfähigkeit für die zartesten Schwingungen und Bebungen des deutschen sprachlichen Klangkörpers zum Schöpfer einer unendlich fortwirkenden völlig neuen lyrischen Diktion; der sprachsymbiotisch belehrte Franz Kafka meißelt seine Gesichte einer metaphysischen Lebensverschuldung und Verstrickung in den Granit einer Prosa, deren deutsche Echtheit gleich neben Stifter zu stehen kommt. Prager Tschechisch, Prager Deutsch, das sind zwei. Die Stadt hat noch ein drittes „Idiom", das Prager Argot. Es ist ein Phänomen. Seine Dra-stik vereinigt alle Register der Argots von Paris, Berlin und Wien, seine täglich von neuem zeugende Potenz ist großartig. In dieser Sprache der Prager Volkstiefen leben die besten Eigenschaften des tschechischen Volkes — ein unbeirrbarer Lebensrealismus, die spontane und vehemente Kritik an allem Dekorativen, allem Phrasenschwulst, allem Pathos und überheblichen Aplomb; eine auf Herz und Nieren prüfende Aufrichtigkeit und ein urdemokratischer Humor mitsamt dem Bekenntnis zu einer Lebensphilosophie, die sich von wem immer nichts vormachen läßt, aber ebensowenig an Nächte der langen Messer denkt, da sie ja weiß: das ÄrgerÜche und ans Leben Greifende wird bald wieder „abstinken", wer bleibt, sind wir, das Volk, und unsere ein jegliches schiefes Tun und Nichtlassen richtende und rächende Sprache. Ein tschechischer Diktator ist undenkbar; den Tag nach Proklamierung der Diktatur würde er an dem Galgen einer vernichtenden Prager Sprachwendung baumeln. Das ist die dritte Sprache Prags, die ungebärdigste und genialste. Auch die wichtigste, wie mir scheinen will.