Egon Erwin Kisch Marktplatz der Sensationen - Das deutsche Prag ... Das deutsche Prag! Das waren fast ausschließlich Großbürger, Besitzer der Braunkohlengruben, Verwaltungsräte der Montanunternehmungen und der Škodaschen Waffenfabrik, Hopfenhändler, die zwischen Saaz und Nordamerika hin- und herfuhren, Zucker-, Textil- und Papierfabrikanten sowie Bankdirektoren; in ihrem Kreis verkehrten Professoren, höhere Offiziere und Staatsbeamte. Ein deutsches Proletariat gab es nicht. Die fünfundzwanzigtausend Deutschen, nur fünf Prozent der Bewohnerschaft Prags, besaßen zwei prunkvolle Theater, ein riesiges Konzertgebäude, zwei Hochschulen, fünf Gymnasien und vier Oberrealschulen, zwei Tageszeitungen, die morgens und abends erschienen, große Vereinsgebäude und ein reges Gesellschaftsleben. Mit der halben Million Tschechen der Stadt pflog der Deutsche keinen außergeschäftlichen Verkehr. Niemals zündete er sich mit einem Streichholz des Tschechischen Schulengründungs-Vereins seine Zigarre an, ebensowenig ein Tscheche die seinige mit einem Streichholz aus einem Schächtelchen des Deutschen Schulvereins. Kein Deutscher erschien jemals im tschechischen Bürgerklub, kein Tscheche im Deutschen Kasino. Selbst die Instrumentalkonzerte waren einsprachig, einsprachig die Schwimmanstalten, die Parks, die Spielplätze, die meisten Restaurants, Kaffeehäuser und Geschäfte. Korso der Tschechen war die Ferdinandstraße, Korso der Deutschen der „Graben". Daß diese Barriere zwischen den beiden nationalen Ghettos nimmermehr überschritten werde, darüber wachte auf deutscher Seite die „Bohemia" mit flammendem Schwert. Der Versuch einiger deutscher und tschechischer Schauspieler, sich an einem Stammtisch zusammenzufinden, wurde von ihr als nationaler Verrat gegeißelt, und in diese Geißelung fiel auch die tschechische Presse ein. Gleich bei meinem Eintritt in die Redaktion schärfte man mir die goldenen Regeln ein: kein tschechisches Wort ohne deutsche Übersetzung, denn wir muten unseren Lesern nicht zu, Tschechisch zu verstehen. Bei Sláva-Rufen muß in Klammern bemerkt werden, daß es sich um Hoch-Rufe handle, bei Hanba-Rufen daß es „Nieder" bedeute. Der häufige tschechische Name Blažena heißt bei uns Beatrice, Božena bei uns Theodora (die Genannten hätten sich unter diesen Taufnamen selbst nicht erkannt). Die Brücke am Podskaler Kai, vom Stadtrat zu Ehren des großen Tschechen Palacký-Brücke" genannt, blieb für unsere Leser die Podskaler Brücke. Der „Sokol", eine nach Hunderttausenden zählende Organisation, heißt „Tschechische Turnvereinigung Falke". Als Kaiser Franz Joseph nach Prag kam, um die tschechische Jubiläumsausstellung zu besuchen, wurden den Empfang, Dekorationen, Ovationen und jede Drehung der Hofkaleschenräder spaltenlang beschrieben, doch unvermittelt brach die Schilderung mit dem Satz ab. „Hierauf betrat Seine Majestät das Ausstellungsgelände." Denn die Ausstellung wurde von deutscher Seite totgeschwiegen.