Umfrage bei ehemaligen Prager Schriftstellern: Warum haben Sie Prag verlassen ? Gustav Meyrink Siebzehn Jahre lang war ich in Prag, kam hin als Gymnasiast und verließ es 1903 als Schriftsteller, krank und arm. Als ich 1916 einen Abstecher nach Prag machte und am Bahnhof ausstieg, empfand ich sofort dasselbe würgende, unheimliche Gefühl, das mich jedesmal befallen hatte, wenn ich nach längerer Zeit wieder Prager Luft atmete. Für mich ist Prag, ich kann mir nicht helfen, die Stadt der Verbrecherintelligenz und ihre Atmosphäre ist die Atmosphäre des Hasses. Der Grund, weshalb ich Prag verließ? Schicksal! Jahrelang war es mein heißester Wunsch gewesen, Prag für immer den Rücken 158 kehren zu können, aber wie mit Kerkermauern hielt es mich fest. K.aum war es mir gelungen, so wendete sich auch schon mein Schicksal zum Besseren. Wenn mich jemand fragt: »Würden Sie gern wieder in Prag leben?«, so antworte ich: ja, aber nur in der Erinnerung; in Wirklichkeit nicht eine Stunde. Oft des Nachts träume ich von Prag und seinem unheimlichen, dämonenhaften Zauber; dann, wenn ich erwache, ist mir, als sei ich von einem Alb befreit. Seit ich Prag verlassen habe, lebe ich, zwei Jahre Wien nicht gerechnet, in Deutschland und habe viele deutsche Städte gesehen -auch solche, die schöne mittelalterliche Bauten tragen wie Prag und eine ähnliche blutige Vergangenheit haben; in keiner jedoch schwingt jene unfaßbar merkwürdige Stimmung. Sie sind - desinfiziert und man geht in ihnen herum wie in langweiligen Museen. Franz Werfel 1912, in meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr, habe ich Prag endgültig verlassen. Es war damals ein halb noch unbewußter Rettungsversuch. Mein Lebensinstinkt wehrte sich gegen Prag. Für den Nichttschechen, so scheint es mir, hat diese Stadt keine Wirklichkeit, sie ist ihm ein Tagtraum, der kein Erlebnis gibt, ein lähmendes Getto, ohne auch nur die armen Lebensbeziehungen des Getto zu haben, eine dumpfe Welt, aus der keine oder falsche Aktivität herkommt. Prag kann man nur als einen Drogenrausch, als eine Fata Morgana des Lebens ertragen, und das ist der Grund, warum so viele Künstler nicht geflohen sind. Der deutsche Prager, der zur Zeit fortging, ist schnell und radikal expatriiert, und doch liebt er seine Heimat, deren Leben ihm wie ein ferner Wahn vorkommt; er liebt sie mit einer mysteriösen Liebe. Für die gesunde, einfach-kräftige Rasse, die jetzt Herr im Land ist, bedeutet Prag Leben, Hauptstadt, Kultur, Kulmination, - das Geheimnis der Stadt versteht der Heimatlose daheim und in der Fremde besser. Denn ein Heimatloser gerade - Gustav Meyrink - hat an ihren tiefsten Nerv gerührt, ihr zweites Gesicht, den verworrenen Traum ihres uralten Wesens gebildet. 159 Paul Kornfeld Wenn ich habe anderswo als in Prag leben wollen, so dürfte ich dafür - zuerst im allgemeinen - dasselbe Motiv gehabt haben, wie jeder junge Mensch, der jene Stadt, in der er sein ganzes bisheriges Leben verbracht hat, verläßt, sobald es die äußeren Umstände erlau- ben. Es ist der Wunsch nach neuen Dingen, nach neuer Umwelt, nach neuen Menschen, kurz, nach neuen Variationen des Lebens, der Wunsch nach neuer Freiheit und neuer Unbefangenheit; der Wunsch, eine Atmosphäre zu verlassen, die notwendig abgebraucht sein muß, wie die Luft im geschlossenen Raum nach langer Zeit, und in der die Menschen einander alles gesagt und wenig mehr einander zu geben haben, und das umsomehr, als manche Freundschaft, entstanden durch die Gemeinschaft der ersten Jugend, ein anderes Gesicht bekommen muß, wenn jeder nun nach einer anderen Seite strebt. Und um wieviel mehr gilt das alles für eine Stadt, die, wie Prag für einen Deutschen, eine Kleinstadt ist! Ich bin im Herbst des Jahres 1914 von Prag weggezogen. Und wenn es mir, nun im besonderen, wünschenswert erschien, gerade diese Stadt zu verlassen, so war es das: es herrschte damals, abgesehen von der ganz bürger- lichen Welt, die Stimmung einer überhitzten und vorwiegend destruktiven Intelligenz, die im Mißverhältnis stand zu allem übrigen Menschlichen; mehr des Witzes als der Fröhlichkeit, mehr der De- batte als des Ernstes, mehr der bewußten Paradoxie als der Heiter- keit. Die Kunst war Fachangelegenheit aller, herausgerissen aus dem Zusammenhang, aus der Vielfalt des übrigen Lebens. Das war es vor allem, andererseits aber, wie könnte man von Prag schwärmen und viel davon sprechen, was einen gerade dort hätte halten können doch die Frage ist ja gerade aufs Gegenteil gerichtet. Anonymus (vermutlich Hermann Ungar) In den Berliner und Wiener Literaturcafés ist bekanntlich jeder zweite Gast ein Literat aus Prag. In Berlin wurde vor einiger Zeit sogar ein tschechoslowakischer Klub gegründet, der größtenteils aus Prager deutschen Schriftstellern besteht. Wenn ein Berliner die Bekanntschaft eines Pragers macht, einerlei, ob es sich um einen 160 Flanellreisenden oder um einen Attaché handelt, fragt er für alle Fälle: »Woran schreiben Sie jetzt?« Die deutschen Witzblätter profitieren seit Jahren von der Tatsache, daß Deutschland seine neueste Literatur aus Prag bezieht. Niemand hat aber bisher gefragt, wie es komme, daß die meisten Prager Schriftsteller und Künstler nicht in Prag leben, das ja als eine der schönsten Städte der Welt gilt, demnach nicht aus ästhetischen Gründen von einem Künstler verlassen werden kann. Wenn man mich fragt, warum ich Prag verlassen habe, muß ich sagen: Aus tausend und einem Grund. Vor allem: jeder Schriftsteller, der in deutscher Sprache schreibt, bezieht seine Honorare und Tantiemen in Mark oder gar in österreichischen Kronen. Infolgedessen kann er sich nicht den Luxus leisten, in einem edel-valutarischen Lande, wie es die Tschechoslowakei heute ist, zu leben, es wäre denn, daß er andere Einkünfte hat, was leider nicht jeder von sich sagen kann. Wenn man Mark oder österreichische Kronen einnimmt, ist man nicht in der Lage, tschechische Kronen auszugeben. Das ist wohl der wichtigste Grund der Flucht. Die tschechische Regierung, die jedes Jahr viele Millionen für tschechi-sehe Künstler ausgibt, hat es noch keinem einzigen deutschen Künstler oder Schriftsteller ermöglicht, in Prag zu bleiben. Außerdem ist die gereizte Stimmung, die leider noch immer nicht nur in politischen, sondern auch in künstlerischen Kreisen in Prag aus nationalen Gehässigkeiten entsteht, nicht gerade geeignet, das künstlerische Schaffen zu fördern. Diese nationalen Reibungen machen Prag zu einer kleinen, engen Stadt. Seltsam ist nur, daß die »maßgebenden Kreise« beständig tun, als wüßten sie nichts von alledem. Sie lassen die Künstler und Schriftsteller, denen Prag einen großen Teil seines Ruhms in der Welt verdankt, seelenruhig auswandern, und dann kommt eines Tages womöglich ein Vertreter der öffentlichen Meinung Prags und stellt an die deutschen Schriftsteller ganz naiv und harmlos wie ein kleines unwissendes Kind die verblüffende Frage: »Warum haben Sie Prag verlassen?« Berechtigter wäre die Frage: »Warum sind Sie in Prag geboren?« Denn das ist eine Schuld frage, der man nicht ausweichen kann. Ernst Weiß Ich habe Prag vor einem Jahr verlassen. Ich habe in dieser Stadt meine liebsten Freunde, meine nächsten Verwandten. Ich danke viel dem Direktor des deutschen Theaters und seinem Dramaturgen. In Prag hatte ich vor allem das Bewußtsein, daß ich und meine Arbeit den Menschen nicht fremd sind. Die Menschen waren mir nicht fremd; wenn irgendwo, hatte ich hier heimatliches Gefühl. Die Stadt war meinem Schaffen günstig. Die eigentümliche Atmosphäre der Stadt, die Begegnung der Hügel mit der grenzenlosen Ebene, des ziehenden Flusses mit den ragenden Kathedralen, die engen Gassen und die weiten Gärten auf den Bergen, alles tat mir wohl. Trotzdem ergab sich mir die Notwendigkeit fortzugehen aus zweierlei Gründen : materiellen und geistigen. Die materiellen liegen darin begründet, daß es einem deutschen Schriftsteller, dessen Werke in Deutschland erscheinen und in Mark bezahlt werden, in dem letzten Jahre unmöglich wird, in einem Lande mit höherer Valuta zu leben, und mag er seine Lebensansprü-che noch so bescheiden stellen. Ich habe daher um Gastrecht in Deutschland gebeten und es in Berlin erhalten, wo man leben kann. Über diesen materiellen Grund heraus, der letzten Endes nie zwingend wäre, kommt ein anderer: daß ich, ohne Kenntnis der tschechischen Sprache, die jetzt noch zu erlernen ich nicht fähig bin, mir in Prag von Tag zu Tag mehr als Fremder, als Ausländer er-schien. Selbst dies wäre zu ertragen gewesen, da ich in Prag einen Kreis mir sehr nahe stehender Menschen gefunden habe. Da wirkte erschütternd im inneren, entscheidend im äußeren Leben, die Wegnahme des alten Landestheaters. Es war die einzige Bühne, die ich wirklich geliebt habe, sie war für mich etwas Unersetzliches. Die Aufführungen Mozartscher Opern unter Zemlinsky, die Darstellungen von Dramen Wedekinds mit Rahel Sanzara bedeuteten Eindrücke, die nicht zu vergessen waren. Und nicht nur für mich allein. Nicht ich allein konnte nicht mehr an dem alten Hause vorbeigehen ohne ein Gefühl der Bitterkeit. Sentimentalität liegt mir im allgemeinen fern. Aber ich konnte nicht mehr in einer Stadt leben, wo solche Erlebnisse möglich sind. Man muß atmen können. Das kann man nicht ohne Rechtsgefühl. 162 163 .