Ernst Weiß Prag im anarchistischen Geist Über dem jungen, lebensfreudigen und lebenswilligen Prag lastet der Geist der Gotik und mehr noch, alles andere bedrückend, oft erdrückend, der Geist des habsburgischen Barock wie eine uralte Fürstin mit versteinerten, immer noch schönen Zügen, die alle Urenkel überlebt hat, allen Reichtum besitzt und auf deren Tod niemand mehr zu hoffen wagt. Was an bedeutenden Geistern hier gewirkt hat, von Rilke bis zu Franz Kafka, war immer von diesem Geist des Barock beschattet. Was ist dieses Barock? Es ist nicht mehr die reine spirituelle Flamme des kristallisierten Christentums, die Gotik, sondern es ist ein Christen-tum, das schon an den Geistesgütern des wieder-erstandenen Altertums und an denen der neu-erstandenen Naturwissenschaften (Alchimisten) geleckt hat, eine grandiose Gegengeste des Katho-lizismus, so überwältigend noch in der Agonie, daß ihr selbst der alte Goethe im Faust nicht zu widerstehen vermocht hat. Wir stehen heute vor der zweiten Wiedergeburt der Freiheit. Von wo sie ausgehen wird, ob aus dem Kern Europas, dessen geographischer und bald vielleicht auch politischer Mittelpunkt eben dieses Prag ist, ob aus anderen Gebieten der Welt, wer weiß es ? Sicher ist, daß von hier aus heute schon Männer und Kräfte am Werk sind, in erster Linie der Staatsminister Beneš, die illusionslos, zwar rational, aber nicht karg rationalistisch, vernünftig, aber nicht vernünftelnd, den großen Mut gefunden haben, dem engstirnigsten Egoismus, dem »heiligen« der Nation und »Rasse«, etwas Größeres, Freieres, Freudigeres und seiner selbst Sichereres entgegenzustellen. Böhmen (es ist sehr schade, daß die Tschechoslowakei diesen wundervollen Namen nicht offiziell kennt) hat von jeher große, das heißt selbstbescheidene, ihrer Grenzen klar bewußte Lehrer hervorgebracht, von Amos Komemus bis zu Masa ryk, 168 vielleicht kommt der Lehrer der neuen Völker und Menschengemeinschaft, der Begründer einer Renaissance II., aus diesem herrlichen, dunklen, aber nicht unheimlich, sondern eher gemütlich dunklen Boden. Das, was man sonst die »Scholle, die Wurzeln« nennt, will sich auch hier sein Lebensrecht, das ihm niemand bestreitet, sichern, nur ist es eben nicht sehr ergiebig. Die großen Konflikte, Kontraste erwachsen viel eher aus der grandiosen Ansammlung menschlicher Individuen und technischer Kräfte und Traditionen in den Großstädten als auf dem zwar ewigen, aber doch traditionsarmen Land, das nicht ohne Grund das »flache« genannt wird. Hier hat es den Vorzug, einige prachtvolle, wenn auch nicht weltbewegende Blüten hervorgebracht zu haben, vor allem Friedrich Smetana. In dem tschechischen Nationaltheater brachte man ein modernes Ballett, dessen Musik von dem hochbegabten, ganz modern denkenden Musiker Martinu stammt, es heißt »Spielklötzchen« und entfaltet oben auf der Bühne die Folkloristik des ganzen Landes, Märchen im Märchen, den Hahn und die Henne, die auf dem Nußberg gehen, bis zu der verlassenen Braut in ihren wilden Verzweiflungstänzen. Unten im Orchester, ein männlicher und ein weiblicher Protagonist, der nicht agiert, sondern im Scheine eines milden Lichtes Text auf Text singt, wozu dann das Orchester Begleitfarben malt und ein Chor mit Kinder-Sopran und Greisenbaß einstimmt. Das stärkste daran ist das Kindliche, aber Kinder bauen sich ihre »Klötzchen« selbst zusammen. Die Musik ist voller Feinheit, aber ohne Süße, keusch bis zur Kargheit, und dort, wo es warm wird, weht der Hauch von den blühenden Feldern des großen Smetana herüber, der einst im größten Elend gestorben sein soll, wofür ihm jetzt noch ein Denkmal gesetzt werden wird. Sonst sind die Menschen hier nicht von besonderer Dankbarkeit. Mozart hat eine für sein kurzes Dasein lange Zeit hier verbracht, fast das Bedeutsamste hier geschaffen, in der »Bertramka«, in einem verrußten Fabriksviertel, jetzt im Verfall, wenn man nicht die nötigen Gelder herbeibettelt, - kein Denkmal erinnert daran, daß hier seine größten Opern unter ungeheurem Jubel uraufgeführt wurden, worauf Mozart allerdings auch »im tiefsten Elend«, dem Refrain der Ballade vom Genie, gestorben ist. - Auch an den genialen Jaroslav Hašek, den größten Humoristen der letzten fünfzig Jahre (bescheiden gesprochen), erinnert hier nichts, nicht einmal der Name einer Kneipe. 169 Dieser wunderbare Schöpfer des »braven Soldaten Schwejk« ist am Leben zugrunde gegangen in jungen, schweren Jahren, das heißt, angeblich in Bier ertrunken. Doch von seinem Geist, einem in seiner Art ebenso anarchistischen Geist, wie es jedes humoristische Genie ist, ist doch etwas am Leben geblieben. Die Revue vom »Esel und seinem Schatten«, die hier im Freiheitstheater, in den Kellerlokalitäten der modernen, inneren Stadt (also sehr weit weg vom barocken Hradschin und den gotischen Kathedralen) durch die zwei wonnevollen Komikertragiker Woskovec und Werich unter dem Jubel täglich neu begeisterter, mit Lachen, Trampeln, Johlen und Klatschen ihren Beifall ausdrückender Menschen-massen aus dem tschechischen Mittelstand gespielt wird. Es sind dies zwei große Schauspieler in der Maske von Clowns, Szenenbilder von einer Kühnheit verwendend, die nur in der Zensur des Geschmackes ihre Grenzen findet, kein Zirkusmittel, bis zu dem leibhaftig auf das Bühnchen gebrachten Esel, verschmähend. Der eine erinnert, blendend weiß geschminkt mit pechschwarzer Perücke auf dem Kopf, mit seinem linken, zynisch klugen Mund, mit dem flinken, behenden Gang und Tanz an einen alten Glücksgott, wie solche mit rätselhaft weise lächelnder Miene, den Glückskarpfen unter dem Arm, auf chinesischen Holzschnitten dargestellt werden. Der andere ähnelt ihm wie Sancho Pansa dem Don Quichote. Was sie bringen, ist Prostest. Ist Freiheit des Gedankens. Verhöhnung der Macht. Trauersong auf den Untergang des Menschentums edlerer Art, das sich unterdessen langsam aus dem Grabe herauskrabbelt, alles aber ausdrückend mit einem Minimum an Umfang, an Geste, an Geschrei – mit Recht das einzige wirklich populäre Theater der großen Stadt, keine Zwangs-Ideale, nur Bescheidenheit, Brot, Arbeit für alle. Und Gerechtigkeit, guter Willen, Vernunft und nochmals Gerechtigkeit für alle! Die Liebe zum Leben, wie es ist, wie es ohne Traum, ohne Rausch ertragen werden muß: das ist es, was die Massen hier bejubeln.