O S C A R W I L D E DORIAN GRAYF A S S U N G B U R G T H E A T E R , S T A N D 1 9 . 0 3 . 2 0 1 0 Basil ist der, der ich selbst zu sein glaube. Lord Henry ist der, für den die Welt mich hält. Und Dorian ist der, der ich gern sein würde – in anderen Zeiten vielleicht. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 1 Prolog (Verschiedene Zeugen erstatten Bericht über den Fall Dorian Gray.) alle Figuren im Video. HENRY Ich sah ihn zum ersten Mal an dem Tag, als das Bild vollendet wurde. Sein Bild. Es war Zufall, dass ich an jenem Tag einen Besuch bei Basil Hallward machte. In seinem Atelier stand das fast fertige Bild und ich war über alle Maßen fasziniert davon. Kurz darauf lernte ich den Portraitierten selbst kennen, und er war noch um ein vielfaches faszinierender. BASIL Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken, noch bevor ich ihn zum ersten Mal sah. Es war bei einem Fest im Haus meiner Tante. Ich war etwa zehn Minuten dort und hatte mit einigen Leuten gesprochen, da merkte ich, dass mich jemand ansah. Ich drehte mich um und da sah ich ihn. Er stand am anderen Ende des Raumes und sah mich an. Ich spürte, dass ich blass wurde, dass meine Glieder sich versteiften. Ich sah in seine Augen und wusste, wusste in diesem Augenblick: Ich stand jemandem gegenüber, dessen Person etwas an sich hatte – ich wusste nicht, was es war – das bewirkte, dass ich, wenn ich es zuließe, völlig von ihr eingenommen werden würde. DIENER Er hatte sehr klare Ansichten darüber, wie sein Haushalt zu führen war, und legte Wert darauf, dass ich mich stets daran hielt. Ich habe mich auf seine besonderen Wünsche und Anweisungen eingestellt, und er hat mich immer gut behandelt. BASIL Ich drehte mich um und ging zur Tür, ich wollte fliehen. Aber ich lief meiner Tante in die Arme, die mich aufhielt. Sie bestand darauf, mich allen möglichen Leuten vorzustellen, sie redete und redete ... DIENER Ruhe war ihm wichtig. Er war gern für sich allein. BASIL .... und plötzlich stand er direkt neben mir. Stand da und schaute mich an. Es war leichtsinnig von mir, doch ich bat meine Tante, mich ihm vorzustellen. HENRY Wir freundeten uns an und ich fand in ihm mein liebstes Studienobjekt. HUBBART Er war mir einer der liebsten Kunden. Er hatte einen erlesenen Geschmack und kannte sich in allen Gebieten der Kunst vorzüglich aus. JAMES Für meine Schwester war er wie ein Märchenprinz, der sie auf seinem weißen Pferd mitnahm. ALAN Ich möchte über die Geschichte, die uns beide verbindet, nicht sprechen. HENRY Wie schön er war! JAMES Er war zu schön. HENRY Wie vereinnahmend... OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 2 JAMES Viel zu schön, um ein anständiger Kerl zu sein. HENRY ...wenn er mir beim Essen im Club gegenüber saß und die roten Lampenschirme das erwachende Wunder seines Gesichts in ein warmes Rosa tauchten. JAMES Oft genug habe ich meine Schwester vor ihm gewarnt. ALAN Oft genug habe ich den Tag, an dem ich ihm begegnete, verflucht. HUBBART Oft half ich ihm beim Aufhängen von Bildern in seinem Haus, oder beim Transport empfindlicher Kunstwerke. DIENER Es gab diese Tür im Obergeschoss. Die Tür zu einem Dachzimmer. Sie war immer verschlossen. Es war eine der Regeln des Hauses, die er mir bei meiner Einstellung erklärte: Diesen Raum durfte nur er selbst betreten, ohne jede Ausnahme. HUBBART Sein Haus war ein Tempel der schönen Dinge. HENRY Sich mit ihm zu unterhalten war wie das Spiel auf einer erlesenen Violine. Er reagierte auf jede Berührung und Vibration des Bogens... JAMES Es kam mir verdächtig vor, dass er uns seinen Nachnamen verschwieg. ALAN Bis heute fällt es mir schwer, seinen Namen auszusprechen. DIENER Es war mir nicht entgangen, dass viel über ihn geredet wurde. HUBBART Mit der Zeit stand sein Name für eine der geschmackvollsten Sammlungen der Stadt. DIENER Geschichten, die seinen Namen mehr und mehr in Verruf brachten. JAMES Keiner von uns wusste, wie er wirklich hieß. ALAN Als läge auf diesem Namen ein Fluch. BASIL Und dann hörte ich seinen Namen zum ersten Mal: ALLE Dorian Gray. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 3 2. Szene (Im Atelier. Die erste Begegnung zwischen Dorian und Henry.) Henry und Basil im Video, Dorian live. HENRY Sie sollten sich wirklich nicht mit Philantropie abgeben, Mr. Gray. Sie sind viel zu charmant dafür. DORIAN Was haben sie gegen Philantropie? HENRY Das erkläre ich ihnen lieber nicht. Es ist ein so langweiliges Thema, dass man gezwungen wäre, ernsthaft darüber zu sprechen. BASIL Henry? HENRY Ja, Basil? BASIL Fändest du es sehr unhöflich von mir, wenn ich dich bitten würde, zu gehen? HENRY Warum sollte ich gehen? BASIL Du lenkst Dorian ab. Das Bild soll heute fertig werden. HENRY Soll ich gehen, Mr. Gray? DORIAN Bitte nicht. Bleiben sie. Basil spricht nie ein Wort mit mir, während er malt, und es ist ziemlich langweilig, stundenlang auf einem Podest herumzustehen mit der einzigen Beschäftigung, ansprechend auszusehen. HENRY Ist das wahr, Basil? Du lässt ihn stundenlang herumstehen, ohne dich mit ihm zu unterhalten? BASIL Wenn ich male, kann ich nicht einmal zuhören, geschweige denn reden. HENRY Wenn das so ist, Mr. Gray, werde ich sie natürlich nicht allein lassen. Es ist dir doch recht, Basil? BASIL Da Dorian es wünscht, musst du selbstverständlich bleiben. Seine Launen sind Gesetz für jeden. Außer für ihn selbst. HENRY Bestimmten Launen wird auch er sich unterwerfen müssen. DORIAN Was meinen sie damit? BASIL Achte nicht darauf, was Henry sagt. Er hat einen sehr schlechten Einfluss auf alle seine Freunde. Ich bin die einzige Ausnahme. DORIAN Stimmt das? Ist ihr Einfluss wirklich so schlecht? OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 4 HENRY So etwas wie einen guten Einfluss gibt es nicht. Jeder Einfluss ist schlecht. DORIAN Wie meinen sie das? HENRY Einen Menschen beeinflussen heißt, ihn zu verbiegen, in welche Richtung auch immer. Er denkt nicht mehr seine eigenen Gedanken, spricht nicht mehr seine eigenen Worte, er wird zum Echo einer fremden Musik. DORIAN Und das ist schlecht? HENRY Es entfernt uns vom wesentlichen. Der eigenen Natur so nahe wie möglich zu kommen, darum geht es. Die meisten Menschen haben Angst vor sich selbst und ihren inneren Regungen. Sogar die… BASIL Den Kopf etwas nach rechts. HENRY Sogar die Mutigsten haben Angst vor sich selbst. Aber jeder Trieb, den wir abzuschnüren versuchen, brütet in uns weiter und vergiftet uns. Der einzige Weg, eine Versuchung loszuwerden, ist, ihr nachzugeben. Widerstehe, und du wirst krank vor Sehnsucht nach den Dingen, die du dir selbst verboten hast. Es heißt, die größten Taten der Welt würden im Gehirn begangen. Im Gehirn, und nur dort, werden auch die größten Sünden der Welt begangen und die größten Geheimnisse gehütet. Auch sie, Mr Gray, sie in ihrer Jugend und Unschuld wurden schon von Leidenschaften erfasst, die ihnen Angst machten, hatten Gedanken, die sie erschreckten, Träume, derer sie sich schämten, und… DORIAN Stopp! HENRY Mr Gray? DORIAN Stopp. Sie verwirren mich. HENRY Verzeihung. DORIAN Was soll ich sagen? Ich weiß, es gibt eine Antwort auf all das, aber ich kann sie nicht finden. Lassen Sie mich nachdenken. HENRY Mit Vergnügen. DORIAN Oder besser, lassen Sie mich versuchen, nicht zu denken. HENRY Mit Vergnügen. DORIAN Ich muss einen Augenblick nach draußen gehen, die Luft hier ist zum ersticken. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 5 3. Szene (Im Garten. Henry weckt Dorians Bewusstsein für die Vergänglichkeit.) Henry im Video, Dorian live. HENRY Nichts kann die Seele heilen, außer den Sinnen, und nichts kann die Sinne heilen, außer der Seele. DORIAN Wie bitte? HENRY Kommen sie in den Schatten. Sie dürfen sich keinen Sonnenbrand holen, er würde ihnen nicht stehen. DORIAN Das macht mir nichts aus. HENRY Es sollte ihnen sehr viel ausmachen. DORIAN Warum? Loop HENRY Weil sie ihre Jugend gar nicht hoch genug schätzen können. DORIAN Jugend ist nicht alles. HENRY Jugend ist das einzige, das zu besitzen sich lohnt. DORIAN Das empfinde ich nicht so. HENRY Jetzt noch nicht. Aber eines Tages werden sie es empfinden. DORIAN Schönheit ist oberflächlich. HENRY Mag sein, aber wenigstens ist sie nicht so oberflächlich wie das Denken. Die Schönheit ist das größte Rätsel überhaupt, dessen Unlösbarkeit für jeden klugen Menschen die einzige reine Wahrheit ist. Denn nicht das Unsichtbare, sondern das Sichtbare ist das wahre Geheimnis der Welt. Nur seichte Menschen urteilen nicht nach dem Äußeren. DORIAN Warum erzählen sie mir das alles? HENRY Weil die Natur es gut mit ihnen gemeint hat, Mr Gray. Aber was die Natur gibt, das nimmt sie bald wieder. Wir haben nur ein paar Jahre, in denen wir das Leben OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 6 wirklich auskosten können, und meistens lassen wir sie ungenutzt verstreichen. Was danach bleibt, sind Erinnerungen an Leidenschaften, vor denen wir zu viel Angst hatten, und Versuchungen, denen nachzugeben wir zu feige waren. DORIAN Vergeht denn die Zeit so schnell? HENRY Die Zeit ist neidisch auf Sie und führt Krieg gegen ihre Lilien und Rosen. Also reden sie nicht abschätzig über ihre Jugend und kommen sie endlich in den Schatten. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 7 4. Szene (Im Atelier. Vor dem vollendeten Bild äußert Dorian den Wunsch nach ewiger Jugend. Die erste Bild-Szene.) Dorian und Erzähler live. Henry, Basil im Video. Die Stimme als Toneinspielung. STIMME Wenn es nur umgekehrt wäre. (Video: Basil malt. Dann zieht er den Pinsel zurück. Prüfender Blick.) BASIL Fertig. HENRY Es ist – BASIL Ja. HENRY Lass es mich sehen. DORIAN Wirklich? HENRY Es ist perfekt. Kommen sie, sehen sie sich an, Mr. Gray. STIMME Wenn es nur umgekehrt wäre. DORIAN Ist es wirklich fertig? BASIL Es ist fertig. Und du warst heute besser als je zuvor. HENRY Das ist allein mein Verdienst, nicht wahr, Mr. Gray? STIMME Wenn es nur umgekehrt wäre. (Live-Kamera: Dorian wendet sich dem Bild zu. Sein Gesicht in Großaufnahme. „Ein Ausdruck von Glück, als erkenne er sich selbst zum ersten Mal.“ Henrys und Basils Stimmen undeutlich im Hintergrund.) ERZÄHLER Das Bewusstsein seiner eigenen Schönheit überkam ihn wie eine Offenbarung. Und ebenso schlagartig wurde ihm die ganze Wahrheit der Worte Lord Henrys bewusst. Es würde der Tag kommen, an dem sein Gesicht runzlig und eingefallen sein würde, seine Augen trüb, seine Lippen bleich, sein Haar ergraut, seine Statur entstellt. Er würde alt, hässlich und abstoßend werden. DORIAN Wenn es nur umgekehrt wäre. STIMME Wenn es nur umgekehrt wäre. DORIAN Wenn ich bleiben könnte wie heute, und das Bild alterte. STIMME Wenn es nur umgekehrt wäre. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 8 HENRY Das wäre ein schlechtes Los für dein Werk, Basil. STIMME Wenn es nur ... BASIL Ich würde auf jeden Fall protestieren. STIMME ... umgekehrt wäre. DORIAN Das glaube ich. Dir ist die Kunst wichtiger als deine Freunde. BASIL Das stimmt nicht. STIMME umgekehrt. DORIAN Ich bin für dich nicht mehr als irgendeine Bronzestatue. Oder sogar weniger, denn sie wirst du immer lieben. Mich nicht. STIMME umgekehrt. BASIL Was – DORIAN Ist es nicht so? BASIL Du kannst doch nicht ernsthaft auf ein Bild eifersüchtig sein? DORIAN Ich bin eifersüchtig auf alles, dessen Schönheit nicht vergeht. BASIL Wir alle werden alt. DORIAN Das Bild nicht. Es wird bleiben, wie es ist. Es wird mir lächelnd beim Sterben zusehen. BASIL Das ist dein Werk, Henry. HENRY Das ist der wahre Dorian Gray. BASIL Nein. HENRY Wenn nicht, was habe ich damit zu tun? BASIL Du hättest gehen sollen, als ich dich darum bat. HENRY Dann wäre das Bild nicht das geworden, was es ist. BASIL Und? Was ist es schon? Ich werde nicht zulassen, dass es zwischen uns drei tritt. Ich werde es zerstören, hier und jetzt – (Basil will das Bild zerstören.) HENRY Du willst – OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 9 DORIAN Nicht, Basil, nicht! (Basil hält inne.) Das darfst du nicht. BASIL Es freut mich, dass du mein Werk zuletzt doch noch zu schätzen weißt. DORIAN Es schätzen? Es ist ein Teil von mir. BASIL Nun, sobald du trocken bist, wirst du gefirnisst, gerahmt und zu dir nach hause geschickt. Dann kannst du mit dir machen, was du willst. HENRY Du solltest es besser mir überlassen. Dieser dumme Junge will es ja gar nicht wirklich haben. DORIAN Wenn du es jemand anderem als mir gibst, werde ich dir das nie verzeihen. Und ich bin kein dummer Junge. BASIL Du weißt, es gehört dir. Es gehörte dir, noch bevor es existierte. HENRY Und sie wissen auch, Mr Gray, dass sie sich ziemlich dumm aufgeführt haben, und dass sie in Wirklichkeit gar nichts dagegen haben, daran erinnert zu werden, wie jung sie noch sind. DORIAN Heute Morgen hätte ich sehr wohl etwas dagegen gehabt. HENRY Heute Morgen. Seitdem haben sie gelebt. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 10 5. Szene (Die Sinneswahrnehmungs-Szene. Während der folgenden Wochen.) Erzähler live. (Video: Komposition aus verschiedenen Bildern. Hunger auf das Leben. Verheißung. Idee: Ein Pochen der Rahmen. Augen, in denen sich etwas spiegelt. Dorian durchstreift die Stadt, mit geschärften Sinnesorganen. Die Lichter der Großstadt. Später ev.: Theatereingang / Ticketkauf.) ERZÄHLER Lord Henry hatte seinen Hunger auf das Leben geweckt. Seit Dorian ihm zum ersten Mal begegnet war, pulsierte es in seinen Venen. Ein Pochen, das ihn durch die Stadt trieb, durch die Straßen und Parks. Es machte, dass er die Welt schärfer sah als vorher, dass er sie in sich aufsaugen wollte. Er betrachtete die Menschen, die ihm auf der Straße entgegenkamen und versuchte in ihren Gesichtern zu lesen, was für ein Leben sie führten. Manche faszinierten ihn, manche machten ihn neidisch, manche erschreckten ihn. Es lag ein köstliches Gift in der Luft, jede Straßenecke versprach neue Geheimnisse bereitzuhalten. Und an einer dieser Straßenecken entdeckte er eines Tages ein kleines, heruntergekommenes Vorstadttheater. Die Programmtafel kündigte „Romeo und Julia“ an. Aus einer Laune heraus ging er hinein und kaufte sich eine Karte. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 11 6. Szene (Dorian erzählt Henry von seiner Liebe zu Sibyl.) Dorian und Erzähler live. Henry im Video. DORIAN Es ist etwas passiert, Henry! HENRY Da bist du ja endlich. DORIAN Ich habe mich verliebt. HENRY Aha. Und in wen? DORIAN In eine Schauspielerin. HENRY Ein ziemlich alltägliches Debüt. DORIAN Das würdest du nicht sagen, wenn du sie gesehen hättest. HENRY Wer ist sie? DORIAN Sie heißt Sibyl Vane. HENRY Nie gehört. DORIAN Niemand hat das. Aber eines Tages wird man sie kennen. HENRY Wie lange kennst du sie schon? DORIAN Drei Wochen. Sie stand auf der Bühne, als ich sie zum ersten Mal sah, sie spielte die Julia. Sie war das Schönste, was ich je gesehen hatte. HENRY In solchen Dingen hast du selten Unrecht. DORIAN Am nächsten Tag ging ich wieder hin. Und am Abend darauf auch. Am vierten Tag sprach mich der Theaterleiter an. Er bot an, mich ihr vorzustellen und führte mich zu ihr hinter die Bühne. Da stand sie vor mir und schaute mich mit großen Augen an, wie ein Kind, während ich ihr Komplimente zu ihrem Spiel machte. Sie schien sich ihres Talents gar nicht bewusst zu sein. HENRY Und ihrer Schönheit auch nicht, nehme ich an. DORIAN Sie weiß nichts von der Welt. Sie ist wunderbar rätselhaft. Jeden Abend gehe ich hin, um sie spielen zu sehen. HENRY Das also ist der Grund, weshalb du nicht mehr mit mir Essen gehst. DORIAN Ich bin hungrig danach, sie zu sehen. HENRY Aber heute Abend kannst du doch mit mir essen? OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 12 DORIAN Nein. Heute ist sie Ophelia. Und morgen ist sie Julia. HENRY Wann ist sie Sibyl Vane? DORIAN Nie. HENRY Ich beglückwünsche dich. DORIAN Wenn ich daran denke, dass ich sie rein zufällig gefunden habe! Wäre ich nicht in dieses Theater gegangen... – ich hätte die größte Liebe meines Lebens verpasst. HENRY Du solltest besser von der ersten Liebe deines Lebens reden. Wenn du wüsstest, was alles auf dich wartet. DORIAN Hälst du mich für so oberflächlich? HENRY Ich halte dich für so ernsthaft. Die Leute, die nur einmal in ihrem Leben lieben, sind in Wahrheit die oberflächlichen. Was sie Treue nennen, nenne ich die Macht der Gewohnheit oder Mangel an Phantasie. DORIAN Du glaubst nicht an die Treue? HENRY Sie ist eine Form der Habgier. Es gibt so viele Dinge, die wir mit Freuden wegschmeißen würden, wenn wir nicht Angst hätten, dass jemand anderes sie aufhebt. DORIAN Jetzt wünschte ich, ich hätte dir nichts von Sibyl Vane erzählt. HENRY Du hättest gar nicht anders gekonnt. Solange du lebst, wirst du mir immer alles von dir erzählen. DORIAN Ja, ich glaube, das werde ich. Wenn ich je ein Verbrechen beginge, würde ich zu dir kommen und es dir beichten. HENRY Menschen wie du begehen keine Verbrechen. Aber danke für das Kompliment. DORIAN Henry, ich möchte, dass du einmal mit mir ins Theater kommst, um Sibyl spielen zu sehen. Und Basil auch. Ihr müsst sie sehen. HENRY Wann? DORIAN Gleich morgen? Morgen ist sie Julia. HENRY Wirst du Basil vorher noch einmal sehen? Oder soll ich ihm schreiben? OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 13 ERZÄHLER Dorian hatte Basil schon seit einer Woche nicht mehr gesehen. Der Maler hatte ihm sein Portrait in einem wundervollen Rahmen nach Hause geschickt, und obwohl Dorian ein bisschen neidisch auf das Bild war, weil es schon einen ganzen Monat jünger war als er selbst, musste er zugeben, dass es ihn immer mehr faszinierte. Oft saß er stundenlang davor, ohne des Anblicks überdrüssig zu werden. Basils Anfragen nach gemeinsamen Abendessen oder Unternehmungen lehnte er jedoch immer häufiger unter irgendwelchen Vorwänden ab. Die Gesellschaft des Malers erfüllte ihn mehr und mehr mit Unbehagen. Seine Verehrung erschien ihm aufdringlich. Seine guten Ratschläge waren ihm lästig. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 14 7. Szene (Im Restaurant. Heute Abend sollen die Freunde Sibyl auf der Bühne sehen.) Dorian live. Henry und Basil im Video. HENRY Weißt du es schon? BASIL Was? HENRY Dorian hat sich verlobt. BASIL Nein. HENRY Doch. BASIL Mit wem? HENRY Mit irgendeiner kleinen Schauspielerin. BASIL Das kann nicht sein. Dorian ist viel zu vernünftig. HENRY Dorian ist viel zu klug, um nicht hin und wieder eine Dummheit zu begehen. BASIL Heiraten gehört nicht zu den Dingen, die man hin und wieder tut. HENRY Ich habe nicht gesagt, er sei verheiratet, ich sagte, er sei verlobt. Das ist ein großer Unterschied. BASIL Hoffentlich ist es wenigstens ein gutes Mädchen. HENRY Oh sie ist mehr als gut. – sie ist schön. DORIAN Ich werde heiraten! HENRY Du kommst ziemlich spät. DORIAN Ihr müsst mir beide gratulieren! Ich war noch nie so glücklich! BASIL Ich gratuliere dir. HENRY Ja, ja, ich auch. DORIAN Natürlich kommt es unerwartet, wie alle erfreulichen Dinge, aber ich habe ein sicheres Gefühl, dass es richtig ist, was ich tue. BASIL Ich hoffe, du wirst immer so glücklich sein, wie jetzt. Allerdings kann ich dir nicht ganz verzeihen, dass du mich über deine Verlobung nicht benachrichtigt hast. Henry hast du es erzählt. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 15 HENRY Und ich verzeihe dir nicht, dass du immer zu spät zum Essen kommst. DORIAN Wenn ihr Sibyl gesehen habt, werdet ihr verstehen, wo ich in letzter Zeit mit meinen Gedanken bin. Ihr hättet sie gestern sehen sollen. Sie spielte Ophelia und war noch schöner als sonst. Und dann, nach der Vorstellung, in ihrer Garderobe... HENRY ...hast du Ophelia einen Heiratsantrag gemacht. DORIAN Machst du dich über mich lustig? HENRY Ich bin selten ernster. DORIAN Und du hast recht: Ich habe meine Liebe auf der Bühne gefunden und meine Frau in Shakespeares Stücken. Haltet ihr das für einen Fehler? HENRY Im Gegenteil. BASIL Wenn ich dir zuhöre, hört es sich richtig an. HENRY Lasst uns endlich essen. Was sollen wir bestellen? DORIAN Wir haben keine Zeit zum Essen, wir müssen ins Theater. HENRY Jetzt schon? DORIAN Wir dürfen auf keinen Fall ihren ersten Auftritt verpassen. HENRY Du hast es allzu eilig in letzter Zeit. Wenn du in dem Tempo weitermachst, seid ihr in einem Monat schon geschieden. DORIAN Mach dich nur lustig. Wenn ihr Sibyl auf der Bühne seht, werdet ihr mich verstehen. HENRY Das hoffe ich. Ich habe noch nie für eine Theateraufführung auf mein Abendessen verzichtet. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 16 8. Szene (In einer Loge. Dorian, Henry und Basil sehen die schlecht spielende Sibyl.) Dorian und Erzähler live. Henry und Basil im Video. ERZÄHLER Sie bot fraglos einen reizenden Anblick. Durch den Haufen unbeholfener Schauspieler bewegte sich Sibyl wie ein Wesen aus einer höheren Welt. Doch sie wirkte sonderbar teilnahmslos. Wenn sie sprach, dann war die Stimme wunderbar, doch im Ton völlig verfehlt. Sie machte jede Leidenschaft unglaubwürdig. Die Theatralik ihres Spiels war unerträglich und wurde zunehmend schlimmer. HENRY Sie ist wirklich schön, Dorian, aber sie kann nicht spielen. Lass uns gehen. DORIAN Nein, ich bleibe. Ich will das Stück bis zum Ende sehen. ... Es tut mir leid, dass ihr meinetwegen einen Abend vergeudet habt. Entschuldigt. HENRY Noch ist der Abend zu retten. DORIAN Ich weiß auch nicht, was mit ihr ist. HENRY Es ist doch offensichtlich, was mit ihr ist. DORIAN Sie ist – HENRY Sie ist Mittelmaß. Bestenfalls. DORIAN Nein, Henry, sie – BASIL Wahrscheinlich ist Sibyl heute krank. Wir kommen ein andermal wieder. DORIAN Ich wünschte sie wäre krank. Sie wirkt einfach abgestumpft. BASIL Es gibt sicher einen Grund dafür. DORIAN Alles, was sie besonders machte, ist weg. BASIL Sei nicht so hart. DORIAN Ich verstehe das nicht. HENRY Lass uns gehen, du darfst dir das nicht länger anschauen. Wenn ihr erst verheiratet seid, wird Sibyl ohnehin nicht mehr als Schauspielerin arbeiten müssen. Was macht es also, dass sie die Julia wie eine Holzpuppe spielt? Komm mit uns in den Club. Wir werden Zigaretten rauchen und auf die Schönheit von Sibyl Vane anstoßen. Sie ist schön. Was willst du mehr? OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 17 9. Szene (In einer Garderobe. Dorian verlässt Sibyl.) Dorian und Erzähler live. DORIAN Das war Absicht? Du hast mit Absicht so schlecht gespielt? Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich gelitten habe. Ich wollte am liebsten aus dem Theater rennen, um es nicht weiter sehen zu müssen. Ich sah dich an und sah nichts von dem, was ich sonst in dir gesehen hatte. Bis zuletzt konnte ich nicht glauben, was da passierte, aber mit jeder Minute, die ich dir zusah, wurde es bestätigt, und mit jeder Minute wurde es grausamer. Dir kommt die Bühne eitel und heuchlerisch vor, und deshalb sparst du dir deine Leidenschaft für das wahre Leben? Aber damit opferst du alles, was ich liebte. Heute Abend hast du all das, was dich besonders machte, weggeschmissen. Einfach weggeschmissen, weil es dir plötzlich falsch vorkam. Weil du das echte Leben kennen gelernt hast, kommt dir die Bühne falsch vor? Weil du die echte Liebe kennen gelernt hast, kannst du sie auf der Bühne nicht mehr spielen? Aber was bleibt denn dann? Was bist du jetzt? Eine drittklassige Schauspielerin mit einem hübschen Gesicht... Fass mich nicht an! – Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich kann dich nicht wieder sehen. Du hast mich enttäuscht. ERZÄHLER Einige Augenblicke später trat er aus dem Theater. In seinen Ohren hallte Sibyls Stimme wieder, die ihn anflehte, sie nicht zu verlassen. Im Gehen hatte er gesehen, wie sie sich auf den Boden warf und dort liegen blieb. Sibyl benahm sich seiner Meinung nach unsinnig melodramatisch, ihre Tränen und ihr Schluchzen waren ihm lästig. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 18 10. Szene (Dorian bemerkt die erste Veränderung des Bildes. Die zweite Bild-Szene.) (Dorian vor der Live-Kamera. Sein Gesicht in Großaufnahme. Er betrachtet das Bild. Im Laufe der Szene beginnt die Live-Kamera, sich zu verselbstständigen, erst unmerklich, dann immer deutlicher: Der Gefilmte und sein Bild passen nicht mehr zusammen.) DORIAN / ERZÄHLER live Merkwürdig. Es war... Irgendetwas war anders. Das Bild, sein Ausdruck darin, wirkte verändert. Der Mund... Irgendetwas um den Mund... wie... eine Spur von Grausamkeit – Unmöglich, es musste eine Einbildung sein. Was sonst? Eine Einbildung... Aber... Irgendetwas... Nein, das konnte nicht sein. Und doch sah er es deutlich: Das Bild hatte sich verändert. Es war keine Einbildung. Dazu war es viel zu offensichtlich. Plötzlich... Was er da gesagt hatte... an diesem Tag... am Tag, an dem das Bild vollendet wurde... Dieser Wunsch... Unmöglich. Der Gedanke war absurd. Absurd, ja, und doch stand da das Bild vor ihm. Mit einer Spur von Grausamkeit um den Mund. Nein. Video Doch. live Nein, das war unmöglich. – War er grausam gewesen? Video Das Mädchen war Schuld, nicht er. live Nicht? Video Sie hatte ihn enttäuscht. Es war ihre Schuld. live Aber das Bild... Das Bild... Nein, das war Einbildung. Diese Nacht... Die vergangene Nacht hatte Phantome hinterlassen. Plötzlich... Plötzlich war in sein Gehirn jener winzige rote Punkt eingedrungen, der Menschen wahnsinnig macht. Das Bild hatte sich nicht verändert. Video Doch. Das Bild hatte sich verändert. live Das war unmöglich! Video Aber es war so. live Vielleicht... Konnte es sein, dass es irgendeine subtile Verbindung gab zwischen seinem Innersten und den chemischen Teilchen, die sich auf der Leinwand zu Linien und Farben formierten? ... Dass sie umsetzten, was in ihm vorging? Das konnte nicht sein. Video Und wenn doch? OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 19 live Es war nicht zu übersehen. Das Bild hatte sich verändert. Und es würde sich weiter verändern. Es würde jede seiner Taten archivieren. An seiner statt. Aber... Aber er würde der Versuchung widerstehen. Video Der Versuchung widerstehen? live Noch konnte er alles wieder gutmachen. Er würde zu Sibyl zurückkehren und sie heiraten. Er würde versuchen, sie wieder zu lieben. Video Aber es war zu spät! live Es war noch nicht zu spät. Seine Faszination für sie würde zurückkehren. Sie würden zusammen glücklich sein. Sein Leben würde schön sein und rein. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 20 11. und 12. Szene (Dorians Zimmer. Henry bringt Dorian die Nachricht von Sibyls Tod. Einen Tag später: Dorian verweigert Basil, das Bild zu sehen.) Dorian und Erzähler live, Henry und Basil im Video. HENRY Das Ganze tut mir schrecklich leid. DORIAN Die Sache mit Sibyl? HENRY Ich hoffe, du nimmst es nicht zu schwer. DORIAN Tue ich nicht. Was passiert ist, hat mir geholfen, mich besser kennen zu lernen. HENRY Wie gut, dass du es so sehen kannst. DORIAN Ich weiß jetzt, was Gewissen ist. Du machst dich darüber lustig, aber du irrst dich. Ich möchte ab jetzt versuchen, ihm gerecht zu werden. HENRY Und wie willst damit anfangen? DORIAN Indem ich Sibyl heirate. HENRY Aber – Hast du meine Nachricht nicht erhalten? DORIAN Doch, aber ich habe sie nicht gelesen. HENRY Dann weißt du es noch gar nicht. DORIAN Was? HENRY Sibyl Vane ist tot. DORIAN Sie ist – HENRY Ich habe dir sofort geschrieben, um dich zu bitten, vorläufig mit niemanden darüber zu reden. Es wird natürlich eine gerichtliche Untersuchung geben. Ich hoffe, niemand im Theater kannte deinen Namen? Wenn nicht, dann... DORIAN Eine gerichtliche Untersuchung? Hat sie – HENRY Man fand sie auf dem Boden ihrer Garderobe. Sie muss etwas geschluckt haben, irgendein giftiges Zeug, das sie im Theater verwenden. DORIAN Ich – HENRY Es ist sehr tragisch, natürlich, aber du darfst das nicht zu persönlich nehmen. Du musst heute Abend mit mir Essen gehen, in Ordnung? Und später können wir noch in der Oper vorbeischauen. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 21 (Vorspulen in die nächste Szene) BASIL Du bist in die Oper gegangen? Während Sibyl Vanes Körper tot in irgendeiner staubigen Garderobe lag, bist du in die Oper gegangen? DORIAN Ich will davon nichts mehr hören. Was vergangen ist, ist vergangen. BASIL Du bezeichnest gestern als Vergangenheit? DORIAN Gestern ist genauso vergangen wie ein Tag vor hundert Jahren. Glaubst du, ich habe nicht gelitten? Als ich erfuhr, dass sie sich umgebracht hat... (Zurückspulen in die vorige Szene) DORIAN Jetzt habe ich also einen Mord auf dem Gewissen. Und heute Abend soll ich mit dir Essen gehen und danach noch in die Oper. Hätte ich all das in einem Roman gelesen, ich hätte vermutlich geweint. Aber es fühlt sich an, als würde das alles weit weg von mir geschehen. Ich sehe mich in diesem Zimmer stehen und denke, ich müsste weinen, aber ich sehe mich nicht weinen. (Vorspulen zur nächsten Szene) DORIAN …Als ich erfuhr, dass sie sich umgebracht hat... BASIL Sie hat sich umgebracht? Wie furchtbar. DORIAN Nein, es ist nichts Furchtbares daran. Sibyl lebte in der Tragödie. Und nun hat sie ihre letzte Rolle gespielt. BASIL Wie du redest. Das muss Henrys Einfluss sein. (Zurückspulen in die vorige Szene) DORIAN … und denke, ich müsste weinen, aber ich sehe mich nicht weinen. HENRY Und plötzlich sind wir nicht mehr Schauspieler, sondern Zuschauer. Du musst es von Außen betrachten: Jemand hat sich aus Liebe zu dir das Leben genommen. Ich wünschte, ich hätte jemals eine solche Erfahrung gemacht. (Vorspulen in die nächste Szene) BASIL …Wie du redest. Das muss Henrys Einfluss sein. DORIAN Ich verdanke Henry eine Menge. Mehr als dir. Du hast mich nur gelehrt, eitel zu sein. BASIL Dafür bin ich bereits bestraft. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 22 DORIAN Ich weiß nicht, was du damit meinst. BASIL Ich will den Dorian zurück, den ich gemalt habe. DORIAN Ich habe mich entwickelt. BASIL Du siehst noch genauso aus. (Zurückspulen in die vorige Szene) HENRY Du hast es selbst gesagt: Erst auf der Bühne wurde sie lebendig. Kannst du dich an ein einziges Wort von ihr erinnern, das sie sagte, wenn sie nicht auf der Bühne stand? DORIAN Nein. HENRY Du hast sie schon so oft sterben gesehen. Du hast genug über sie geweint. DORIAN Vielleicht hast du Recht. HENRY Glaube mir, es ist so: Zum Betrachter des eigenen Lebens zu werden, heißt, allem Leid des Lebens zu entfliehen. (Zurückspulen) HENRY: Du hast genug über sie geweint. DORIAN Vielleicht hast du Recht. HENRY Glaube mir, es ist so: Zum Betrachter des eigenen Lebens zu werden, heißt, allem Leid des Lebens zu entfliehen. (Vorspulen in die nächste Szene) BASIL Du musst mir wieder Modell stehen. Ich komme ohne dich nicht weiter. DORIAN Das geht nicht. BASIL Aber warum? Gefällt dir mein Bild von dir nicht? Wo ist es? Warum hast du eine Decke darüber geworfen? DORIAN Es fiel zuviel Licht darauf. BASIL Lass es mich sehen. DORIAN Nein! BASIL Aber – OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 23 DORIAN Du darfst es nicht ansehen. BASIL Mein eigenes Bild? Das ist nicht dein Ernst – DORIAN Wenn du versuchst, es anzusehen, spreche ich nie wieder ein Wort mit dir. BASIL Was ist denn los? Natürlich werde ich es nicht ansehen, wenn du es nicht willst, aber wenn es im Herbst in Paris ausgestellt wird, dann... DORIAN Du willst es ausstellen? BASIL Ja. Ich dachte, du würdest nichts dagegen haben. Es wird nur für einen Monat fort sein. DORIAN Aber du hast doch gesagt, du würdest es niemals ausstellen. BASIL Ich hatte mich in etwas hineingesteigert: Ich dachte, das Bild offenbare zuviel von mir selbst, von meiner Verehrung für dich. Ich dachte, das Bild trüge ein Geheimnis in sich. Aber nachdem es mein Atelier verlassen hatte und ich es ein paar Tage nicht gesehen hatte, erschien mir der Gedanke plötzlich albern, das Bild könne irgendetwas anderes zeigen, als das, was es zeigt: dich nämlich. Und deshalb – DORIAN Du hattest recht: Es trägt ein Geheimnis in sich. Und es ist sichtbar. Das Bild kann nicht ausgestellt werden. BASIL Aber was hast du dagegen, dass ich selbst es ansehe? DORIAN Ich kann es dich nicht sehen lassen. BASIL Nie wieder? DORIAN Nie. BASIL Vielleicht hast du Recht. – Vielleicht sollte man besser nie versuchen, seine Verehrung zu offenbaren. DORIAN Du redest andauernd von Verehrung. Wir beide sind Freunde, oder nicht? BASIL Ich hoffe es. DORIAN Und du sollst immer mein Freund bleiben. BASIL Du hast doch Henry. DORIAN Ach, Henry! Henry hat genug damit zu tun, tagsüber Unmöglichkeiten von sich zu geben und sie nachts in die Tat umzusetzen. – Soweit das geht. Ich hänge sehr an ihm, aber ich weiß, dass du im Grunde der bessere Mensch bist. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 24 BASIL Wirst du mir wieder Modell stehen? Du weißt nicht, wie wichtig es für mich wäre. DORIAN Ich kann es dir nicht erklären, aber es geht nicht, nie wieder. Ein Portrait hat etwas Verhängnisvolles an sich. Es hat ein Eigenleben. Ich werde dich besuchen und mit dir Tee trinken. Das wird genauso erfreulich sein. ERZÄHLER Der Zeitpunkt war gekommen, da er seine Wahl treffen musste. Unausweichlich. Oder war sie schon getroffen? Hatte das Leben die Entscheidung bereits für ihn gefällt? Das Leben und seine unendliche Neugier auf das Leben. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 25 13. Szene (Das Bild wird auf dem Dachboden versteckt.) Dorian live, Hubbart im Video. HUBBART Was kann ich für sie tun, Mr. Gray? DORIAN Ah, Mr. Hubbart. Es geht um ein Bild, das ich nach oben tragen lassen möchte. Es ist recht schwer, und deshalb ließ ich sie bitten, mir jemanden von ihren Leuten zur Verfügung zu stellen. HUBBART Ich dachte mir, ich erweise mir die Ehre und komme persönlich vorbei. Welches ist das Kunstwerk? DORIAN Das dort. Können sie es so nehmen, wie es ist, samt Decke und allem? Ich möchte nicht, dass es zerkratzt wird. HUBBART Kein Problem, Sir. Und wohin soll es? DORIAN Leider muss es ganz nach oben, in eines der Dachzimmer. (Sie tragen es hoch.) DORIAN Hier herein, bitte. HUBBART Wohin soll es? DORIAN Ach, irgendwo hin. Hierher. Das genügt. HUBBART Darf man das Kunstwerk sehen, Sir? DORIAN (Pause.) Es würde sie nicht interessieren. HUBBART Aber natürlich würde es das. DORIAN Nein ! (Dorian verschließt die Tür und steckt den Schlüssel ein.) OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 26 14. und 15. Szene (14. Szene: Die Rausch-Szene. Dorian führt während der nächsten Jahre ein Leben der hedonistischen Genusssucht. Ein Strudel aus Bildern, Klängen, Musik und Textfetzen. 15. Szene: Dorians Haus, zwanzig Jahre später. Basil stellt Dorian zur Rede.) Dorian und Erzähler live, alle anderen im Video. (Video: Montage aus verschiedenen Bildern: Schöne Dinge, Köstliches Essen, Getränke, Blumen, Stoffe, Zigaretten, Musikinstrumente, Gegenstände. Das gelbe Buch. Dorian auf einer Party. Dorian im Konzert. Dorians goldener Körper in Nahaufnahme... Vielleicht auch: das Vergehen der Zeit, Kalender / Jahreszeiten. In die Bilder des Sinnesrauschs mischen sich immer mehr Bilder von Angst und Hässlichkeit.) AUFZÄHLUNG (Toneinspielung, als Teppich unter der Szene.) Kalter Marmorboden. Vertäfelungen aus rot lackiertem Wurzelholz. Ein blumengeschmücktes Messgewandt. Eine elfenbeinbesetzte Monstranz. Spitze und Scharlachroter Samt. Duftende Öle. Wohlriechende Wurzeln. Pollenbeladene Blüten. Eine zinnoberrot-goldene Decke. Olivgrün lackierte Wände. Gelbe Tücher. Die leidenschaftlichen Klänge der Zither. Riesige Lauten. Kupferne Trommeln. Damast-bezogene Kissen. Messingpfeifen. Seltsame Instrumente ausgestorbener Völker. Die geheimnisvolle Juruparis der Indianer. Flöten aus Menschenknochen. Kunstvoll bemalte Kürbisse. Vibrierende hölzerne Zungen. Mit Schlangenhaut bespannte Trommeln. Eine samtene Opernloge. Der Tannhäuser. Maskenbälle. Edelsteine. Ein mit fünfhundertsechzig Perlen übersätes Kostüm. Ein olivgrüner Chrysoberyll. Ein silbriges Katzenauge. Ein pistazienfarbener Peridot. Rosenrote und weingelbe Topase. Karfunkelsteine von glühendem scharlachrot. Feuerrote Zimtsteine. Orange und violette Spinelle. Saphirene Amethyste. Mondsteine. Milchopale. Smaragde und Türkise. Eine Schlange mit Augen aus echtem Hyazinth. Ein Granat aus dem Herzen eines arabischen Hirsches. Zwei goldene Äpfel, mit Karfunkelsteinen besetzt. Spiegel mit Rahmen aus getriebenem Silber. Eine mit Diamanten geschmückte Brustplatte. Stickereien und Wandteppiche. Gelbe Narzissen. Ein prächtiges krokusfarbenes Gewandt. Ein Segel aus Purpur, auf den mit Silberfaden der Sternenhimmel gestickt war. Kunstvoll gewebte Tafeltücher. Die wundersamen Gewänder der byzantinischen Priester, mit Löwen, Panthern, Bären, Hunden und Wäldern geschmückt. Ein Mantel, den Karl von Orleans einst trug. Erlesene Stoffe und Stickereien. Musseline aus Dehli, mit bunt schillernden Käferflügeln bestickt. Fremdartig gemusterte Stoffe aus Java. Gelbbrauner Atlas. Hellblaue Seide. Schleier aus ungarischer Nähspitze. Sizilianischer Brokat. Steifer spanischer Samt. Japanische Foukousas mit grün getöntem Gold und porzellanweiß gefiederten Vögeln. Rautenförmige Borten. Grüner Samt mit langstieligen weißen Blüten. Goldbrokat. Seidendamast. Kelchdecken. Schweißtücher. Samtbezüge. ... *** OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 27 ERZÄHLER Jene Neugier auf das Leben, die Henry einst in ihm geweckt hatte, schien mit ihrer Befriedigung noch zu wachsen. Je mehr er wusste, desto mehr begehrte er zu wissen. Sein Heißhunger wurde nur noch quälender, wenn er ihn stillte. (Dorian liest ein gelbes Buch, das Henry ihm geschenkt hat.) ERZÄHLER Es war das ungewöhnlichste Buch, das er je gelesen hatte. Es schien ihm, als zögen, in herrlichen Gewändern und zu zarten Flötenklängen, die Sünden der Welt in einer stummen Prozession an ihm vorüber. HENRY Ich dachte mir, dass dir das Buch gefallen würde. DORIAN Ich sagte nicht, dass es mir gefallen hat. Ich sagte, es hat mich fasziniert. ERZÄHLER Jahrelang konnte er sich nicht vom Einfluss dieses Buches befreien. Es schien ihm die Geschichte seines Lebens zu enthalten, niedergeschrieben, bevor er es gelebt hatte. Es wirkte wie ein Gift. *** (Auf einer Party. Ein Flirt.) LORD X Mein Vater hat mir den Umgang mit ihnen verboten, Mr Gray. DORIAN Nur die verbotenen Dinge lohnen es, dass man nach ihnen greift. LORD X Er würde mich enterben, wenn er sähe, dass ich mit ihnen spreche. DORIAN Ich kann ihnen versichern: Das ist es wert. Kommen sie. *** ERZÄHLER Jene Neugier auf das Leben, die Henry einst in ihm geweckt hatte, schien mit ihrer Befriedigung noch zu wachsen. Je mehr er wusste, desto mehr begehrte er zu wissen. Sein Heißhunger wurde nur noch quälender, wenn er ihn stillte. (dieser Text eventuell mehrfach wiederholt, als Motto der Szene.) *** (Dorian vor der Live-Kamera. Großaufnahme des Gesichts. Er betrachtet das Bild.) ERZÄHLER Mit exakt berechnendem Blick und manchmal auch mit monströsem, schrecklichem Genuss begutachtete er jede Veränderung, die dem Bild widerfuhr, und fragte sich dabei zuweilen, was grauenvoller war: die Spuren der Sünde oder die Spuren des Alters. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 28 15. Szene (Basil ist sichtbar gealtert, Dorian nicht.) DORIAN Wirst du nicht deinen Zug verpassen? BASIL Der fährt erst um Mitternacht. DORIAN Wie lange bleibst du in Paris? BASIL Sechs Monate. Deshalb wollte ich unbedingt noch vor meiner Abreise mit dir reden. DORIAN Es geht hoffentlich nicht um mich? BASIL Es geht um dich. Und es ist wichtig. DORIAN Ach ja? BASIL Es gibt Gerüchte über dich. DORIAN Ach nein. BASIL Es wird über dich geredet. Unglaubliche… DORIAN Lass mich in Ruhe damit. 14. Szene (auf einer Party.) LORD Y (lacht.) Hören sie auf. Ich werde ganz rot. DORIAN Erröten kann sehr schön sein. LORD Y Sind sie nicht Dorian Gray? Ich habe von ihnen gehört. DORIAN Wer soll ich sein? Sie müssen mich verwechseln. ERZÄHLER War Unaufrichtigkeit etwas so Schlimmes? Für ihn war sie lediglich ein Mittel, seine Persönlichkeit zu vervielfältigen. Er wunderte sich über die Oberflächlichkeit jener, die das Ich als etwas Beständiges, Einheitliches betrachteten. Für ihn war der Mensch ein Wesen mit unzähligen Leben, unzähligen Empfindungen – und unzähligen Gesichtern. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 29 15. Szene BASIL Diese Geschichten… DORIAN Sie sind mir egal. BASIL Sie können dir nicht egal sein. Und mir ebenso wenig. Es tut mir weh zu sehen, wie dein Bild in der Öffentlichkeit immer mehr verkommt. DORIAN Tatsächlich? BASIL Wenn ich höre, was man sich über dich zuflüstert... An welchen Orten man dich gesehen habe. In welchen Häusern du ein- und ausgehest. Wofür du angeblich dein Geld ausgibst. DORIAN Du weißt doch selbst, mit welchem Eifer die Leute ihre moralischen Vorurteile in die Welt hinaustragen. BASIL Es geht nicht nur um bloßes Gerede. DORIAN Hör jetzt auf damit. *** ERZÄHLER Jene Neugier auf das Leben, die Henry einst in ihm geweckt hatte, schien mit ihrer Befriedigung noch zu wachsen. Je mehr er wusste, desto mehr begehrte er zu wissen. Sein Heißhunger wurde nur noch quälender, wenn er ihn stillte. Es gab Augenblicke, in denen er das Böse schlicht als Mittel sah, wodurch er seine Vorstellung von Schönheit verwirklichen konnte. 15. Szene BASIL Und dann all die jungen Männer, mit denen du befreundet warst. Keiner von ihnen wird je wieder Fuß fassen können. DORIAN Stopp, Basil. Du redest von Dingen, von denen du nichts weißt. BASIL Alle deine Freunde sind früher oder später abgestürzt, ist das Zufall? Wie kann jemand wie du einen so schlechten Einfluss auf andere haben? DORIAN Schluss jetzt. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 30 BASIL Wenn ich dich vor mir sehe, wie jetzt, kann ich nicht glauben, dass du zu so etwas fähig bist. Aber ich frage mich, ob ich dich wirklich kenne. Ich müsste dein Innerstes sehen können, um das zu beantworten. (alle Bilder der Rausch-Szene verschwinden. Fokus nur noch auf das Gespräch.) DORIAN Mein Innerstes sehen. BASIL Ja. DORIAN Gut. Du sollst es sehen. Noch heute Nacht. BASIL Wie meinst du das? DORIAN Ich führe ein Tagebuch über jeden Tag meines Lebens, und es verlässt nie den Raum, in dem es geschrieben wird. BASIL Ich möchte heute nichts mehr lesen. Alles, was ich will, ist eine Antwort auf die Vorwürfe gegen dich. DORIAN Komm mit. Ich kann sie dir hier nicht geben. Du wirst nicht lange zu lesen haben. (Szenenübergang Video: Dorian geht Treppen hoch, gefolgt von Basil. Füße auf Treppenstufen.) OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 31 16. Szene (Auf dem Dachboden. Dorian ermordet Basil vor seinem Bild.) Dorian live, Basil im Video. DORIAN Hier. (Er zeigt Basil das Bild.) BASIL Was hat das zu bedeuten? DORIAN Es war einmal an einem wundervollen Sommertag, vor Jahren, als ich noch ein Junge war, da stelltest du mich einem gewissen Freund von dir vor. Dieser Freund sprach zu mir, in Sätzen, wie ich sie nie zuvor gehört hatte. Er sprach von der Jugend, von Schönheit, von Vergänglichkeit, und seine Worte kreisen bis heute in meinem Kopf. Am selben Tag vollendetest du ein Bild von mir. Ich war schön auf dem Bild, so schön wie heute. An diesem wundervollen Sommertag hattest du meine Jugend in einem wundervollen Bild festgehalten. Aber ich wollte sie lieber selbst festhalten. In einem wahnsinnigen Moment, von dem ich bis heute nicht weiß, ob ich ihn bereue oder nicht, äußerte ich einen Wunsch, du würdest es vielleicht ein Gebet nennen… BASIL Ich erinnere mich. Oh, wie gut ich mich daran erinnere. DORIAN Mein Gebet wurde erhört. BASIL Aber das ist unmöglich. DORIAN Du siehst es ja selbst. BASIL Du hast mir gesagt, du hättest es zerstört. DORIAN Das war falsch. Es hat mich zerstört. BASIL Dieses Bild ist ein Abgrund. DORIAN Es ist mein Gesicht. BASIL Warum hast du es mir gezeigt? DORIAN Du hast mehr mit meinem Leben zu tun, als du jemals glaubtest. BASIL Es muss schrecklich sein, dein Leben. DORIAN Es sieht nicht schrecklich aus. BASIL Aber dieses Bild. DORIAN Das Bild ist mein Geheimnis. Niemand hat es je gesehen. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 32 BASIL Und ich? DORIAN Die Welt hat ein anderes Bild von mir. BASIL Bereust du denn gar nichts? DORIAN Dafür ist es zu spät. BASIL Es ist nie zu spät. DORIAN Doch, Basil. Es ist zu spät. (Dorian tötet Basil.) OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 33 17. Szene (Die Wahn-Szene. Während der folgenden Wochen. Dorian verfällt seinem Gewissen und dem Verfolgungswahn.) Dorian live und teilweise im Video (bei Rückblenden), alle anderen im Video. (Erinnerungs-Fetzen / Stimmen in Dorians Kopf / Drogenrausch / Nebel / Momente von Klarheit / Momente von Wahn / Angstschweiß / Abkühlung... Die Bilder überlagern sich zunehmend. Idee: Dorians Schatten verselbstständigt sich.) HENRY Die Seele durch die Sinne heilen und die Sinne durch die Seele. Die Seele durch die Sinne heilen und die Sinne durch die Seele. Die Seele durch die Sinne heilen... *** ALAN Ich hatte mir vorgenommen, ihr Haus nie wieder zu betreten, Gray. Aber sie sagten, es gehe um Leben und Tod. DORIAN Es geht um Leben und Tod, und das für mehr als einen Menschen. Setz dich. (DORIAN Doch, Basil, es ist zu spät.) DORIAN In einem verschlossenen Raum unter dem Dach dieses Hauses, einem Raum, zu dem außer mir niemand Zugang hat, liegt ein toter Mann. Er ist jetzt seit zehn Stunden tot. Bleib ruhig! Es tut mir wirklich Leid für dich, Alan, aber ich muss dich in die Sache hineinziehen. Du hast Ahnung von Naturwissenschaften, du kennst dich mit Chemikalien und solchen Dingen aus. Was du zu tun hast, ist, den Toten dort oben zu beseitigen. (ALAN: Ich werde…!) Hör mir zu, Alan. Und bleib ruhig. (Rückblende: Basils Todesschrei) DORIAN Du musst für mich diese Leiche verschwinden lassen, Alan. Du wirst es tun müssen. Ich habe keine andere Wahl: Ich habe einen Brief geschrieben. Du siehst die Adresse. Du kannst dir denken, was darin steht. Wenn du mir nicht hilfst, muss ich ihn abschicken. Du weißt, was dann passiert. Du musst dich sofort entscheiden. Tu es einfach, Alan. Du musst es tun. *** DORIAN Bestellen sie mir einen Wagen. Ich muss kurzfristig fort. Nein, jetzt. Sofort! *** TV Keine neuen Erkenntnisse im Fall des verschwundenen Künstlers Hallward. TV Scotland Yard geht weiterhin davon aus, dass es sich bei dem OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 34 Mann im grauen Mantel, der London mit dem Nachtzug Richtung Paris verließ, um den Maler Basil Hallward handelte. Die Französische Polizei hingegen behauptet, Hallward sei nie in Paris angekommen. *** (Rückblende) HENRY Du benimmst dich seltsam, Dorian. Was ist los mit dir? *** BASIL Es muss schrecklich sein, dein Leben DORIAN Es sieht nicht schrecklich aus. *** HENRY Du bist wirklich zu beneiden. Es gäbe bestimmt niemanden, der nicht mit dir tauschen wollte. *** (Rückblende) BASIL Bereust du denn gar nichts? DORIAN Dafür ist es zu spät. BASIL Es ist nie zu spät. *** HENRY Irgendetwas ist passiert, Dorian. Du bist nicht du selbst. DORIAN Zu spät. HENRY Dorian? DORIAN (erschrickt) Was ist das für ein Mann? HENRY Wer? DORIAN Der Mann da. HENRY Was ist mit ihm? DORIAN Wer ist das? HENRY Keine Ahnung. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 35 DORIAN Er beobachtet mich. HENRY Der steht da einfach so herum. Vielleicht wartet er auf jemanden. DORIAN Auf mich. *** DORIAN Schatten in allen Ecken. In allen Ecken. Schatten. HENRY Was ist mit dir los, Dorian? *** DORIAN (schreckt hoch) Wo bin ich? Was ist passiert? HENRY Nur eine kurze Ohnmacht. DORIAN Bin ich hier sicher? HENRY Du bist übermüdet. DORIAN Wo bin ich? HENRY Du solltest dich ausruhen. DORIAN Ich darf nicht allein sein. HENRY Ich bin da. *** DORIAN Es heißt, die Leidenschaft lässt einen im Kreis denken. *** (Eine Hand fasst Dorian an der Kehle und presst ihn gegen die Wand.) DORIAN schreit. Was JAMES Wenn du dich bewegst, erschieße ich dich. DORIAN Was? – Was wollen Sie? JAMES Sibyl Vane. DORIAN Was – ? OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 36 JAMES Du hast ihr Leben zerstört. DORIAN Nein – ich… JAMES Sie hat sich umgebracht. DORIAN Ich kenne Sie nicht, ich… JAMES Deinetwegen. DORIAN Sie sind verrückt. Sie… JAMES Sibyl Vane war meine Schwester. DORIAN Nein. Hören Sie, ich habe keine Ahnung… JAMES Deinetwegen hat sie sich umgebracht. DORIAN Aber ich… HENRY (Rückblende) Sibyl Vane ist tot. JAMES Ich habe geschworen – DORIAN Halt! Wie lange ist es her, dass ihre Schwester starb? JAMES Das spielt keine Rolle. DORIAN Wie lang? JAMES Achtzehn Jahre. DORIAN Sehen sie sich mein Gesicht an. Ich bin gerade erst zwanzig geworden. Ich kann gar nicht der Mann sein, den sie suchen. *** HENRY Was ist los mit dir, Dorian? DORIAN Was? HENRY Fühlst du dich nicht wohl? DORIAN Doch. Ich habe nur... HENRY Du solltest zum Arzt gehen. DORIAN Ich sollte fort gehen. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 37 HENRY Fort? Wohin? DORIAN Wo ich sicher bin. HENRY Sicher vor was? *** (HUBBART Darf man das Kunstwerk sehen, Sir? DORIAN (Pause). Es würde sie nicht interessieren. HUBBART Aber sicher würde es das. DORIAN Nein!) *** DORIAN Ich muss abreisen. Bestellen sie mir einen Wagen. Schnell. *** DORIAN Schatten in allen Ecken. In allen Ecken. Schatten... *** HENRY Du bist wirklich zu beneiden. Es gäbe bestimmt niemanden, der nicht mit dir tauschen wollte. DORIAN Es gibt niemanden, mit dem ich nicht sofort tauschen würde. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 38 18. Szene (Das letzte Gespräch zwischen Dorian und Henry.) Dorian live, Henry im Video. HENRY Es macht keinen Sinn, mir zu erzählen, dass du ein besserer Mensch werden willst. Du bist perfekt. Bitte ändere dich nicht. DORIAN Doch, ich will mein Leben ändern. Es klingt eitel, ich weiß. Aber ich habe das Gefühl, zum ersten Mal seit Jahren das Richtige zu tun. HENRY Das Richtige gibt es nicht. DORIAN Basil hätte mir bestimmt Recht gegeben. HENRY Basils Urteil konnte man nur in der Kunst vertrauen. Vom Leben verstand er ziemlich wenig. DORIAN Gibt es etwas Neues von den Ermittlungen um sein Verschwinden? HENRY Nicht dass ich wüsste. DORIAN Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass Basil ermordet worden sein könnte? HENRY Warum sollte das jemand getan haben? Basil war nicht clever genug, um echte Feinde zu haben. DORIAN Und was würdest du sagen, wenn ich dir erzählte, dass ich selbst ihn umgebracht habe? HENRY Ich würde sagen, dass du in einer Rolle posierst, die dir nicht passt. Es tut mir leid, wenn ich deine Eitelkeit verletzte, aber du bist einfach nicht dazu geschaffen, einen Mord zu begehen. Das Verbrechen gehört exklusiv den vulgären Menschen, und vermutlich ist es für sie schlichtweg das, was für uns die Kunst ist: Eine Methode, außergewöhnliche Empfindungen hervorzurufen. (Dorian lässt Henry weiter reden, aber antwortet dem Video nicht mehr. Er steigt sozusagen aus der Szene aus.) HENRY Ja. Wie zum Beispiel dieses Bild, das Basil von dir gemalt hat. ... HENRY Wegen seiner Wirkung. Seiner außergewöhnlichen Wirkung. Was ist aus dem Bild geworden? Ich habe es nie wieder gesehen. ... HENRY Aha. Wie ärgerlich. Es war ein Meisterstück. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 39 ... HENRY Du musst mir dein Geheimnis verraten, Dorian. ... HENRY Na, du musst mir erzählen, wie du dir deine Jugend bewahrt hast. Du warst nie schöner als heute Abend. Du erinnerst mich an den Tag, als ich dich zum ersten Mal sah. ... HENRY Ich jedenfalls würde alles tun, um meine Jugend zurückzubekommen. Außer Sport treiben, früh aufstehen oder anständig werden, natürlich. ... HENRY Du kennst nicht das Alter. Alt werden ist ein Fehler. Wenn ich könnte, würde ich es so machen wie du. Was für ein Leben du geführt hast, nichts ist dir je versagt worden. Und das Wunder ist: Es hat dich nicht verdorben. Du bist immer noch derselbe. DORIAN Ich bin nicht mehr derselbe. HENRY Schau dich doch an. Ich bin so froh, dass du nie irgendetwas geschaffen hast, kein Bild, kein Objekt, kein Werk. Dein Leben war deine Kunst. ... HENRY Nein, tu das nicht. Setz nicht deine Vollkommenheit aufs Spiel, indem du dich zu verändern versuchst. ... HENRY Mach dir nichts vor. Du kannst Entschlüsse fassen, soviel du willst. Aber ein zufälliger Farbton im Licht, das in dein Zimmer fällt, ein plötzlich in deine Nase steigender Geruch, der dich an etwas erinnert, ein paar zufällig aufgeschnappte Worte, eine Zeile aus einem Lied, das du vergessen hattest... Ich sage dir, von Dingen wie diesen hängt unser Leben ab. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 40 19. Szene (Dorians Ende. Die dritte Bild-Szene.) DORIAN / ERZÄHLER Aber das – Es war immer noch es war sogar noch hässlicher als zuvor noch viel hässlicher denn je. Aber wieso? Er hatte erwartet, dass Er hatte gehofft, es würde sich zurückbilden. Ein neues Leben. Er würde gut sein. Er hatte gehofft, mit seiner eigenen Veränderung hätte sich auch das Bild verändert. Das Bild Und es hatte sich tatsächlich verändert. Es war noch schrecklicher als zuvor. Aber er war doch... Nein. Das Bild konnte er nicht täuschen. Aus purer Eitelkeit wollte er ein guter Mensch sein. Nur aus Neugier wollte er ein neues Leben. Aber was – Was konnte er tun? Sollte er gestehen? Gestehen? Sich selbst aufgeben? Das wäre – Die Idee war monströs. Und wer würde ihm glauben? Niemand würde – Es gab keinerlei Beweise. Niemand würde – Man würde ihn für verrückt halten. Aber – Was blieb ihm übrig? was – Was blieb ihm übrig, als zu gestehen? Musste er – ? Nein. Nein, niemals. Es gab nur ein einziges Beweisstück gegen ihn. Nur das Bild Das Bild selbst. Nur das Bild konnte gegen ihn aussagen. nur das – Er würde es zerstören. Es zerstören? Es musste weg. OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 41 Warum hatte er es überhaupt so lange behalten? Es terrorisierte ihn. Das Bild Es ließ ihn nicht mehr schlafen. Es machte ihn unruhig, sobald er das Haus verließ Es verfolgte ihn Es ließ ihn fürchten, jemand anderes könnte es sehen Fremde Augen Das wäre – Es musste bewacht werden. Nie verließ er das Haus länger als nötig Er kontrollierte die Tür Das Schloss Griff nach dem Schlüssel in seiner Tasche Sah nach Kontrollierte Immer wieder Es terrorisierte ihn Das Bild Es verdarb ihm alles Das Bild Kein glücklicher Moment mehr, in dem er es nicht vor sich sah Keine Lust kein Vergnügen, ohne dass es sich in seine Gedanken drängte. Es war immer da Es musste weg Endgültig Er würde es zerstören. Er würde es ermorden wie seinen Maler Es töten. Und alles, was es bedeutete. Ermorden. Die Vergangenheit Er würde dann würde er frei sein. Dieses Monster es töten Dann würde er Frieden haben. Er würde Frieden. es töten töten und dann – (Dorian sticht auf das Bild ein. Ein Schrei.) OSCAR WILDE: DORIAN GRAY, Fassung 19. 03. 2010 42 (Der Diener im Video) DIENER Wir klopften, doch es kam keine Antwort. Wir riefen. Alles blieb still. Schließlich, nach vergeblichen Versuchen, die Tür aufzubrechen, kletterten wir aufs Dach und sprangen auf den Balkon. Die Fenster gaben rasch nach, ihre Riegel waren alt. Als wir eintraten, fanden wir ein Portrait des Hausherren, so wie wir ihn zuletzt gesehen hatten, in all seiner Jugend und Schönheit. Auf dem Boden lag, in einer Blutlache, ein toter Mann – alt, faltig und welk, mit einem abstoßend hässlichen Gesicht. Erst, als wir die Ringe an seiner Hand entdeckten, erkannten wir, wer es war. ENDE