Drama um 1900 Deutsche Bühne im europäischen Kontext Bahnbrechend für einen konsequenten Realismus auf der Bühne war das das Hoftheater der Residenzstadt Meiningen unter der Leitung des regierenden Herzogs Georg II., das Tourneee durch große europäische Strädte unternahm und heftige Diskussion auslöste. An ihr beteiligten sich auch die später führenden Regisseure und. Theaterleiter des in den 80er Jahren entstehenden Bühnennaturalismus, Otto Brahm, André Antoine und Konstantin Stanislawski, die in mancher Hinsicht die Bemühungen der Meininger fortsetzten: Sie führten die Reliterarisierung als Inszenierung der avancierten zeitgenössischen Dramatik (Ibsen, Björnson, Strindberg, Turgenjew, Tolstoj, Tschechow, Hauptmann, Shaw) weiter und dehnten das Prinzip der Echtheit von der Ausstattung auf die Schauspielkunst aus, die bei den Meiningern noch nach Goetheschen Idealen betrieben wurde. Realistische Verwendung der Umgangssprache und Bevorzugung von alltäglichen Konflikten prägte das naturalistische Theater. Antinaturalistische Strömungen griffen andere Traditionen auf, u. a. auf Wagners Ideen des Gesamtkunstwerks[1] und eines ungegliederten Zuschauerraums, die von den Theaterreformern um die Jahrhundertwende und zu Beginn des 20. Jh. (Adolphe Appia[2], Edward Gordon Craig[3], Wsewolod E. Meyerhold[4]) aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. Appia schlug bereits in den 90er Jahren vor, den Bühnenboden durch Stufen und Treppen zu terrassieren und das Licht als wichtigstes Gestaltungselement einzusetzen. Seine Ideen wurden in den 20er Jahren v. a. von den Expressionisten aufgegriffen (Jessner-Treppe, Bühnenbildner Emil Pirchan). Eine europaweite Verbreitung dieser Ideen setzte Craig durch. Er was bei seinen Entwürfen von parallelen Linien besessen, die den Eindruck von einem riesigen Raum verstärketen. Craig verkündete 1908 als neues Ideal für den Schauspieler die sog. Über-Marionette. Der Schauspieler sollte nicht länger - wie noch bei Max Reinhardt - als ›Menschendarsteller‹ sich in seine Figuren einfühlen, sondern sich selbst zu einer Kunstfigur umgestalten. Entsprechend wurde der Tanz als Leit- bzw. Vorbildkunst begriffen. Er fordert also eine abkehr von der bloßen Nachahmung der Wirklichkeit, um die Schönheiten einer imaginären Welt zu beschwören. Sie warfen dem naturalistischen Theater vor, eine unzulänglichen Kopie der Wirklichkeit zu sein, statt eine eigenständige Kunst sein zu wollen, und zweitens, das Publikum durch die Rampe zur Passivität zu verdammen, die Kluft zwischen Theater und Leben zu vertiefen. Sie forderten die Abschaffung von Rampe und Guckkastenbühne, die Annullierung des mimetischen Prinzips, eine durchgreifende Entliterarisierung des Theaters und eine Synthese der Künste. 1890 wurde in Paris vom 18-jährigen Paul Fort (1872-1898) Théâtre d´Art gegründet und bis 1892 geleitet, sein Nachfolger Lugné-Poe[5] (1869-1940) hat das Théâtre de l'Oeuvre mit Maurice Maeterlinck's Pelléas et Mélisande im Mai 1892 eröffnet. Die Szene wurde auf den mit grauen Zeichnungen gestalteten Prospekt[6] reduziert, die Bühnenbildner waren Toulouse-Lautrec. Odilon Redon und a. . Die Bühne wurde von oben beleuchtet, man spielte auf einer halbdunklen Szene hinter einem Tüllvorhang, der alles gleichsam in Nebel verhüllte. Außer wenigen Möbelstücken und wenigen Requisiten war die Szene leer. Die Kostüme waren vage mittelalterlich, die Schauspieler sprachen wie Priester und gebrauchten stark stilisierte Bewegungen wie Schalfwandler. Die Handlung ist sehr arm, drame statique: eine junge Frau heiratet einen Prinzen, verliebt sich in seinen Bruder und stirbt vor Gram, wenn er von ihrem Mann getötet wird. Symbole sind der in einen Brunnen gefallener Trauring, eine Taube, die den Turm verläßt, unterirdische Wasser und Höhlen, Schatten und Blutflecke, die man nicht wegwaschen kann. Auch Autoren, die mit ihrem Frühwerk als Leitfiguren des naturalistischen Theaters galten (Ibsen: Gespenster, Gengangere[7] (1881) , Strindberg: Fräulein Julie, Frǿken Julie (1888) ) wandte sich dem antirealistischen Theater zu. Ibsen hat mit den Dramen Die Wildente[8] (Villanden, 1884), Rosmersholm (1886), Bauimeister Solness (Byggmester Solness, 1892) und Wenn wir Toten erwachen, Når vi dǿde våkner, 1899) eine neue Richtung eingeschlagen. Nicht mehr soziale Probleme, sondern Vorwegnahmen der psychoanalytischen Probleme und symbolistische Verfahren sind jetzt ausschlaggebend. In Rosmersholm das Gespensterbild des Schimmels, im letzten Stück die magisch anziehenden Berge. Strindberg (1849 – 1912) stand in den 90er Jahren am Rande des Wahnsinns[9]. Unter dem Einfluss von Maeterlink begann er Traumspiel zu schreiben. Alles kann hier geschehen, alles ist möglich, Zeit und Raum sind aufgehoben, aus Erinnerungen, frei Erfundenem, Sinnlosem entsteht ein Stück, in dem die Figuren verdoppelt werden oder sich ins nichts auflösen können, wie das im Bewußtsein des Träumenden geschieht. 1898 – 1901: Till Damaskus 1902: Ein Traumspiel, Ett drömspell 1904. Der Totentanz, Dödsdansen Mann-Frau-Beziehung als ein unversöhnlicher Kampf, der das Leben zur Hölle macht. Edgar und Alice leben isoliert auf einer Insel, nur mit Telegraf mit der äußeren Welt verbunden. Edgars Herzattacke, von der sich Alice ihre Erlösung erhofft, wird überwunden. Der zweite Teil – die Tochter Judith will ihren Mann selbst wählen, Edgar wird vom Schlag getroffen. Erst nach seinem Tod gesteht Alice ihre Liebe zu ihm. Die Frau, die Gefangene im Ehebund, ist die stärkste. Die Handlung völlig marginalisiert.. Dazu Dürrrenmatt: Play-Strindberg, 1968, die Strindbergs Auffassung des Themas in Frage stellt, er sieht die Beziehung nicht tragisch, sondern grotesk. 1907 für das Intime Theater/ Intima Theatre: Gespenstersonate Spöksonaten, Der Mensch wurde zu einem Menschentier, das nur Verachtung verdient. Statt klare Symbole, wie die Wildente Ibsens, wählt Strindberg in seinem dramatischen Spätwerk groteske und unheilvolle Anspielungen, die Szenen sind nach den Prinzipien der Traumtechnik aufgebaut. Die Zeit des Repräsentationstheaters war vorbei, sein prunkvoller Rahmen überholt, das Schlagwort heißt jetzt Kammerspiele. Max Reinhardt begründet das erste Theater dieser Art 1906 in Berlin[10], 1907 folgt dann das schon erwähnte Intima Theatre in Stokholm (Schauspieler und Produzent August Falck mit Strindberg). Dieses Theater lebt von der Atmosphäre, nicht von Handlung und großen Gesten, der Dialog gewinnt eine andere Funktion, nämlich nicht die Figur allein, sondern die Stimmung darzustellen, die in Seelen aller herrscht. Er wird immer mehr monologisch, wie. z. B. in Hofmannsthals Das kleine Welttheater oder Die Glücklichen (1903, geschr. 1897, eine Aufführung lehnte er ab), in dem sich ein Dichter , ein Gärtner, ein junger Herr, ein Bettler, ein Fremder, Mädchen und Bänkelsänger und der junge Wahnsinnige auf einer Brücke über dem Fluß des Lebens in ihren Auftritten ablösen. (Beschränkung, Auswahl, nicht unmittelbare Auslieferung an das Leben gelten als Weg der Selbstverwirklichung). Samuel Lublinski, »Das Drama ist im Ästhetischen der vollkommenste Ausdruck für die Kraft, den Willen, die Leidenschaft und die Idealität einer Kultur«, verkündeter im Ausgang der Moderne und greift damit den Gattungstopos vom absoluten Vorrang des Dramas auf, der infolge der besonderen sozialen Funktion des Theaters in Deutschland tiefe Wurzeln schlug und spätestens seit Hegel in Ästhetik und Poetik unangefochtene Geltung besaß. Eine konservative Entsprechung dazu ist das Mißtrauen gegenüber dem »formlosen«, klassisch nicht legitimierten Roman. Dramatiker Zu den erfolgreichsten Dramatikern um 1900 zählt sicher Gerhart Hauptmann, der seit 1893 neben seinen naturalistischen Dramen auch symbolistische Stücke schreibt, die allerdings die naturalistischen Effekte nicht völlig abgestreift haben: Gerhart Hauptmann: Hanneles Himmelfahrt, enstanden 1893 ist eine Traumdichtung, die naturalistische Milieuschilderung mit einer Phantasiewelt verbindet. Hannele Mattern wird von ihrem Stiefvater so unmenschlich behandelt und ihre Sehnsucht nach der verstorbenen Mutter ist so groß, dass sie sich ins eisige Wasser des Dorfteiches stürzt. Sie wird von einem Waldarbeiter gerettet und vom Lehrer Gottwald ins Armenhaus gebracht. Der Anfang – die Bewohner des Armenhauses sollen dem Gottwald helfen, die verkühlte Hannele zu retten – sind in der Milieudarstellung, Sprache und dem Thema naturalistisch. Es sind Verelendete, die nur überleben wollen. Angesichts des noch größeren kindlichen Elends regt sich auch in ihnen ein Funke Gutmütigkeit: der Lehrer verlangt für Hannele heißes Wasser mit Schnaps und Zucker, einer Kostbarkeit unter den Ärmsten. Hete ist verstockt und weigert sich etwas herzugeben. Plescke: Hier hab ich noch a klee Brickel[11] … Brickel … a klee Brickel Zuckere hab ich noch .. hier noch ja … gefunden. In Hanneles Fieberträumen taucht das Schreckbild des Stiefvaters auf. Schwester Martha, die das Kind gesund pflegen soll, erklärt es prosaisch: Hier hängt ein Mantel und hier ein Hut. Wir wollen das garstige Zeug mal wegnehmen. Aber als sie das Zimmer verläßt, erscheinen vor Hannele wieder ein versoffenes, wüstes Gesicht, rote struppige Haare Ich wer dich lehren. Ich wer dirsch beweisen, paß mal uff. Was hast du zu a Leuten gesagt? Hab ich dich geschlagen und schlecht behandelt? Hä? .. Du bist ni mein Kind. Mach, dass du uffstehst. Du gehst mich nischt an. Ich kennte dich uf die Gasse schmeißen … Steh uff und mach Feuer! Wird´s bald werden? Aus Gnade und Barmherzigkeit bist du im Hause. Gelt, nu noch faulenzen obendruff. Nu? Wird´s nu werden? Ich schlage dich so lange, biste, biste … Hannele ist mit geschlossenen Augen aufgestanden und bricht vor dem Ofen zusammen. Die Ankunft der Schwester Martha verscheucht die Mattern-Halluzination. Später erscheint die verstorbene Mutter und hinterläßt dem Kinde eine Blume - Himmelschlüssel - als Symbol. Wirklichkeit und Symbol durchdringen sich. Die Sprache der Mutter und der Tochter erinnert an biblische Ausdrucksweise. Wie Schneewittchen, schön geputzt, sieht sich Hannele im Sarge liegen, wie Aschenbrödel ist sie die Braut, der die kleinsten Pantoffel passen, wie das Töchterchen des Jairus im Markus-Evangelium versucht sie den Worten des schwarzen Engels zu folgen: Die Auferweckung der Tochter des Jaïrus und die Heilung der blutflüssigen Frau (Mt 9,18-26; Lk 8,40-56) 5,22 Da kam einer von den Vorstehern der Synagoge, mit Namen Jaïrus. Und als er Jesus sah, fiel er ihm zu Füßen 5,23 und bat ihn sehr und sprach: Meine Tochter liegt in den letzten Zügen; komm doch und lege deine Hände auf sie, damit sie gesund werde und lebe. 5,24 Und er ging hin mit ihm.5,35 Als er noch so redete, kamen einige aus dem Hause des Vorstehers der Synagoge und sprachen: Deine Tochter ist gestorben; was bemühst du weiter den Meister? 5,38 Und sie kamen in das Haus des Vorstehers, und er sah das Getümmel, und wie sehr sie weinten und heulten. 5,39 Und er ging hinein und sprach zu ihnen: Was lärmt und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, sondern es schläft. 5,40 Und sie verlachten ihn. Er aber trieb sie alle hinaus und nahm mit sich den Vater des Kindes und die Mutter und die bei ihm waren, und ging hinein, wo das Kind lag, 5,41 und ergriff das Kind bei der Hand und sprach zu ihm: Talita kum! - das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf! 5,42 Und sogleich stand das Mädchen auf und ging umher; es war aber zwölf Jahre alt. Und sie entsetzten sich sogleich über die Maßen. 5,43 Und er gebot ihnen streng, daß es niemand wissen sollte, und sagte, sie sollten ihr zu essen geben. Der Fremde *am Sarg Das Mägdlein ist nicht gestorben, Es schläft Zu ihr: Johanna Mattern stehe auf!!! Alle Anwesenden packt ein Grauen. Sie fliehen. Der Fremde und Hannele bleiben allein. Der graue Mantel ist von seiner Schulter geglitten, und er steht in einem weißgoldenen Gewande. So nehm ich alle Niedrigkeit von dir. So beschenke ich deine Augen mit ewigem Licht. Sie kann sich nicht mehr aufrichten und verbirgt ihren Kopf an seiner Brust. Durch die Engel läßt er sie ins himmlische Reich tragen, das er in hochstilisierten Versen schildert: Die Seligkeit ist eine wunderschöne Stadt, wo Friede und Freude kein Ende mehr hat. Ihre Häuser sind Marmel[12], ihre Dächer sind Gold. roter Wein in den silbernen Brünnlein rollt; … Maigrün sind die Zinnen, vom Frühlicht beglänzt, von Faltern umtaumelt, mit Rosen bekränzt. (aus:Hoffmann von Fallerslebens Sammlung Schlesische Volkslieder) Äußerlich führt das Drama in die Alltagswelt zurück: der Arzt stellt den Tod fest. Die versunkene Glocke Viktor Žmegač leitet mit folgender Notiz seine Kapitel über Gegennaturalistische Bestrebungen im Dram: Das heute so gut wie vergessene Werk war Hauptmanns größter Erfolg: nach den »Zumutungen« der naturalistischen Stücke atmete das Publikum sichtlich auf und gab zu erkennen, daß ihm hochsymbolisches Geraune im Theater immer noch lieber sei als das, was man naturalistische Elendsmalerei nannte. Über die Ingredienzien des Erfolgs erfährt man Bezeichnendes bei einem Zeitgenossen Hauptmanns, dem Literarhistoriker Adalbert von Hanstein (Das jüngste Deutschland, 1900): »Was aber in diesem erfolgreichsten aller Schauspiele der letzten Jahre ganz vortrefflich gelungen, und was auch für das großstädtische Publikum ein wahres Labsal bildet, das ist die Märchenstimmung des rauschenden Bergwaldes, das ist die warme und reiche Belebung der Natur. Die Bühne, die so lange, besonders auch durch Hauptmanns Anregung, zu einer Marterkammer geworden war, atmet hier den satten würzigen Waldduft, und eigenartig reizvoll sind die Gestalten, die sich hier tummeln. Daher war der Erfolg des Stückes auch ein so ungeheurer. Außer den unzähligen Aufführungen in aller Welt erlebte allein die Buchausgabe in drei Jahren über vierzig Auflagen.« Das Stück wurde 1896 geschrieben und 1897 uraufgeführt: Es spielt in einer unnahbaren wilden Landschaft, wo gefürchtete Hexen, verführerische elbische Wesen und heimtückische Elementargeister ihr Unwesen treiben, und in einem kleinen idyllischen Dorf. Die Bewohner jenes Dorfes meiden bewusst jeden unnötigen Kontakt mit den fremdartigen Wesen im Gebirge, da sie um deren Bösartigkeit bestens Bescheid wissen. Einer der Dorfbewohner ist ein frommer Glockengießer, er heißt Heinrich. Er ist davon überzeugt, dass er sein schöpferisches Können, Kirchenglocken zu schmieden, von Gott empfangen habe, und fühlt sich in seinem Tun bestätigt. Doch dann wendet sich das Blatt. Denn als Heinrich eines Tages gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern eine soeben fertiggestellte, prachtvolle Kirchenglocke zu einem kleinen Kirchlein hoch oben in den Bergen schaffen will, spielt ihm ein faunischer Waldgeist namens Waldschrat einen folgeschweren Streich. Er läßt den Transportkarren der Glocke in einen Abgrund abstürzen und in einem See versinken. Verzweifelt glaubt Heinrich, darin Gottes Fingerzeig zu sehen, und verliert mit dem Glauben an seine schöpferische Berufung die Kraft zu leben. Bei seinem hoffnungslosen Versuch, den Absturz der Glocke zu verhindern, wird er verletzt und irrt im Gebirge umher. Da entdeckt ein liebliches Elfchen namens Rautendelein den Schwerstverletzten. Gleich darauf jedoch treffen der schusselige Pfarrer, der entschlossene Schulmeister und der ängstliche Barbier ein, die eifrig auf der Suche nach Heinrich sind. Sogleich spricht Rautendelein einen Zauberspruch und legt einen schützenden, magischen Schild um Heinrich. Doch als die Suchenden von Rautendeleins Großmutter, der Wittichen, einer listigen Hexe mit schlesischem Akzent, ihren Meister zurückverlangen, gibt ihn diese zur Missgunst ihrer Enkelin sogleich heraus, da sie sich unter Menschen nicht besonders wohlfühlt. ,,Ich sterbe, das ist gut... Ja. mein Werk war schlecht: die Glocke, Magda, die hinunterfiel, sie war nicht für die Höheren, nicht gemacht, den Widerschall der Gipfel aufzuwecken. Doch dann tritt in der Verkleidung einer einfachen Magd Rautendelein in Erscheinung und erhält die Anweisung, sich um das Wohl des Sterbenden zu kümmern. Sie hat Gefallen an dem ,,Menschen" Heinrich gefunden, sie ist nun mit Neugierde erfüllt. Als Heinrich aus seinem Koma erwacht, erkennt er sogleich dies liebliche Elfchen wieder, welches ihm hoch oben in den Bergen begegnet ist. Durch Rautendeleins mächtige Zauberkraft verspürt er, wie sein Lebenswille wieder die Oberhand gewinnt, er fühlt seine schöpferische Kraft in ihn zurückkehren. Verrückt vor Liebe und Begeisterung zugleich, nimmt er das Angebot von Rautendelein freudig an, mit ihr in die Berge zu ziehen, um dort ein neues Werk zu schmieden: ,,... noch einmal will ich wünschen, streben, hoffen, wagen - und schaffen, schaffen." Die Waldgeister Waldschrat und Nickelmann wollen Heinrich in ,,ihrer" Welt nicht dulden und machen sich lustig über ihn: ,,... er ist doch bloß ein Zwitterding, halb Tier, halb Gott, der Erde Ruhm, des Himmels Spott... ." Gerade als sich Heinrich an sein neues Dasein als halb Gott - halb Mensch gewöhnt hat, taucht der Pfarrer auf, der ihn auf den richtigen, christlichen Weg zurückführen will. Doch nach einem mühevollen Gespräch muss sich der Geistliche geschlagen geben und anerkennen, dass er es nicht vermag, Heinrich aus seinem dionysischen Schlaf zu erwecken. Der Pfarrer verurteilt vor allem seinen heidnischen Gedanken, eine Glocke für einen Tempel gießen zu wollen, der nicht um des christlichen Glaubens willen errichtet werden soll. Heinrich, ganz auf sich allein gestellt, muss sich gegen die fanatischen Dorfbewohnern wehren. Als Halbgott und mit der kraftvollen Unterstützung mächtiger Zaubertränke ist Heinrich ihnen überlegen und kann sie in die Flucht schlagen: ,,Wie Hunde griffen sie mich an, gleich Hunden hab′ ich mit Feuerbränden sie gescheucht! Granitne Blöcke ließ ich niederstolpern: wer nicht erlag, entfloh." Seine Frau wurde im selben See, wo auch die Glocke begraben liegt, jämmerlich ertränkt. Die Dorfbewohner hatten sie seinetwillen, als die Frau eines schändlichen Heiden, hingerichtet. Erfüllt mit Zorn und Verzweiflung zugleich macht er Rautendelein für den Tod seiner Frau verantwortlich, beschimpft und verlässt sie: ,,Ich hasse dich! ich spei′ dich an! Zurück! Ich schlage dich, elbische Vettel! Fort, verfluchter Geist! Fluch über dich und mich, mein Werk und alles!...^9" Allein und verletzt sich fühlend weiß Rautendelein nun keinen Ausweg mehr, außer den Heiratsantrag Nickelmanns anzunehmen und mit ihm in die Wasserwelt einzutauchen. Als Heinrich nun doch zu der Überzeugung kommt, dass Magdas Tod nicht die Schuld von Rautendelein, sondern jene der Dorfbewohner ist und Rautendelein um Verzeihung bitten will, trifft er bloß ihre Großmutter, die Wittichen an. Er hat nur einen einzigen Wunsch, nämlich zu sterben. Ein letztes Mal mixt ihm die Hexe einen Zaubertrank, der ihm zwar noch einmal die alte Kraft zurückgibt, doch gleichzeitig auch den Tod bringt. Er trinkt dankbar den todbringenden Zaubertrank, der ihn aus dem Leben erlöst: ,,Die Sonne... Sonne kommt! - Die Nacht ist lang!^10" 1906: Und Pippa tanzt ein dramatisiertes Glashüttenmärchen Der Glashüttendirektor hat eine Glashütte im Rotwassergrund stillgelegt, weil sie nicht mehr rentabel war. Einst florierende Schenke wird zum Schmuggelnest.Die Hauptgestalten des Stückes sind der alte Huhn – ein riesenhafter, stumpfer Glasbläser, der italienische Glasbläser Tagliazoni, der Vater von Pippa – ein zartes, knabenhaftes Mädchen, und der wandernde Glasmacher Michael Hellriegel. Während des Tanzes wird Tagliazoni als Falschspieler entlarvt und draußen im Schnee erstochen. Der alte Huhn entführt Pippa, die in Hellriegel verliebt ist. Das Liebespaar findet Zuflucht in der Hütte des weisen, durchgesitigten, über geheimnisvolle Kräfte verfügenden Wann. Er ist auch Huhn überlegen, wenn er in seine Hütte eindringen will. Hellriegel erblindet und Pippa bricht tot zusammen, als Huhn ein kostbares Glas zerdrückt. Seine Blindheit läßt ihm aber wenigstens den Traum von der Vereinigung mit dem zart geheimnisvollen italienischen Mädchen wie nach dem südlichen Land erleben. Wedekind, Frank * 24. 7. 1864 Hannover, † 9. 3. 1918 München Seit 1872 wuchs Wedekind auf dem von seinem Vater, einem Arzt, erworbenen Schloß Lenzburg in der Schweiz auf. Der Vater war 1848 Abgeordneter im Frankfurter Parlament, wanderte 1849 für 15 Jahre nach Amerika aus, war dort als praktischer Arzt tätig und agierte nach seiner Rückkehr gegen Bismarcks Politik. In der Schweiz besuchte der jungen Wedekind die Bezirksschule und anschließend das kantonale Gymnasium in Aarau. Er schrieb epigonale Gedichte in Anlehnung an Goethe und Heine und in die Kindertragödie Frühlings Erwachen (Zürich1891) sind viele Reminiszenzen an seine Schulzeit eingearbeitet. Wedekind mußte nach einem Bruch mit seinem Vater sein Studium in München aufgeben, konnte sich aber eine berufliche Stellung als Vorsteher des Reklamebüros bei Maggi in Kempttal bei Zürich verschaffen (1886/87). Alles Wohl beruht auf Paarung; Wie dem Leben Poesie Fehle Maggi´s Suppennahrung Maggi´s Speisewürze nie! Der Vater starb und Wedekind entschied sich, abgesichert durch seinen Anteil am väterlichen Erbe, für eine Existenz als freier Schriftsteller. Über Kontakte zu Gerhart Hauptmann in Erkner hoffte er, Anschluß an die Berliner Literaturszene zu gewinnen. Nach einem an seiner amerikanischen Staatsangehörigkeit scheiternden Versuch, sich 1889 auf Dauer in Berlin niederzulassen, wandte er sich wieder nach München, um schließlich Ende 1891 nach Paris aufzubrechen. Seine Anfänge als Dramatiker waren von den Kontakten zu Bierbaum und Panizza in München und zu den Brüdern Hauptmann geprägt. Der wiederentdeckte Büchner spielte für das literarische Interesse seines Zürcher Kreises Das junge Deutschland, in dem neben den Hauptmanns auch Henckell und Mackay zu Gast waren, eine wichtige Rolle. Debattiert wurde über die jüngsten psychopathologischen Studien Jean-Martin Charcots und Krafft-Ebings[13]. In diese Epoche fiel auch Wedekinds intensive Beschäftigung mit der Philosophie Nietzsches. Zuvor war er durch die mit der Familie bekannte philosophische Schriftstellerin Olga Plümacher[14] in das Werk Schopenhauers eingeführt worden. Franz Blei hat ihn später in seinem Bestiarium als eine Sphinx porträtiert, deren Kopf unten versteckt und auf die Menschen um sie den Hintern ausstreckt.[15] In Paris schrieb er (1892/1894) seine »Monstretragödie« Die Büchse der Pandora (historisch-kritische Ausg. der Urfassung Darmst. 1990). Seine Schauertragödie mußte er, genötigt durch seinen neuen Verleger Albert Langen, mit Rücksicht auf die Zensur in Teilen zu Der Erdgeist (Bln. 1895) ändern. 1898 wurde dieses Drama als erstes seiner Werke - wenig erfolgreich - uraufgeführt. Zwischen 1895 und 1905, der unruhigsten Zeit seines Lebens, wurden veröffentlicht: der Sammelband Die Fürstin Russalka (Mchn. 1897), der u. a. vier Erzählungen enthält. Wedekind lebte seit 1895 abwechselnd in Berlin, München, Zürich, Dresden und Leipzig, wurde Mitautor des »Simplicissimus«, arbeitete als Dramaturg und Schauspieler, floh 1898, wegen Majestätsbeleidigung in einem Simpl-Gedicht gesucht, ins Ausland, stellte sich jedoch 1899 den deutschen Polizeibehörden, wurde zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Das Gedicht Im Heiligen Landi über die Orientreise Kaiser Wilhelms II. Er war literarischer Mitarbeiter der Zeitschrift »Die Insel« und schloß sich 1901 dem neugegründeten Münchener Kabarett »Die Elf Scharfrichter« an, auf dessen Bühne er viele seiner Gedichte (Brigitte B., Der Tantenmörder, Das Lied vom armen Kind) nach eigener Komposition zur Gitarre vortrug. Ich hab’ meine Tante geschlachtet, Meine Tante war alt und schwach; Ich hatte bei ihr übernachtet Und grub in den Kisten-Kasten nach. Da fand ich goldene Haufen, Fand auch an Papieren gar viel Und hörte die alte Tante schnaufen[16] Ohn’ Mitleid und Zartgefühl. Was nutzt es, daß sie sich noch härme – Nacht war es rings um mich her – Ich stieß ihr den Dolch in die Därme, Die Tante schnaufte nicht mehr. Er lernte Maximilian Harden kennen, fand in Walther Rathenau einen wichtigen Gesprächspartner und literarischen Berater, knüpfte Kontakte zu Werner Sombart, fand in Alfred Kerr einen verständnisvollen Kritiker seiner dramatischer Werke und stand in enger literarischen Verbindung mit Karl Kraus, in dessen »Fackel« Wedekinds erstmals 1895 in der »Neuen Zürcher Zeitung« publizierter literarischer Essay über Schriftsteller Ibsen (›Baumeister Solneß‹), Wedekinds Gedichte und der Einakter Totentanz (Tod und Teufel) erschienen. Kraus war es auch, der sich in Wien für eine Erstaufführung der Büchse der Pandora, als geschlossene Veranstaltung genehmigt, einsetzte. Lulu wurde von Tilly Newes gespielt, die Wedekind 1906 heiratete. Die Verbreitung der Erstfassung der Büchse der Pandora wurde durch gerichtlichen Beschluß 1906 verboten und die Restauflage eingestampft. Als Theaterautor war Wedekind zwar durch die gelungene Uraufführung des Kammersängers (Bln. 1899) bekannt geworden, die Uraufführung des Marquis Keith (ebd. 1901) wurde jedoch zu einem Fiasko; erfolgreicher war die Berliner Inszenierung des Erdgeists 1902 mit Gertrud Eysoldt in der Hauptrolle. Erst die Uraufführung von Frühlings Erwachen in der Inszenierung von Max Reinhardt (1906) verschaffte W. den Durchbruch zu einem der meistgespielten Dramatiker der Vorkriegszeit. Warum war Wedekinds Dramaturgie so umstritten und erfogreich zugleich? Nicht nur wegen der Tabu brechenden Themen. Die dramatische Form der Stücke Wedekinds verbindet eine Vielzahl bewußt disparat montierter Formelemente. Mit der Technik der Montage und Collage wird die Architektonik des geschlossenen Dramas und die Realitätsgewißheit eines auf Empirie eingeschworenen Positivismus aufgebrochen. Zu den wichtigsten Formen des dramatischen Spiels zählen für Wedekind: der Prolog, die situative Dramatik, der Tanz, die Nummer, das Tableau, die musikalische Einlage. Daneben werden traditionelle Techniken der Charakter- und Situationskomödie, der klassischen Tragödie und des naturalistischen Dramas ebenso wie Versatzstücke und Figuren aus der Welt des Zirkus und des Varietés übernommen. Von vielen Schriftstellern seiner Epoche hochgeschätzt - allen voran Bert Brecht, Heinrich Mann, Erich Mühsam, Georg Kaiser, Carl Sternheim -, erlebte Wedekinds Werk in den frühen 20er Jahren eine zweite Renaissance. Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie. Am 21. 11. 2009 findet in Brno die Erstaufführung eines amerikanischen Musikals über die sexuellen Probleme der pubertären Jugend und deren ignoranten Eltern – Spring Awakening von dem Librettisten Steven Sater und dem Komponisten Duncan Sheik (Off-Broadway-Premiere 2006 ). Das Stück ist 1891 in Zürich erschienen. Es galt als unspielbar, weil es „reine Pornographie“ sei. Noch 1906 wurden zahlreiche Streichungen vorgenommen, um es in den Berliner Kammerspielen aufführen zu können. Angeklagt wird das Erziehungssystem. Die Hauptfiguren sind Wendla Bergmann, Melchior Gabor und Moritz Stiefel. Wendla, deren ältere Schwester eben das dritte Kind bekommen hat, verlangt von ihrer Mutter eine Aufklärung über die Zeugung. WENDLA. Um meinen Verstand ist es ein traurig Ding. – Hab ich nun eine Schwester, die ist seit zwei und einem halben Jahre verheiratet, und ich selber bin zum dritten Male Tante geworden und habe gar keinen Begriff, wie das alles zugeht... Nicht böse werden, Mütterchen; nicht böse werden! Wen in der Welt soll ich denn fragen als dich! Bitte, liebe Mutter, sag es mir! Sag's mir, geliebtes Mütterchen! Ich schäme mich vor mir selber. Ich bitte dich, Mutter, sprich! Schilt mich nicht, daß ich so etwas frage. Gib mir Antort - wie geht es zu? - wie kommt das alles? - Du kannst doch im Ernst nicht verlangen, daß ich bei meinen vierzehn Jahren noch an den Storch glaube. FRAU BERGMANN. Aber du großer Gott, Kind, wie bist du sonderbar! - Was du für Einfälle hast! - Das kann ich ja doch wahrhaftig nicht! WENDLA. Warum denn nicht, Mutter! - Warum denn nicht! - Es kann ja doch nichts Häßliches sein, wenn sich alles darüber freut! FRAU BERGMANN. O - o Gott behüte mich! - Ich verdiente ja... Geh, zieh dich an, Mädchen; zieh dich an! WENDLA. Ich gehe... Und wenn dein Kind nun hin geht und fragt den Schornsteinfeger? FRAU BERGMANN. Aber das ist ja zum Närrischwerden! - Komm Kind, komm her, ich sag es dir! Ich sage dir alles... O du grundgütige Allmacht! - nur heute nicht, Wendla! - Morgen, übermorgen, kommende Woche... wann du nur immer willst, liebes Herz... WENDLA. Sag es mir heute, Mutter; sag es mir jetzt! Jetzt gleich! - Nun ich dich so entsetzt gesehen, kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig werden. FRAU BERGMANN. - Ich kann nicht, Wendla. WENDLA. Oh, warum kannst du nicht, Mütterhen! - Hier knie ich zu deinen Füßen und lege dir meinen Kopf in den Schoß. Du deckst mir deine Schürze über den Kopf und erzählst und erzählst, als wärst du mutterseelenallein im Zimmer. Ich will nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will geduldig ausharren, was immer kommen mag. FRAU BERGMANN. - Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht die Schuld trage! Der Himmel kennt mich! - Komm in Gottes Namen! - Ich will dir erzählen, Mädchen, wie du in diese Welt hineingekommen. - So hör mich an, Wendla........ WENDLA (unter ihrer Schürze). Ich höre. FRAU BERGMANN (ekstatisch). - Aber es geht ja nicht, Kind! - Ich kann es ja nicht verantworten. - Ich verdiene ja, daß man mich ins Gefängnis setzt - daß man dich von mir nimmt... WENDLA (unter ihrer Schürze). Faß dir ein Herz, Mutter! FRAU BERGMANN. So höre denn...! WENDLA (unter ihrer Schürze, zitternd). O Gott, o Gott! FRAU BERGMANN. Um ein Kind zu bekommen - du verstehst mich, Wendla? WENDLA. Rasch, Mutter - ich halt's nicht mehr aus. FRAU BERGMANN. - Um ein Kind zu bekommen - muß man den Mann - mit dem man verheiratetist... lieben - lieben sag ich dir - wie man nur einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr von ganzem Herzen lieben, wie - wie sich's nicht sagen läßt! Man muß ihn lieben, Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst... Jetzt weißt du's. WENDLA (sich erhebend). Großer - Gott - im Himmel! FRAU BERGMANN. Jetzt weißt du, welche Prüfungen dir bevorstehen! WENDLA. - Und das ist alles? FRAU BERGMANN. So wahr mir Gott helfe! -- Sie kann ihre Prüderie nicht überwinden. Damit wird sie schuld am Tod ihrer Tochter, die auf einem Heuboden von Melchior Gabor geschwängert wird und an dem Abtreibungsversuch stirbt, den Frau Bergmann durch eine Kurpfuscherin an ihr vornehmen läßt. Melchior wird von der Schule verwiesen, noch bevor beaknnt wird, er habe Wendla geschwängert. Der Grund ist, er hat zur Aufklärung seines Freundes Moritz eine Abhandlung geschrieben, die er sachlich Der Beischlaf nannte. Damit hat er sich nach Meinung der Lehrer gegen die Diskretion der Verschämtheit[17] einer sittlichen Weltordnung vergangen. Sein Vater schickt ihn deshalb in eine Korrektionsanstalt. Seine Mutter gibt sofort nach, als sie erfährt, Melchior habe Wendla geschwängert.[18] Dass sadistische Verhaltensweisen, knabenhafte Homoerotik, Masturbation in der Erziehungsanstalt als bloße Reaktionen auf den geforderten Triebverzicht dargestellt und nicht als lasterhaft verurteilt werden, erschien der Kritik bedenklich. Moritz Stiefel erliegt den Leistungszwängen, wandert nicht nach Amerika aus, wie er plante, sondern erschießt sich, als sein Schulversagen klar wird. MELCHIOR. Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind! MORITZ. Lieber wollt ich ein Droschkengaul sein um der Schule willen! - Wozu gehen wir in die Schule? - Wir gehen in die Schule, damit man uns examinieren kann! - Und wozu examiniert man uns? - Damit wir durchfallen. - Sieben müssen ja durchfallen, schon weil das Klassenzimmer oben nur sechzig faßt. - Mir ist so eigentümlich seit Weihnachten... hol mich der Teufel, wäre Papa nicht, heut noch schnürt ich mein Bündel und ginge nach Altona Der Schluss mit einer allegorischen Figur (ein vemummter Herr), das Auftreten eines Wiedergängers (Moritz mit seinem Kopf unter dem Arm) und eine stilisierte Sprache nehmen schon Züge der expresionistischen Dramatik vorweg. Melchior ist aus der Anstalt ausgebrochen, sucht Wendlas Grab und verfällt in verzweifelte Selbstanklagen. Moritz schildert seine Existenz im Jenseits verführerisch: MELCHIOR. Schläfst du denn nicht? MORITZ. Nicht was ihr Schlafen nennt. - Wir sitzen auf Kirchtürmen, auf hohen Dachgiebeln - wo immer wir wollen... MELCHIOR. Ruhelos? MORITZ. Vergnügungshalber. - Wir streifen um Maibäume, um einsame Waldkapellen. Über Volksversammlungen schweben wir hin, über Unglücksstätten, Gärten, Festplätze. - In den Wohnhäusern kauern wir im Kamin und hinter den Bettvorhänen. - Gib mir die Hand. - Wir verkehren nicht untereinander, aber wir sehen und hören alles, was in der Welt vor sich geht. Wir wissen, daß alles Dummheit ist, was die Menschen tun und erstreben, und lachen darüber. MELCHIOR. Was hilft das? MORITZ. Was braucht es zu helfen? - Wir sind für nichts mehr erreichbar, nicht für Gutes noch Schlechtes. Wir stehen hoch, hoch über dem Irdischen - jeder für sich allein. Wir verkehren nicht miteinander, weil uns das zu langweilig ist. Keiner von uns hegt noch etwas, das ihm abhanden kommen könnte. Über Jammer oder Jubel sind wir gleich unermeßlich erhaben. Wir sind mit uns zufrieden und das ist alles! - Die Lebenden verachten wir unsagbar, kaum daß wir sie bemitleiden. Sie erheitern uns mit ihrem Getue, weil sie als Lebende tatsächlich nicht zu bemitleiden sind. Wir lächeln bei ihren Tragödien - jeder für sich - und stellen unsere Betrachtungen an. - Gib mir die Hand! Wenn du mir die Hand gibst, fällst du um vor Lachen über dem Empfinden, mit dem du mir die Hand gibst... MELCHIOR. Ekelt dich das nicht an? MORITZ. Dazu stehen wir zu hoch. Wir lächeln! - An meinem Begräbnis war ich unter den Leidtragenden. Ich habe mich recht gut unterhalten. Das ist Erhabenheit, Melchior! Ich habe geheult wie keiner, und schlich zur Mauer, um mir vor Lachen den Bauch zu halten. Unsere unnahbare Erhabenheit ist tatsächlich der einzige Gesichtspunkt, unter dem der Quark sich verdauen läßt... Auch über mich will man gelacht haben, eh ich mich aufschwang! MELCHIOR. - Mich lüstet's nicht, über mich zu lachen. MORITZ.... Die Lebenden sind als solche wahrhaftig nicht zu bemitleiden! - Ich gestehe, ich hätte es auch nie gedacht. Und jetzt ist es mir unfaßbar, wie man so naiv sein kann. Jetzt durchschaue ich den Trug so klar, daß auch nicht ein Wölkchen bleibt. - Wie magst du nur zaudern, Melchior! Gib mir die Hand! Im Halsumdrehen stehst du himmelhoch über dir. - Dein Leben ist Unterlassungssünde.... Der vermummte Herr hindert Melchior daran, Moritz zu folgen. Diese Allegoriefigur des Lebens wird als ein elegant gekleideter Herr mit Gehrock[19] beschrieben, dessen Gesicht durch eine schwarze Maske verdeckt ist. Er entlarvt Moritz´ Großsprecherei als Lüge: Nach der Identität gefragt, bestreitet der vemummte Herr Melchiors Vater zu sein: DER VERMUMMTE HERR. Warum prahlen Sie denn dann mit Erhabenheit?! - Sie wissen doch, daß das Humbug ist - saure Trauben! Warum lügen Sie geflissentlich, Sie - Hirngespinst! -- Wenn Ihnen eine so schätzenswerte Wohltat damit geschieht, so bleiben Sie meinetwegen. Aber hüten Sie sich vor Windbeutelein, lieber Freund - und lassen Sie mir bitte Ihre Leichenhand aus dem Spiel! MELCHIOR. Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind, oder nicht?! DER VERMUMMTE HERR. Nein. - Ich mache dir den Vorschlag, dich mir anzuvertrauen. Ich würde fürs erste für dein Fortkommen sorgen. MELCHIOR. Sie sind - mein Vater?! DER VERMUMMTE HERR. Würdest du deinen Herrn Vater nicht an der Stimme erkennen? MELCHIOR. Nein. DER VERMUMMTE HERR. - Dein Herr Vater sucht Trost zur Stunde in den kräftigen Armen deiner Mutter. - Ich erschließe dir die Welt. Deine momentane Fassungslosigkeit entspringt deiner miserablen Lage. Mit einem warmen Abendessen im Leib spottest du ihrer. … Ich führe dich unter Menschen. Ich gebe dir Gelegenheit, deinen Horizont in der fabelhaftesten Weise zu erweitern. Ich mache dich ausnahmslos mit allem bekannt, was die Welt Interessantes bietet. .. MELCHIOR. Wer sind Sie? Wer sind Sie? - Ich kann mich einem Menschen nicht anvertrauen, den ich nicht kenne. DER VERMUMMTE HERR. Du lernst mich nicht kennen, ohne dich mir anzuvertrauen. MELCHIOR. Glauben Sie? DER VERMUMMTE HERR. Tatsache! - Übrigens bleibt dir ja keine Wahl. Die Stelle enthält Anklänge an die Paktszene im Faust. Seine Auffassung der Moral ist, das es ein reelles Produkt zweier imaginärer Größen ist. Man soll sie anerkennen, aber um ihre Fragwürdigkeit wissen. In der Mathematik ergibt das Produkt von zwei imaginären Größen eine negative Größe. ________________________________ [1] Er entwarf in der Schrift »Das Kunstwerk der Zukunft« ein Zusammenspiel der Künste als Gesamtkunstwerk: »Das große Gesamtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesamtzwecks aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur – dieses große Gesamtkunstwerk erkennt er [d.h. unser Geist] nicht als die willkürliche mögliche That des Einzelnen, sondern als das nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft.« [2] 1862 – 1928, aus der Schweiz, La Mise en scène du drama Wagnérien, 1895; Die Musik und die Inszenierung, 1899. [3] 1872-1966, The Art of Theatre. 1904 entwarf er ein Bühnenbild für Otto Brahm in Berlin. The Theatre Advancing, Divadlo v pohybu, 1919. [4] antirealistiches Regieverfahren in der UdSSR Anfang der 20er Jahre, es knüpfte an die Tradition der commedia dell'arte und kabuki sowie an die Schriften von Edward Gordon Craig. Er versuchte das Persönliche im Schauspielerausdruck zu unterdrücken und ihn zum vollendeten Instrument der künstlerischen Vorstellungen des Regisseurs zu machen. Er bevorzugte gymnastische, akrobatische und pantomimische Auftritte, betonte nicht die verbale Kommunikation. [5] Aurélien-François-Marie (1892-1929), Henrik Ibsen, August Strindberg und Gerhart Hauptmann, er führte Oscar Wildes Salomé und 1912 Claudels L'Annonce faite à Marie. Zvěstování, Verkündigung. [6] der, perspektivisch gemalter Hintergrund einer Bühne [7] Frau Alving [8] Hjalmar Ekdal und seine kleine Familie leben in ihrer etwas schäbigen Welt relativ glücklich.. Zerstört wird diese vermeintiche Idylle durch den Sohn des Großhändlers und Fabrikanten Gregers Werle. Er besteht darauf, dass Hedowig erfährt, dass ihre natürlicher Vater der Fabrikant ist, bei dem einst Gina, Hjalmar ekdals Frau als Haushälteri arbeiteitete. Eine symbolische Ebene stellt die die Wildente dar, die einst angeschossen wurde und jetzt auf dem Dachboden lebt. Gregers´Forderung, dass Hedwig auf die Wildente verzichten soll, und die Tatsache, dass Hjalmar die Familie verlässt, treibt das Mädchen in den Tod. Dann erschießt sich auch Gregers. [9] A period of literary sterility, emotional and physical stress, and considerable mental instability culminated in a kind of religious conversion, the crisis that he described in Inferno. During these years Strindberg devoted considerable time to experiments in alchemy and to the study of theosophy. [10] Neben dem Deutschen Theater, das Reinhardt 1905 umbauen ließ, wurde auch das benachbarte ebenfalls von Titz eingerichtete Casino in der Schumannstraße 13 A einbezogen und zu den Kammerspielen, einem intimen Theater mit 300 Plätzen, umgestaltet. [11] Würfel [12] (veraltet): Marmor. [13] Krafft-Ebing ist bekannt durch sein Werke Psychopathia Sexualis (1886), ein Werk, welches durch zahlreiche Neuauflagen zum Standardlehrbuch der Sexualpathologiedes 19. Jahrhunderts wurde. Während in Preußen die Homosexualität strafbar war, war sie seit der Einführung des Code Civil durch Napoleon in den Königreichen Hannover und Bayern und anderen deutschen Ländern straffrei. Krafft-Ebing gelang es Homosexuelle als erblich belastete Perverse darzustellen, die für ihre angeborene Inversion des Sexualtriebes nicht verantwortlich seien, also auch nicht in die Hände des Strafrichters, dafür aber in die der Nervenärzte gehörten. Obwohl Krafft-Ebing zu seiner Zeit als maßgebliche Instanz auf dem Gebiet der Gerichtsmedizin galt, blieb diese Theorie für die Straflosigkeit folgenlos, da vor allem kirchlich-konservative Kreise auf die moralische Ächtung der Homosexuellen nicht verzichten wollten. [14] eine Schulfreundin der Mutter, die mit dem 17-jährigen Wedekind diskutiert. Sie als Autorin von "Zwei Individualisten der Schopenhauerschen Schule." (1881) und von "Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart"(1884) war sicher nicht damit einverstanden, dass Wedekind im Egoismus das zentrale Motiv des menschlichen Handelns sieht. Olga Plümacher ist in die Berge von Tennessee ausgewandert, wo die Schülerin Schopenhauers und Eduard von Hartmanns als Farmersfrau das Land bestellte. [15] „Wedekinda. Tak se jmenovala jedna sfinga, napůl pohlaví, napůl hlava, obojí k sobě v obráceném pořadí připojeno tak, aby pohlaví tvořilo horní část těla a hlava spodní. Ta odpočívala a nastavovala každému, kdo si ji prohlížel, nikoliv z neúcty, nýbrž protože jí to tak bylo od přírody dáno, zadek a co ještě v této oblasti leží. Sfinga Wedekinda kladla hádanky sama sobě. Ty se jako hlavní věcí natolik obíraly její převrácenou povahou, že se o tuto hru žádná lidská bytost nezajímala. Nad tím se Wedekinda pohoršovala. Poznala, že je zneuznaná. Ptala se: Proč nechtějí lidé vidět v pohlavním aktu svou jedinou důstojnou činnost? Proč nejsou děvky královny světa a vzor žen? Proč nepožívá falus božských poct? Proč není nepřetržitě den a noc? [...] Když se tak dlouho ptala a také si odpovídala, neboť nikdo, kdo by hádanky té sfingy luštil, nepřicházel, vrhla se nakonec sama do propasti své hlubokomyslnosti a třikrát zalkala nad světem, že v ní nerozpoznal svého proroka.“ [16] geräuschvoll atmen [17] ver|schämt [mhd. verschamt, -schemt]: etwas Scham empfindend und ein wenig verlegen; schüchtern und zaghaft: ein -es Lächeln; sie sah ihn v. an; [18] Die Entjungferung wird als ein ziemlich desillusionierendes Erlebnis beschrieben: Melchior: O glaub mir, es gibt keine Liebe! Alles Eigennutz, alles Egoismus! - Ich liebe dich so wenig, wie du mich liebst. Wendla - Nicht! - - - Nicht, Melchior! - - Melchior - - - Wendla! Wendla O Melchior! - - - - - - - - - nicht - - nicht - - [19] meist zweireihig geknöpfte Herrenjacke mit knielangen, vorn übereinander greifenden Schößen.