10 Vorwort Bayer, Gerhard Binder, Gerlindc Bretzigheimer, Francis Cairns, Sergio Ca-sah, Alberto Cavarzere, Joseph Farrell, Denis Feeney, Karl Galinsky, Reinhold Glei, Philip Hardic, Stephen Harrison, Daniel Holzberg, Nicolas Horsfall, Wolfgang Kofier, Werner von Koppenfels, Martin Korenjak, Evelinc Krummen, Stratis Kyriakidis, Andrew Laird, Marko Marincic, Dieter Merzbacher, Christopher Nappa, Damien Nelis, Michael Paschalis, Michael Putnam, Werner Suerbaum und Katharina Volk. Speziellen Dank schulde ich zwei Helfern bei der Korrektur des Manuskripts. Meine Frau Christine Jackson-Holzberg sah es als „educatcd lay(wo)man" mit britischer Unerbittlichkeit in der Sache mehrfach durch und gab mir sehr viele wertvolle Anregungen; es verdient Hervorhebung, daß sie sich die Zeit dafür mitten in ihrer aufwendigen Arbeit an der Edition der Werke des Philosophen Shaftesbury nahm. Aus der Sicht des Lati-nisten setzte sich Markus Janka, der Freund und Kollege, gründlich mit der ersten Fassung auseinander. Er repräsentiert für mich mit seiner universalen Gelehrsamkeit, seiner Offenheit für neue Interpretationsansätze und seinem erfrischenden Humor den Idealtyp des klassischen Philologen. Beiden Beratern sei dieses Buch gewidmet. München, im Sommer 2005 Niklas Holzberg Rollen und Stimmen des Dichters Vom Weltweisen zum Vater des Abendlandes Vergil liebte einmal - so wurde vom späten Mittelalter bis in die frühe Neuzeit immer wieder berichtet - eine schöne Römerin. Lange Zeit erhörte sie ihn nicht, gab dann nur zum Schein nach und schickte aus ihrem Fenster einen Korb an einem Seil herab, um ihren Verehrer heraufzuziehen. Doch auf halber Höhe ließ sie ihn hängen, was ihn dem Spott der am nächsten Morgen vorbeigehenden Leute aussetzte. Aus Zorn darüber bewirkte Vergil, der zaubern konnte, das Verlöschen sämtlicher Feuer in Rom. Als die Bürger ihn nun baten, sie aus ihrer Notlage zu befreien, bewerkstelligte er dies auf eine Weise, die Hans Sachs (1494-1576) in einem Meistcrlied von 1551 wie folgt schildert (Goetze/Drescher, Bd. 5, 147; hier sprachlich bearbeitet): Durch sem Kunst nigromantiam Rieht er zu, daß ein Feuerflamm Schlüge aus dieser Frauen Scham Prasselnd und ungeheuer. Auf freiem Markt das Weib mußt stan; Da loffen zu Frauen und Mann, Und alle die, so wollten han Ein Licht oder ein Feuer. Man könnt ein Licht Vom andren nicht In der Stadt anzünden; Allein bei dieser Frauen Spalt Mußt Feuer holen Jung und Alt. -Also wurd Schmach mit Schmach bezahlt, Tut die chronica künden. Wer Vergil allein als den Autor der Hirtengedichte, des Lehrgedichts über den Landbau sowie des Aeneas-Epos kennt und zudem weiß, daß der Dichter antiker Überlieferung zufolge wegen notorischer Keuschheit den Spitznamen „der Jungfräuliche" trug, darf mit Recht fragen: Wie kam man dazu, ausgerechnet diese Anekdote über ihn zu erzählen? Einen ersten Hinweis können zwei seit der Antike besonders oft rezipierte Glanzlichter aus Vergils (Euvre geben: das vierte Hirtengedicht mit der prophetischen II Rollen und Stimmen des Dichters Vom Weltweisen zum Vater des Abendlandes Ankündigung eines göttlichen Knaben, der das Goldene Zeitalter zurückbringen wird, und die Schilderung der Unterwelt in Buch 6 der Aeneis. Bedenkt man nämlich, daß Wahrsagen und Besuche im Totenreich zu den Tätigkeiten gehören, die Magiern einst zugetraut wurden, ist Legendenbildung, die dort anknüpft, gut vorstellbar. Zudem hat man den Namen Vergil bereits in der frühen römischen Kaiserzeit etymologisch nicht nur von vir-go (Jungfrau), sondern auch von virga (Rute) abgeleitet. Daran mögen sich, da der Dichter für seine wirklich „zauberhaft" schönen Verse berühmt war, in einer stark zum Aberglauben neigenden Epoche Phantasien von einem Wundermann entzündet haben, der außer dem Federkiel auch einen Zauberstab zu handhaben wußte. Hexen ist allerdings nur eine von mehreren Fertigkeiten, die Vergil im Laufe von über 2000 Jahren der Auseinandersetzung mit Autor und CEuvre zugeschrieben wurden. Man ließ ihn ganz verschiedene Rollen spielen: außer dem Zauberer etwa den Weltweisen, den Propheten Christi oder den „Vater des Abendlandes". Gewiß, damit weckt Vergil als Person heute primär rezeptionsgeschichtliches Interesse, und ein solches sollte in einem Buch wie dem vorliegenden, das Dichter und Werk im zeitgenössischen Kontext darzustellen versucht, eigentlich unberücksichtigt bleiben dürfen. Nun gibt es aber noch heute sogar unter denjenigen, die sich wissenschaftlich mit Vergil beschäftigen, viele Leser, die aus seinem Munde zwei gleichzeitig ertönende Stimmen mit diametral einander entgegengesetzter Aussage vernehmen wollen (S. 60 f.) und deshalb, wie man meinen möchte, zumindest einen Hauch von mirakulösem Talent bei ihm verspüren. Diese Forscher können wir auf keinen Fall ignorieren. Außerdem präsentiert der Dichter selbst sich teils explizit, teils durch seine Sprechweise in mindestens drei verschiedenen Rollen: in der des singenden Hirten, des mit der Tätigkeit eines Landmannes vertrauten Lehrers und des von Heldentaten kündenden Barden. Wir dürfen folglich davon ausgehen, daß Vergil seine Leser geradezu ermuntert, ihn für eine Art Verwandlungskünstler zu halten. Verweilen wir denn wenigstens kurz bei den Metamorphosen der Vergil-Gestalt im Laufe der Zeiten. Es wird sich zeigen, daß auch die Deutung seines Werks sich mehrfach wandelte, dabei aber die Basis für moderne Interpretationsansätze geschaffen wurde. Ein wichtiges Thema für Vergil ist - das verrät er in allen drei Werken -Kosmologie. Er kombiniert die Rolle des Poeten in gewisser Hinsicht mit derjenigen des Weltweisen und verkörpert so den Autortyp des vates. Dabei handelt es sich ebenso um einen Propheten wie um einen von göttlichem Geist inspirierten Dichter; beide galten im Altertum als Vermittler zwischen Himmel und Erde. Der Begriff charakterisiert deshalb treffend Vergils Bestreben, seine poetischen Schilderungen durch Gedanken über Gott und die Welt zu erweitern. Schon die Spätantike erblickte in Vergil einen „in allen Wissenschaften fachkundigen" Dichter. Mit diesen Worten preist ihn Macrobius (um 400) in seinem Werk Saturnalien (1.16.12), das sich mit verschiedenen Gebieten römischer Gelehrsamkeit befaßt und dabei dem Verfasser der Aeneis spezielle Aufmerksamkeit schenkt. So ist unter anderem ausführlich von Vergil Aspoeta, doctus (gelehrter Dichter) im engeren Sinne, also als Bearbeiter literarischer Vorlagen, die Rede. In dieser „Rolle" werden auch wir ihn zu betrachten haben. Denn Vergils häufiges Anspielen auf zahlreiche Texte der griechisch-römischen Dichtung und Prosa sowie seine Arbeit mit zeitgenössischen Kommentaren zu diesen Texten ist für die ästhetische Würdigung und das Verständnis seiner Werke von erheblicher Bedeutung. Wie man sieht, wurde das nicht erst heute, sondern schon sehr früh bemerkt. Der Polyhistor Vergil, wie Macrobius ihn darstellte, mußte in den Augen seiner spätantiken Leser auch verborgene Weisheit zu bieten haben. Deshalb machte man seine Texte zum Gegenstand der Allegorese. Am Anfang dieser Art von Interpretation steht Fulgentius (um 500), der in den zwölf Büchern der Aeneis den Stufengang des menschlichen Lebens abgebildet sah. Das und alles Weitere, was in Anknüpfung daran im Laufe des Mittelalters von mehreren Gelehrten in den Vergil-Text hineingelesen wurde, hat wohl kaum etwas mit der Intention des Dichters zu tun. Aber dieser war seinerseits, wie darzulegen sein wird, von zeitgenössischer Allegorese beeinflußt, und zwar von „Entschlüsselungen" der Homerischen Epen. Man darf folglich davon ausgehen, daß auch Vergil explizite mit versteckten Aussagen verband - zwar nicht im Sinne christlicher Ethik, aber im Rahmen seiner vom Römertum geprägten Weltsicht. So dürfte etwa das Gemeinwesen der Bienen, das er in Buch 4 seines Lehrgedichts vom Landbau beschreibt, den für ihn idealen Staat symbolisieren. Wieder ergibt sich, daß Vergil-Erklärer längst vergangener Zeiten immerhin methodisch auf der richtigen Spur waren - selbst dann, wenn sie offenkundig einfach nur spekulierten. Freilich führte vom Weltweisen Vergil auch ein Weg zu dem Zauberer, der in Geschichten wie der zu Beginn dieses Kapitels referierten seine Kunst ausübt und damit denkbar weit von dem römischen Autor der augusteischen Epoche entfernt ist. Bezeichnenderweise haben die Erfinder dieser Figur, die ihn den abenteuerlichsten Hokuspokus praktizieren lassen - er wird dadurch zu einem Vorläufer des Doktor Faust -, seine Tätigkeit als Dichter ganz ausgeblendet. Hinter der Figur des Weltweisen, der sogar hexen kann, steckt, wie gesagt, diejenige des vates. Da der Begriff ursprünglich „Seher" bedeutet, kann man verstehen, daß Vergil-Leser der Spätantike und des Mittelalters den göttlichen Knaben des vierten Hirtengedichtes als Jesus Christus identifizieren zu können glaubten. Von Laktanz (um 300) bis Marsilio Ficino (1433-1499) erstreckt sich eine lange Reihe derjenigen, die Vergil als Propheten des Heilands verehrten, allerdings dabei in der Regel voraussetzten, •4 Rollen und Stimmen des Dichters Von der persona zur Person der Dichter habe die christliche Bedeutung seiner Verse nicht erkannt. So abwegig die messianische Interpretation des Gedichtes ist - von ungefähr kam sie nicht. Denn christliches Sendungsbewußtsein, das sich hier bestätigt sah, findet eine heidnische Entsprechung in Vergils originellstem und berühmtestem poetischen Konzept: dem Mythos von dem göttlichen Auftrag, durch dessen Erfüllung der Trojaner Aeneas zum Stammvater eines auserwählten Volkes und zugleich zur Präfiguration des Prinzeps Augu-sttis wird. Es verwundert daher keineswegs, daß Vergil noch im 20. Jahrhundert zwar nicht mehr als Künder des Messias, so doch als Wegbereiter christlich-abendländischer Staatsethik begriffen wurde. Besonders einflußreich auf diesem Gebiet der Vergil-Rezeption war Theodor Haecker, der 1931 in seinem (mehrfach aufgelegten und übersetzten) Buch Vergil: Vater des Abendlandes den Dichter als „die vollkommenste anima naturaliter christiana der Antike" verherrlichte (33). Doch als Künder des Augustus war Vergil zeitweise sehr umstritten, ja sogar Zielscheibe heftiger Angriffe. Spätestens in der Epoche des Sturm und Drang begann man m Deutschland, den Verfasser der Aeneis, den man zum Epigonen des „Originalgenies" Homer erklärte, überdies als servilen Hofpoeten abzuqualifizieren. Seit damals streitet man darüber, ob Vergil proaugusteisch denkt oder dem Kaiser nicht unkritisch gegenübertritt, ja zwischen den Zeilen sogar eine antiaugusteische Tendenz erkennen läßt. Ich werde in diesem Buch die Meinung vertreten, daß der Dichter in dem Prinzeps auf jeden Fall den für sein Rom idealen Herrscher erblickte, sich aber nicht zum Sprachrohr der augusteischen Propaganda machte. Hätte er das getan, dann böte zum Beispiel das Epos von Aeneas, dem mit Blick auf den Prinzeps charakterisierten König, nichts weiter als die tendenziöse Verherrlichung des glorreichen Marsches zum Sieg über seine Gegner. Aber so ist es nicht. Der Erzähler der Aeneis verrät ein bemerkenswert hohes Maß an Einfühlung in das Denken und Leiden derer, die ihr Leben lassen müssen, weil sie Aeneas bei der Erfüllung seines göttlichen Auftrages zu behindern drohen. Die Art, in der das im Epos sprechende Ich mit unüberhörbar aufrüttelnder Stimme seine Empathie artikuliert, dürfte wesentlich zur enormen Wirkungskraft der Aeneis über mehr als zwei Jahrtausende hinweg beigetragen haben. Von der persona zur Person Schon lange vor den Stürmern und Drängern hatte Sueton (ca. 70-130), Hofbeamter unter Kaiser Hadrian und Autor der ältesten uns bekannten Vita Vergils, diesen als einen Dichter gesehen, der seine Werke aus Verehrung für die Großen seiner Zeit und somit auch für Augustus verfaßte. Der Text der Biographie, der in offenbar geringfügig überarbeiteter Form unter dem Namen des Aelius Donatus (4. Jh.) tradiert ist, weist die für Sueton typische Gliederung in drei Großteile auf. Zunächst wird das Leben Vergils chronologisch von seiner Geburt in Mantua (15.10.70 v. Chr.) bis zu seiner Übersiedelung nach Rom erzählt (§§ 1-7). Dann erfolgt eine Rubri-zicrung verschiedener Themen, die dem Biographen für seine Darstellung wohl besonders wichtig erschienen: Aussehen und körperliche Konstitution, Liebesleben, Vermögensverhältnisse, Familie, Bildung, Werke, Arbeitsweise, Rezitationskunst (§§ 8-34). Der Schlußteil behandelt wieder chronologisch den letzten Lebensabschnitt bis zum Tod in Brundisium (21.9.19 v. Chr.) sowie die Maßnahmen, die zur posthumen /leweis-Edition führten, und endet mit Bemerkungen über Vergils Kritiker (§§35-46). Leider weckt die Vita auf Schritt und Tritt den begründeten Verdacht, daß sie nicht den historischen Tatsachen entspricht. Das gilt für fast alle Ausführungen Suetons, zum Beispiel auch das, was er über Vergil als eine Art Hofdichter schreibt. Was wir von der Vita geboten bekommen, ist also höchstwahrscheinlich größtenteils Fiktion. Sie fußt vor allem auf Gleichsetzung der persona (poetisches Ich) Vergils mit ihm als realem Autor und auf AUegorese. Zu beidem durfte sich Sueton, in dessen Lebenszeit vermutlich nicht mehr viel Authentisches über den Dichter bekannt war, durch diesen selbst ermuntert sehen. Denn in den Hirtengedichten inszeniert Vergil ein subtiles Spiel mit der Identität seines Erzähler-Ich und der bei ihm auftretenden Hirten. Und das verstanden Sueton und andere Vergil-Leser, die mehr als hundert Jahre nach dem Dichter lebten, als Aufforderung dazu, nicht nur in der persona des Dichters die historische Person wiederzuerkennen, sondern auch in mehreren seiner Figuren. Zwei Hirten reizten besonders dazu, sie als Gestalten eines „Schlüsselromans" zu betrachten: Tityrus in Gedicht Nr. 1 und 6 sowie Menalcas in Nr. 5 und 9. Beide sprechen je einmal so, als wären sie mit Vergil identisch. Tityrus entpuppt sich in den Versen 1-4 von Nr. 6, die man zunächst als programmatische Äußerungen Vergils über die von ihm gewählte Gattung lesen kann, plötzlich als der „ich" Sagende (V. 3 f.); Menalcas bezeichnet sich am Ende von Nr. 5 (V. 86 f.) überraschend als Autor der Gedichte 2 und 3. Nun lehrt Nr. 1, daß man Tityrus sein Land nicht wie anderen zwangsweise wegnahm, um es einem Soldaten zu übereignen, und Nr. 9 erzählt von dem Gerücht, Menalcas habe durch seine Lieder Hab und Gut gerettet. Daraus folgerte man, Vergil berichte allegorisch von eigenen Erfahrungen. Daß Landbesitz in der Gegend Italiens, aus der Vergil stammt, konfisziert wurde, ist historisch belegt. Nach den beiden Schlachten bei Philippi (Herbst 42 v. Chr.) wiesen Marcus Antonius (82-30 v. Chr.) und Octavian, der spätere Augustus (63 v. Chr.-i4 n. Chr.), den Veteranen ihrer Heere in mehreren Städten der Halbinsel Grundstücke zu, nachdem sie deren Besitzer hatten enteignen lassen. Diese Regelung betraf offenbar auch das i6 Rollen und Summen des Dichters Von der persona zur Person Gebiet um Vergils Geburtsort Mantua. Deshalb ließ es die allegorische Interpretation der Hirtengedichte i und 9 für Sueton und die antiken Vergil-Kommentatoren als zwingend erscheinen, daß der Dichter ein Opfer der Konfiskationen war. Das glauben auch viele moderne Forscher. Aber allein die Uneinigkeit der antiken „Zeugnisse" darüber, ob Vergil zumindest vorübergehend enteignet wurde oder, nachdem man ihn zunächst auf die „Schwarze Liste" gesetzt hatte, wegen guter Beziehungen dann doch verschont blieb, mahnt zur Skepsis. Wir haben nun einmal außer der Biographic Suetons und den übrigen erhaltenen Vergil-Vitcn (die alle von ihr abhängig sind) sowie den wie diese Texte überwiegend auf Allegorese basierenden biographischen Angaben in den antiken Kommentaren kein Dokument, das Vergil im Zusammenhang mit der Äckerverteilung nennt. Folglich empfiehlt es sich, dieses Thema aus heutigen Abhandlungen über das Leben des realen Autors Vergil auszuklammern. Entsprechend sollte man zum Beispiel auch mit allem verfahren, was Sueton und andere antike Quellen über das Lebensende des Dichters berichten, insbesondere über dessen testamentarische Verfügung, die Aeneis sei nach seinem Tode zu verbrennen. Der uns überlieferte Text der Sueto-nischen Vergil-Vita enthalt folgende Angaben über den letzten Willen des Dichters: In § 37 geht es zunächst darum, welchen Erben Vergil sein Vermögen vermachte. Dann erfahren wir, der Dichter habe befohlen, die Aeneis „von reißenden Flammen zerstören zu lassen" (§38), aber seine Freunde Varius und Tucca sowie Augustus hätten dies nicht gestattet. Dem Paragraphen 39 dagegen entnehmen wir dies: Vergil vereinbart vor der Griechenlandreise, die er kurz vor seinem Tode unternommen haben soll, mit Varius, dieser solle, falls dem Freund etwas zustößt, das Epos verbrennen, doch Varius weigert sich. Daher verlangt Vergil auf dem Totenbett ständig nach den Buchbehältern, um sie selbst ins Feuer zu werfen, trifft aber, als niemand sie bringt, keine Bestimmung über die Aeneis. Nun, mit dem, was man von einem römischen Testament erwartet, stimmt allein das zu Vergil als Erblasser Gesagte überein, und die beiden Angaben über Anweisungen bezüglich der Verbrennung seiner Aeneis widersprechen einander. Bedenkt man, daß Ovid (43 v. Chr-16/17 n. Chr.) eigenen Worten zufolge sein Werk Metamorphosen verbrannte, sich dabei aber nicht auf sein großes Vorbild Vergil berief (Tristia 1.7.15 ff.), darf man vermuten: Die Bereitschaft des j4ewej5-Dichters zum Autodafe wurde in Anlehnung an die Äußerung des jüngeren Kollegen erfunden. Gingen wir die Suetonische Vergil-Vita Satz für Satz durch, dann stießen wir fortwährend auf „Fakten", die argwöhnen lassen, daß sie aus Versen des Dichters und poetischen Texten anderer Autoren herausgesponnen sind. Dazu gehört schon die in § 1 erhobene Behauptung, Vergils Vater habe durch Bienenzucht sein Vermögen vergrößert. Aber man weiß ja: Mit der Imkerei kennt der Sohn sich, wie das Lehrgedicht über den Landbau zeigt (4.1-314), bestens aus - also Vorsicht! Kritische Bemerkungen dieser Art systematisch aneinanderzureihen würde hier zu weit führen. Im übrigen haben Heinrich Naumann (1981) und Nicholas Horsfall (1995, 1 ff.; 2001) alles Wichtige zum Thema „Dichtung und Wahrheit in Suetons Vergil-Vita" geschrieben. Ich möchte aber noch zwei signifikante Beispiele geben, zunächst eines aus der Rubrik „Liebesleben". Was Vergils sexuelle Beziehungen zu Frauen betrifft, hat Sueton, der immerhin zwei von dem Dichter geliebte Knaben, Alexis und Cebes, nennt (§ 9), nur von einer Plo-tia Hieria erfahren, noch dazu lediglich gerüchtweise: Laut Aussage dieser Dame sei Vergil von Varius zum Geschlechtsverkehr mit ihr eingeladen worden, habe aber sehr hartnäckig abgelehnt (§ 10). Mehr dazu kann der Kommentator Servius (4. Jh.) beim Erläutern von Vers 20 in Hirtengedicht 3 erzählen (Brugnoli/Stok 1991, 450, Nr. 168): Varius, der Tragödiendichter, hatte eine sehr gebildete Frau, mit der Vergil Ehebruch zu begehen pflegte und der er sogar das Manuskript einer Tragödie schenkte, das jene ihrem Gatten als ihr eigenes Werk schenkte. Diese Tragödie las Varius dann als die seinige vor. Schon Servius ist sich darüber im klaren, daß diese „Begebenheit" durch allegorische Auslegung einer Passage in dem dritten Hirtengedicht entstanden sein muß. Dort streiten miteinander Menalcas und Damoetas. Diesen will Menalcas gesehen haben, wie er hinterhältig den Bock Dämons stahl, obwohl die Hündin Lycisca laut bellte und Menalcas dem Tityrus zurief, er solle das Vieh bewachen (3.17-20). Da Tityrus, wie gesagt, in der Antike gerne mit Vergil identifiziert wurde und ein Bock der Siegespreis in einem Tragödienwettbewerb sein konnte, kam folgende Allegorese auf: Der gestohlene Bock stehe für ein von Vergil geschriebenes und durch Varius fälschlich als eigenes Opus ausgegebenes Trauerspiel. Fragt man, wo dabei Plotia Hieria bleibt, so ist mit Werner Suerbaum (1981, 512) darauf zu verweisen, daß der griechische Name der bellenden Hündin, der „Wölfin" bedeutet, auch eine Prostituierte bezeichnen kann. Also evozierte Lycisca die Vorstellung von einer Bettgeschichte, welche die Voraussetzung für das Plagiat schuf - cberchez la fernme\ Daß die Gleichungen dabei nicht ganz aufgehen, dürfte die Texterklärer nicht gestört haben. Ihre Allegoresen sind oft voller Ungereimtheiten. Nun zum zweiten Beispiel. In § 32 berichtet Sueton, Vergil habe einmal dem Kaiser Augustus das zweite, vierte und sechste Buch der Aeneis vorgetragen, und dabei sei auch dessen Schwester Octavia (ca. 70-11 v. Chr.) zugegen gewesen. Wer Buch 6 kennt, weiß, daß dort am Ende aus der Sicht einer mythischen Zeit der Tod des Marcus Claudius Marcellus prophezeit wird. Dieser, von Augustus vermutlich zum Nachfolger bestimmt, aber im Jahre 23 v. Chr. bereits im Alter von nicht einmal 20 Jah- /# Rollen und Stimmen des Dichters ren gestorben, war der Sohn der Octavia. Als Vergil, wie Sueton schreibt, seine Verse über Marcellus rezitiert habe, sei Octavia in Ohnmacht gefallen und nur mit Mühe ins Bewußtsein zurückgerufen worden. Aber der Philosoph Seneca (ca. 4 V. Chr.-65 n. Chr.) erzählt in seiner Trostschrift an Marcia (2.4 f.), Octavia habe nach dem Tod ihres Sohnes seinen Namen nicht mehr hören wollen und, nicht einmal ihrem Bruder Augustus einen Blick gönnend, Gedichte zu Ehren des Marcellus und jede derartige Aufmerksamkeit zurückgewiesen, ja ihr Ohr allen Trostgründen verschlossen. Machte Octavia nun aus Vorfreude auf die Aeneis eine Ausnahme? Oder ist Suetons Geschichte einfach Fiktion? Wurde sie vielleicht durch die Seneca-Stelle angeregt? Nach ihrer Lektüre könnte jemand sich zu der Behauptung herausgefordert gefühlt haben, ganz konsequent sei die Schwester des Prinzeps eben doch nicht gewesen, weil Vergils Verskunst jeden zu bezaubern vermochte. Man tut somit gut daran, auch im Falle von Suetons Bericht über die Lesung vor Augustus und Octavia die Historizität zu bezweifeln. Freilich wird dadurch Vergil-Forschern, die anhand des Aeneis-Textes die Entstehungsgeschichte des Epos nachzuzeichnen versuchen, ein wichtiges textex-ternes „Dokument" verdächtig gemacht. Sollte die Rezitation nämlich stattgefunden haben, dann hätte Vergil aus einem Werk vorgetragen, das als Ganzes erst nach dem Tode des Dichters veröffentlicht wurde (S. 22). Aber ist es überhaupt möglich, die Chronologie der Werkgenese zu rekonstruieren? Handelt es sich dabei nicht um eine Methode biographischer Interpretation, die sich von derjenigen der Allegorese wenig unterscheidet? Jedenfalls wird hier wie dort aus dem Text etwas herausgelesen, was er nicht explizit aussagt. Er verrät uns ja weder etwas über seine versteckte Bedeutung noch über das zeitliche Verhältnis, in dem einzelne Werkteile bezüglich ihrer Abfassung zu anderen stehen. Darüber kann man nur spekulieren - ebenso wie darüber, ob Vergil mit Tityrus identifiziert werden möchte oder nicht. Da ein solches Verfahren aber, wie ich gezeigt zu haben hoffe, keine überzeugenden Antworten auf Fragen nach dem Verlauf der Vita Vergils erbringen kann, gehe ich dazu über darzulegen, welche wirklich glaubwürdigen Fakten dieser Vita uns noch kenntlich sind. Der reale Autor Folgende Angaben Suetons dürften auf jeden Fall wahrheitsgemäß sein: daß Vergil am 15. Oktober 70V. Chr. geboren wurde, am 21. September 19 v. Chr. starb und in Neapel begraben liegt. Diesen Ort nennt außer weiteren antiken Zeugnissen auch das von Sueton in § 36 zitierte und in seiner Authentizität unverdächtige Grabepigramm; es fingiert, daß der Dichter selbst zu den Besuchern seiner letzten Ruhestätte spricht: Der reale Autor 79 Mantua me genmt, Calabri rapuere, tenet nunc Partbenope; cecini pascua rura duces. (Mantua brachte mich hervor, Kalabrien raffte mich hinweg, mich birgt jetzt Parthenope [= Neapel]. Ich sang von Weiden, Fluren und Führern.) Der Zweizeiler bezeichnet wie mehrere andere antike Autoren (z. B. Ovid, Liebesgedichte 3.15.7) Mantua als Geburtsort Vergils und stützt durch die Angabe, Kalabrien habe den Dichter „hinweggerafft", Suetons Nachricht, Brundisium sei der Sterbeort gewesen. In Neapel, wo Vergil beigesetzt wurde, soll er sich der Vita zufolge auch zu Lebzeiten aufgehalten haben (§11). Das bestätigen die Verse, die wir am Ende des Lehrgedichts über den Landbau lesen. Vergil sagt dort, er habe dieses Werk verfaßt, während Oc-tavian am Euphrat Krieg führte, bei „willigen Völkern" Recht sprach und „sich den Weg zum Olymp bahnte" (also wahrscheinlich 30/29 v. Chr.); dann fährt er fort (Georgien 4.563-566): Zu jener Zeit nährte mich, Vergil, die liebliche Parthenope, als ich meine Blütezeit erlebte mit Werken ruhmloser Muße, der ich spielerisch Hirtengedichte verfaßte und kühn in jugendlichem Alter, Tityrus, von dir sang unter dem Dach der breitästigen Buche. Nun wissen wir aus dem Papyrusfragment einer Schrift des Epikureers Philodem von Gadara (ca. 110-46 v. Chr.) dies: Vergil hatte zusammen mit seinen Freunden Plotius Tucca, Varius Rufus und Quintilius Varus Verbindungen zu dem Philosophen, der in der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. längere Zeit in Neapel lebte (P. Herc. Paris. 2; Gigante 2004, 86). Natürlich hat man sich auszumalen versucht, wie der Dichter, der in seinem Werk oft auf De rerum natura (Die Natur der Dinge) von Lukrez (1. H. 1. Jh. v. Chr.) anspielt und so zu erkennen gibt, daß er sich intensiv mit der epikureischen Lehre auseinandergesetzt hat, in Neapel mit Philodem philosophische Gespräche führte. Ein unter Vergils Namen überliefertes Epigramm, das fünfte in der Gedichtsammlung Catalepton (Kleinigkeiten), zählt den Dichter zu den Schülern des Epikureers Siron, als dessen Aufenthaltsort ebenfalls Neapel bezeugt ist. Aber das Epigramm, dessen Aussage nicht durch weitere Dokumente bestätigt wird, stammt sehr wahrscheinlich von einem Pseudo-Vergil, und deshalb sollten wir uns auf romantische Vorstellungen vom jungen Philosophiestudenten Vergil nicht einlassen. Gewiß, indem er sich fern von Kriegsgetümmel, Politik und Ruhmerwerb „ruhmloser Muße" widmet (V. 564), entspricht der Dichter durchaus epikureischen Vorstellungen von der rechten Lebensweise. Doch er redet hier primär in der Rolle eines Verfassers von Poesie, die Haupt- und Staatsaktionen als Themen meidet (S. 32 ff.). 44 Rollen und Stimmen des Dichters nerhalb dessen sie auftritt, ernsthaft gefährdet. Der furor, mit dem wir es hier wie im Falle der Anwendung von Gewalt in Bürgerkriegen zu tun haben, wird bei Vergil auch als wesentlicher Charakterzug auswärtiger Feinde des römischen Reiches unterstellt - wie gesagt, für den Dichter handelt es sich bei ihnen um rohe, ungestüme Barbaren. Wenn diese nun vom Osten her zu drohen scheinen, dann sieht der in seinem wohlgeordneten irdischen Universum lebende Römer, mit dessen Stimme Vergil spricht, die genannten ordnungswidrigen Elemente vereint „aufmarschieren". Denn die Bewohner des Orients hielt man allgemein nicht nur für unzivilisiert, sondern auch für sexuell unbeherrscht und dementsprechend feminin. Also gilt Antonius, der sich der Propaganda Octavians zufolge einer orientalischen Königin unterordnet und dem Herrscher über den Westen als Hauptfeind im Bürgerkrieg die Stirn bietet, jedem konservativen Römer als eine Person, von der eine besonders große Gefahr für sein irdisches Universum ausgeht. Aus heutiger Sicht wird man den römischen „Kosmos", dessen Ordnungsgefüge für Vergils Dichter-persona offenkundig eine gegebene Größe darstellt, als ein undifferenziertes, ja geradezu primitives System des Gegensatzes von Gut und Böse empfinden. Aber der in Bucolica, Georgien und Äeneis „ich" Sagende besitzt, wie bereits angedeutet, ein hohes Maß an Einfühlung in das Denken und Handeln derer, die der römischen Auffassung von Ordnung und Disziplin zum Opfer fallen. Auf welche Weise die Stimme der Empathic sich in Vergils CEuvre artikuliert, soll uns noch beschäftigen. Zuvor aber möchte ich die Rolle betrachten, die der Autor seine persona in ihrem Verhältnis zu Octavian-Augustus, der zentralen Figur seines Kosmos, spielen läßt. Da von dem Prinzeps in allen drei Werken ausführlich die Rede ist, wird ihnen im nun folgenden Abschnitt über den Augusteer Vergd jeweils ein eigener Teil zugewiesen. Der Augusteer „ Ein Gott hat mir diese Muße geschaffen, " Nirgendwo in den Bucolica fällt sein Name. Doch man sollte nicht daran zweifeln, daß Octavian sich hinter dem göttlichen Jüngling verbirgt, der in Vergils Ekloge i, also bereits im ersten Gedicht des ersten von diesem Autor publizierten poetischen Werks, im Zentrum steht. Es ist sogar exakt die Mitte des Textes, die dem Leser die Gestalt des jungen Imperators - er war zu der Zeit, als die Bucolica erschienen sein dürften, nicht einmal 3oJahre alt - direkt vor Augen rückt. Bis dahin wird der Bericht über seinen Auftritt mit stetig wachsender Spannung vorbereitet. Die erste Erwähnung findet sich schon in Vers 6; Meliboeus, einer der beiden in Ekloge i Der Augusteer 4} sprechenden Hirten, provoziert sie gewissermaßen. Er stellt in den ersten fünf Versen des Gedichts sichtlich erregt fest, daß seine derzeitige Lebenssituation im Vergleich mit der seines Dialogpartners Tityrus äußerst miserabel ist: Dieser liegt im Schatten einer Buche, spielt Flöte und läßt die Wälder den Namen seiner Amaryllis widerhallen, während Meliboeus aus der Heimat fliehen muß. Das verlangt natürlich eine Erklärung, und wir erhalten sie von Tityrus (6-10): „O Meliboeus, ein Gott hat mir diese Muse geschaffen. Denn er wird mir immer ein Gott sein, seinen Altar wird oft ein zartes Lamm aus meinen Hürden mit seinem Blut benetzen. Er hat gestattet, daß umherschweifen meine Rinder, wie du siehst, und ich selbst, was immer ich will, auf ländlichem Rohr spiele." Wir verstehen: Tityrus wurde von der Landenteignung (S. 15 f.) ausgenommen, und wie Meliboeus, den man von seinem Grund und Boden vertrieben hat und der deswegen nun über sein Los klagt (11-17), fragen wir, wer denn der Gott ist (18). Aber Tityrus hält uns ein wenig hin. Zunächst einmal preist er umständlich und aus der Perspektive des kleinen Mannes vom Lande die von ihm besuchte Stadt Rom (19-25). Nach einer Zwischenfrage des Meliboeus (26) nennt er als Anlaß für seinen Aufenthalt in der Metropole den Wunsch nach Befreiung vom Sklavenstand (27-30). Doch erst im Anschluß an einen relativ ausführlichen Bericht über sein Liebes- und Erwerbsleben (31 ff.), den Meliboeus durch eine erneute Zwischenbemerkung unterbricht (36-39), erzählt Tityrus, wie es ihm in Rom erging - und das lesen wir in der Mitte der Ekloge (42-45): „Hier habe ich ihn gesehen, den Jüngling, Meliboeus, für den jährlich an zweimal sechs Tagen mein Altar raucht. Der hat mir als erster Bescheid gegeben, als ich darum bat; ,Weidet wie vorher die Rinder, Burschen, züchtet Stiere.'" Wer sich den Kopf darüber zerbricht, was dieser dem „Jüngling" (42) in den Mund gelegte Satz mit dem rechtlichen Vorgang der Freilassung zu tun haben kann, will offenbar nicht sehen, was hier implizit ganz einfach ausgesagt werden soll: Octavian, der zur Zeit der Publikation von Vergils Gedichtsammlung über die oberste Macht in Italien verfügt, läßt Hirten wie Tityrus ihren Besitz behalten. Gleichzeitig ermöglicht er mitten in einem von den Folgen der Bürgerkriege schwer heimgesuchten Land einen Freiraum für bukolische Dichtung; speziell solche Poesie bezeichnet Vers45, wie sich aus der Ableitung des Gattungsnamens von dem griechischen Wort boukölos (Rinderhirte) ergibt. Nun ist es aber keineswegs selbstverständlich, daß irgendwo in der Nähe Roms - wo Tityrus wohnt, bleibt un- 46 Rollen und Stimmen des Dichters bestimmt - Poesie ertönt, die das Hirtenleben zum Gegenstand hat. Angesichts der Landenteigungen sollte gerade Bukolik, wie man meinen möchte, eher verstummen. Doch der Jüngling - also Octavian, der die Konfiskationen zusammen mit Antonius verfügte - weckt, wie ich meine, durch sein Verhalten gegenüber Tityrus eine bestimmte Hoffnung: Er wird künftig weiteren Hirten seine Gunst schenken und sie in frieden ihre Lieder spielen lassen. Nachdem jetzt Männer wie Meliboeus Opfer hatten bringen müssen, dürfen eines Tages alle Landbewohner sich wieder ihres Besitzes erfreuen. Leser, die noch nicht in diese Richtung denken, erfahren in Ekloge 4, daß nicht nur der Hirtenwelt, sondern allen Menschen sogar eine paradiesische Zukunft nahe bevorsteht. Es erwartet sie ein neues Goldenes Zeitalter unter der Herrschaft Octavians. Darauf werden wir schon jetzt ein wenig eingestimmt, und zwar im Anschluß an die Vorstellung des Jünglings durch Tityrus. Diesen preist Meliboeus glücklich, um dann dessen Grund und Boden als eine Idylle zu schildern (46-58). Einem Hirtenparadies ist das Land des Tityrus zwar noch nicht ebenbürtig, aber im Rückblick von Ekloge 4 erkennt man: Wie der Hirtendichtcr dort das Verschwinden von Schlangen und giftigen Kräutern prophezeit (24 f.), verheißt hier Meliboeus dem Tityrus immerhin schon, bei diesem würden die trächtigen Muttertiere weder von ungewohnter Weide gefährdet noch durch Ansteckung vom Nachbarvieh verletzt werden (49 f.). Tityrus' Reaktion auf die Worte des Meliboeus bestätigt meines Erachtens die bisherige Interpretation des Gedichtes; er sagt (59^63): „Eher werden also flüchtige Hirsche im Äther weiden und die Meere zurücklassen nackt am Gestade die Fische, eher werden, nachdem sie gegenseitig ihr Gebiet durchstreift haben, als Fremdlinge aus der Saône die Parther trinken und die Germanen aus dem Tigris, als daß aus meinem Herzen glitte sein Antlitz!" Auf den Preis eines Stück Landes folgt also das hymnische Bekenntnis zu dem „Gott" (6), der es dem Eigentümer beließ, und hier wird in einem einzigen Vers das römische Reich, zu dem auch der Besitz des Tityrus gehört, vom Nord- bis zum Ostrand überblickt. Das ist wieder der „Kosmos", zu dem sich die (zuvor gepriesene) Stadt Rom ausgeweitet hat, und der Leser darf denken: Innerhalb der Grenzgebiete dieses Reiches, die ganz sicher niemals durch eine „Völkerwanderung" von Parthern und Germanen in Unruhe versetzt werden, können sich die Hirten geborgen fühlen. Das garantiert der „Gott", dessen Jurisdiktion sich Tityrus zu seinem Vorteil in der Metropole unterstellte. Gewiß, zur Zeit herrscht noch sehr große Not im Lande - Meliboeus Der Augusteer 47 führt seine Vertreibung ausdrücklich auf Zwietracht unter den Bürgern zurück (71) und nicht jeder hat wie Tityrus den „Gott" (6) als solchen zu würdigen und zu verehren gelernt. Meliboeus ist sogar ausgesprochen pessimistisch; das ergibt sich bereits aus der Art, wie er, nachdem Tityrus seine uneingeschränkte Verehrung des „Gottes" bekundet hat, seinerseits auf das römische Imperium blickt (64-66): „Doch wir anderen werden fort von hier zu den dürstenden Afrikanern gehen, ein Teil wird nach Skythien und zum Kreide mit sich reißenden Oaxes kommen und zu den völlig vom ganzen Erdkreis abgeschnittenen Britanniern." Nun, ein Hirte wie Meliboeus wird nach der Vertreibung von seinem Land schwerlich so weit fortziehen müssen, ja die Vorstellung, sein Wohnsitz könne künftig zum Beispiel auf der Insel jenseits des Kanals sein, dürfte die Zeitgenossen amüsiert haben. Also nahmen sie wohl auch das, was Meliboeus anschließend sagt, nicht ganz ernst. Er zeigt sich nämlich überzeugt davon, daß er niemals in sein „Reich" (69), das gottlose Soldaten und Barbaren übernehmen würden, zurückkehren kann (67-78). Hier spricht er mit einer Eindringlichkeit, die Mitleid erweckt, und wir werden im nächsten Abschnitt des laufenden Kapitels sehen, daß Vergil diese Reaktion vermutlich durchaus beabsichtigt. Aber in Meliboeus' Worten steckt auch viel komische Übertreibung, und deshalb bleibt in der Schwebe, ob sein Pessimismus wirklich beim Wort zu nehmen ist. Das programmatische Bekenntnis des Tityrus zu dem „Gott" (6) gibt der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für Meliboeus immerhin Raum, und dem entspricht der offene Schluß des Gedichts: Tityrus fordert Meliboeus auf, bei ihm zu übernachten und sich von ihm verköstigen zu lassen, da die Schatten der Berge länger werden (79-83). Liest man dies, kann man nicht umhin zu denken: „Morgen ist auch noch ein Tag." Jedenfalls tritt Meliboeus in Ekloge 7 wieder als Bewohner der Hirtenlandschaft auf. Wenn Octavian in Ekloge 1 als ein Gott dargestellt wird, der die Entstehung von Bukolik ermöglicht, darf man in ihm wie in dem Apollo der Ekloge 6 einen Dichtergott erblicken. Das sagt Vergil nicht explizit. Aber zwischen den Zeilen gibt er zu verstehen, er sehe sich durch Octavian zur Abfassung der Eklogen inspiriert, und in Gedicht 8 wird dies bestätigt (11 f.; S. 51). Direkt spricht Vergil mit der Stimme des Hirtendichters, der sich über seine Tätigkeit äußert, erstmals zu Beginn von Ekloge 4 (1-3): Sizilische Musen, ein wenig Erhabeneres wollen wir singen. Nicht alle erfreuen Gehölze und niedrige Tamarisken. Wenn wir von Wäldern singen, so seien die Wälder eines Konsuls würdig. 48 Rollen und Stimmen des Dichters Der Konsul, zu dessen Ehre der Hirtendichter sich ein wenig über das normale Niveau seiner Gattung erheben möchte - die „Wälder" (3) stehen stellvertretend für die Hirtenlandschaft -, ist, wie sich aus Vers 12 erschließen läßt, Asinius Pollio (76 v. Chr.-4 n. Chr.); er bekleidete das Amt im Jahre 40 v. Chr. Bei dem als „erhabener" (1) angekündigten Thema handelt es sich um eine Prophezeiung: Das Goldene Zeitalter kehrt zurück. Dies soll durch die Geburt eines Knaben ermöglicht werden, und als Zeitpunkt für den Beginn der neuen Ära setzt der Sprecher der Ekloge eben jenes Jahr 40 an. Dann sagt er, bevor er sich direkt an den Knaben wendet, über dessen Zukunft (15-17): Er wird göttliches Leben empfangen und im Kreis der Götter Heroen schauen und selbst gesehen werden bei ihnen und die Friedenswclt regieren, die durch die Tatkraft seines Vaters geschaffen wurde auf dem Erdkreis. Natürlich hat man über die Identität dieses göttlichen Knaben, dem die Weltherrschaft geweissagt wird, unzählige Male gerätselt. Es ist jedoch hier nicht der Ort für eine Diskussion der Vorschläge, für und gegen die argumentiert wurde, zumal ich fest davon überzeugt bin, daß nur eine Person in Frage kommt: Mit diesem göttlichen Wesen, das wieder anonym bleibt, muß auch wieder Octavian (und mit dem Vater Caesar, dessen Adoptivsohn er war) gemeint sein. Gerhard Binder, der dafür erstmals mit plausiblen Überlegungen eintrat (1983), geht mit Recht davon aus, daß die prophetischen Worte aus der Sicht des Jahres 63 v. Chr., in dem Octavian zur Welt kam, mit Blick auf 40v.Chr. gesprochen sind. Beim ersten Lesen denkt man bis zu Vers 45, der Hirtendichter schaue selbst in die Zukunft. Doch anschließend heißt es plötzlich, nach dem letzten Satz der Prophezeiung hätten die Parzen zu ihren Spindeln gesagt: „Solche Zeiten bringt eilends" (46). Das klingt nach einem Schlußwort, und so ergibt sich bei erneuter Lektüre: In den Versen 4-45 referiert der Hirtendichter den Gesang der Parzen über das durch die Geburt des Knaben ermöglichte und in dessen 23. Lebensjahr beginnende Goldene Zeitalter. Daß Vergil seine D'ichter-persona das Parzenlied im Jahre 63 v. Chr. für Leser der Zeit um 35 V. Chr. vortragen läßt, mag zunächst befremdlich erscheinen, ist es aber dann nicht mehr, wenn man folgendes anzunehmen bereit ist: Schon hier findet jene Uberlagerung von zwei Zeitebenen statt, die, wie ich in dem Abschnitt über den poeta doctus skizziert habe (S. 27 f.), dem Konzept der Aeneis zugrunde liegt. Dort spricht Vergil in der Rolle des epischen Barden, der sich in die mythische Ära des Aeneas zurückversetzt, aber über dessen Taten mit ständigem Blick auf die „Zukunft" berichtet, in diesem Falle die Zeit nach Actium. Schon für Ekloge 1 gilt, daß der Leser zum Denken in zwei verschiedenen Zeitkategorien angehalten Der Augusteer 49 wird. Denn die Welt der Hirten ist eine fiktive, die in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. von Theokrit geschaffen wurde, und in diese Welt hat Vergil durch Anspielungen auf Bürgerkrieg und Landenteignung sowie die Verherrlichung des „Jünglings" (Ekloge 1.42) die römische Realität der dreißiger Jahre des 1. Jahrhunderts v.Chr. hineinprojiziert. Die somit bewirkte Überlagerung von zwei Zeitebenen sehen wir in Ekloge 4 auf kuriose Weise abgewandelt: Innerhalb der Prophezeiung über die zu erhoffenden Segnungen des neuen Goldenen Zeitalters sind diejenigen, weiche die ganze Menschheit beglücken, mit solchen vermischt, die allein die Hirtenwelt betreffen. Es ist der Mittelteil des Gedichts (18-45), m dem wlr erfahren, wie sich das Goldene Zeitalter schon vor der Geburt des Knaben ankündigen und während seiner Jugend und des Mannesalters stetig zum Idealzustand entwickeln wird. Als erste Vorboten der paradiesischen Zustände nennt der Hirtendichter Gaben für das Kind, die um die Zeit, wenn es zur Welt kommt, von der Erde zu erwarten sind: Ohne vorherige Saat sprießen dann Efeu, Narden, Akanthus und Wasserrosen (18-20). Zu einer so erhabenen Vorstellung, die wohl jeden anspricht, der sich ein Paradies ausmalt, gesellt sich plötzlich ein eher amüsantes Bild: Ziegen bringen von selbst milchstrotzende Euter heim (21 f.). Das interessiert natürlich in erster Linie einen Hirten - ebenso wie die Aussicht auf dies: „Nicht werden vor den großen Löwen Angst haben müssen die Herden" (22). Weniger wichtig mögen für einen Hirten die sanften Blumen sein, welche die Wiege des Knaben von selbst wachsen lassen wird (23), aber um so mehr darf er sich darauf freuen, daß Schlangen und giftige Kräuter zum Untergang bestimmt sind (24 f.). So setzt sich das fort: Motive, die Vergil aus der Tradition des Mythos vom Goldenen Zeitalter entwickelte, wechseln sich ab mit solchen, die primär zu der Schilderung eines Hirten-Utopia passen. Das gipfelt darin, daß auf die Prophezeiung, Acker- und Weinbau werde nicht mehr erforderlich sein (40 f.) - so war es ja schon im ersten Goldenen Zeitalter -, die Weissagung folgt, Wolle benötige künftig keine Färbung: Diese zeige sich dann von selbst auf den Schaffellen (42-45). Nun bedenke man: Derartig seltsam sind die Wunschträume eines Hirten und die Segnungen eines Goldenen Zeitalters, wie man es aus der Mythologie kennt, ausgerechnet in einem Lied vereinigt, das die ehrwürdigen Parzen gesungen haben sollen. Diese Unstimmigkeit dürfte so zu erklären sein: Vergil fingiert, daß es sich bei dem Referat des Hirtendichters um eine sehr freie Wiedergabe des Liedes handelt, also sozusagen die „bukolische Version". Aber diese wirkt ein wenig komisch, und deshalb drängt sich die Frage nach der damit verbundenen Intention des Autors auf. Der Verweis auf den Gattungszwang scheint zwar berechtigt, aber in den Versen 1-3 kündigt der Hirtendichter ausdrücklich einen etwas erhabeneren Gesang an. Man kann sich jedoch gut vorstellen, daß Vergil zu einer Zeit, als man jo Rollen und Stimmen des Dichters noch zweifeln konnte, ob Octavian wirklich die höchste Macht im römischen Reich erringen würde, direkt formulierte Herrscherpanegyrik und all die damit verbundene Schmeichelei scheute. Da bot es sich an, die Maske des Hirtendichters zu tragen und sich dadurch eine Lizenz zum Lobpreis des Imperators im Rahmen der für „kleine" Poesie geltenden Gattungsgesetze zu sichern. Vergil spricht also zum einen mit der Stimme der Parzen, und diese klingt ähnlich wie diejenige, die wir aus Sibyllinischen Sprüchen vernehmen. Andererseits hören wir ihn zumindest stellenweise wie einen kleinen Mann reden, der sich ein bukolisches Schlaraffenland wünscht. Dadurch erhält die Ekloge einen besonderen Reiz, den schon die Zeitgenossen goutiert haben dürften. Folgendes könnte diese Interpretation bestätigen: Vergil gibt in der Rolle des Hirtendichters selbst zu verstehen, in seinen Augen seien die Verse für den Knaben noch gar keine adäquate Panegyrik. Denn nachdem er ihn aufgefordert hat, seine Karriere zu beginnen und wahrzunehmen, wie der Kosmos sich auf die nahende Weltzeit freut, sagt er (53 f.): O bliebe mir dann eines langen Lebens letzter Rest und soviel Atem, wie man braucht, um von deinen Taten zu dichten! Uber den für die Schilderung von großen Taten nötigen Atem verfügt ein Epiker, und als solcher fand Vergil später eine Gelegenheit zur Erfüllung seines Wunsches, wenn auch nur an denjenigen Stellen der Aeneis, wo er den Lesern „Durchblicke" von der mythischen Zeit auf die eigene Gegenwart bietet. Eine dieser Passagen enthält die sogenannte „Heldenschau", die im dritten Teil dieses Abschnittes näher betrachtet werden soll. Hier stellt Anchises, der seinem Sohn Aencas in der Unterwelt den „Aufmarsch" der Seelen künftiger großer Römer zeigt, Augustus und die von ihm zu erwartenden Taten ausführlich vor. Die Worte, mit denen Anchises beginnt, klingen wie eine Antwort auf die Frage, die man unzählige Male an Ekloge 4 gerichtet hat: Wer verbirgt sich hinter der Person des Knaben und künftigen Weltherrschers? Er sagt (6.791-75^): „Dies ist der Mann, dies ist er, der dir, wie du öfter hörst, verheißen wird, Augustus Caesar, eines Gottes Sohn, der stiften wird das Goldene Zeitalter von neuem für Latium ..." Während an dieser Stelle der Name des Imperators genannt wird, fehlt er nicht nur in Ekloge 1 und 4, sondern überdies in Ekloge 8, wo Octavian als Feldherr in der dalmatinisch-illyrischen Expedition von 3 5/34 V. Chr. angesprochen ist (S. 21). Dort wünscht sich Vergil zum zweiten Mal in seiner Rolle als Elirtendichter, von den Taten Octavians zu künden (6-13), und zwar im erhabenen Stil der Sophokleischen Tragödie. Gleichzeitig fordert Der Atigusteer 51 er den Imperator auf, die auf dessen Befehl begonnenen Gedichte in Empfang zu nehmen (11 f.). Damit schlägt er einen Bogen zurück zu Ekloge 1, wo der „Jüngling" (1.42) den Hirten Tityrus zum Weiden der Rinder und damit implizit zum Verfassen bukolischer Poesie ermuntert. Es sind also insgesamt drei Eklogcn, in denen Vergil als Hirtendichter dem Imperator Octavian seine Reverenz erweist. Hier bleibt dieser jeweils noch anonym, in den Georgica dagegen, zu denen jetzt überzugehen ist, steht der Name ganz betont am Anfang, in der Mitte und am Ende. „ Inmitten wird mir Caesar sein." Wie die Person Octavians gleich am Anfang der Bucolica in den Blick gerät, so auch in den Georgica schon im Proöm. Hier spricht der Dichter zunächst Maecenas an (ca. 70-8 v. Chr.) - zu ihm als dem Adressaten des Werkes kommen wir später - und gibt ihm eine Kurzübersicht zum Inhalt des gesamten Textes (i-ja; S. 26). Darauf folgt ein Satz, der bis zu Vers 42 reicht und bei dem es sich wohl um die längste Periode der lateinischen Literatur handelt. Man muß also, wenn man die Verse laut liest - so geschah es meist in der Antike -, einen ebenso langen Atem haben, und dazu paßt sehr gut, was der Text enthält: Der Dichter ruft als Schutzpatrone der Landwirtschaft und Helfer bei seinem Werk der Reihe nach zwölf Götter, die traditionell mit der bäuerlichen Welt in Verbindung gebracht wurden, und anschließend auch noch den künftigen Gott Octavian an. Die Worte „und du vor allem", mit denen Vergil sich ihm in Vers 24 zuwendet - er redet ihn erst am Ende von Vers 25 mit „Caesar" an -, lassen erwarten, jetzt werde der Dichter wie Varro zu Beginn seines Lehrbuchs über die Landwirtschaft Jupiter als dem obersten aller Götter Ehre erweisen. Das liegt auch deshalb nahe, weil das Proöm eines hellenistischen Lehrgedichts, das Vergils Lesern bestens bekannt war - Arats Phainomena (Himmelserscheinungen) -, mit einem Zeushymnos anfängt. Dieser leitet ein Werk ein, in dem der Göttervater als Beschützer der Bauern und Seefahrer fungiert, und dem entspricht es, daß der Dichter der Georgica am Schluß seiner Anrede an Octavian sagt (40-42): Gib leichte Fahrt, und sei dem kühnen Beginnen gewogen, und, der wegunkundigen Landbewohner mit mir dich erbarmend, tritt dein Amt an und gewöhn dich jetzt schon daran, im Gebet angerufen zu werden. Während es im Proöm Arats heißt, von Zeus seien „voll alle Straßen, alle Märkte, voll das Meer und die Häfen" (2-4), ist es für den römischen Lehrdichter ungewiß, ob Octavian einst als Gott über die Länder oder die Meere wachen oder sich zu einem neuen Gestirn wandeln wird. Hier lenkt r 52 Rollen und Stimmen des Dichters Vergil also wieder im Zusammenhang mit dem Herrscher den Blick auf den Kosmos. Lukrez, der diesen wie Epikur (341-270 v. Chr.) aus Atomen zusammengesetzt sieht, verehrt seinen Meister ebenfalls wie einen Gott. Unmittelbar nach der ersten Inhaltsangabe seines Lehrgedichts Die Natur der Dinge (1.50-61) sagt er in einem Lobpreis des Philosophen, dieser sei als „Sieger" über Götterfurcht und Todesangst weit Über die flammenden Mauern des Wettalls hinausgeschritten und habe das unermeßliche Universum mit Geist und Sinn durchwandert (1.62-79). Vergil will nun offensichtlich, daß der Leser seiner Georgien den Unterschied zwischen dem Weltbild seiner Dicbter-persona und derjenigen des Lukrez wahrnimmt. Für den Epikureer ist der Kosmos ein Konglomerat ohne festes Ziel miteinander vereinter „Samen der Dinge" (1.59), das eines Tages wieder auseinanderfallen muß, und steht nicht unter der Obhut von Göttern. Der Lehrer der Landleute dagegen bekennt sich gleich im Proöm zu einer nach festem Plan organisierten Weltordnung, über die im Himmel der (zwischen den Zeilen präsente) oberste Gott Jupiter und auf Erden der nach seinem Tod als Gott anzurufende Imperator Octavian herrschen. Das Thema der Georgica ist freilich weder das Universum noch das Imperium als dessen irdisches Abbild, sondern der „Kosmos", den der Bauer in beharrlichem Kampf gegen Unordnung und Chaos zu einem solchen machen muß. Weil er dabei ähnlich vorgeht wie ein Feldherr gegen seine Feinde, erscheint es sinnvoll, daß der Lehrdichter am Ende seines Proöms Octavian bittet, sich der „wegunkundigen" Landbewohner anzunehmen (41). Denn sie können von ihm als einem erfahrenen Imperator viel lernen. Aber sollen nur sie Schüler sein? Es wurde bereits gesagt, daß Vergil, wenn er in dem Lehrgedicht Auswüchse von Disziplinlosigkeit und Juror schildert, auf den Bürgerkrieg anspielen kann, der nicht lange vor der Publikation der Georgica bei Actium beendet worden war. Er wendet sich also an ein Publikum, das die Wiederherstellung der Ordnung in einem zerrütteten Staat herbeisehnt und voller Hoffnung auf den Sieger im Bürgerkrieg blickt. Und diesem Mann stellt der Dichter die gegen Unordnung kämpfenden Bauern vor Augen. Warum? Doch wohl in der Absicht, an seine Bereitschaft zu entsprechendem Handeln zu appellieren. Bedenkt man nun, daß der Archeget des antiken Lehrgedichts, Hesiod, in den Werken und Tagen außer seinem Bruder Perses die „Könige" - so nennt er die mächtigen Adeligen in seiner Heimat - moralisch ermahnt, dann ergibt sich: Die Konzeption von Vergils Lehrgedicht erlaubt es, das Werk auch als Fürstenspiegel für Octavian zu lesen. Unter dieser Voraussetzung darf man den Imperator als Schüler des Lehrdichters betrachten. Es gibt in den Georgica eine Passage, in der Octavian offenkundig mit dem Bauern als dem „Feldherrn", der Ordnung schafft, in Parallele gebracht wird: das Finale von Buch 1 (466-514). Nachdem der Dichter hier die Vorzeichen, die Caesars Ermordung angekündigt Der August.eer 33 haben sollen, aufgezählt, an die Schlachten bei Pharsalus und Philtppi erinnert und eine Zeit vorausgesehen hat, in weicher das Kriegsgebiet längst zur Stätte friedlichen Ackerbaus geworden ist, spricht er ein Gebet, das wie folgt beginnt (1.498-501^): Götter der Vorfahren, Heroen des Landes, Romulus und du, Mutter Vesta, die du den etruskischen Tiber und den römischen Palatin schirmst, wenigstens diesen Jüngling hindert nicht, der zerrütteten Welt (saeculum) zu Hilfe zu eilen! In klarem Rückbezug auf Ekloge 1 und 4 bezeichnet der Lehrdichter den Imperator Octavian als Jüngling und potentiellen Retter der Welt (dies und Zeitalter bedeutet saeculum). Da wenig später von einer Art Erbsünde der Römer, die längst hinreichend gebüßt sei, die Rede ist, darf man, wenn daraufhin der Erdkreis als von Kriegen heimgesucht dargestellt wird, sowohl an die von Octavian nach Actium geführten Kämpfe gegen auswärtige Feinde als auch an den Bürgerkrieg denken. Vergils Zettgenossen können, als die Georgica zwischen 29 und 27 V. Chr. erscheinen, eben noch nicht eindeutig sicher sein, daß Roms innere Zwietracht endgültig bewältigt und der Frieden wiedergewonnen ist. Deswegen heftig beunruhigt, vergleicht der Lehrdichter den „ruchlosen" Kriegsgott Mars, den er auf der ganzen Welt toben sieht (511), mit einer beim Wagenrennen außer Kontrolle geratenden Quadriga (1.512-514): So brechen die Viergespanne aus den Schranken hervor, gewinnen schnell an Raum, und vergeblich das Leitseil spannend wird der Lenker von den Pferden dahingetragen, und der Wagen gehorcht nicht mehr den Zügeln. Könnte mit dem Lenker Octavian gemeint sein? Der zeitgenössische Leser assoziierte wohl zunächst einmal den Mythos von Phaethon: Als Sohn des Phoebus darf dieser einmal den Sonnenwagen lenken, aber die Pferde gehen ihm durch und verursachen, da ihr Gespann der Erde zu nahe kommt, einen Weltenbrand. Nun verdankte Octavian dem Beistand des Phoebus Apollo - so behauptete zumindest die Propaganda des Herrschers in Wort und Bild - den Sieg bei Actium. Und da zudem die Sage umging, der Gott sei sein wirklicher Vater, mag man das Gleichnis mit dem Imperator in Verbindung bringen und als implizite Artikulation einer Erinnerung an seine Herrscherpflicht auffassen: Der Dichter ermahnt Octavian anhand eines Gegenbeispiels, gerade in der derzeitigen politischen Situation die Zügel des Wagens Staat fest in der Hand zu halten. Eine solche Interpretation läßt sich durch ein Gleichnis stützen, das in den Georgica rund 300 Verse vorher steht. Es beschreibt eine ähnliche Situation wie die des Wagenlenkers 54 Rollen und Stimmen des Dichters und bezieht sich auf den Bauern als den eigentlichen Schüler des Lehrdichters. Dieser sagt zunächst, er habe erlebt, wie erlesenes und mühsam geprüftes Saatgut verkam, wenn nicht menschliche Arbeit alljährlich immer das Beste mit der Hand auslas, und fährt fort (19^-203): So stürzt alles durch das Schicksal ins Schlimmere ab und wird, sinkend, rückwärtsgetragen, nicht anders als einer, der gegen den Strom mühselig seinen Kahn mit den Rudern vorwärts treibt: Wenn der nur einmal die Arme sinken läßt, reißt ihn jählings flußabwärts der Nachen. Der Ackerbauer wird in Buch 1 der Georgica immer wieder zu harter Arbeit angehalten, und das Gleichnis gibt ihm zu verstehen, daß er auch in höchster Not nicht aufgeben darf. Dementsprechend hält der Lehrdichter zumindest implizit den „Wagenlenker" Octavian dazu an, bei den Schwierigkeiten, welche die siegreiche Beendigung aller Kriege und die Neuordnung des Staates mit sich bringen, keine Mühe zu scheuen. Vergils Texte sind, wie nicht oft genug hervorgehoben werden kann, in ihrer Aussage vielstimmig. Deshalb besteht die Möglichkeit, daß der Lehrdichter mit dem Mann, der den Wagen lenkt, nicht nur Octavian, sondern auch sich selbst meint. Er könnte dann selbstironisch oder gar selbstkritisch sagen wollen, seine Bemerkungen zum Bürgerkrieg und sein Stoßgebet empfinde er als unkontrolliertes Abweichen von dem bisher begangenen Pfad der Unterweisung für Bauern. Antike Poeten gebrauchen für ihre Tätigkeit gern das Bild vom Lenken eines Wagens. So sagt der Dichter der Georgica, der das Gleichnis vom durchgehenden Gespann an den Schluß des ersten Buches gesetzt hat, am Ende des zweiten (541 f.): Aber wir haben eine unermeßlich weite Ebene durchlaufen, und schon ist es Zeit, die dampfenden Nacken der Pferde vom Joch zu lösen. Der strukturelle Bezug legt nahe, in dem Gleichnis, mit dem Buch 1 schließt, außer dem Imperator den Dichter abgebildet zu sehen. Eine Bestätigung erkennt man vielleicht darin, daß Vergil sich zu Beginn von Buch 3 als Autor der Georgica in der Pose eines Triumphators, der ja ebenfalls einen Wagen zu lenken pflegt, präsentiert und damit auf Triumphe Octavians anspielt; möglicherweise meint er schon diejenigen, die der Imperator nach seiner Rückkehr von den Feldzügen im Orient feierte (S. 38). Die „Gefangenen" aus dem Osten des Reiches, die der Dichter hinter sich her marschieren lassen will, sind aber keine Barbaren, sondern göttliche Jungfrauen aus Griechenland (3.10 f.): Der Augusteer ss Als erster will ich mit mir in die Heimat, wenn mein Leben ausreicht, vom Gipfel des Parnaß die Musen herabführen. Vorher hatte Vergil nach Eröffnung des Buches mit einer kurzen Angabe des Themas (1 f.) gesagt, alle anderen poetischen Stoffe, die den Geist der Leser in deren Freizeit unterhalten könnten, seien schon Gemeingut. Nach Nennung einiger Beispiele erklärte der Dichter dann, welche Konsequenz er ziehen wolle (3.8^9): Ich muß eine Bahn ausprobieren, auf der auch ich mich erheben kann vom Boden und als Sieger fliegen durch die Münder von Männern. Hier spielt Vergil auf das Grabepigramm an, in dem Quintus Ennius (239-169 v.Chr.) dasselbe Bild mit Blick auf sich selbst für das Erringen von dichterischem Ruhm verwendet. Da dieser Dichter als Autor der Annalen, einer Geschichte Roms in Hexametern, der wichtigste römische Vorläufer Vergils im Bereich des Epos ist, liegt es schon an dieser Stelle nahe, folgendes anzunehmen: Der Autor der Georgica denkt an das Verfassen eines epischen Werks, wenn er erklärt, er werde als „Sieger" (9) die Musen heimführen. Die Hauptperson des zu schreibenden Opus soll offensichtlich Octavian sein. Denn nachdem der Dichter verkündet hat, er wolle in Man-tua nahe am Fluß Mincius einen Tempel errichten - an seinen Triumphzug soll sich somit ein religiöser Akt anschließen -, sagt er (16): Inmitten wird mir Caesar sein, und er wird der Herr des Tempels sein. Dann schildert der künftige „Triumphator", wie er für Octavian am Mincius sportliche Wettkämpfe veranstalten, dazu ganz Griechenland einladen und selbst dem Tempel Opfergaben darbringen wird. Auf dessen Portal will er Siege Octavians im Osten des Imperiums abbilden (26-33), und Bildsäulen aus Marmor sollen die trojanischen Urahnen der Römer und Apollo darstellen (34-36). Schließlich sagt er dem Maecenas, er wolle jetzt noch bei dem Thema der Georgica verweilen (40-45), um das Proöm mit den Worten zu beenden (46-48): Bald aber will ich mich rüsten, von hitzigen Schlachten zu künden und Caesars Namen für so viele Jahre mit Ruhm bedenken, wie Caesar vom ersten Ursprung des Tithonus entfernt ist. Vergil zwingt uns schon wieder - das ist deutlich - zum Rätselraten. Natürlich hat man sich wie bei der Frage nach der Identität des Knaben in Ekloge 4 immer wieder darüber den Kopf zerbrochen, für welches poetische Werk der Tempel mit Octavian in der Mitte, den Bildern auf dem Por- f6 Rollen und Stimmen des Dichters tal und den Marmorsäulen wohl stehen könnte. Und natürlich bietet sich vor allem die Aeneis an. Ist sie gemeint? Wer annimmt, dieses Werk werde hier angekündigt, gerät in Schwierigkeiten. Denn einerseits kommen dort Octavians Siege im Osten nur in den drei „Durchblicken" auf die augusteische Gegenwart zur Sprache, andererseits spielen die trojanischen Urahnen eine weit wichtigere Rolle, als ihre kurze Erwähnung in den Versen 3 5 f. erwarten läßt. Aber dürfen wir überhaupt angesichts einer Verheißung, welche Vergils Dichter-persona macht, zur Erklärung ein Werk des realen Autors heranziehen? Wir befinden uns in der Mitte eines poetischen Diskurses, der sich, wie zu zeigen war, implizit als Fürstcnspiegel präsentiert. Man mag sich also das Werk, das dem „Fürsten" Octavian versprochen wird, als eine Belohnung dafür vorstellen, daß er die in dem Fürstenspiegcl unterschwellig ausgesprochenen Ermahnungen beherzigt. Bleibt man dabei innerhalb des Diskurses, liegt es am nächsten, an ein Werk zu denken, in dem die Taten des „Fürsten", zu denen ihn der Dichter anhält, verherrlicht werden. Das sind dem Finale von Buch 1 zufolge militärische Aktionen, derer es zur Rettung und Neuordnung des Staates bedarf. Genau davon will der Dichter ganz offensichtlich in dem von ihm verheißenen Epos künden. Und um Octavians Tätigkeit als Feldherr geht es noch einmal kurz im Epilog, wo Vergil sagt (4.560b-562), er habe sein Werk verfaßt, während der große Caesar am tiefen Euphrat Blitze schleuderte im Krieg, als Sieger bei willigen Völkern Recht sprach und sich den Weg zum Olymp bahnte. Wie am Anfang der Georgica erkennt man hinter der Gestalt des Imperators diejenige Jupiters, der ja für jegliches Donnerwetter zuständig ist. Octavian erscheint wieder als gottähnlicher Herr über einen „Kosmos", hier ganz konkret das Ordnungssystem des Imperiums. Sein Untertan, der Dichter, macht sich in unverkennbarer Sclbstironie entsprechend klein, indem er bescheiden erklärt, er habe seine Lebensblüte „mit Werken ruhmloser Muße" verbracht, und auf sein erstes, die Bucolica, verweist (563-566; S. 19). An dieser Stelle sagt er bemerkenswerterweise nicht, ob er nach den Georgica noch ein Werk schreiben und, wenn ja, welches Thema er behandeln will. Das werden seine Leser dann schon sehen. „Dies ist der Mann, dies ist er!" Der Atigusteer $j eines Textes. Die Sammlung der Hirtengedichte enthält drei Passagen, in denen von ihm die Rede ist (in Ekloge 1, 4 und 8), ebenso die Aeneis (1.286 ff., 6.791 ff. und 8.678 ff.). Mit Buch 8 des Epos, wo der Prinzeps zum letzten Mal genannt wird, erreicht die ^ewew-Handlung einen vorläufigen Endpunkt. Denn zum einen betritt der Protagonist hier erstmals den Boden des künftigen Rom (337 ff.), zum anderen sieht man auf dem Schild, der am Schluß des Buches beschrieben wird, die römische Geschichte von der Gründung der Stadt bis zu Augustus' dreifachem Triumph (13.-15.8.29 v. Chr.) abgebildet; dadurch ist das Ziel, für das die Taten des Aeneas die Voraussetzung schaffen, vorweggenommen. Also kann man sagen: Wir finden den Imperator wie in den Georgica, wo er unter dem Namen Caesar außer in 1.503 und 2.170 am Anfang (1.25), in der Mitte (3.16; 47; 48) und am Schluß (4.560) erscheint, in der Aeneis an drei ähnlich exponierten Stellen. Überdies steht der Name Augustus Caesar im Zentrum der Schildbeschreibung (8.678). Bei den drei Textpassagen in der Aeneis, die den Herrscher in das Epos integrieren, handelt es sich um die drei „Durchblicke" des Erzählers. Mit ihm zusammen schaut der zeitgenössische Leser hier durch das epische Geschehen hindurch direkt auf Roms historische Vergangenheit und die eigene Gegenwart. In Buch 1 ist ein solcher „Durchblick" erforderlich, weil Venus sich um die Zukunft ihres Sohnes sorgt. Ihn hat ein von Juno, seiner erbitterten Feindin, initiierter Sturm an die Küste Karthagos verschlagen, und die Mutter fürchtet, dies könnte das Ende seiner Fahrt sein. Doch Jupiter beruhigt sie, indem er ihr die Ankunft des Aeneas in Italien, seine dortigen Kämpfe, die Vergöttlichung nach dem Tode und dann die weitere geschichtliche Entwicklung von der Königsherrschaft des Acneas-Sohnes Ascanius-Julus bis zur Rückkehr des Juliers Caesar - mit ihm ist sicherlich Octavian gemeint (S. J. Harrison 1996) - aus dem Orient prophezeit (1.257-290). Nachdem der oberste Gott dies dargelegt hat, schließt er seine Rede sehr effektvoll mit folgenden Worten (291-296): „Rauhe Zeiten werden dann, wenn beigelegt sind die Kriege, mild werden. Die altehrwürdige Fides und Vesta, Romulus mit seinem Bruder Remus werden Gesetze geben. Die schrecklichen Pforten des Krieges werden mit eisernen Riegeln dicht verschlossen werden, der ruchlose Furor, drinnen auf grausamen Waffen sitzend und gefesselt mit hundert ehernen Knoten auf dem Rücken, wird fürchterlich brüllen mit blutigem Munde." In Rom sperrte man gemäß einem alten Brauch nach Beendigung eines Krieges den Tempel des Gottes Janus zu und brachte dadurch symbolisch zum Ausdruck, daß der Krieg im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr „ausbrechen" konnte. Mit den zitierten Versen spielt Vergil auf den Vollzug des rituellen Aktes durch Octavian im Jahre 29 v. Chr. an. Wenn der Die in der Überschrift (und vorher schon im Zusammenhang mit Ekloge 4) zitierten Worte, mit denen Anchises auf Augustus verweist (6.791), spricht er in der Aeneis an einer Stelle, die etwa die Werkmitte bildet. Wie in Ekloge 1 und den Georgica setzt Vergil den Imperator in das Zentrum }8 Rollen und Stimmen des Dichters Dichter den Krieg mit dem personifizierten/Wor (Raserei, Tobsucht; S. 42) gleichsetzt, gibt er zu verstehen, er betrachte vor allem die militärischen Kämpfe innerhalb des römischen Volkes als abgeschlossen. Entsprechend abschreckend wird Furor beschrieben. Vergil, einer der größten Sprachkünstler innerhalb der römischen Dichtung, nutzt dabei eine Besonderheit des Lateinischen: Wegen der Endungen ist hier die Wortstellung im Satz beliebig. Deshalb kann der Dichter die Verschränkung der Ketten um den Leib des Ungeheuers herum durch die Abfolge „(mit) hundert gefesselt ehernen / auf dem Rücken Knoten" abbilden. Außerdem bewirkt er durch s- und r-Alliteration, daß man förmlich glaubt, Furor nicht nur brüllen, sondern auch zischen zu hören (295 f.): saeua sedens super arma et centum vinetus aenis post tergum nodis fremet horridus ore cruento. Es hat seinen guten Grund, wenn es Jupiter ist, der so anschaulich von der Bändigung des Furor durch Augustus spricht. Anders als Zeus in der Ilitis Homers, der innerhalb der Götterschar nur als der erste unter Rangglci-chen fungiert, herrscht der oberste Unsterbliche im Kosmos der Aeneis als Monarch mit uneingeschränkter Macht. Wie unter seiner Führung die himmlischen Götter den furor der Giganten bändigen, so hat der irdische Monarch Octavian dem furor seiner Gegner im Bürgerkrieg ein Ende gesetzt. Wir sollen also in Jupiter die himmlische Entsprechung des irdischen Prinzeps und insofern den römischen Nationalgott erkennen. Als solcher erweist Jupiter seinem Volk eine ganz besondere Gunst, indem er an einer bekannten Stelle seiner Worte an Venus über die Römer sagt (278-279a): „Ihnen setze ich weder im Raum noch in der Zeit Grenzen; eine Herrschaft ohne Ende habe ich ihnen gegeben." Dem Blick auf Augustus von überirdischer Warte aus, wie ihn in Buch 1 Jupiters Rede ermöglicht, korrespondiert in Buch 6 die Perspektive der Unterwelt. Aeneas besucht dort seinen Vater, und dieser entfaltet ihm die Lehre von der Metempsychose (724-751); ihr zufolge gehen die Seelen der Verstorbenen nach dem Trunk aus Lethe, dem Strom des Vergessens, in neue irdische Körper und so auch in künftige römische Helden ein. Eine ganze Reihe von ihnen sehen Vater und Sohn nun in der „Heldenschau" (752-886) aufmarschieren, unter ihnen auch Augustus. Es ist bemerkenswert, daß Vergil ihn und seinen (Adoptiv-)Vatcr Caesar mitten in der Reihe von römischen Königen plaziert hat, mit der die Parade beginnt. Vor den beiden Imperatoren werden die von Aeneas abstammenden Herrscher von Alba Longa und der Romgründer Romulus genannt (760-787); Der Augusteer )9 ihnen folgen Numa Pompilius, Tullus Hostilius, Ancus Marcius und die Tarquinier, deren Vertreibung durch Brutus die Umwandlung des Staates von einer Monarchie in eine Republik bewirkte (808-818). Wir bekommen Augustus also zunächst einmal als Alleinherrscher präsentiert. Wenn An-chises dann die mit Brutus beginnende Reihe der republikanischen Staatsmänner (819-846) unterbricht, um zweien seiner Nachkommen die Schuld am Bürgerkrieg zuzuweisen, spricht er nicht Octavian und Antonius, sondern Caesar und Gnaeus Pompeius an (826-835). Offenbar wird hier ganz selbstverständlich vorausgesetzt, daß Octavian als Teilnehmer am Bürgerkrieg keinen Tadel verdient. Für den Erzähler der Aeneis ist das Agieren des Imperators vielmehr, wie man aus dem Bericht über die Seeschlacht bei Actium innerhalb der Schildbeschreibung erschließen darf, höchst lobenswert, weil es den Kampfhandlungen ein Ende setzte und so zu einer friedlichen Neuordnung des römischen Reiches führte. Da Octavian-Augustus der Darstellung Vergils zufolge, wie gezeigt, durch seine militärischen Aktionen auch Großes gegen auswärtige Feinde geleistet hat, werden die Staatsmänner der Republik im letzten Abschnitt der „Heldenschau" (836-846) konsequenterweise primär unter dem Aspekt ihres jeweiligen Beitrages zur Verteidigung und Erweiterung des Imperiums betrachtet. Aus ihrem Handeln leitet Anchises seine berühmten Mahnworte ab, mit denen er die Römer dazu auffordert, im Gegensatz zu den für Kunst, Rhetorik und Wissenschaft zuständigen Griechen die Funktion der planvoll vorgehenden Welteroberer zu übernehmen (847-853): „Formen werden andere geschmeidiger atmendes Erz (ich glaube es jedenfalls), werden meißeln lebendige Züge aus Marmor, besser vor Gericht reden, des Himmels Bahnen beschreiben mit dem Stab und den Aufgang der Sterne ankündigen: Du, Römer, denke daran, Völker durch deine Herrschaft zu lenken (dies werden für dich Künste sein), dem Frieden Sitte und Ordnung aufzuerlegen, zu schonen die Unterworfenen und niederzukämpfen die Hochmütigen!" Präziser konnte sich das römische Sendungsbewußtsein nicht artikulieren. Von diesen Versen spannt sich ein Bogen zur Abbildung des römischen „Kosmos" auf dem Schild des Aeneas (8.626-728). Es wurde bereits dargelegt, wie der Erzähler hier zunächst die Geschichte von der Gründung Roms an überblickt und dann länger bei dem Sieg Octavians in der Schlacht bei Actium sowie dessen dreifachem Triumph verweilt, wobei er durch seine Schilderung der Schlacht die Gigantomachie evoziert und den auf der Schwelle des Apollotempels sitzenden Imperator zum Herrn über ein irdisches Universum stilisiert (S. 38 f.). Die „Heldenschau" am Ende des sechsten und die Übersicht über Werden und Wachsen des Imperiums 6a Rollen und Stimmen des Dichters am Ende des achten Buches liefern zwei imposante Zusammenfassungen von wichtigen Episoden des Wegs, den Rom beim Aufstieg zur Macht durchlief. Da keine dieser Episoden zweimal angesprochen ist, ergänzen die beiden Darstellungen sich sogar gegenseitig. Allerdings unterscheiden sie sich in einem Punkt: Auf dem Schild sind ausschließlich Szenen abgebildet, deren Betrachtung die Herzen patriotischer Römer zweifellos höher schlagen ließ; am Ende der „Heldenschau" findet sich dagegen eine längere Passage (6.855-886), deren Lektüre schmerzliche Erinnerungen geweckt haben dürfte. Hier zeigt Anchises seinem Sohn den Feldherrn Marcus Claudius Marcellus, der im Jahre 222 v. Chr. eine spektakuläre Leistung vollbrachte, sowie dessen gleichnamigen Nachfahren, den Neffen und Schwiegersohn des Augustus. Dieser war, nachdem er in jungen Jahren Hoffnungen auf große Taten geweckt hatte, 23 v. Chr. bereits mit 19 Jahren gestorben (S. 17 f.). Anchises, sehr bewegt vom Anblick des für einen frühen Tod bestimmten Jünglings, prophezeit tiefe Trauer bei dessen Bestattung und würdigt ihn jetzt schon eines Nachrufes, ja verspricht sogar, der Seele des Verstorbenen purpurne Blumen zu spenden. So endet die prachtvolle Revue römischen Heldentums überraschend mit einer Grabrede. Da nun an dem Tag, als die Beisetzung tatsächlich stattfand, Augustus höchstpersönlich den Nekrolog sprach, mußte der zeitgenössische Leser sich den Mann, der knapp hundert Verse zuvor als göttlicher Herrscher gepriesen wurde, im Trauergewand vorstellen. Aber um so mehr konnte er sich dazu aufgefordert sehen, Mitgefühl für Augustus zu empfinden und somit den pathetischen Schluß der Heldenschau als besonders eindringlichen Appell an seine Loyalität gegenüber dem Kaiserhaus zu verstehen. Zahlreiche Erklärer der Aeneis sind jedoch der Ansicht, durch die exponierte Plazierung der Marcellus-Passage lasse Vergil ganz bewußt einen Schatten auf Glanz und Gloria Roms unter Augustus fallen. Man hat den Verstorbenen mit anderen jungen Menschen, über deren frühen Tod das Epos berichtet - Nisus und Euryalus im neunten, Pallas und Lausus im zehnten, Camilla im elften sowie Turnus im zwölften Buch-, zusammengerückt, um aus der Art, in welcher der Erzähler dort jeweils den Sterbevorgang kommentiert, folgendes abzuleiten: Der Dichter der Aeneis spreche, obwohl er seine Stimme „offiziell" als Verkünder der Größe des Augustus vernehmen läßt, „inoffiziell" mit einer zweiten, prinzipatskritischen Stimme. Denn durch Hervorhebung der Opfer, die der Kampf des Aeneas zur Erringung der Herrschaft in Latium kostet, weise Vergil implizit darauf hin, daß Augustus, wie historisch ja durchaus belegt werden kann, bis zum Sieg bei Actium und darüber hinaus über Leichen ging, und klage den Herrscher somit an. Diese Meinung wurde erstmals 1963 von dem amerikanischen Gelehrten Adam Parry in einem Aufsatz mit dem Titel „The Two Voices of Virgil's Aeneid" (Hardie 1999, 3, 49 ff-) vertreten, und sie Die Stimme der Einfühlung 61 fand besonders in den USA, aber auch bei einigen europäischen Latinisten großen Anklang. Was ist zu der sogenannten „Two-Voices-Theorie" zu sagen? Nun, wie ich die Passagen in Vergils Werk beurteile, in denen sein poetisches Alter ego über Octavian-Augustus spricht, dürfte aus den bisherigen Darlegungen deutlich geworden sein. In meinen Augen hat Vergils persona in Buco-lica, Georgiat und Aeneis ein durchweg positives Bild von der Person des Imperators gezeichnet, und überdies stimmt dieses Bild mit der aus den drei Werken erschließbaren Weltsicht des Dichters überein. Er stellt uns Octavian-Augustus als einen Mann vor, der über den Kosmos des Imperium Romanům zu herrschen prädestiniert ist und dazu die besten Fähigkeiten besitzt. Nachdem Vergil als Hirtendichter unter Berufung auf die Parzen die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters unter der Regentschaft Octavians prophezeit und als Lehrdichter seine Hoffnung artikuliert hat, der Imperator werde das von auswärtigen Kriegen und Bürgerzwist zerrüttete Reich retten sowie neu ordnen, gibt er als Sänger der Taten des Aeneas klar zu erkennen, er wisse dessen Nachfahren nunmehr am Ziel seiner politischen Mission. Denn er zeigt ihn uns am Ende von Buch 8 auf dem Schild des Aeneas im Mittelpunkt des irdischen Universums, das darauf abgebildet ist. Daß Vergil sein Erzähler-Ich den Prinzeps auf so spektakuläre Weise als idealen Herrscher preisen, aber gleichzeitig an ihm und seinem Vorfahren Aeneas Kritik üben ließe, halte ich für so abwegig, daß ich mich einer solchen Interpretation nicht anschließen kann. Um so nachdrücklicher möchte ich eines nochmals hervorheben: Vergils poetisches Ich beschreibt - das betonen auch Parry und seine Nachfolger -immer wieder Menschen, die sich in den so positiv dargestellten irdischen Kosmos nicht recht einfügen wollen oder gar zu Opfern des darin geltenden Ordnungssystems werden, mit auffallend starker Bereitschaft zur Einfühlung in ihr Denken und Handeln; speziell in den Georgica identifiziert sich der dort zu uns sprechende Lehrer des Landbaus sogar mit leidenden Tieren. Da es aber meiner Ansicht nach auf gar keinen Fall Systemkritik ist, was sich hier äußert, muß etwas anderes damit bezweckt sein. Im nächsten Abschnitt soll zuerst in einem Überblick gezeigt werden, wie Vergil als Hirten- und Lehrdichter sowie vor allem als Epiker seiner Empathie Ausdruck verleiht. Anschließend ist darzulegen, welche Intention mit dieser Erzählhaltung verbunden sein könnte. Die Stimme der Einfühlung Als der Hirtc Tityrus dem Meliboeus erklärt hat, warum er friedlich im Schatten einer Buche liegen darf, während der „Kollege" die Heimat verlassen muß - Tityrus verdankt dem „Gott" (6) in Rom, daß er nach wie vor 90 Die Sammlung der Hirtengedichte Vielleicht liefert der Schluß der Ekloge 10 die Bestätigung für eine solche Deutung; betrachten wir speziell die Verse 70-74: Dies wird genügen, Göttinnen, was hier euer Dichter gesungen hat, während er dasaß und aus zierlichem Hibiskus ein Körbchen flocht, ihr Musen. Ihr werdet dies großartig erscheinen lassen dem Gallus, dem Gallus, zu dem ich von Stunde zu Stunde wachsende Liebe verspüre, so sehr, wie im jungen Frühling grün aufschießt die Eric. Endlich erfahren wir, wessen Stimme wir das ganze Gedichtbuch über immer dann vernahmen, wenn nicht die darin auftretenden Figuren direkt zu Wort kamen. Wie sie ist der Ich-Sprecher also ein dichtender Hirte, und er verrät uns nun auch noch, sein Herz schlage für Gallus, ja stetig heftiger. Kann es ihm nun ernst damit gewesen sein, wenn er sich am Anfang der Ekloge Lycoris als Leserin wünschte und so implizierte, sie könne den Text als Dichtung interpretieren, die für Gallus wirbt? Jetzt sieht es eher so aus, als trete Vergils persona in eigener Sache als „Freier" auf und gebe dem Gallus der zehnten Ekloge zu verstehen: „Solltest du dich einmal in die bukolische Welt hineinträumen, dann wünsch dir doch nicht diese Frau, sondern mich als erotischen Partner!" Natürlich könnte in Vers 73 mit „Liebe" einfach Begeisterung für die Dichtung des Gallus gemeint sein. Aber da Poesie und Eros im Eklogenbuch eng miteinander verbunden sind, kann man sicherlich davon ausgehen, daß Gallus für den Hirtendichter nicht nur als Elegiker, sondern auch als Mann attraktiv ist. Gleich nach der Selbstvorstellung erhebt sich der Autor der Bucolica aus dem Schatten, der ihn bisher zum „Singen" eingeladen hat (75-77). Damit steigt er, wie wir gesehen haben (S. 68), symbolisch auf zur nächsthöheren Stufe seiner Kunst: dem Lehrgedicht über den Landbau. Werk in vier Büchern: Das Lehrgedicht vom Landbau Ackerbau und Baumpflanzung Zum Lehrgedichtscharakter der Georgica paßt es gut, daß Vergil sie sehr übersichtlich gegliedert hat. Von den insgesamt vier Büchern, die etwa gleich lang sind - das dritte und vierte haben sogar genau denselben Umfang (566 Verse) -, bilden je zwei ein Paar: 1 und 2 behandeln die unbelebte Natur und Pflanzen, 3 und 4 die Tiere. Am Anfang beider Diptychen steht ein ausführliches Proöm (1.1-42; 3.1-48), während das jeweils zweite Buch nur durch eine Vorbemerkung eingeleitet wird (2.1-8; 4.1-7). Dementsprechend umfaßt das Finale von Buch 2 (458-542) nahezu doppelt so viele Verse wie das von Buch 1 (466-514) und dasjenige des vierten Buches (315-566) sogar 163 Verse mehr als das Finale des dritten (478-566). Es bietet sich also an, die beiden Buchpaare in je einem Abschnitt zu betrachten. Doch bevor ich mit dem ersten beginne und zu zeigen versuche, wie Vergil mit den Themen „Ackerbau" und „Baumpflanzung" umgeht, möchte ich kurz etwas zu dem Lesepublikum sagen, an das der Autor sich mit seinem Lehrgedicht wendet. Der lector doctus Die vier Bücher der Georgica haben eines gemeinsam: Jeweils am Anfang spricht Vergil Maecenas an, dessen Name viermal an spiegclsymmetrisch einander zugeordneten Stellen genannt wird; sie finden sich in 1.2, 2.41, 3.41 und 4.2. Außer Octavian (S. 51 f.) erweist der Dichter also einer weiteren Person besondere Ehre, und das ist nur zu verständlich. Denn Maecenas, der sehr wohlhabend war und für den Imperator in den dreißiger Jahren des I.Jahrhunderts v.Chr. diplomatische Missionen sowie andere politische Aufgaben übernahm, wurde etwa in der Zeit, als die Bucolica erschienen (um 35 V. Chr.), der Gönner und Freund Vergils. Zusammen mit ihm förderte Maecenas mehrere andere Dichter, darunter Properz und Vergils engen Freund Horaz (65-8 v. Chr.), und so wußte er sicherlich nicht nur die Eleganz der Verse in den Georgica, sondern darüber hinaus auch ihren Reichtum an Anspielungen auf verschiedene literarische Texte zu würdigen. Einen Hinweis darauf geben unter anderem die an den Gönner zu Beginn von Buch 2 gerichteten Worte. Vergil bittet ihn dort um Hilfe bei dem begonnenen Werk und erklärt dann (42-44a): 9* Das Lehrgedicht vom Landbau Nicht alles mit meinen Versen zu umfassen wünsche ich, nicht einmal, wenn mir hundert Zungen wären und hundert Münder und eine Stimme aus Eisen. Damit evoziert der Dichter - offensichtlich in der Erwartung, daß Maece-nas dies bemerkte - eine Stelle in der Ilias, an der Homer über die von ihm aufzuzählenden Anführer der Griechen sagt (2.488-490): Die Vielzahl könnte ich nicht angeben und nicht benennen, auch nicht wenn mir zehn Zungen und zehn Münder wären und die Stimme unzerbrechlich und ein ehernes Herz in mir steckte. Maecenas soll freilich nicht nur das „Zitat" verifizieren, sondern vor allem wahrnehmen, wie feinsinnig Vergil seine Tätigkeit als Autor der Georgien ironisiert. In komischer „Vermessenheit" stellt der Dichter die inhaltlich vergleichsweise anspruchslosen Unterweisungen für den Landmann mit dem erhabenen Stoff des großen Homer auf eine Stufe; wie schon vor ihm der Epiker Hostius (2. Jh. v. Chr.) verzehnfacht er dabei die Zahl der Zungen und Münder gegenüber dem Prätext. Als Läteraturkenner mit dem richtigen Blick für die intertextuellen Spielereien Vergils in den Georgica steht Maecenas für einen ganz bestimmten Typ von Leser: den lector doc-tus. Für ihn allein schrieb derpoeta doctm sein Werk. Der direkt als Schüler des Lehrdichters angesprochene Landmann ist lediglich ein fiktiver Leser. Reale römische Ackerbauern, Winzer, Viehzüchter und Imker wären mit den Georgica als einem Leitfaden für ihre Arbeit schlecht beraten gewesen; das Werk besitzt nicht - so hat man mit Recht immer wieder betont - die Qualität einschlägiger Fachbücher. Gewinn brachte die Lektüre des Lehrgedichts dagegen all denjenigen unter Vergils Zeitgenossen, die wie Maecenas genügend Bildung besaßen, sich an geistreicher Unterhaltung, wie sie der Urbane Umgang des Dichters mit seinem spröden Stoff zu bieten hatte, erfreuen zu können. Und solche Leser waren auch in der Lage, die zwischen den Zeilen vermittelte „höhere" Lehre für Octavian zu vernehmen. Worin diese „höhere" Lehre besteht, war schon im letzten Kapitel zu zeigen (S. 51 ff.): Der Bauer, der in harter Arbeit die Natur bezähmt und so das von ihm gewünschte Ordnungssystem eines kleinen Kosmos schafft, wird dem Imperator als Vorbild für die Restauration des vom Bürgerkrieg zerrütteten römischen Reiches vor Augen gestellt. Wie Octavian seine Feinde sowohl besiegen als auch an eine anschließend zu begründende neue Ordnung gewöhnen soll, so unterwirft der Landwirt Acker, Pflanzen und Tiere seinem Willen und kultiviert sie. Dabei geht er zuweilen wie ein Soldat vor, der sich mit der Anwendung von Gewalt begnügt, ist aber auch vielfach - das hat erstmals Philip Hardie gebührend hervorgehoben (2004) Ackerbau und Baumpflanzung 93 - erzieherisch tätig. Vergils Schüler übt also seinerseits stets dann, wenn er nicht einfach nur seine „Waffen" einsetzt - der Dichter bezeichnet die Ackergeräte als solche (1.160) -, die Funktion des Lehrers aus. Um dies zu veranschaulichen, verwendet Vergil eine ganz bestimmte Metaphorik: Er spricht von der unbelebten Natur, den Pflanzen und Tieren häufig wie von Lebewesen, die mit Intelligenz ausgestattet sind und deshalb die Fähigkeit besitzen, sich vom Landmann nicht nur „niederringen", sondern auch „erziehen" zu lassen. Im folgenden möchte ich bei der Betrachtung der einzelnen Bücher und ausgewählter Textpassagen der Georgica den Bauern in seiner Doppelrolle als Soldat und Erzieher immer wieder in den Blick nehmen. Beginnen wir mit einer Übersicht über Buch 1! „ Im Märzen der Bauer ..." Weil Vergil von seinem Schüler durchweg harte Arbeit verlangt, fängt er seine Unterweisung gleich nach dem Proöm (S. 51 f.) „mit Schwung" an. Indem er den „Wagen" seines Lehrgangs (S. 54), der nicht vor dem Ende von Buch 2 erstmals Halt machen wird, ins Rollen bringt, setzt er auch den Pflug in Bewegung und sagt dabei aus der Sicht des ackernden Bauern (1.43-46): Am Frühlingsbeginn, wenn das eisige Naß auf den weißgrauen Bergen schmilzt und dem Westwind die mürbe Erdscholle sich auftut, da schon soll der Stier am niedergepreßten Pflug für mich zu keuchen und, in der Furche abgescheuert, die Pflugschar zu blinken beginnen. Durch deutliche Bezugnahme auf die entsprechende Lektion in Hesiods Lehrgedicht Werke und Tage (458-462) gibt Vergil zu verstehen, was er schon im ersten Vers der Georgica andeutet (S. 26): Er wird sich thematisch zunächst einmal an dem didaktischen Opus des Griechen orientieren. Tatsächlich ist Buch 1 insofern in „Werke" und „Tage" gegliedert, als es in den Versen 43-203 um die Bestellung des Ackers und dann bis zum Beginn des Finales um den ländlichen Terminkalender sowie die Wetterzeichen geht (204-465). Im „Werke"-Teil finden sich zunächst Anweisungen für Maßnahmen vor und nach der Saat (50-117). Hier lesen wir in Vers 99, derjenige nütze dem Boden, der die Erde häufig „in Übung hält" (exercet) und den Fluren so „gebietet" (irnperat). Das evoziert nun erstmals im Text das Handeln eines militärischen Befehlshabers, aber nicht beim Lenken einer Schlacht, sondern beim Exerzieren mit Soldaten, das ja durchaus erzieherischer Tätigkeit vergleichbar ist. Kurz danach aber sagt Vergil von dem Ackersmann, der nach der Aussaat das Feld bearbeitet, er „rücke" diesem „im Nahkampf zu Leibe" (104 f.: comminus ... insequitur), und anschließend 94 Das Lehrgedicht vom Landhau spielt der Dichter auf einen kämpfenden Recken an: Achill. Denn wenn er darlegt, auf welche Weise der Bauer einen Fluß kanalisiert und zu den Saaten lenkt (ro6-i 10), soll der lector doctus sich an Homers Bericht über den Angriff des Flusses Skamander auf den vor ihm fliehenden Pelidcn erinnern. Dort heißt es: Wie ein Mann beim Bewässern von Pflanzungen und Gärten durch die Fluten, die er selbst in Gräben leitet, überholt wird, habe den Recken, so rasch er auch war, stets die Woge der Strömung erreicht und in Lebensgefahr gebracht {Utas 21.257 ff.). Vergil rückt also seinen „kämpfenden" Ackerbauern in die Nähe des größten Helden im Trojanischen Krieg, und das wirkt natürlich ein wenig komisch. Daß er ein literarisches Spiel treibt, verliert der Dichter trotz setner wiederholten Mahnung zu hohem Arbeitsethos nie aus den Augen. So darf man auch bei Lektüre der übrigen Verse des „Wcrkc"-Teils von Buch 1 (118-203) immer wieder schmunzeln, obwohl Vergils Ausführungen sich hier geradezu wie eine theologisch-philosophische Abhandlung lesen. Er erklärt nämlich unter anderem, warum Jupiter der Menschheit die Notwendigkeit des labor (Mühe, Arbeit) auferlegt hat. Diese Passage habe ich als mein erstes größeres Textbeispiel ausgewählt und möchte sie deshalb in einem eigenen Abschnitt betrachten (S. 101 ff.). Zum „Tage"-Teil leitet Vergil über, indem er angibt, unter welchen Tierkreiszeichen jeweils dem Boden die verschiedenen Sorten von Saatkörnern (für Gerste, Lein, Mohn usw.) anvertraut werden sollen (204-230). Das dient als Auftakt zu einer kurzen Beschreibung der Himmels- und Erdzonen, die von der Gliederung der Sonnenbahn durch zwölf Sternbilder ausgeht (231-258). So wird nach dem Proöm erneut dem Universum Aufmerksamkeit geschenkt - seinem speziellen Interesse für Kosmologie und Sternenkunde verleiht Vergil dann im Finale zu Buch 2 Ausdruck (475 ff.; S. 39) -, und gleichzeitig ist die astronomische Grundlage für Ausführungen über wichtige Termine im Bauernkalender sowie über die Wetterzeichen geschaffen. Vergil ergreift nun die Gelegenheit, nicht nur die Arbeit auf dem Feld zum Thema seines Lehrgangs zu erheben, sondern auch Tätigkeiten für die Zeiten, in denen das Säen und Ernten ruhen muß, und bäuerliche Feste. Die Unterweisungen darüber, wie der Landmann den Aufenthalt im Haus bei ungünstigem Klima, die Feiertage, die Nacht und den Winter sinnvoll für notwendige Verrichtungen nutzen kann (259-310), geraten dem Dichter zu anschaulichen Genrebildern. Jetzt kann er also besonders eng an die kallimacheische Tradition der „kleinen" Poesie anknüpfen, indem er liebevoll etwa folgende Szene schildert: Der Bauer schnitzt nachts beim Schein des winterlichen Herdfeuers mit scharfem Messer an Kienfackeln herum, während seine Gattin vor sich hin singend am Webstuhl sitzt oder süßen Most kocht (291-296). Es verdient in diesem Zusammenhang Erwähnung, daß Vergil bei seiner Darstellung der bäuerlichen Existenz zwar wie hier auf das Ehe- und Fami- Ackerbau und Baumpflanzung 9J lienleben der Landleute zu sprechen kommt - in 2.523 wird dann auch von den „süßen Kindern" die Rede sein -, sich aber anders als in den Bucolica über rustikale Liebesfreuden gänzlich ausschweigt. So wählt er in Buch 1 als Beispiel für ländliches Feiern, wo dergleichen durchaus seinen Platz haben kann, offenbar bewußt eine Serie von Festen zu Ehren der Ceres (1.338-350), in deren Vordergrund Opfer- und Reinigungsrituale stehen. Überdies verrät er hier dem kundigen Leser durch seine Form des „Zitats" einer im Kontext passenden Hesiod-Stelle, daß er sogar ganz bewußt auf explizites Ansprechen des sexuellen Bereichs verzichtet: Während der Grieche in den Versen 585-587a der Werke und Tage über die Sommerzeit auf dem Lande schreibt: Dann sind am fettesten die Ziegen, und der Wein ist am besten, am geilsten sind die Frauen, am kraftlosesten aber die Männer lesen wir bei dem römischen Dichter in der Passage über die Ceres-Feste (1.341b): Dann sind fett (pingues) die Lämmer und dann am leichtesten die Weine, dann ist der Schlaf (somni) süß, und dicht sind in den Bergen die Schatten. Der erste uns bekannte lector doctus, der darauf reagierte, daß Vergil hier etwas „ausläßt", war Ovid. Am Anfang seiner Elegie Amores 1.13 spielt er bei der Schilderung einer Situation, in der er sich einmal bei Sonnenaufgang befindet, unverkennbar auf die gerade zitierten Vergil-Verse an, und dies in einem ausgesprochen erotischen Kontext (5-8): Jetzt ist es herrlich, zu ruhen in den zarten Armen der Geliebten, wenn jemals, ist sie jetzt wohlig mir an die Seite geschmiegt. Jetzt ist auch üppig der Schlaf (pingues somni), und die Luft ist kühl, und hell aus zarter Kehle singen die Vögel. Der Lehrdichter wird in Buch 3 implizit zu erkennen geben, warum er die Sexualität aus dem Leben seiner Bauern ausblendet: Er sieht in ihr vor allem die Gefahr der Ausartung zum furor (S. 42 f.). Deshalb hebt er dann in seinen Darlegungen über die Bienen hervor, daß es bei ihnen kein Geschlechtsleben gibt (4.197 ff.). Neben den Bildern vom Alltag der Landleute bietet die zweite Hälfte von Buch 1 Naturbeschreibungen, die sich stellenweise zu prachtvollen Gemälden ausweiten. Nachdem Vergil unmittelbar vor der Passage über die Ceres-Feste ausführlich einen Sturm geschildert hat (316-334) - vielleicht wollte er die Leser schon jetzt auf das „Stürmen" der Bürgerkriege 96 Das Lehrgedicht vom Landbau einstimmen, von denen im Finale die Rede sein wird -, vergegenwärtigt er in der Sektion über die Wetterzeichen (351-465) sehr detailliert, wie einzelne Tiere sich verhalten, wenn sie das Nahen heftiger Winde oder eines Regens spüren. Da heißt es zum Beispiel (383-389): Schon sieht man verschiedene Meervögel und solche, die ringsum asiatische Wiesen im frischen Marschland durchstöbern am Caystrus-Fluß, sich um die Wette reichlich Wassertropfen über die Schultern sprühen, bald den Kopf in die Fluten tauchen, bald in die Wellen rennen und mit vergeblichem Eifer zu baden bemüht sind. Da krächzt die böse Krähe aus voller Kehle nach Regen und spaziert für sich allein auf trockenem Sand. Wieder lohnt sich der Hinweis auf die Reaktion des Lesers Ovid. Er läßt in den Metamorphosen die Krähe erzählen, sie sei einst eine von Freiern umschwärmte Königstochter gewesen, aber eines Tages habe ihre Schönheit ihr geschadet (2.572b- 574a): „Denn als ich am Strand mit fangsamen Schritten, wie gewohnt, ganz draußen auf dem Sand spazierte, sah mich der Gott des Meeres und erglühte für mich ..." Damals kam also nicht Regen, sondern Neptun als neuer Freier. Er versuchte es erst mit Worten, dann aber mit Gewalt. Da wollte die Königstochter fliehen. Aber weil das im Sand nicht recht gelang, erbarmte sich Minerva ihrer und verwandelte sie in eine Krähe. Wie man Vergil (beziehungsweise seinen Quellen) zufolge von bestimmten Verhaltensweisen der Krähe und anderer Tiere auf das Bevorstehen eines Unwetters schließen kann, so auch von Zeichen, die Mond und Sonne geben. Nachdem er erklärt hat, was bestimmte Mondphasen ankündigen (424-437), erreicht der Dichter mit der Nennung solarer Wetterzeichen den Ausgangspunkt des Finales von Buch 1. Dazu leitet er mit folgender Bemerkung über: Auch vor Aufruhr, Betrug und Kriegen warne die Sonne, und sie habe nach Caesars Ermordung ihr strahlendes Haupt mit düsterem Rostrot überzogen (465-467). Damit sind wir bei der Gegenwart des Dichters. Nach Aufzählung einer ganzen Reihe weiterer Schreckenszeichen in der Natur, deren Erscheinen die Iden des März ausgelöst haben sollen, gelangt er über eine kurze Erinnerung an Pharsalus und Philippi zu Octavian. Was er bis zum Buchende noch sagt, wurde bereits im letzten Kapitel betrachtet (S. 53 f.); ich verweise nur noch einmal auf das Gleichnis von dem Viergespann, das mit seinem Lenker durchgeht (512-514). Vergil, der sein Buch nach dem Proöm mit „Im Märzen der Bauer ..." schon sehr schwungvoll begonnen hatte, ist am Schluß so „in Fahrt", daß der zeitge- Ackerbati und Baumpflanzung 97 nössische Leser seinen Papyrus ziemlich bewegt zusammengerollt haben dürfte. Und das sollte er wohl auch. Im Zeichen des Bacchus Wer in der Zeit unmittelbar nach dem Erscheinen der Georgica im Finale zu Buch 1 Anzeichen einer pessimistischen Weitsicht Vergüs entdecken zu können glaubte (wie heute so mancher amerikanische Latinist), mag erleichtert gewesen sein, als er den Anfang von Buch 2 las. Dort ruft der Dichter, nachdem er in drei Versen Buch 1 ganz knapp zusammengefaßt und sein neues Thema genannt hat, den Weingott Bacchus herbei (4-8): Hierher, o Vater Lenaeus (von deinen Gaben ist hier alles voll, für dich strotzt von Weinlaub schwer im Herbst der Acker, es schäumt in vollen Kufen die Weinernte), hierher, o Vater Lenaeus, komm, die nackten Füße färbe im jungen Most mit mir, nachdem die Stiefel heruntergerissen sind. Ein ausgesprochen heiterer Auftakt! Denn jetzt ist nicht wie am Anfang von Arats Phainomena (S. 51) und beim Gesangswettbewerb des Menalcas mit Damoetas (Ekloge 3.60; S. 74) alles voll von Jupiter, sondern von Rebensaft. Und mögen die beiden letzten Verse auch primär als Metapher für die Inspiration des Dichters durch den Gott zu lesen sein, so darf man sich bei der Vorstellung von einem Vergil, der barfuß im Heurigen herumplanscht, gleichwohl amüsieren. Die zitierten Verse erzeugen eine durchaus „weinselige" Stimmung. Ihr entspricht in dem Teil der Georgica, den sie einleiten, zum einen die Thematik - Buch 2 über die Pflanzung von Bäumen behandelt schwerpunktmäßig die Tätigkeiten des Winzers -, zum anderen die Haltung des Lehrdichters gegenüber seinen Schülern: Nunmehr weicht das im vorherigen Buch oft pathetisch getönte Ermahnen zu harter Arbeit einem überwiegend geradezu lockeren Unterweisen. Das gilt ebenso für den hier erwarteten Umgang der Bauern mit den ihnen anvertrauten „Schülern". Der Lehrer, der sonst oft „militärische" Gewalt empfiehlt, fordert jetzt mehrfach zu den Methoden eines Erziehers auf. In diesem Sinne sagt er schon in den Versen 3 5-37a zu seinen Eleven: Auf denn, lernt für jede Art ihre eigene Pflcgeweise (cultus), ihr Bauern (agricolae), veredelt wilde Früchte, indem ihr sie pflegt (colendo), und nicht träge soll daliegen das Land! Vergil benutzt in diesen Versen nicht von ungefähr neben dem Verb colere die mit ihm verwandten Begriffe cultus und agricola. Denn es geht in der T 128 Das Lehrgedicht vom Landhau Selbstvorstellung als einstiger Dichter von Versen, die keine Haupt- und Staatsaktionen behandeln, muß nicht mit einer Ablehnung des Aristaeus, die wiederum Kritik an Octavian implizieren würde, verbunden sein. Der Imperator wird unmittelbar vorher eindeutig positiv betrachtet, und dies in seiner Eigenschaft als der Herrscher, der für die Wiederherstellung der Ordnung im Reich kämpft. Wie er „Recht spricht" (4.562), ehrt Aristaeus göttliches Recht, indem er der Weisung seiner Mutter folgt. Orpheus dagegen bricht das Gesetz der Proserpina. Im übrigen blickt Vergil in den letzten beiden Versen der Georgica nicht nur zurück. Denn sein Aristaeus-Epyllion bietet zumindest implizit eine Vorschau auf die Aeneis. Deren Protagonist, der Sohn der Venus, wird wie der Sohn der Cyrene sehr getreu ausführen, was die Götter ihm auftragen, während Dido wie Orpheus konträr handeln wird, indem sie sich vom furor ihrer Liebesleidenschaft lenken läßt. Und da ist noch etwas: Wie der Aristaeus-Mythos überwiegend vor dem Hintergrund von Buch 4 der Odyssee gelesen sein will, so stellt Buch 5 ebendieses Werkes einen wichtigen Prätext für Buch 1 der Aeneis dar. Bildet das Epos von Aeneas nicht geradezu eine Fortsetzung zu dem Lehrgedicht über den Landbau? Werk in zwölf Büchern: Das Epos von Aeneas Der Mann Arma virumque cano (Von Waffen und dem Mann singe ich). Ja, arma und vir sind das Thema der Aeneis. Was die Waffen betrifft, dürften diejenigen gemeint sein, die in Latium eingesetzt werden. Aber von ihnen ist sehr spät im Werk die Rede, so daß primär der Mann das Geschehen beherrscht. In der Tat spielt der Protagonist in diesem Epos eine so herausragende Rolle wie in kaum einem anderen. Den ersten Zugang zum Gesamtwerk sucht man daher vielleicht am besten über die Gestalt des Aeneas, und dabei empfiehlt es sich, im Text dort anzusetzen, wo gesagt wird, wie der „Mann" heißt. Bis wir das erfahren, müssen wir 91 Verse gelesen haben, während Achilleus schon in llias 1.1 und Odysseus in Odyssee 1.21 namentlich genannt werden. Allein aufgrund eines solchen Vergleiches darf man zu Beginn derylenra-Lektüre folgern, daß dem „Mann" ganz besondere Bedeutung zukommt. Und das bestätigt der Kontext der Namensnennung: Es ist der Moment, in dem der Held in die Handlung eintritt und zum ersten Mal spricht. Vorher wurde erzählt, wie Juno den soeben von Sizilien aus abgesegelten Aencaden durch den Windgott Aeolus einen gewaltigen Sturm schik-ken läßt und die Männer mit ihren Angehörigen in Lebensgefahr bringt. Ihr Anführer reagiert auf diese Situation wie folgt (1.92-101): Sogleich werden Aeneas' Glieder von kaltem Entsetzen gelähmt; er seufzt auf, streckt beide Hände zu den Sternen aus und spricht folgende Worte: „O drei- und viermal Glückselige, denen im Angesicht der Väter unter Trojas hohen Mauern den Tod zu finden vergönnt war! O du tapferster des Danacrvolkes, Tydcus' Sohn! Konnte ich denn nicht auf Iliums Feld sterben und durch deine Hand meine Seele aushauchen, wo der grimmige Hektor des Aeakidcn Waffe erlag, wo der gewaltige Sarpedon liegt, wo der Simois so viele in seine Wellen gerissenen Schilde und Helme der Männer und ihre tapferen Leiber mit sich fortschleppte?" Auf den ersten Blick mag es irritieren, einen Helden bei seinem ersten Erscheinen starr vor Schreck zu sehen. Aber offensichtlich hat ihn Furcht vor den Göttern ergriffen, nicht Angst um sein Leben. Er muß nämlich davon i3o Das Epos von Aeneas ausgehen, daß die Unsterblichen ihn in seine Notlage brachten. Sie waren es auch, die den Trojaner - das weiß der Leser aus dem Proöm - „durch Schicksalsspruch" (2: fato; S. 27) zur Fahrt nach Italien bestimmt hatten und durch die nun überraschend eine vorzeitige Beendigung der Reise und der Tod drohen. Ihn fürchtet er nicht, und das beweist Aeneas, indem er sich wünscht, er wäre vor Troja von der Hand des Tydcus-Sohnes Diome-des gefallen. Außerdem gibt der Held indirekt erstmals zu erkennen, daß er im Proöm zu Recht als „Vorbild an pietas", also an Ehrfurcht und Pflichtgefühl gegenüber Göttern und Menschen, bezeichnet wurde (10; S. 64). Denn er beneidet die Männer, die ihr Leben auf dem Schlachtfeld im Angesicht der Väter und somit im Dienst an der Heimat und der Familie ließen. Wie man sieht, sind den ersten Worten des Aeneas in Vergils Epos wichtige Informationen über das Wesen des Protagonisten zu entnehmen. Zunächst einmal präsentiert er sich als tapferer Held, der nach wie vor zum Tod bei der Verteidigung seiner Stadt bereit wäre. Die Erinnerung an den Kampf um Troja evoziert für den Leser das in Homers Ilias erzählte Geschehen. Und da Aeneas ein Überlebender dieses Geschehens ist, darf man von dem Epos über ihn eine Fortsetzung der Ilias erwarten; inwiefern es sich wirklich um eine solche handelt, wird im folgenden als erstes darzulegen sein. Schon vir(umque) im Proöm hatte ahnen lassen, daß der Held der „Fortsetzung" Züge des Helden einer anderen „Fortsetzung" - der Odyssee - tragen werde (S. 28). Die Worte des Aeneas bestätigen das durch einen intertextuellen Bezug: Ihr Vorbild sind diejenigen, welche Odysseus ebenfalls während eines Sturmes spricht (Odyssee 5.306-312). Thema von Teil 2 dieses Abschnitts soll deshalb der enorme Einfluß der Odyssee auf die Aeneis sein, und der dritte Teil wird von dem dritten Hinweis ausgehen, den uns die oben zitierte Passage gibt: Dort möchte ich mich mit Aeneas als dem Mann befassen, der aufgrund seiner pietas den ihm von den Göttern erteilten Auftrag erfüllt. Blick zurück auf Troja Mit gutem Grund verbindet Aeneas in 1.96-98 seinen Wunsch nach Tötung durch einen vor Troja kämpfenden Griechen mit der Person des Diomedes. Denn von dessen Hand hätte er einmal bereits sterben können, aber das wurde auf unehrenhafte Weise verhindert. Der Ilias zufolge geriet Aeneas (bei Homer lautet sein Name Aineias) in Lebensgefahr, weil Diomedes ihn durch Werfen eines Feldsteines, „wie nicht zwei Männer ihn tragen", an der Hüfte so schwer verletzte, daß ihm die Sinne schwanden. Wenn er nicht durch seine Mutter Aphrodite/Venus vom Schlachtfeld entfernt worden wäre, hätte er den Todesstoß empfangen (Ilias 5.302-318). Bedenkt man dies, versteht man um so besser, daß Vergils Aeneas lieber im Kampf als in einem Seesturm sterben möchte. Er hat ja Der Mann 13 * sozusagen eine Gelegenheit verpaßt, und das ist ihm in seiner trojanischen Vergangenheit mehr als einmal passiert. Buch 20 der Ilias zufolge erlebte Aeneas, der in der Reihe der tapferen Trojaner nur Platz 2 hinter Hektor einnahm, mit Achill etwas Ähnliches wie mit Diomedes. Diesmal schleuderte zwar er selbst einen Stein, „wie nicht zwei Männer ihn tragen", aber Achill hätte Aeneas dennoch getötet, wenn dieser nicht von Poseidon in die Höhe geschleudert worden und so über viele Reihen der Kämpfer gesprungen wäre (20.285-329). Auch in der Nacht, in der die Griechen Troja eroberten, gelang es ihm nicht - das erzählt Vergils Aeneas selber in Buch 2 des römischen Epos - sich bei den Kämpfen in der Stadt als Held zu bewähren. Der Rückblick des Aeneas auf seine letzten Stunden innerhalb der trojanischen Mauern umfaßt das gesamte zweite Buch der Aeneis. Zu seiner Erzählung veranlaßt ihn - so lesen wir in Buch 1 - die karthagische Königin Dido. Sie nimmt Aeneas, nachdem er sich mit seinen Landsleuten aus dem Sturm an die libysche Küste gerettet hat, gastlich auf und bittet ihn beim abendlichen Gelage um einen Bericht über den Untergang der Stadt und seine Irrfahrten. In diesem Bericht erweckt Aeneas den Eindruck, es sei ihm wichtig, sich ebenso als Trojakämpfer wie als den mit einer göttlichen Mission beauftragten Trojaflüchtling zu empfehlen. Gleich nach dem Eindringen der Griechen in die Stadt war ihm Hektor im Traum erschienen und hatte ihn aufgefordert, mit Trojas Penaten (Schutzgöttern) aus der Stadt zu fliehen, das Meer zu durchirren und ein neues, großes Troja zu errichten (2.268-297). Dennoch hatte er sich, vom Schlaf erwacht, erst einmal den Heldentod im Kampf gegen die Feinde gewünscht (314-317). Den zu erleiden blieb ihm trotz der Anwendung einer für ihn gefährlichen Kriegslist versagt - er und eine Gruppe von todesmutigen Mitstreitern verkleideten sich als Griechen und brachten den Feinden mit Hilfe der Maskerade Verluste bei, bis diese durchschaut wurde (386 ff.) -, und SO folgte er schließlich einer zweiten Aufforderung zur Flucht von Seiten der Venus (619 ff.). Aber da er jetzt insgesamt so ausführlich über seine kämpferischen Aktivitäten spricht, legt er offenbar Wert darauf, daß Dido in ihm einen tapferen Verteidiger seiner Stadt sieht. Statt sich für das Vaterland einzusetzen, hätte Aeneas nur noch die Zukunft in der neuen Heimat im Auge haben sollen. Dazu ermuntern ihn dann mehr und mehr die Prophezeiungen und göttlichen Zeichen, die er während seiner (von ihm in Buch 3 erzählten) Irrfahrten erhält. Vor dem Blick zurück auf Troja warnt ihn sogar ein abschreckendes Beispiel: die Nachbildung der Stadt, die er während der Fahrt in Buthrotum zu sehen bekommt (3.294ff.). Diesen Ort am Ufer des „falschen Simois" (302) hat der Priamus-Sohn Helenus gegründet. Verheiratet ist er mit Andromache, der Witwe Hektors, die an dessen Kenotaph von Aeneas beim Opfer- und Trauerritual angetroffen wird. In ihrer nicht enden wollenden Liebe zu i}2 Das Epos von Aeneas dem toten Gatten gleicht sie Orpheus, der ja auch „zurückblickt", und das neue Troja, wo sie mit Helenus jetzt wohnt, wirkt, da hier nur die Vergangenheit lebt - das Paar hat keine Kinder -, wie eine Totenstadt. Doch obwohl Helenus durch eine längere Prophezeiung den Blick des Aeneas eindringlich auf die von diesem zu gründende Stadt lenkt, läßt der Held sich, als er über Sizilien nach Karthago gelangt ist, darauf ein, mit Dido in einem eheähnlichen Verhältnis zu leben und der Königin beim Aufbau ihrer Stadt zu helfen; das lesen wir in Buch 4. Als er dann auf Weisung Jupiters von Merkur an seinen göttlichen Auftrag erinnert wird, zur Abfahrt rüstet und sich, von Dido deswegen zur Rede gestellt, zu rechtfertigen versucht, erklärt Aeneas zunächst, er habe weder seine Flucht vor ihr verbergen noch ihr Gatte sein wollen; dann fährt er fort (4-340-347a): „Wenn mir die Schicksalssprüche erlaubten, mein Leben unter von mir selbst gesetzten Vorzeichen zu führen und aus eigener Kraft meine Sorgen zu meistern: die Stadt Troja und das liebe Vermächtnis der Meinen hielte ich zuerst in Ehren, der hohe Palast des Priamus bestünde fort, und mit meiner Hand hätte ich ein wiederbelebtes Pergamum erbaut für die Besiegten. Aber nun hießen zum großen Italien der Apollo von Grynium, nach Italien die lykischcn Orakel mich eilen: Das ist meine Liebe, das meine Heimat." Man sollte eigentlich erwarten, Aeneas sage nach dem wenn-Satz: „dann bliebe ich bei dir, Dido" (Suerbaum 1998, 353 f.). Immerhin verbindet der Held mit den Worten, die er tatsächlich spricht, seinen letzten Blick auf Troja als Stadt, für die er sich einsetzen möchte. Er entwickelt sich dann auch während der in Buch 5-8 erzählten Handlung stetig zu dem in die Zukunft sehenden König, der er im Auftrag der Götter sein soll. Und doch ist die „Fortsetzung der Utas" noch nicht zu Ende. Schon bald nach der Ankunft des Aeneas in Latium kommt der Trojanische Krieg wieder in sein Leben. Denn dieser wiederholt sich auf gewisse Weise in den Ereignissen, über die Vergil in den Büchern 9-12 berichtet. Jetzt aber knüpft Aeneas nicht mehr an seine bisherige Rolle als Trojakämpfer an, sondern wechselt gewissermaßen auf die andere Seite über. Er wird zum Nachfolger der beiden griechischen Helden, an die er sich bei seinem ersten Auftritt in der Aeneis erinnert hat: Diomedes und Achill. Vor allem die Taten des Peliden geben für diejenigen des Aeneas in den letzten Büchern das Vorbild ab. Doch bevor der Trojaner am Ende von Buch 12 in der Rolle Achills, der Hektor tötet, seinem Hauptfeind Turnus das Leben nimmt, tritt er kurzfristig auch in die Fußstapfen des Diomedes. Zunächst sieht es freilich so aus, als übernähme Turnus dessen Rolle. Nachdem die beiden Helden ein- ander zum Zweikampf gegenübergetreten sind und Aeneas den Gegner aufgefordert hat, sich endlich dem Duell wirklich zu stellen, erwidert dieser nur kurz. Dann geschieht folgendes {896-902): Kein Wort mehr sagte er, und er sieht sich um nach einem ungeheuer riesigen Stein, einem ungeheuer riesigen alten Stein, der gerade auf dem Feld lag, als Grenzmarke für einen Acker aufgestellt, damit er den Streit um die Flur entscheide. Kaum könnten ihn zweimal sechs auserlesene Männer schultern, Männerkörper von der Art, wie sie jetzt die Erde hervorbringt. Er packte ihn mit hastiger Hand und schleuderte ihn auf den Feind, indem er sich emporreckte und hitzig Anlauf nahm, der Held. Warum ist er gleich zweimal genannt, der „ungeheuer riesige Stein"? Damit das intertextuelle Gedächtnis der Leser sicherer funktioniert und sie denken: „Das ist ja die Situation von Buch 5 der Utas, in der Diomedes seinen Stein auf Aeneas wirft! Wird Turnus wie er treffen?" Nein, er wird nicht, denn Turnus verfehlt sein Ziel. Nicht er übernimmt die Rolle des Diomedes, sondern Aeneas, der auf den mißglückten Angriff mit einem Speerwurf reagiert und seinen Gegner mitten durch den Schenkel trifft. Turnus ist somit - das hat erstmals David Quint bemerkt (1993, 68 ff.) - in doppelter Hinsicht zum Aeneas der Ilias geworden. Wie der Trojaner in Buch 5 wurde er verwundet, nachdem er wie dieser in Buch 20 vergeblich einen Stein geschleudert hat. Der Aeneas Vergils dagegen, der Turnus als zweiter Diomedes verwundet hat, wird, indem er ihn anschließend tötet, zum zweiten Achill und damit zu einem „Superhelden". Turnus wiederum entspricht sowohl dem Aeneas der Ilias als auch demjenigen Vergils am Anfang der Aeneis. Es heißt nämlich in unverkennbarer Anspielung auf den Vers mit der ersten namentlichen Nennung des Aeneas (1.92) im vorletzten Vers des Werks von Turnus (12.95 ID): doch ihm werden vor kaltem Entsetzen gelähmt die Glieder. Es ist, als sei Aeneas, der in seinen ersten Worten gewünscht hatte, von der Hand des Diomedes zu fallen, und der sich gleichzeitig an die Tötung Hektors durch Achill erinnert, von einem Trauma befreit. Denn jetzt vereinigt er beide Griechenhelden in seiner Person und hat somit die „Fortsetzung der Ilias" zu einem denkbar glorreichen Ende geführt. Seme Entwicklung von dem Aeneas, der auf verpaßte Gelegenheiten in Troja zurückblickte, zum Sieger im „neuen Trojanischen Krieg" erfolgte über das allmähliche Hineinwachsen in die Rolle des Stadtgründers. Im Werkaufbau entspricht diesem Dreischritt die Gliederung in die drei Buchtetra- iJ4 Das Epos von Aeneas den 1-4, 5-8 und 9-12. An ihr werde ich meine weiteren Ausführungen zur Aeneis orientieren. Das gilt also bereits für Teil 2 des laufenden Abschnittes, in dem es um den Einfluß der Gestalt des Odysseus auf diejenige des Aeneas gehen soll. Der römische Odysseus Das Proöm der Aeneis, das mit den Worten arma virumque beginnt und dann in einer kurzen Inhaltsübersicht die Handlung des Epos in Irrfahrten (3 f.) und Kriege (5 f.) einteilt, lädt dazu ein, sieb die Aeneis aus zwei Hälften zusammengesetzt zu denken: aus einer römischen Odyssee - hierfür stehen „Mann" und Irrfahrten - und einer römischen Utas; sie wird durch „Waffen" und den Hinweis auf Kriege bezeichnet (S. 27 f.). Dementsprechend berichtet Vergil in Buch 1-6 seines Epos über die Irrfahrten des Aeneas und kündigt am Anfang von Buch 7 in einem Binnenproöm an, er werde jetzt „von schrecklichen Kriegen" singen (7.41-45; S. 33). Davon ist aber erst in den Büchern 9-12 die Rede, und nur dort bilden die in Homers llias geschilderten Kämpfe den literarischen Hintergrund. Also fängt die römische llias, wenn man überhaupt von einer solchen reden kann - dazu später mehr erst mit Buch 9 an. Wie sieht es nun aber mit der römischen Odyssee aus? Nun, die griechische beschränkt sich nicht auf einen Bericht über die Irrfahrten des Titelhelden; diese sind bei Homer lediglich das Thema der Bücher 5-12, denen die Tclcmachie, die Erzählung von der Suche des Odysseus-Sohnes nach Kunde über seinen Vater, vorausgeschickt ist (Buch 1-4). Die zweite Hälfte der Odyssee hat die Heimkehr des Helden und den Kampf mit den Freiern seiner Frau Penelope zum Gegenstand. Es soll nun gezeigt werden, daß auch der Aeneis die Struktur „Irrfahrten/ Heimkehr/Kampf" zugrunde liegt, weshalb Vergils Epos insgesamt eine römische Odyssee darstellt. Vergil beginnt seinen Bericht über die Irrfahrten des Aeneas mitten im Geschehen und läßt den Helden das, was diesem vorher auf der Suche nach dem Ort für die zu gründende Stadt widerfahren ist, in einer Ich-Erzählung nachtragen. Dieselbe narrative Technik verwendet Homer in der Odyssee. Er eröffnet die Odysseus-Handlung mit dem Abschied des Helden von der Nymphe Kalypso, auf deren Insel Ogygia dieser nach längeren Irrfahrten sieben Jahre verbracht hat; es folgen ein Sturm und die Landung auf der Phäaken-Inscl (Buch 5). Während des Aufenthaltes bei ihnen (6-12) schildert Odysseus seine Irrfahrten, die ihn unter anderem zur Insel der Zauberin Kirke und zum Reich der Toten führten (9-12). Die Sequenz „Sturm/Landung/Ich-Erzählung" findet sich auch in Aeneis 1-3, wobei hier dem Bericht über die Irrfahrten (Buch 3) derjenige über den Untergang Trojas vorgeschaltet ist (Buch 2). Einen solchen Bericht hat freilich auch die Odyssee aufzuweisen. Bevor dort der Held seine Abenteuer Der Mann JJ/ schildert, hört er den Sänger Demodokos von der Einnahme Trojas durch die Griechen künden (8.499-520). Eine weitere Episode in den Phäaken-Büchern, zu der es eine Entsprechung in der Aeneis gibt, bilden sportliche Wettkämpfe, an denen Odysseus sich beteiligt (8.104-255). Ebensolche veranstaltet Aeneas auf Sizilien, wohin er nach seiner Abfahrt von Karthago erneut gelangt, zu Ehren seines Vaters an dessen erstem Todestag, wie Vergil in Buch 5 erzählt. Zwar ist der Prätext dafür Buch 23 der Utas, aber da Vergil die Wettkämpfe in die Zeit der Irrfahrten des Aeneas legt, lieferte die Odyssee zumindest strukturell das Vorbild. Bedenkt man nun noch, daß Aeneas wie Odysseus das Totenreich aufsucht - das lesen wir bei Vergil in Buch 6 -, sieht man deutlich: Die Bücher 1-3 und 5-6 der Aeneis sind in ihrer Abfolge an diejenigen der Odyssee-Bücher 5-12 angelehnt. Auch für Buch 4 ließ Vergil sich von Homer anregen. Die Frau, deren Liebesaffäre mit Aeneas hier im Zentrum steht, Königin Dido, hat in der Odyssee mehrere Vorbilder: Kalypso (Buch 5), die Phäakenprinzessin Nausikaa (6-7) und Kirke (10). Wichtiger für Vergil war freilich die Gestalt der Medea in den Büchern 3 und 4 der Argo-nautika des Apollonios von Rhodos. Immerhin kann man sagen, daß die Odyssee durch ihre Gliederung der Irrfahrten eine wichtige Anregung gab. Denn der Aufenthalt des Aeneas bei Dido entspricht strukturell dem Aufenthalt des Odysseus bei den Phäaken, und so gesehen gilt durchaus: Die erste Hälfte der Aeneis einschließlich Buch 4 entspricht Odyssee 5-12. Aber am Schluß von Buch 6 des römischen Epos erreicht die römische Odyssee noch nicht ihr Ende. Wie Odysseus in Homers Buch 13, so kehrt auch Aeneas in Vergils Buch 7 in die Heimat zurück. Diese ist nämlich, wie in der ersten Hälfte der Aeneis mehrfach angedeutet und in 7.206-211 näher ausgeführt wird, nicht Kleinasien, sondern Italien: Von der hier gelegenen Stadt Corythus (vermutlich dem heutigen Cortona nördlich des Trasimenischen Sees) war einst Dardanus, der Urahn des Aeneas, nach Osten aufgebrochen und dort zum Stammvater des trojanischen Königshauses geworden. Hat man einmal erkannt, daß auch die Aeneis als Heimkehrerepos gelesen sein will, dann bemerkt man: Den zwei Teilen „Heimkehr nach Itha-ka" und „Kampf mit den Freiern" in Odyssee 13-24 entsprechen bei Vergil „Heimkehr in das Stammland" und „Kampf mit den Feinden in Latium". In der Aeneis setzt die Heimkehr der Trojaner im Grunde schon in Buch 5 ein. Dort erwägt Aeneas gegen Ende, auf Sizilien zu bleiben, weil die Frauen die Schiffe angezündet haben, damit die Fahrt beendet werden muß. Doch auf Anraten des greisen Nautes und des Anchises, der dem Sohn im Traum erscheint, gründet Aeneas für fahrtmüde Mütter, ältere Leute und andere von der bisherigen Reise erschöpfte Trojaner eine Stadt und segelt mit den Schiffen, die gerettet werden konnten, weiter. Von jetzt an stellt sich ihm kein Hindernis mehr in den Weg, und er erreicht zu Beginn von •74 Das Epos von Aeneas Latiner nach der Öffnung des Janustempels zum Kampf rüsten, evoziert er an der folgenden Stelle auch die Georgica (7.632-636): Helme höhlen sie aus als Schutz für den Kopf und verfertigen aus Weide das Flechtwerk der Schilde; andere schmieden bronzene Brustpanzer oder glatte Beinschienen aus geschmeidigem Silber. Dafür schwand das Ansehen von Pflugschar und Sichel, dafür jegliche Liebe zum Pflug; neu härten sie in den Ofen die Schwerter der Väter. Indem Lehrgedicht symbolisiert die Anwendung von „Waffen" des Landmannes, wie man annehmen darf, die Neuordnung des Staates nach dem Ende der Bürgerkriege. Wenn Vergil jetzt ausdrücklich erwähnt, die Feinde des Aeneas hätten ihren Ackergerätschaften richtige Waffen vorgezogen, will er offenbar wieder einmal dies ZU verstehen geben: Es handle sich bei dem Kampf zwischen Trojanern und Italikern wie bei demjenigen zwischen den Truppen Octavians und denjenigen des Antonius um einen Bürgerkrieg. Blick nach vorn auf Rom Der Anfang von Buch 8 der Aeneis erweckt den Eindruck, nun werde der große Kampf beginnen. Denn wir erfahren als erstes, daß Turnus und die anderen italischen Anführer ihre Armeen versammeln und man Venulus ausschickt, damit er einen prominenten Griechen um Waffenhilfe bittet: den Trojakämpfer Diomedes, der seinen Wohnsitz von Argos nach Apu-lien verlegt hat. Doch auf die 17 Verse mit dem Bericht über diese Kriegsvorbereitungen folgt im ganzen Buch nichts mehr, was an den Auftakt direkt anschließt. Es geht danach nur noch um Aeneas und seine Helfer; da der Held den künftigen Kriegsschauplatz verläßt und sich in idyllische Gegenden begibt, ist es erst einmal wieder nichts mit arma - zumindest nicht mit arma im Einsatz. Auf seine Reise sendet den Trojaner der Flußgott Tiber, der ihm im Traum erscheint und ihn auffordert, die arkadischen Griechen, die unter ihrem König Euander stromaufwärts in der Stadt Pal-lanteum leben, als Bundesgenossen zu gewinnen. Bevor Tiber darauf zu sprechen kommt, verheißt er Aeneas ein Wunderzeichen, welches bestätigt, daß die Trojaner das ihnen verheißene Land erreicht haben: Seinen Augen werde sich eine weiße Sau mit dreißig Ferkeln an der Stelle darbieten, die als Ort für die Gründung von Alba (zu albus „weiß"), also der Stadt Alba Longa, durch Ascanius vorgesehen ist. Aeneas erblickt am nächsten Morgen tatsächlich die Sau, opfert sie der Juno und fährt mit zwei Schiffen auf dem Tiber nach Pallanteum. Als die Trojaner dort landen, feiern Euander, sein Sohn Pallas und die Arkader gerade ein Herkules-Fest an der zu Ehren des Heros errichteten [ Von Sizili izmen nac h Rc 175 Ära Maxima (Größter Altar). Dabei handelt es sich um ein bedeutendes Heiligtum des späteren Rom, und genau dort, wo die Stadt sich einst erheben wird, steht jetzt Euanders Pallanteum. Hierher war Herkules eines Tages mit den Rindern des von ihm getöteten Riesen Geryones gekommen und hatte einen weiteren Riesen namens Cacus töten müssen, weil dieser ihm vier Stiere und vier Kühe stahl. Den Kampf des Herkules mit dem ungeschlachten Rinderdieb schildert der Arkaderkönig dem Trojaner in aller Breite, nachdem die beiden Freundschaft geschlossen haben; wir werden uns mit Cacus im übernächsten Abschnitt befassen. Wie man sieht, findet sich gleich am Anfang des Euander-Teils von Buch 8 die Erzählung eines Ursprungsmythos, und aitiologisch bleibt der Bericht über den ersten Tag des Helden im künftigen Rom bis zum Ende. Das betrifft außer der Beschreibung des Rituals, das die Arkader zum Gedenken an Herkules vollziehen, vor allem eine Szene, in der Euander seinen Gast durch die Stadt führt. Zunächst legt er dem Helden die Frühgeschichte Latiums dar, dann steigt er mit ihm hinauf aufs Capitol, um ihn schließlich über die Stätte des einstigen Forum Romanům zu seinem Wohnhaus auf dem Palatin zu geleiten. Dort sagt er (362b - 365): „Diese Schwelle ... hat als Sieger Herkules überschritten, dieser Königssitz hat ihn aufgenommen. Wage es, Gastfreund, Schätze geringzuachten, erweise auch du dich würdig des Gottes und nahe nicht widerwillig meinem dürftigen Besitz." Der letzte Vers ist sicherlich nicht zufällig genau in der Buchmitte plaziert. Denn an der Stelle, wo Euander jetzt so bescheiden wohnt, wird einst das Haus des Augustus stehen. Vermutlich spielt Vergil darauf an, indem er Euanders Wohnstätte als angustus (eng) bezeichnet (366); außerdem war der Tag des Opferfestes an der Ära Maxima zur Erinnerung an den Sieg des Herkules über Cacus traditionell der 12. August, also derselbe wie der Vortag des von Augustus im Jahre 29 v. Chr. veranstalteten dreifachen Triumphes (13 .—1 5.8.). Der Prinzeps sah es im Rahmen seiner Restaurationspolitik offenbar gern, wenn Roms Dichter die ländlich-bescheidenen Anfänge Roms verherrlichten. Euanders Aufforderung an Aeneas paßt freilich auch gut dazu, daß Vergil in Buch 8 unmittelbar vor dem Übergang zum Kampfgeschehen ausgiebig Themen behandelt, die den Text in die Nähe der „kleinen" Poesie rücken; man darf das Buch allein schon wegen seines Reichtums an Aitien als das „kallimacheischste" der Aeneis bezeichnen. Es verwundert dann auch gar nicht, wenn sich an die idyllische Szene eine erotische anschließt: Venus verführt ihren Gatten Vulkan, weil er mit seinen Cyclopen die Waffen für Aeneas anfertigen soll. Im Gegensatz zu Cacus, der sein Sohn ist und Feuer speien kann, zeigt sich der Gott hier höchst „unvulkanisch"; deshalb möchte ich seine mit Lieben i76 Das Epos von Aeneas und Schmieden verbrachte Nacht im übernächsten Abschnitt neben den Kampf des Cacus gegen Herkules stellen. Am Morgen nach dieser Nacht rät Euander seinem Gast, die Kämpfer, die er für ihn aufbieten kann - es werden zweihundert Reiter unter dem Kommando des Pallas sein -, durch Etrusker zu verstärken. Um das zu ermöglichen, soll Aeneas sich nach Agylla begeben, wo Tarchon das etruski-sche Heer versammelt hat. Da der vormalige König der Etrusker, ein Tyrann und „Verächter der Götter" (7.648) namens Mezentius, sich nach seiner Vertreibung mit Turnus verbündete, sind seine einstigen Untertanen zur Waffenbrüderschaft mit Aeneas nur zu bereit. Vor dem Abschied des Helden und der Arkader von Euander verheißt einerseits ein von Venus gesandtes Zeichen - am Himmel erscheinen Waffen - einen für Aeneas guten Ausgang des Krieges in Latium, andererseits fällt der König, als er weinend die Rechte seines Sohnes umfaßt und bewegende Worte gesprochen hat, in Ohnmacht. Der Leser ahnt, daß Pallas im Kampf sein Leben verlieren wird, und er kann das bestätigt finden, wenn Vergil über den jungen Helden folgendes sagt (587b - 591): Pallas selbst reitet mitten im Heereszug, ein prächtiger Anblick mit weitem Mantel und bunt bemalter Rüstung, wie wenn von des Ozeans Wogen umspült der Morgenstern, den Venus mehr als die anderen Sternenfeuer liebt, sein heiliges Antlitz am Himmel erhebt und die Finsternis vertreibt. Lucifer galt in der Antike als das schönste Gestirn, symbolisierte aber auch, da er nur kurz strahlt, Vergänglichkeit; deshalb kann man ihn auf Grabsteinen und Sarkophagen früh Verstorbener abgebildet sehen (Senfter 1979). Vom Tod des Pallas wird Vergil schon in Buch 10 erzählen. Am Ende von Buch 8 steht die Beschreibung des von Vulkan angefertigten Schildes. Ihn bekommt Aeneas zusammen mit den übrigen Waffen von Venus überreicht, als er bereits bei den Etruskern angelangt ist. Das Heerlager befindet sich in einem Tal unweit eines idyllischen Haines, der einst Silvanus, dem Gott der Felder und des Viehs, geweiht wurde. Dort trifft Aeneas seine Mutter und wappnet sich somit in einem Ambiente, das an die Welt der Bticolica und Georgica erinnert. Gleichzeitig „rüstet sich" - so darf man assoziieren - Vergil für seine mit Buch 9 beginnende Schilderung des Krieges in Latium, die er gewissermaßen mit einem letzten Blick auf die Landschaft seiner „friedlichen" Poesie verbindet. Dazu paßt, daß er unmittelbar vor der Schildbeschreibung in besonders subtiler Weise einen in-tertextuellen Bezug herstellt, indem er über den ehernen Panzer des Aeneas schreibt, die rote Farbe wirke so (622b-623), Rendezvous mit einer Toten 777 wie wenn eine schwärzliche Wolke von den Sonnenstrahlen erglüht und weithin leuchtet. Wieder sollen wir an das Goldene Vlies denken (S. 168). Darüber sagt nämlich Apollonios von Rhodos in den Argonautika (4.125b - 126), es sei einer Wolke gleich, die beim Aufgang der Sonne vom Feuer der Strahlen rot wird. Wie Jason hat Aeneas nun endgültig das Ziel seiner Fahrt erreicht, denn mit dem Schild hält er Roms glorreiche Geschichte von den Anfängen bis zum dreifachen Triumph des Augustus in Händen. Nach Betrachtung der Bilder, die wichtige Ereignisse dieser Entwicklung darstellen, die er aber nicht versteht, lädt der Held „Ruhm und Schicksal seiner Nachfahren auf die Schulter" (731). So schließt das achte Buch sehr pointiert. Rendezvous mit einer Toten Die bereits erwähnten Bilder auf den Türflügeln des Apollotempels in Cumae, die Aeneas und seine Trojaner am Anfang von Buch 6 betrachten (20-34}, sind das Werk des Dacdalus. Er hat Mythen des kretischen Sagenkreises um Theseus und Minos wiedergegeben, darunter die Geschichte von Pasiphac und dem Stier sowie diejenige vom Ariadnefaden. Aeneas wird mitten in der Betrachtung der Abbildungen von seinem Gefährten Achates und der Sibylle unterbrochen. Also läßt Vergil ihn, wie Sergio Ca-sali sicherlich mit Recht vermutet (1995/96), ein ganz bestimmtes Bild, das Daedalus angefertigt haben müßte, nicht mehr wahrnehmen: die Szene, in der Ariadne sich auf Naxos von Theseus verlassen sieht. Nun ist Catulls Version der Geschichte von dem treulosen Verhalten des athenischen Prinzen gegenüber der Tochter des Minos, die ihm mit Hilfe ihres Fadens die Rückkehr aus dem Labyrinth ermöglichte, ein sehr wichtiges Vorbild für Vergils Geschichte von Aeneas und Dido (64.50-264; S. 67). Und wahrscheinlich hätte sich der Held, wenn ihm Gelegenheit zur Betrachtung einer Darstellung von Ariadne auf Naxos gegeben worden wäre, schmerzlich an die von ihm verlassene Dido erinnert. Doch der Kummer, der ihm jetzt noch erspart bleibt, wird ihm dann bei seinem Gang durch die Unterwelt bereitet. Dort begegnet ihm die Königin sogar in eigener Gestalt, und das ist für Aeneas noch leidvoller, als wenn nur ein Bild seine Gedanken auf sie gelenkt hätte. Sehen wir uns denn nun das „Rendezvous" der beiden an. Der Held erblickt Dido unter Frauen, die von unglücklicher Liebe in den Tod getrieben wurden. Da es sich bei einer von ihnen um Pasiphae handelt (447), mag man die Dido-Szene mit den Bildern des Daedalus ver- Das Epos von Aeneas Turnus nicht zuletzt deswegen, weil er der Devise měděn ágan zuwiderhandelt. In der Reihe junger Menschen, denen Vergil in seinem Epos spezielle Aufmerksamheit schenkt - außer den Genannten sind es noch Pallas, Lausus und Camilla -, ist Ascanius der einzige, der den Krieg in Latium überlebt. Und das verdankt er offenbar Apollo. Vielleicht will die Szene mit dem Gott in der Gestalt des Butes auch auf einer metapoetischen Sinnebene gelesen sein. Apollo tritt, wie wir gesehen haben (S. 32), Dichtern gegenüber als Mahner auf, wenn sie etwa anstelle von „kleiner" Poesie ein Werk im großen Stil, zum Beispiel ein Epos, verfassen wollen. Vergil ließ sich in jüngeren Jahren in der Rolle des Hirten Ti-tyrus durch Apollo davon abhalten, über „Könige und Schlachten" zu singen (Ekloge 6.3-5; S- 31 L); nun sagt bei ihm derselbe Gott zu dem jungen Ascanius, er solle dem Krieg in Latium von jetzt an fernbleiben. Der Dichter hat, inzwischen älter geworden, doch noch ein Werk über das ihm einst von Apollo ausgeredete Thema geschrieben. Ebenso wird der Sohn des Aeneas einst Taten vollbringen, wie sie der Gott ihm jetzt noch verbietet. Immerhin spricht Apollo den jungen Mann direkt an, seinen Vater dagegen nirgendwo in der ganzen Aeneis. Ascanius-Julus erfreut sich also auf jeden Fall der besonderen Gunst des Gottes, und das gilt ebenso für seinen Nachfahren, den Julier Augustus. Ein offenes Ende? Der Schluß der Aeneis konnte Rezipienten aller Zeiten nicht so recht befriedigen. Denn die Tötung des Turnus durch Aeneas, von der die drei letzten Verse berichten, schafft nur die Vorbedingung für das, was, wie man meinen sollte, das eigentliche Ziel des Trojaners ist: Hochzeit mit Lavinia und Gründung einer Stadt. Darüber hätte mancher Leser seit der Antike gerne etwas erfahren, und so verwundert es nicht, daß Versuche unternommen wurden, das „fehlende Ende" zu ergänzen. Besonders bekannt sind die Fortsetzungen zu der von Vergil erzählten Handlung, die der Roman ďÉnéas und Maffeo Vegio bieten. Der zwischen 1155 und 1160 von einem unbekannten Autor geschriebene altfranzösische Versroman berichtet sowohl über die Vermählung des Aeneas mit der Tochter des Latinus als auch über die Gründung Albas; in der mittelhochdeutschen Bearbeitung des Textes durch Heinrich von Veldeke (um 1170/90) mit dem Titel Eneide wird die Hochzeit ausgiebig als höfisches Fest geschildert. Während der französische und der deutsche Dichter das gesamte Epos Vergils adaptierten und auf ihre Weise ergänzten, begnügte sich Vegio, ein italienischer Humanist (1407-145 8), mit dem Verfassen von „Buch 13" in 630 lateinischen Hexametern; es enthält außer der Hochzeit und der Gründung von Lavinium Tod und Verstirnung des Aeneas. Diese Fortsetzung der Aeneis Em offenes Ende? 20; stand bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts am Ende von Ausgaben des Vergi-lischen Epos. Wer die Aeneis weitcrschreibt, liest die letzten Verse von Buch 12 als offenes Ende. Liegt ein solches vor? Nein, denn den Schlußpunkt des Geschehens, das mit der Flucht des Aeneas aus Troja beginnt, bildet die nach Actium erfolgte Übernahme der Herrschaft Roms durch den für Vergil bedeutendsten Nachfahren des Aeneas, den Imperator Octavian. Und davon ist in den drei historischen „Durchblicken" der Aeneis die Rede: in der Jupiter-Prophezeiung des ersten, der „Heldenschau" des sechsten und der Schildbeschreibung des achten Buches (S. 38 f.; 57 ff.). Da der Sieg des Aeneas über Turnus den Trojaner zum Nachfolger des Latinus als König von Latium erhebt und gleichzeitig den Sieg Octavians über Antonius im Bürgerkrieg präfiguriert, blieb für Vergils zeitgenössische Leser keineswegs offen, wie es weiterging. Sic waren ja jetzt selber Untertanen des Mannes, dem Aeneas, als er mit seinem Vater, seinem Sohn und den Penaten Troja verließ, den Weg zur Herrschaft zu bahnen angefangen hatte. Wenn überhaupt etwas offen bleibt am Ende des Vergilischen Epos, dann allenfalls die Antwort auf eine Frage, die man immer wieder an den Textabschnitt 12.887-952 gestellt hat: Welche Intention könnte Vergil damit verbinden, daß er Aeneas die Tötung des Turnus, wie noch näher ausgeführt werden soll, „vor Wut lodernd und im Zorn schrecklich" (946 f.: furiis accensus et im terribilis) vollziehen läßt? Betrachten wir also die letzten 66 Verse der Aeneis im Hinblick auf diese Frage. Bereits in anderem Zusammenhang wurde die erste Hälfte des Abschnitts erörtert. Hier schildert Vergil zunächst, wie Turnus, nachdem Aeneas ihn dazu ermahnt hat, den Zweikampf aufzunehmen, einen riesigen Stein auf den Trojaner wirft, aber nicht trifft, weil seine Kräfte versagen (887-907; S. 132 f.). Wie wir sahen, überträgt Vergil dem Rutuler damit die Rolle des Aeneas der Mas, der sich gegenüber Diomedes und Achill nicht als Held bewähren kann, um dann zeigen zu können, wie der Trojaner jetzt endlich in die Eußstapfen der beiden griechischen Recken tritt. Die Tat, die Aeneas nunmehr zum neuen Diomedes macht, bevor er dann auch noch der neue Achill wird, schildert Vergil wie folgt (919-929): Gegen den Zaudernden schwingt Aeneas die todbringende Waffe, schätzt den Erfolg des Wurfes ab und schleudert sie mit seiner ganzen Körperkraft von ferne. Von einem Mauergeschütz geschleudert, donnern niemals so die Steine, und nicht verbreitet sich nach einem Blitzschlag ein so gewaltiges Krachen. Es fliegt, einem düsteren Wirbelwind gleich, Verderben und Grauen bringend, die Lanze und reißt den Rand des Panzers auf und die untere Kante des siebenhäutigen Schildes; mitten durch den Oberschenkel fährt sie mit Zischen. Es stürzt getroffen zu Boden der riesige Turnus mit eingeknickten Kniekehlen. 1 2o6 Das Epos von Aeneas Unter KkgegeheuJ springen auf die Rutuler, der ganze Berg hallt ringsum wider, und die Stimmen wirft das Echo der hohen Wälder zurück. Es ist Aeneas sichtlich gelungen, die Situation, in der wir ihn zu Beginn des Epos kennenlernten, in ihr Gegenteil zu verkehren. Mitten in einem heftigen Seesturm hatte er sich gewünscht, er wäre vor Troja von der Hand des Diomedes gefallen (1.96-98; S. 129), jetzt verwundet er seinen Gegner, wie der Grieche einst ihn verwundete, und seine Waffe wirkt dabei wie ein Sturmwind. Meines Erachtens kann kein Zweifel bestehen, daß Vergil seinen Aeneas ganz bewußt als einen Helden darstellt, der seine bedeutendste Tat vollbringt, und daß der Dichter diese als etwas unbedingt Positives beurteilt wissen will. Hier handelt nicht nur ein neuer Diomedes, sondern es „donnert" zudem ein irdischer Jupiter gegen einen irdischen Giganten, der, selbst riesig (927: ingens), gerade einen riesigen Stein (896: ingens) gegen ihn geschleudert hat, wenn auch vergeblich. Allerdings befindet sich der „Gigant" gerade, wie wir ebenfalls schon in anderem Zusammenhang sahen, in einer ganz ungigantischen seelischen Verfassung: Der Mann fühlt sich auf einmal allein gelassen und hat Angst, panische Angst. Vergil, der die Erfolglosigkeit des Turnus mit derjenigen eines sich umsonst abmühenden Menschen in einem Alptraum vergleicht, schildert die Lage so einfühlsam, daß man sich als Leser schwerlich des Mitleids für den Rutuler erwehren kann (908-918; S. 66 f.). Diese Empfindung möchte Turnus, nachdem er, von der Lanze getroffen, zu Boden gestürzt ist, auch in Aeneas wecken (93o-938a): Er richtet demütig flehend die Augen auf ihn, hält ihm die bittende Hand hin und sagt: „Ich habe es verdient und flehe nicht um Gnade. Nutze dein Glück! Wenn dich aber irgendeine Rücksicht auf meinen armen Vater rühren kann, so bitte ich - auch dir war ein solcher Vater Anchises -, hab Mitleid mit dem hohen Alter des Daunus und gib mich oder, wenn du das lieber willst, den Körper ohne Lebenslicht meinen Angehörigen zurück. Du hast gesiegt, und mich als Besiegten die Hände hochheben sahen die Italiker. Dir gehört Lavinia als Gemahlin. Weiter dringe nicht vor in deinem Haß!" Mit seinen Worten vermag Turnus nun tatsächlich auf Aeneas zu wirken (938b-941a): Es stand da wild in Waffen Aeneas, rollte die Augen und gebot seiner Rechten Einhalt. Und mehr und mehr schon hatten die Worte den Zögernden umzustimmen begonnen, ... Em offenes Ende? 20J „... als plötzlich heißt es weiter, denn es geschieht etwas, was das Zögern beendet und Aeneas dazu treibt, Turnus auf der Stelle zu töten. Bevor wir uns ansehen, wodurch er zu der Bluttat getrieben wird, sollten wir wie der Trojaner kurz innehalten und überlegen, was er vielleicht auch überlegt: ob er dem Bittflehendcn überhaupt das Leben lassen darf. Versucht man diese Frage lediglich unter politischem und religiösem Aspekt sowohl vom Standpunkt des Aeneas als auch der Zeitgenossen zu beantworten, braucht man nicht lange nachzudenken. Hier lautet die Antwort nämlich ganz einfach: Nein, er darf nicht. Einer von mehreren Gründen dafür ist, daß man Turnus nicht trauen kann. Er hat den an einem Altar geschlossenen Vertrag gebrochen und damit ein Sakrileg begangen; also steht zu befürchten, daß er die Bedingungen, unter denen Aeneas ihn begnadigen könnte, nicht einhält und den künftigen König weiterhin bedroht. Damit muß Aeneas auch deswegen rechnen, weil Turnus mehrfach überheblich und entsprechend rücksichtslos aufgetreten ist. Das liefert einen zweiten Grund, ihn zu töten, und dieser findet eine Bestätigung in dem Gebot des Anchises an die Römer, das wir in Buch 6 lesen (853; S. 59): zu schonen die Unterworfenen und niederzukämpfen die Hochmütigen. Gewiß, unterworfen ist Turnus jetzt ebenfalls, aber er fällt in erster Linie unter die Kategorie der Hochmütigen, die es niederzukämpfen gilt. Denn er hat im Duell mit Pallas seine Überheblichkeit so besonders niederträchtig gezeigt, indem er wünschte, F.uander sähe die Tötung seines Sohnes (10.443; 5. Dieses Verhalten verriet - das ist ein dritter Grund für Aeneas, Turnus nicht zu verschonen - mangelndepielas, wodurch der Rutuler das Recht verlor, unter Verweis auf seinen Vater und den des Aeneas um Gnade zu bitten. Der Trojaner wiederum hat sogar die Pflicht - das ist Grund Nummer 4 -, Rache für den jungen Mann zu nehmen, da ihm dieser von dessen Vater anvertraut und er somit zu dessen Stellvertreter wurde. Für Vergils Zeitgenossen gab es hier den „Präzedenzfall" der Rache Octa-vians für den Mord an seinem (Adoptiv-)Vater Caesar: In seinen Res gestae (Tatenbericht) spricht Augustus ausdrücklich von den „gesetzmäßigen Urteilssprüchen" (2: iudieüs legitimis), durch die er die Untat der Attentäter gerächt habe. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß Octavian sich durch seinen Sieg über Antonius im Bürgerkrieg die Möglichkeit für eine Neuordnung des römischen Staates schuf - nach Vergils Auffassung war dies, wie aus seinen Werken klar hervorgeht, die besondere Leistung des Imperators -, und dann ergibt sich (Grund 5): Auch Latium bedurfte nach dem „Bürgerkrieg" zwischen Italikern und Trojanern der Neuordnung, aber sie wäre durch einen überlebenden Turnus ganz sicherlich ernsthaft gefährdet gewesen. 208 Das Epos von Aeneas Ein offenes Ende? Wie gesagt, das sind politische und religiöse Gesichtspunkte. Einen davon bringt Aeneas bei seiner plötzlichen Entscheidung, Turnus zu töten, direkt zur Sprache: Rache. Außerdem gibt er zu verstehen, daß ihn seine pietas leitet. Aber der Trojaner wird noch durch etwas Weiteres zur Tat getrieben (941b-952): ... als ihm plötzlich das unglückselige Wehrgehänge hoch an der Schulter ins Auge fiel und mit den vertrauten Buckeln aufblitzte der Gürtel des Knaben Pallas, den Turnus besiegt und mit tödlicher Wunde zur Strecke gebracht hatte; und nun trug er den Schmuck des Gegners an der Schulter. Nachdem er mit den Augen das Mahnmal wütenden Schmerzes, die erbeutete Rüstung, verschlungen hatte, sprach er lodernd vor Wut und im Zorn schrecklich: „Du, der du mit der geraubten Rüstung der Meinen angetan bist, willst dich mir entziehen? Pallas macht dich mit dieser Wunde, ja Pallas, zum Opfer und nimmt Rache an deinem ruchlosen Blut." Mit diesen Worten stößt er tief in die ihm entgegengestemmte Brust das Schwert wutentbrannt. Doch jenem lösen sich, eisig erstarrt, die Glieder, und sein Leben flieht mit Stöhnen und voll Unmut zu den Schatten. Es ist Zorn, ja sogar furor, der außer der Pflicht zur Rache und der pietas das Handeln des Aeneas lenkt - also genau der Affekt, den als verderblich zu brandmarken Vergil in seinem gesamten Werk nicht müde wird. Man hat das folgendermaßen zu entschuldigen versucht: Die Ethik der Akademie, des Peripatos und sogar des Epikureismus gestatte eine heftige Aufwallung des Gemüts angesichts von Situationen wie derjenigen, in welcher sich Aeneas befindet, und lobe sie zudem. Gut, aber ist das hier relevant? Man bedenke: Vergil selbst war es offensichtlich, der die Szene erdachte, in der Aeneas das Wehrgehänge des Pallas an Turnus* Schulter erblickt; die Sagenüberlieferung gab ihm das sicherlich nicht vor. Der Dichter ließ seinen Helden in maßlose Wut geraten, statt sein Handeln einfach unter einem der oben genannten Aspekte zu motivieren. Sollen wir etwa annehmen, er habe sich in die Diskussion über eine philosophische Lehrmeinung zum Thema „Wann ist furor erlaubt?" mit einem von ihm konstruierten Fallbcispiel eingeschaltet? Bevor man eine solche Interpretation für möglich hält - mir scheint sie eher abwegig -, wäre nach einer Deutung zu suchen, die im Rahmen von Vergils epischem Diskurs bleibt. Werner Suerbaum, der sich außer Michael Putnam wohl am ausgiebigsten mit der Schlußszene von Buch 12 der Aeneis auseinandergesetzt hat, vertritt die bedenkenswerte Ansicht, in der bildlichen Darstellung auf dem Wehrgehänge des Pallas (10.497f.; s- I9I) stecke ein „alternatives Hand- lungsangebot" an Aeneas (1999, 351 f.): Entweder er tötet nach dem Muster der 49 Töchter des Danaus - das aber nennt Vergil einen Frevel (10.497: nc-fas) -, oder er unterläßt es wie die eine Danai'din Hypermcstra. Nun gibt es Anzeichen dafür, daß Augustus die Tat der 49 Frauen nicht als Frevel, sondern als mythisches Vorbild für eigenes politisches Handeln betrachtete. Denn er ließ in einer Säulenhalle neben dem Apollotempel auf dem Palatin, der die Römer an den Sieg des Prinzeps bei Actium erinnerte, eine Gruppe von Danai'den neben ihrem Vater mit gezücktem Schwert aufstellen; man darf vermuten, Augustus habe in der Tötung der Söhne des Aegyptus die Niederlage seiner Gegnerin Kleopatra präfiguriert gesehen. Ist es so, dann vollstreckt Aeneas seine Tat mit Blick auf das Wehrgehänge des Pallas in Übereinstimmung mit der Prinzipatsideologie. Doch einerseits begeht er damit wie die Danai'den einen „Frevel", andererseits handelt er im Affekt, also nicht aus vertretbaren politischen und religiösen Motiven. Sollte hier nun doch implizite Augustus-Kritik erkennbar sein? Will Vergil zum Ausdruck bringen, die Herrschaft des Juliers, für die Aeneas mit seiner Tötung des Turnus die entscheidende Voraussetzung schuf, sei letztlich auf einen Akt des furor gegründet? Mag sein, daß man auf die zweite Frage nicht mit einem klaren Nein erwidern kann. Aber daß Vergil irgendwo in seinem Werk explizit oder in versteckten Andeutungen irgend etwas artikuliert, das gegen Augustus gerichtet ist, möchte ich nach wie vor ausschließen. Auch in unserer Szene verläuft das Geschehen, wie deutlich geworden sein dürfte, ganz im Sinne des Prinzeps. Zwar wird es durch Handeln gelenkt, das nicht einzig und allein aus rationalen Motiven erfolgt, doch dadurch wird noch lange nicht die Prinzipatsideologie ins Zwielicht gerückt. Warum nicht? Die Antwort klingt vielleicht banal, aber sie ist schwerlich falsch: Römer, die im Sinne des augusteischen Systems agieren, sind „nebenbei" auch noch Menschen. Sie sind es ebenso wie die Gegner des Systems, und genau das bringt Vergil, wie ich meine, in der letzten Szene der Aeneis besonders eindringlich zum Ausdruck. Hier sehen wir Turnus erst als Versager, dann in panischer Angst und schließlich als Bittflehendcn. War sein Verhalten bisher noch so überheblich, ja frevelhaft - jetzt spricht er uns in seiner Schwäche an, und Vergils Erzählweisc sorgt dafür, daß wir uns wirklich angesprochen fühlen. Dasselbe gilt für Aeneas: Ihn packt auf einmal die blinde Wut, und auch das ist menschlich-allzumenschlich. Es erscheint genauso verständlich wie seine „unmännliche" und „unrömischc" Leidenschaft für die faszinierende Dido. Vergil lädt den Leser dazu ein, sich sowohl mit dem bittflehenden Turnus als auch mit dem jähzornigen Aeneas zu identifizieren. Darf man also sagen, ein wesentliches Anliegen Vergils im Finale seines Epos bestehe darin, noch einmal jenseits aller politischen, religiösen, kulturellen und sonstigen „offiziellen" Diskurse die menschliche Seite der Geschichte von der göttlichen Mission des Aeneas zur Geltung zu bringen? 270 Das Epos von Aeneas Ich denke, es ist so. Blicken wir doch einmal kurz von der letzten Szene in Vergils Epos, die zugleich die letzte in seinem Gesamtwerk ist, zurück auf die erste, die der Dichter seinen Lesern vor Augen geführt hat: den Dialog der Hirten Tityrus und Meliboeus in Ekloge i (S. 45 ff.). Auch dort tritt einer Person, die sich göttlicher Gnade erfreut, eine solche gegenüber, die das Feld räumen muß. Und beide Männer sind so charakterisiert, daß wir uns ihnen als Menschen verbunden fühlen. Freilich ist das, was die zwei miteinander reden, eindeutig durch die politische Situation bedingt, die ihnen die jeweilige Lebenslage geschaffen hat. Doch bedarf es zur Würdigung des Gedichts einer genauen Kenntnis dieser politischen Situation? Der Text hätte nicht die Jahrhunderte überdauert, wenn es so wäre - das kann man nicht oft genug betonen. Gewiß, zu seinem Verständnis benötigen heutige Leser etwas mehr Hilfestellung als diejenigen früherer Zeiten; sie im Hinblick auf moderne Bedürfnisse zu geben, versucht das vorliegende Buch. Aber wer sich mit der Welt Vergils auch nur ein wenig vertraut gemacht hat, dürfte bei sorgfältiger Lektüre erkennen: Seine Dichtung ist einfach deswegen, weil ihr Verfasser mit der Vox humana spricht und dabei zugleich anspruchsvolle poetische Kunst bietet, zeitlos - auch im 21. Jahrhundert.