Textausschnitt aus der Altdeutschen /Wiener/ Genesis – in Neuhochdeutsch /aus: Frühmittelhochdeutsche Literatur. Auswahl, Übersetzung und Kommentar von Gisela Vollmann-Profe. Stuttgart 1996./ Nun merkt auf, meine Lieben, ich möchte euch etwas vortragen! Wenn der gnädige Gott geruht, mir die Fähigkeit zu verleihen, so zu sprechen, wie es mir die Heilige Schrift vorgibt, dann wird die Erzählung schön, (denn) die Wundertaten Gottes sind unvergleichlich. Gott ist vollkommen; Er war immer, kannte keinen Anfang. Als außer ihm niemand war, erschuf er die Engel. Zehn Chöre richtete er ein, ihnen allen ordnete er Engel zu. Ich kann euch wahrlich versichern: Er gab jedem Chor seinen Namen! Den ersten nannte er „Engel“, den zweiten „Erzengel“, den dritten „Throne“, den vierten „Herschafften“ den fünften „Gewalten“ den sechsten „Fürsten“ einen weiteren Chor nannte er „Cherubim“ einen anderen „Seraphim“. Dann erschuf er einen Engel, der überstrahlte alle anderen; er war die Wonne der Engel, denn Gott ließ ihn in reichem Maße an der himmlischen Wonne teilhaben. Zu seinem Chor gehörte eine große Schar. Wahrheitsgemäß sage ich euch dies: Er nannte ihn „Lichtträger“. Er liebte ihn sehr; In ihm hat die Anmaßung (*Überheblichkeit, Arroganz – pýcha) seinen Ursprung. Gott ist gnädig und gut; Der Anmaßung aber tritt er mit aller Macht entgegen; Das nämlich zeigte er deutlich an jenem Verworfenen. Als dieser sich in vertrautem Gespräch an seine Mitengel wandte, sprach er höchst überheblich zu ihnen. Er sagte: „Mein Herr hat die Macht hier im Himmel; er glaubt, ihm könne nichts widerstehen. Ich bin von gleicher Erhabenheit; Ich werde auch ohne ihn existieren können. Ich bin ebenso schön; Ich will mit meinem Chor ebenso gewaltig sein wie er. Ich will unabhängig von ihm sein, und meinen Thron nördlich von dem seinen im Himmel errichten. Ich will auf gleicher Stufe mit ihm stehen.“ Da sprach Gott Zu einem seiner Vasallen: „Ich will dir sagen, Michael, dass sich mein Vasall Luzifer gegen mich erhoben hat! Dein Auftrag ist es, ihn auf der Stelle mit all seinen Gefährten vom Himmel hinab zu stoßen in die Hölle und alle, die zu ihm halten und ebenso die, die zu seinem Tun schweigen. Sieh zu, dass keiner von ihnen hier zurückbleibt!“ Als Gott das befohlen hatte, wurde der Chor vernichtet. Da wurde die macht Gottes offenbar; Michael erhob seine Hand; Er führte einen solchen Schlag gegen den Teufel, dass der Himmel unter ihm barst, so dass er im gleichen Augenblick in den Abgrund stürzte, zusammen mit einer Schar, so gewaltig, wie wenn ein Unwetter mit Regen drei Tage und drei Nächte lang niederprasselt. Sehr groß ist die Macht Gottes. …