Grundlagen der Textlinguistik * WS 2003/04 1 Guido Nottbusch * Universität Bielefeld Grundlagen der Textlinguistik Teil 07: Textualität VII. Konventionelle vs. konversationelle Implikaturen „Ein Sprecher impliziert mit der Äußerung eines Satzes S, dass p der Fall ist, wenn seine Äußerung den Schluss auf p erlaubt, ohne dass er mit S wörtlich gesagt hätte, dass p. Beruht der Schluss ausschließlich auf der konventionellen Bedeutung der Wörter und grammatischen Konstruktionen, so heißt der Schluss eine »konventionelle Implikatur«“ Bußmann, 1990: 328 Auslöser konventioneller Implikaturen können sein: • Faktive Prädikate, d.h. der Sprecher setzt (normalerweise) die Wahrheit der Aussage des abhängigen Nebensatzes voraus (1) Paul findet es furchtbar, dass sein Kühlschrank kaputt ist. • Partikeln (2) Nur Paul Kühlschrank ist kaputt. • Aktionsarten (3a) Die Sicherung in Pauls Kühlschrank ist durchgebrannt. (-> resultativ) (3b) Der Baum wurde gefällt. (-> kausativ) Mit der konversationellen Implikatur sind „Schlüsse gemeint, die ein Rezipient zieht/ziehen muss, um einen kommunikativen Beitrag seines Kommunikationspartners als sinnvollen, stimmigen, kohärenten“ Text akzeptieren zu können. Linke & Nussbaumer, 1988: 45 Die Grice’schen Konversationsmaximen Die übergreifende Maxime ist das Kooperationsprinzip: "Mache deinen Beitrag zur Kommunikation so, wie er an derjenigen Stelle entsprechend dem akzeptierten Zweck oder der Richtung des Redewechsels, an dem Du beteiligt bist, erforderlich ist!" Grundlagen der Textlinguistik * WS 2003/04 2 Guido Nottbusch * Universität Bielefeld • Maxime der Quantität: "Mache deinen Beitrag (nur) so informativ wie erforderlich!" • Maxime der Qualität: "Versuche deinen Beitrag zur Kommunikation so zu gestalten, dass er wahr ist! (Sage nichts, was du für falsch hälst! Sage nichts, wofür du keine Evidenzen hast!)" • Maxime der Relation: "Versuche, mit deinen Gesprächsbeiträgen relevant zu sein!" • Maxime der Modalität: "Sei klar und verständlich!" Ist eine der vier Grice’schen Konversationsmaximen (absichtlich) verletzt, neigen Rezipienten dazu, diese durch Reparaturverfahren wieder herzustellen. (4a) *Paul hat einen Kühlschrank, aber er benutzt ihn. (4a’) Paul hat einen Kühlschrank. Der Kühlschrank ist kaputt. Aber er benutzt ihn trotzdem. (4b) ? Paul hat einen Kühlschrank und er benutzt ihn. Die konversationelle Implikatur wird von Sprechern auch bewusst eingeplant: (5) Du hast doch bestimmt noch eine Flasche Bier im Kühlschrank! Zusammenfassung der Textualitätsmerkmale Kognitive Voraussetzungen der Textualität: Kohäsion, die Art, wie die Oberflächeneinheiten eines Textes miteinander verbunden sind, beruhend auf grammatischen Abhängigkeiten. Kohäsive Mittel sind: (Partielle) Rekurrenz, Parallelismus, Paraphrase, ProFormen, Substitution, Ellipse, Tempus und Aspekt, Junktion, Intonation textzentrierte, grammatisch bestimmte Textualität Kohärenz, der innere semantische Zusammenhang von Konzepten in der Textwelt, beruhend auf der Verknüpfung von Textwelt und Weltwissen (konstruktiver Prozess) und ihrer Sinnkontinuität. Die wahrscheinlichsten Steuerungsmittelpunkte beim Aufbau der Repräsentation sind die Primärkonzepte Objekt, Situation, Ereignis und Grundlagen der Textlinguistik * WS 2003/04 3 Guido Nottbusch * Universität Bielefeld Handlung. Hieran knüpfen verschiedene Sekundärkonzepte an. "Kohärenz ist [...] das Ergebnis kognitiver Prozesse der Textverwender." textzentrierte, semantisch bestimmte Textualität de Baugrande & Dressler, 1981: 7 Intentionalität, "Im engeren Sinne intendiert der Produzent eines Textes sein Produkt als kohäsiven und kohärenten Text." de Baugrande & Dressler, 1981: 118. Ein Rezipient kann aber nicht die reale Absicht des Produzenten erkennen, sondern ihm nur eine bestimmte Intention unterstellen. Hier zeigt sich die gegenseitige Abhängigkeit von Intentionalität Akzeptabilität. Nach Vater (1992: 50) ist Intentionalität die Grundlage jeder bewussten kommunikativen Handlung und kann damit nicht als textspezifisch klassifiziert werden. Zumindest zeigt sich hier die enge Verzahnung der textzentrierten und der verwenderzentrierten Textualitätskriterien. verwenderzentrierte, pragmatisch-kommunikativ bestimmte Textualität Akzeptabilität, "die Einstellung des Textrezipienten, einen kohäsiven und kohärenten Text zu erwarten, der für ihn nützlich und relevant ist". de Baugrande & Dressler, 1981: 9. muss nicht unbedingt grammatikalisch sein Vater kritisiert, die Akzeptabilität sein "in starkem Maße subjektiv. Gehört sie zu den Textualitäts-Kriterien, dann müsste ein und dasselbe Gebilde von einem Rezipienten als Text aufgefasst werden, von einem anderen nicht." Vater, 1992: 52 verwenderzentrierte, pragmatisch-kommunikativ bestimmte Textualität Informativität, "das Ausmaß der Erwartetheit bzw. Unerwartetheit oder Bekanntheit bzw. Unbekanntheit/Ungewissheit der dargebotenen Textelemente." de Baugrande & Dressler, 1981: 10. Das Maß an Information, dass das Interesse des Rezipienten steuert, d.h. nicht das Thema, sondern der Informationswert. Gansel und Jürgens geben jedoch zu bedenken, dass zu geringe [oder zu hohe] Informativität Grundlagen der Textlinguistik * WS 2003/04 4 Guido Nottbusch * Universität Bielefeld "zur Ablehnung des Textes führt, aber doch nicht zur Ablehnung des Textes als Text." Gansel & Jürgens, 2002: 26 verwender- und kontextzentrierte, semantisch bestimmte Textualität Situationalität, die Gesamtheit der "Faktoren, die einen Text für eine kommunikative Funktion relevant machen". de Baugrande & Dressler, 1981: 12. Texte haben "keine Bedeutung, keine Funktion an sich, sondern immer nur relativ zu Interaktionskontexten sowie zu den Handlungsbeteiligten, die Texte produzieren und rezipieren." Bedeutung und Sinn eines Textes werden weitgehend über den Kontext bestimmt. Es stellt sich wiederum die Frage, ob ein nichtsituationsadäquater Text kein Text ist. kontextzentrierte, pragmatisch-kommunikativ bestimmte Textualität Intertextualität, der Bezug eines Textes auf andere Texte (referentielle Intertextualität) und die grundsätzliche Textsorten-Geprägtheit aller Texte (texttypologische Intertextualität). Die Bekanntheit der Referenz bzw. der Textsorte beim Rezipienten wird vorausgesetzt. Ist diese nicht gegeben, kann sich Intertextualität hemmend auf die Verstehensleistung auswirken. Regulative Prinzipien Die genannten Kriterien fungieren als konstitutive Prinzipien von Kommunikation durch Texte. Daneben gibt es weitere Kriterien, die als regulative Prinzipien auftreten. Diese sind: 1. Die Effizienz eines Textes hängt vom möglichst geringen Grad an Aufwand und Anstrengung der Kommunikationsteilnehmer beim Gebrauch des Textes ab. Die Effizienz trägt zur Verarbeitungsleichtigkeit bei, d.h., zur Durchführung von Operationen mit geringer Belastung der kognitiven Kapazität. 2. Die Effektivität hängt davon ab, ob der Text einen starken Eindruck hinterlässt und/oder günstige Bedingungen zum Erreichen eines Ziels erzeugt. Dies ist von der Verarbeitungstiefe abhängig, d.h., der Grundlagen der Textlinguistik * WS 2003/04 5 Guido Nottbusch * Universität Bielefeld intensiven Auslastung der kognitiven Kapazität durch Material, welches nicht in der expliziten Oberflächenrepräsentation enthalten ist. 3. Die Angemessenheit eines Textes ist die Übereinstimmung eines Textes zwischen seinem Kontext und der Art und Weise, wie die Kriterien der Textualität aufrecht erhalten werden. Da Effizienz und Effektivität dazu tendieren, gegeneinander zu arbeiten, muss Angemessenheit zwischen diesen beiden Faktoren vermitteln, um das richtige Gleichgewicht zwischen Konventionellem und Nichtkonventionellem anzuzeigen. Notwendige oder hinreichende Kriterien? "Wenn irgendeines dieser Kriterien als nicht erfüllt betrachtet wird, so gilt der Text nicht als kommunikativ." de Baugrande & Dressler, 1981: 3 pragmatisch-kommunikativ verwenderzentriert kontextzentriert grammatisch semantisch textzentriert Textualität Kohäsion Kohärenz Intentionalität Akzeptabilität Informativität Situationalität Intertextualität Grundlagen der Textlinguistik * WS 2003/04 6 Guido Nottbusch * Universität Bielefeld (6) Es gibt niemanden, den ihr Gesang nicht fortreißt. Unsere Sängerin heißt Josephine. Gesang ist ein Wort mit fünf Buchstaben, Sängerinnen machen viele Worte. (7) Die Dämmerung Ein dicker Junge spielt mit einem Teich. Der Wind hat sich in einem Baum gefangen. Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich, Als wäre ihm die Schminke ausgegangen. Auf langen Krücken schief herabgebückt Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme. Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt. Ein Pferdchen stolpert über eine Dame. An einem Fenster klebt ein fetter Mann. Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen. Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an. Ein Kinderwagen schreit und Hunde flüchten Alfred Lichtenstein Ohne Kohärenz sind Textteile eher weglassbar/austauschbar/umstellbar. "Das Thema bestimmt weitgehend die Kohärenz-Beziehungen im Text." Vater, 1992: 66 (8) Sinn = kein Sinn, aber (in Ansätzen) interpretierbar - Assoziationen Grundlagen der Textlinguistik * WS 2003/04 7 Guido Nottbusch * Universität Bielefeld Aber: Es ist sinnvoll abzugrenzen zwischen ‚tatsächlicher’ textbezogener Kohärenz und einer Form von Kohärenz die in irgend einem beliebigen Zusammenhang von irgend einem beliebigen Rezipienten wahrgenommen werden könnte. (9) Hans schläft lange, weil er ist sehr müde. (10) Peter hofft Bananen. (11) Derjenige, der denjenigen, der den Pfahl, der auf der Straße, die nach Kulmbach führt, steht, umgeworfen hat, anzeigt, erhält eine Belohnung. (13) In den Dünen sitzen. Nichts sehen als Sonne. Nichts fühlen als Wärme. Nichts hören als Brandung. Zwischen zwei Herzschlägen glauben: Nun ist Frieden. (14) Aufigstigen Kirschen brockt Abigfallen Hingwesen • Sind die Kriterien also alle notwendig oder nur hinreichend? • Gibt es nur binäre Kriterien ('entweder ... oder'), oder gibt es auch Abstufungen ('mehr oder weniger')? • Habe alle Kriterien das gleiche Gewicht? Oder wiegen einige Merkmale 'schwerer' als andere? Fragen, Feedback und Fehler (auch Tippfehler) bitte an: Guido.Nottbusch@uni.bielefeld.de