VERÖFFENTLICHUNGEN DES INSTITUTS FÜR GESCHICHTSFORSCHUNG UND ARCHTVWISSENSCHAFT IN WIEN, BAND I OTTO BRUNNER LAND UND HERRSCHAFT Grundfragen der territorialen Ver/assungsgeschicbte Südostdeutschlands im Mittelalter 1,7 AS 6 MCMXLIII RUDOLF M. ROHRER VERLAG BRÜNN / MÜNCHEN / WIEN II. STAAT, RECHT UND VERFASSUNG r. „Staat" und „Gesellschaft" Unsere Untersuchungen über Friede und Fehde haben zu dem Ergebnis geführt, daß im Mittelalter mit Vorstellungen von Staat und Verfassung zu rechnen ist, die mit dem, was wir mit diesen Worten bezeichnen, nicht übereinstimmen. Wir wenden uns nunmehr der Frage zu, wie unter diesen Umständen der innere Aufbau, die Verfassung jener politischen Gebilde, die wir gemeinhin auch im Mittelalter „Staaten" nennen, sachgemäß beschrieben werden kann. Unter Verfassung soll hier mit Carl Schmitt der „Gesamtzustand der politischen Einheit und Ordnung" verstanden werden1. Wir müssen fragen: Hat es im Mittelalter einen „Staat" gegeben, einen modernen Staat?2 Wollte man diese Frage verneinen, so ergäbe sich sofort die Frage, welcher Art dann die weltliche Ordnung des Mittelalters war? Denn daß sie nur Nicht-Staat, Unordnung, Chaos und Anarchie, „Faustrecht" gewesen sei, wird niemand im Ernste behaupten3. Finden sich solche Thesen, so meinen sie gerade, daß es auch im Mittelalter nach der Absicht der Menschen jener Zeit einen Staat *) C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 3. Zum Wandel des Verfassungsbegriffs in der Gegenwart vgl. man E. R. Huber, Verfassungsrecht d. Groß-deutschen Reiches, 1939. E.Becher, Volk u. Staat in Lehre u. Wirklichkeit, 1941 und die hier angeführte Literatur. G. A. Walz, Der Begriff der Verfassung, 1942. 2) Zum geschichtlichen Begriff des modernen Staats vgl. G. v. BeW, Die Anfänge des modernen Staats mit besonderem Blick auf die deutschen Territorien. Territorium und Stadt, 2 1923, S. 161 ff. O. Hintze, Wesen und Wandlung des modernen Staats. Ders., Die Entstehung des modernen Staatslebens. Sitz.-Ber. d. Berl. AL phil.-hist. Kl. 1931, 1932. F. Härtung, Epochen der absoluten Monarchie in der neueren Geschichte. H. Z. 145 (1932), S. 46ff., jetzt in Volk und Staat in d. dt. Geschichte, 1940, S. 41 ff. H. Krüger, Die geistigen Grundlagen des Staates, 1940. 3) Doch fehlt audi diese Meinung nicht. Ein so einflußreiches Buch wie P.Roths Feudalität und Untertanenverband, 1863, sieht die „gesetzlosen Zustände" des Mittelalters, die nicht germanisch, sondern aus den Feudalinstitutionen erwachsen seien, als „mit etwas Cultur bedeckte Barbarei der schlimmsten Art" an (S. 34). Dazu vgl. man die Darlegungen J. Fickers, Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens 1 (1868), S. XXff. hätte geben sollen, der aber durch den Mißbrauch der feudalen Gewalten immer wieder in Anarchie verfallen sei. „Staat" ist ein Begriff aus der politischen Welt der Neuzeit. Er ist aber im 19. Jahrhundert zum „allgemeinen Normalbegriff der politischen Organisationsform aller Zeiten und Völker" geworden1. Ob er nun, wie Carl Schmitt vermutet, mit dem „Zeitalter der Staatlichkeit" verschwinden wird oder nicht, er gehört heute noch unserer Begriffssprache an und kann vorläufig noch nicht entbehrt werden, ohne Gefahr, das Moment der „politischen Einheit und Ordnung" zu vernachlässigen. In diesem Sinn wird das Wort Staat überall dort zu verwenden sein, wo es kein Mißverständnis hervorruft2, und sein Verhältnis zu konkreteren Begriffen wie Reich geklärt wird3. So wird es auch in Schriften gebraucht, die an sich Wert darauf legen, den geschichtlichen Ort des Staatsbegriffs näher zu bestimmen, auch in dem vorliegenden Buch. Gerhard Sappok4 hat, den Anregungen Carl Schmitts und dieses Buches folgend, vorgeschlagen, im frühmittelalterlichen Osteuropa nicht von „Staatsgründungen", sondern von „Herrschaftsbildungen" zu sprechen. Doch ist sich Sappok darüber im klaren, daß es nicht genügt, das Wort „Staat" durch das dem quellenmäßigen Befund allerdings mehr entsprechende Wort „Herrschaft" zu ersetzen, sondern daß die in Frage kommenden geschichtlichen Gebilde in ihrem inneren Bau zu beschreiben sind. Mit der Ausschaltung des Wortes „Staat" wäre nichts getan, wenn nicht die bisher Staat, nunmehr „Herrschaft", "Reich" oder „Land" genannten Einheiten genau gekennzeichnetwerden. Bleibt man aber bei „Staat", so muß jeweils präzis angegeben werden, was demgegenüber als „nichtstaatlich", „unstaatlich" oder 0 C. Schmitt, Staatliche Souveränität u. freies Meer, Das Reich und Europa, 1941, S. 79 £F. 2) Vgl. etwa A. Schulte, Der deutsche Staat, Verfassung, Macht u. Grenzen, 1933 oder H. Mitteis, Der Staat d. hohen Mittelalters, 1940. 3) H. Heimpel, Reich und Staat in der deutschen Geschichte, Deutsdies Mittelalter, 1941, S. 50 ff. E. R. Huber, Bau und Gefüge des Reiches, Idee und Ordnung d. Reichs 1 (i<)|), S. 6ff. 4) G. Sappok, Grundzüge der osteuropäischen Herrschaftsbildungen im frühen Mittelalter, Deutsche Ostforschung 1 (1942), S. 20 ff. Dazu vgl. A. Brackmann, Die Wickinger und die Anfänge Polens, Abh. d. preuß. Ak. d. Wissensch., phil.-hist. Kl. 1942/6 (1943), S. 51. 124 „vorstaatlich" bezeichnet wird. So betrachtet Theodor Mayer1 den von Sappok behandelten Vorgang als Übergang von „Konglomeraten von Gaufürtstentümern" zu „einheitlichen Staaten". Wenn er gleichzeitig darauf verweist, daß sich damit die "Westslawen und Magyaren die „Grundlage für ihre Nationalstaaten" gelegt haben, so wird deutlich, daß hierin dem Gebrauch des Wortes „Staat" ein historisch-politisches Urteil über die dauernde Wirkung dieser „Staatengründung" liegt. Der abstrakte Staatsbegriff ließe sich wohl auch auf jene „Gaufürstentümer" anwenden, die „Herrschaftsbildungen" sind. Wenn sie auch zur Zeit ihrer Entstehung noch nicht Staaten im jüngeren Sinn waren, so sind sie doch zu solchen geworden. Kennzeichnend, daß man sich scheut, das Wort „Staat" auf kurzlebige Gebilde, wie das Großmährische Reich, anzuwenden. Ein allzuhäufiger und weiter Begriff des Staates trägt jedenfalls die Gefahr in sich, die konkreten Ordnungen des Mittelalters, die uns „Staat" sind, nicht genau genug zu bezeichnen und wesentliche Merkmale, auf denen ihr Bestand ruht, zu vernachlässigen, vor allem aber doch auch Merkmale des modernen Staates auf das Mittelalter zu übertragen2. Etwas anderes ist das durchaus berechtigte und in letzter Zeit mit so großem Erfolg ergriffene Unternehmen den geschichtlichen Wurzeln des modernen Staates im Mittelalter nachzugehen. So in Edmund E. Stengels Untersuchung über die geschichtlichen Grundlagen des modernen SouveränitätsbegrifFs3 :und Theodor Mayers Arbeiten über den „institutionellen Flächenstaat"4. Eine kaum minder wichtige Aufgabe ist die Erforschung des Fortlebens mittelalterlicher Ordnungen und Denkweisen in den neueren Jahrhunderten. Lebt doch die im Mittelalter erwachsene innere Ordnung, wenn auch verändert und erstarrend, vielfach bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fort und ist erst damals völlig abgetragen worden6. Wenn im folgenden *) Deutsche Ostforschung 1 (1942), S. 301. 2) Typisch dafür ist das Buch von F. Keutgen, Der deutsche Staat d. Mittelalters, 1918. 3) E. E. Stengel, Kaisertitel und Suveränitätsidee, Studien zur Vorgeschichte d. modernen Staatsbegriffs, 1939. 4) Th. Mayer, Die Ausbildung d. Grundlagen des modernen Staates im Mittelalter, H. Z. 158 (1938), S. 457 ff. Vgl. unten S. 518 ff. 6) Man könnte die von O. Lauffer, Die Begriffe „Mittelalter" und „Neuzeit" im Verhältnis z. deutsdien Altertumskunde, 1936, vorgetragenen Gedanken mittelalterlicher und neuzeitlicher Staat einander gegenübergestellt werden, so nicht darum, um den engen genetischen Zusammenhang zu leugnen, sondern um den spezifischen Charakter der mittelalterlichen Staatlichkeit herauszuarbeiten und zu verhindern, daß durch einen angeblich allgemeinen Staatsbegriff verdeckte Merkmale des neuzeitlichen Staates auf das Mittelalter übertragen werden. Wir wissen heute, daß die „Allgemeine Staatslehre"1 des 19. Jahrhunderts ihre Begriffe am Modell des monarchisch-liberalen Staates ihrer Zeit gebildet hat und die Gegenüberstellung von „Staat" und „Gesellschaft" voraussetzt. So erscheint bewußt oder unbewußt als Idealtypus der Verfassung die „Konstitution" des 19. Jahrhunderts, der bürgerliche „Rechtsstaat", der wieder nur im Rahmen des bureaukratisch-militä-rischen Staates, den der Absolutismus geschaffen hat, denkbar ist. In dieses Prokrustesbett wird der mittelalterliche Staat hineingezwängt, und, was nicht hineingehen will, als „Anarchie", „Chaos", als „merkwürdig" und „sonderbar" beiseitegeschoben. Der Staat als Machtapparat des Fürsten, dann als „juristische Person" ist es, der uns in der neueren Staatslehre entgegentritt. Zugleich aber wird das Wort Staat in einem allgemeinen Sinn für den politischen Verband überhaupt oder doch einen sehr weiten Kreis politischer Verbände, etwa der seßhafter Menschen, verwendet. Hier besteht nun jene Gefahr, der so viele Erörterungen über den mittelalterlichen Staat erlegen sind, spezifische Merkmale des modernen Staatsbegriffs für den Staat in irgendeinem allgemeinen Sinn in Anspruch zu nehmen. Demgegenüber ist die Scheidung zwischen dem „Staat" seit dem Absolutismus und dem älteren Begriff der Respublica, des Gemeinwesens, festzuhalten, der in der ganzen älteren Denktradition bis an die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gegeben ist und der etwa in der katholischen Staatslehre, soweit sie ihre ursprünglichen antiken Grundlagen festhält, auch heute noch fortlebt2. Läßt sich im 19. Jahrhundert der ohne weiters auch auf die Verfassungsgeschichte anwenden. „Mittelalter" und „Neuzeit" sind uns allerdings zu konventionellen Zeitbegriffen geworden. -1) G. Jellinek, Allgemeine Staatsichre, 1921, der S. 3i6ff.den mittelalterlichen Staat am neuzeitlichen mißt, so daß er als „unfertig" erscheint. 2) Vgl. O. Schilling in M. Grabmann-J. Mausbach, Aurelius Augustinus, 1930, S. 205 ff. A. Dempf, Christliche Staatsphilosophie in Spanien, 1937, S. 77. Sehr instruktiv C.Hohenlohe, Grundlegende Fragen des Kirchenrechts, 1931, S. 2i, der im Prinzip an der alten Einheit von Staat, Gesellschaft, Volk fest- „Staat" der Gesellschaft, dem Volk, gegenüberstellen, so heißt es bei Thomas von Aquin und Franz. Suarez „Respublica sive societas civilis sive populus", ist die Respublica die societas civilis oder das organisierte Volk, die von einer einheitlichen, „Politik" genannten Wissenschaft behandelt werden. Civilis ist nicht der Gegensatz zu politisch, dessen Obersetzung es ja ursprünglich war, sondern zu naturalis. Der societas civilis, der bürgerlichen Gesellschaft steht nicht der Staat, sondern der Status naturalis des bellum omnium contra omnes entgegen. Erst nach der Mitte des 18. Jahrhunderts beginnen sich allmählich Staat und bürgerliche Gesellschaft als eigengesetzliche Organisa-tionsfor.men zu sondern und die Lehre vom Gemeinwesen, der Respublica (Polis), die Politik, der bisher die Ökonomik als umfassende Lehre vom Hause zur Seite gestanden hatte, wird in die Zweiheit Staatslehre und Gescllschaftslehre (Soziologie) geschieden, neben denen gleichzeitig die politische Ökonomie, Volkswirtschaftslehre, als Lehre vom Markt im Staatsraum, nicht vom Hause, entsteht. Dieser Prozeß wurde erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschlossen, da endgültig Staat und Gesellschaft als verschiedene Gegenstände erfaßt und zum Objekt besonderer Wissenschaften gemacht werden .> Damit beginnt aber auch der Zerfall in eine große Zahl unzusammenhängender Einzeldisziplinen, ein positivistisches „Trennungsdenken" setzt sich durch; zwischen den scheinbar autonomen Fachwissenschaften beginnt ein chaotischer Kampf um den Vorrang, der das Ringen der politischen Mächte des rj. Jahrhunderts widerspiegelt. Durch die grundlegende Trennung von Staat und Gesellschaft wird der Staat zur „juristischen Form und normativen Ordnung", die Gesellschaft zur „Trägerin der geistigen und materiellen Werte". So scheint der Staat entweder ein abstraktes Normensystem oder aber ein „Überbau", ein Geschöpf der Gesollschaft "zu sein. Gleichzeitig aber scheidet dieses Trennungsdenken zwischen Staat und Recht. Hier wird der Staat .ganz im .Gegensatz zur ersten Unterscheidung bloße Macht und Willkür, das Recht Ausformung eines eigengesetzlichen unpolitischen hält, zugleich aber, der Situation des 19. Jahrhunderts Rechnung tragend, Gesellschaft als eine natürlidie, von der Kirche gegen den „Staat" zu schützende Ordnung ansieht. Über die analoge Umdeutung Thomas von Aquins durch die Enzyklika Quadragesimo anno vgl. E. Voegelin, Der autoritäre Staat, 1936, S. 210f. 128 Wertsystems. Da aber das Recht wie von Staat und Politik auch von der Sittlichkeit getrennt wird, so schwebt dieses Wertsystem völlig in der Luft, will man es nicht aus der Willkür staatlicher Satzung entspringen lassen oder bloß als Ausdruck „soziologischer Kräfte" verstehen. Begreiflich, daß gerade die Rechtswissenschaft und mit ihr die Rechtsgeschichte an einer positivistischen Haltung festhielten1. Alle diese verschiedenen Positionen erscheinen nun auch im Bereich der Geschichtswissenschaft. Während das Recht einem Sonderfach Reditsgeschichte zugewiesen wird, .kann der Staat .entweder als pure „Macht", so hei den „politischen" Historikern, erscheinen, oder aber bei den Verfassungshistorikern entweder in einer konservativen, an die Stellung des Herrschers