Jakob Julius David: Ein Poet? Aus Probleme, 1892 Er zuckte zusammen, blieb nicht ohne eine gewisse Ängstlichkeit stehen. Der Dritte – Dr. Ferdinand Wortmann seines Namens und erster Leitartikler des Blattes von Beruf – hatte den Bericht aufgenommen, und trat nun damit in der Hand auf Bernhofer zu. Er war ein kleiner Mann, fast einen Kopf kleiner als der andere; aber man begriff in diesem Augenblicke die Scheu Bernhofers vor ihm. Bewußte Kraft stand gegen Müdigkeit. Er sah ungemein klug und sehr heftig aus. Die Brille hatte er hoch auf die Stirne geschoben, und die tiefen Streifen, welche das Gestänge längs der Schläfen eingegraben hatte, leuchteten ganz rot. Seine raschen Augen funkelten, und die sehr schöne und bis auf den Ehering völlig schmucklose Hand fuhr über das kurzgeschorene Haupthaar und glättete am spitzgehaltenen Bart. »Sie, Herr Bernhofer!« rief er dabei noch einmal, und seine Stimme hatte einen hellen und nicht unangenehmen Ton. Die beiden andern aber stießen sich an: »Es gibt etwas...« und lächelten dabei. »Herr Doktor wünschen?« fragte Bernhofer befangen. »Sie haben da einen Bericht geliefert, Herr Bernhofer«, es lag eine gänzlich vernichtende Höflichkeit in jeder Silbe, »der ja soweit ganz vortrefflich sein mag. Er geht mich auch eigentlich nichts an, und ich warf nur aus Neugierde und weil ich zufällig da war, einen Blick hinein; das Lokale«, er schüttelte es mit einer entschiedenen Bewegung von seinen Schultern, »das Lokale ist sonst durchaus nicht mein Ressort. Aber – auf eine Kleinigkeit haben Sie in Ihrer, sonst, wie bemerkt, vielleicht vortrefflichen Notiz vergessen – bitte: wo hat's gebrannt, Herr Bernhofer?« »Aber steht das nicht darin?« stammelte Bernhofer ganz verdutzt... »Bei der Augartenbrücke, natürlich!« »Erlauben Sie mir die Bemerkung: es ist gar nicht natürlich, daß es just bei der Augartenbrücke gebrannt hat. Und bei allem Scharfsinn, den Sie unseren Redakteuren zuzutrauen das Recht haben – und es ist dessen in der Tat ziemlich viel – Sie dürfen doch nicht verlangen, daß sie das erraten. Also: bei der Augartenbrücke. Gestatten Sie, daß ich das vermerke und Sie an die erste journalistische Regel erinnere: Wo, wann, wie – so geht's in der Welt, wenn's beliebt.« »Es ist unglaublich, Herr Doktor! Erlauben Sie...« stotterte der andere. Sein Widersacher winkte mit einer Handbewegung ab: »Nicht wahr, jetzt finden Sie es selber unglaublich. Sie schildern da den Brand, sehr schön, will ich Ihnen zugeben, sehr poetisch und in einer Novelle auch wirklich wirksam. Aber, Herr! Unserem Publikum haben Sie keine Novellen zu erzählen – vorläufig wenigstens nicht, und die zu beurteilen wäre wieder nicht meine Sache. Unsere Leser wünschen alles zu wissen, was sich in der Welt begibt; aber nur die Tatsachen, Herr, merken Sie sich das, nichts als die Tatsachen!« »Ich will mir's merken«, entgegnete Bernhofer demütig, »und man war auch bisher immer mit meinen Leistungen zufrieden, wie ich denn in Zeiten dringender Arbeit auch von der Redaktion aus verwendet wurde.« »Man war!« unterbrach ihn Dr. Wortmann fast heftig; »ich weiß nicht, ob man's war. Und was heißt das überhaupt? Das heißt: man hat Ihre Notizen gedruckt, wenn sie brauchbar waren, und, wenn sie nichts taugten, hat man sie fortgeworfen. Gedruckt und mehr oder weniger redigiert; ich will in Ihrem Interesse hoffen, weniger. Aber gibt Ihnen das irgend ein Recht oder einen Anspruch? Durchaus nicht. Bei einer Zeitung gibt es kein: war; da gibt es nur ein: ist! In ihrem eigensten Interesse muß sie das so halten. Verstehen Sie das? Wir leben vom Augenblicke, heißt das, und nur wer ihm auch im Augenblicke gut dienen kann, der darf mit uns leben und ist unser Mann: nur der!« »Ich verstehe«, antwortete Bernhofer ganz leise. Ein starkes Rot flammte dabei auf seinem Gesichte, und er atmete ruckweise und in Beschämung. Dr. Wortmann setzte sich und sah langsam und prüfend an ihm auf: »Nicht wahr, Sie machen Verse oder Sie haben doch welche gemacht?« »Ja!« hauchte der Reporter. Ein vergnügliches Lächeln lag um den Mund des anderen; man sah, wie sehr er sich seiner Klugheit freute: »Ich habe nur den einen Bericht von Ihnen gelesen, und ich wußt' es sofort. Und nicht wahr: Sie sind verheiratet und zwar schon seit ziemlich langem?« »Ja!« flüsterte der also Verhörte, »aber woher wissen Herr Doktor...« Ein seelenvergnügtes Händereiben: »Man hat seine Augen, und man hat seinen Verstand. Eines will ich Ihnen sagen: Sie sind ein unpraktischer Mensch; also machen Sie Verse, und also sind Sie höchst wahrscheinlich verheiratet, und zwar, weil Sie arm sind. Ich weiß auch jetzt schon: Sie möchten mich in diesem Augenblicke am liebsten niederschlagen, und auch ich bin über Sie, den ich kaum kenne, eigentlich zornig. Sie hassen mich, weil ich Ihnen weh tue. Aber ich tu's nur, weil ich's mit Ihnen gut meine; weil Sie mir leid tun in Ihrer Dummheit. Ja wohl, in Ihrer Dummheit!« Er dehnte die Worte, er kostete jede Silbe aus. »Sie haben ein Weib zu Hause in Not und denken an das und vergessen darüber das Wichtigste. Und Sie haben's nicht im Kopfe – und nur dort darf's bei einem Journalisten sitzen. – Sie haben's vielleicht im Herzen. Und das taugt nichts, Herr! Verstehen Sie mich wohl, das taugt nichts, gar nichts!« + + + »Und dann kömmt's, daß man auf der Straße steht. Der Wind pfeift um einen, als wär' man ihn gewöhnt von Jugend auf. Und wenn du dann einen Erwerb suchst und die Leute merken, daß du darauf anstehst, so tun sie rein, als wenn sie Gnaden austeilten, wenn sie dich überhaupt einen Kreuzer verdienen lassen, und drücken und zwacken dich, daß du schreien möchtest. Und anfangs war ich noch stolz und hatte so mein Gefühl, daß ich immer noch besser sei als die, welche so an mir herumhudelten. Aber – man wird irr an allem, man wird froh mit allem, was sich nur findet, man duckt sich in alles, nur damit einem nicht das Stückchen Brot wieder aus der Hand fällt, das man kaum gefunden hat. O! sie bekommen einen schon klein, man wehre sich, so stark man nur immer will, und wann sie das erst haben, was sie wollten, dann lassen sie's einen schon spüren. Duck' unter, und gib das letzte bißchen Selbstvertrauen auf und leist' besseres als früher, oder laß dich schuhriegeln, wenn du was von uns willst«, immer schlug das Erinnern an die Kränkung durch, die er kaum erduldet, »und vergiß, was war und was du wolltest. Aber – vielleicht, wenn ich erst tot bin, wird man doch einsehen, ich hätte es besser verdient und leicht höheres leisten können, als die alle, die auf mich so herabgesehen haben. Vielleicht, vielleicht! Und das drückt auf mich und nimmt mir die Besinnung und macht mich so vergessen und krank, wie ich bin, und wenn ich nichts tauge, ich bin nicht mehr schuld daran.« Es war unbehaglich für Fritz Grätzer, so neben dem verstörten Menschen zu stehen, der unablässig in das Dringen und Treiben der Schollen hinabsah, und er wandte sich ab und schritt schneller. Bernhofer aber ging neben ihm und sprach weiter, Hülle nach Hülle von seiner zerrütteten Seele reißend, im dunkeln, doch übermächtigen Gefühl, einem, und sei es auch dem teilnahmlosesten Menschen, müsse er die tiefen und ungezählten Wunden zeigen, aus denen sein Leben Tropfen um Tropfen, sickernd, doch ungehemmt, verrieselte: »Ohnedies, es geht mir so immer im Kopfe herum: mit einem Selbstmorde habe ich meine Tätigkeit als Journalist eingeleitet. Das hat etwas zu bedeuten. Das war nicht umsonst so. Aber mein Weib! Und ich weiß bestimmt: sie ist noch wach und stickt noch fort, bis ich nach Hause komme, damit sie doch nach ihren Kräften etwas verdient. Und dann lügt sie mir vor: sie kann nicht schlafen, ehe sie mich nicht zu Hause weiß; und sie klagt nicht und sie weint nicht und sie spricht nichts über unser Elend. Und das halt' ich nicht aus und das vertrag' ich nicht; denn das geht gegen die Natur. Obendrein – sie ist noch stolz auf mich; und wie das sein kann, bei so viel Herzeleid, in das ich sie gebracht hab', und wie sie immer noch achtgeben mag auf mich, daß ich nicht gar zu heruntergekommen ausschau', das ist mir wieder ein Rätsel. Und wie das alles endigen wird und was dann wird, das beschäftigt mich immer. Dann sollen mir meine Notizen geraten! Und dann soll ich nicht immer irgend etwas vergessen! Zu viel im Kopf und zu viel im Herzen; und nicht einmal den Mut zu einer Aussprache, wenn die, welche eigentlich noch mehr leidet, als ich, nicht einmal murrt! Tät's sie nur einmal und ich wüßte, was geschehen muß. Wär' ich nur fromm! Sie ist's, und ich glaube, das hilft ihr in vielem. Aber ich bin's nicht; ich war's nie, und wie könnt' ich's jetzt sein?« Grätzer hatte das Empfinden, etwas sagen zu müssen: »Daß sich doch auch niemand findet, der sich deiner annimmt!« »Und du? Der du dich immer deiner hohen Verbindungen rühmst und mir gegenüber den alten Freund spielst, tust du's denn? Würdest du denn nur ein Wort für mich sprechen?« schoß es durch Bernhofers Kopf. Aber er war kein Freund von Vorwürfen: »Es tut's eben keiner. Und wozu?« antwortete er einfach und ergeben.