BACHELOR I MASTER Paul Mecheril u.a Migrationspädagogik ■ ■ ■ .Al n • Klaus Hurrelmann • Christi tump *wffls Schröe BELIZ 1. Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive ------ Einführung Migration ist in vielerlei Hinsicht für gegenwärtige Gesellschaften und damit für pädagogische Organisations- und Handlungsformen von grundlegender Bedeutung. In diesem einführenden Kapitel des Buches geht es um einen Einstieg in das Thema, indem bedeutsame Facetten des Gegenstandes Migration markiert werden, die in den nachfolgenden Kapiteln genauer ausgeführt werden. Der zweite Abschnitt erläutert die grundlegende Blickrichtung auf »Migration, Erziehung und Bildung«, die mit dem Ausdruck »Migrationspädagogik« verknüpft ist. 1.1 Gesellschaftliche Wirklichkeit und Migration Bewegungen von Menschen über relevante Grenzen hinweg hat es zu allen historischen Zeiten und fast überall gegeben. Migration ist eine universelle Praxis, eine allgemeine menschliche Handlungsform. Allerdings haben sich Art und Ausmaß der Wanderungsbewegungen wie auch die Ordnungen, die Grenzen hervorbringen, und damit die Grenzen selbst, im Laufe der Zeil grundlegend gewandelt. Für gesellschaftliche Verhältnisse der Gegenwart sind Migrationsphänomene von ausgeprägter Bedeutung. Noch nie waren weltweit so viele Menschen bereit, aufgrund von Kriegen, ökologischen Veränderungen, Bürgerkriegen und anderen Bedrohungen gezwungen und aufgrund der technologisch bedingten Veränderung von Raum und Zeit in der Lage, ihren Arbeits- oder Lebensmittelpunkt, sei es vorübergehend oder auf Dauer, zu verändern: Wir leben in einem Zeitalter, für das Phänomene der Migration konstitutiv sind. Auch die gesellschaftliche, soziale und individuelle Wirklichkeit Deutschlands wird grundlegend von Migrationsphänomenen hervorgebracht. Bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein war Deutschland in erster Linie ein Auswanderungsland. Insbesondere Gesellenwanderung der Handwerker, Saisonwanderungssysteme über große Distanzen, Siedlungsmigrationen zur Erschließung bisher unbesiedelter Gebiete, Flüchtlingsströme aufgrund religiöser Verfolgung und wegen Hungersnöten kennzeichnen das Wanderungsgeschehen der vorindustriellen Zeit. Wanderarbeit aufgrund der zunehmenden Nachfrage in den Industriestädten und -gebieten sowie im Eisenbahnbau, die damit verbundene Verbesserung des Transportsystems, die enormen Mi- 8 I Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive Migration war immer ein bedeutender Motor gesellschaftlicher Veränderung und Modernisierung grationsbewegungen nach Übersee, das Umsichgreifen der Idee, dass mit geografischer Mobilität auch sozialer Aufstieg verbunden sein könne, sind Stichworte, die auf Aspekte des Wanderungsgeschehens im 19. und frühen 20. Jahrhundert hinweisen (etwa Sassen 2000). Ab der Wende zum 20. Jahrhundert wird das Wanderungsgeschehen in Deutschland vermehrt durch Immigration bestimmt. Deutschland wird, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, zum wichtigsten Ziel von Migrant/innen in Europa. Zwischen 1950 und 1998 verließen etwa 20 Millionen Menschen Deutschland, im gleichen Zeitraum kamen etwa 30 Millionen Menschen (Münz/Seifert/Ulrich 1999, S. 18). Die hartnäckige Weigerung politischer Entscheidungsträger, diese Migrationsrealität anzuerkennen, prägte lange den gesellschaftlichen Umgang mit Migration. Mitte der 1990er-Jahre beschreibt Klaus Bade diese Weigerungshaltung so: »Es gibt in Deutschland nach wie vor die seit den späten 1970er-Jahren entstandene, paradoxe Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland und Einwanderungsentscheidung. Darin leben, als einheimische Ausländer, die meisten der heute schon bis zu drei Generationen umfassenden Familien aus der früheren >Gastarbeiterbevölkerung< - de jure Ausländer, de facto Einwanderer« (Bade 1994, S. 18). Migration war immer ein bedeutender Motor gesellschaftlicher Veränderung und Modernisierung. Migrant/innen können in dieser Perspektive als Akteure gesehen werden, die neues Wissen, Erfahrungen, Sprachen und Perspektiven in unterschiedliche soziale Zusammenhänge einbringen und diese mitgestalten. In Europa und auch Deutschland hält sich jedoch hartnäckig eine Negativ- und Defizitperspektive, die Migration vor allem in Verbindung mit Armut und Kriminalität, als störend, bedrohend und fremd thematisiert (vgl. Kap. 2). Die diskursiven und kulturellen Konsequenzen der vornehmlich auf Abwehr und Kontrolle abzielenden Politik des 20. Jahrhunderts sind Bestandteil auch heute noch bedeutsamer kultureller Praxen, in denen »Ausländer/innen«, »Migrant/innen«, »Menschen mit Migrationshintergrund« als Fremde und »eigentlich nicht Zugehörige« konstruiert und behandelt werden. Konsequenzen der Zuwanderung und Emigration, der Pendelmigration und Einwanderung sind fundamental für die hiesige gesellschaftliche Realität: Deutschland ist ein Migrationsland. In Frankfurt beispielsweise, dem Zentrum des Rhein-Main-Gebietes, das einer der größten Migrationsräume in Europa ist, gelten nahezu 40 Prozent der Einwohner als Migrant/innen. Jeder vierte junge Mensch unter 25 Jahren, der in Deutschland lebt, weist eine transnationale Migrationsgeschichte auf. »Heute leben hierzulande«, heißt es im ersten »Fortschrittsbericht« des sogenannten nationalen Integrationsplans der Bundesregierung, »rund 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, etwa die Hälfte von ihnen sind Deutsche. Damit ist Integration kein Minderheitenthema, sondern für Politik und Gesellschaft eine dauerhafte Herausforderung« (Nationaler Integrationsplan. Erster Fortschrittsbericht 2009, S. 1). Paul Mecheril Die mit Migration einhergehenden Wandlungsprozesse berühren also nicht al- Die mit Migration lein spezifische gesellschaftliche Bereiche, sondern vielmehr Strukturen und einhergehenden Prozesse der Gesellschaft im Ganzen. Hierbei werden die mit spezifischen For- Wandlungsprozesse nien von Homogenität rechnenden gesellschaftlichen Institutionen der wohl- berühren nicht allein fahrtsstaatlichen Sicherungssysteme, des Bildungs- und Gesundheitswesens spezifische gesell-wie auch die Institutionen des Rechtssystems durch Migration vor Herausfor- schaftliche Bereiche, derungen gestellt, mit denen eine Gesellschaft, die sich traditionell als Gesell- sondern vielmehr schaff einer Mehrheit versteht, trotz aller »Fortschrittsberichte« nicht selbstver- Strukturen und ständlich umgeht. Für Deutschland ist kennzeichnend - zumindest bis zur An- Prozesse der Gesell-gleichung des Staatsbürgerschaffsrechts an die Rechtspraxis der meisten ande- schaff im Ganzen ren europäischen Staaten, die nicht allein das Kriterium der Abstammung gelten lassen (vgl. Kap. 2) -, dass die Anwesenheit von Migranten und Migrantinnen zwar als unvermeidlich angesehen, ihnen aber der volle Bürgerstatus abgesprochen wurde. Migration, so kann mittlerweile als Konsens gelten, ist unvermeidbar. Nicht selten heißt es sogar, dass Deutschland aus demografischen und ökonomischen Gründen Migrant/innen benötige. Die neue migrationspolitische Rationalität kennt hierbei im Wesentlichen zwei überlappende Schlüsselargumente zur Plausibilisierung der Notwendigkeit geregelter Immigration. Das wandernde und wanderungsfähige »Humankapital« ist zu einer der begehrtesten Ressourcen im globalen Wettstreit um die Sicherung des nationalen Wohlstandes und der nationalen Konkurrenzfähigkeit geworden (zur Kritik des Humankapitalansatzes in der Migrationsforschung: Flam 2007). Dies wird auch in Deutschland erkannt. Gesteuerte Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte ist die Formel, in der das Bewusstsein um das Erfordernis gezielter und kontrollierter Migration zum Ausdruck kommt. Dieses Erfordernis gilt umso mehr, als hochentwickelte Gesellschaften wie die Bundesrepublik Deutschland die technologische Entwicklung ihrer selbst bekanntermaßen mit einem Schwund ihrer selbst bezahlen. »[IJm Jahr 2050 [wird] voraussichtlich ein Drittel der heute 490 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union über 65 Jahre alt sein. Damit ist für die meisten europäischen Staaten ein Mangel an erwerbsfähiger Bevölkerung vorhersehbar. Einige Mitgliedstaaten wie Deutschland, Italien und Ungarn sehen sich schon heute einem Rückgang der Anzahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter gegenüber. Mit diesem Rückgang einhergeht, dass zumindest sektoral und regional nicht mehr genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen werden, um den Bedarf zu decken. Negativ beeinflusst durch diesen demografischen Wandel werden die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen und letztlich auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen sowie das Wirtschaftswachstum. Migration kann diese Bevölkerungsentwicklung dabei nicht vollständig ausgleichen, jedoch zumindest ihre negativen Folgen vorerst abschwächen« (Bendel/Haase 2008). Die Logik der neuen demografisch und wirtschaftlich ausgleichenden Migrationspolitik ist hierbei im Kern ökonomistisch: »Nutzung von Arbeitskraft«, 10 Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive Die mit Migrationprozessen verbundenen Veränderungen sind nii gri ndlegenden gesellschaftlichen Herausforderungen verbunden »Erhalt und Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit«, »Gewinnung Hochqualifizierter«, »Innovationskraft der Wirtschaft«, »Sicherung des Wohlstandes« sind zentrale Vokabeln. Hieß der offizielle Slogan bis zum Ende des 20. Jahrhunderts »Deutschland ist kein Einwanderungsland«, so lautet das Motto vieler öffentlicher Debatten heute: »Deutschland braucht Zuwanderinnen und Zuwanderen« Die Abkehr von der Weigerung, die Migrationstatsache anzuerkennen, war zwar überfällig; zugleich muss aber darauf hingewiesen werden, dass mit einer Politik, die versucht, Migration vorrangig durch die instrumentelle Bedeutung der Migrant/innen und ihre Verwertbarkeit zu begründen, viele Probleme verbunden sind. Beispielsweise wird dadurch in der Konsequenz zwischen »guten« und »schlechten« Migranten unterschieden. »Gute« sind solche, die einen Beitrag zur Sicherung »unseres« Wohlstandes leisten, »schlechte« solche, die »unsere« Ressourcen verbrauchen. Die Instrumentalisierung von Migrant/innen unter einer ökonomischen Verwertungsperspektive bewirkt, dass sie ihre Anwesenheit durch gesellschaftliche Erträge legitimieren müssen. Der Umgang mit Migrant/innen spiegelt hierbei eine allgemeine für den gegenwärtigen ökonomistischen Gesellschaftstyp kennzeichnende Form des Zugriffs auf Subjekte wider (z.B. Freytag 2008). Die mit Migrationprozessen verbundenen Veränderungen sind mit gesellschaftlichen Herausforderungen verbunden, die in Deutschland und vielen Ländern häufig einseitig als Probleme und Schwierigkeiten (und nicht beispielsweise als potenzielle Chance der Überwindung national verengter Perspektiven) gesehen werden. Diese Herausforderungen oder auch Schwierigkeiten können aus zwei Perspektiven beschrieben werden. Zum einen geht die Anwesenheit von Migrant/innen auf allen gesellschaftlichen Funktionsebenen mit Aufgaben der Neugestaltung einher. Dies kann als pragmatisch-technische Herausforderung bezeichnet werden. Zum anderen werden moderne Staaten, die an Gerechtigkeits- und Egalitätskonzepten orientiert sind, durch die Anwesenheit von Migranten, die sich nicht selten durch Einteilungs- und Zuweisungsprozesse in marginalen und marginalisierten Positionen wiederfinden, in ihrem Selbstverständnis, gerechte Gesellschaften zu sein, irritiert und verunsichert. Migration stellt insofern - ihrer Programmatik nach - für egalitäre Gesellschaften auch eine moralische Herausforderung dar. Problembeschreibungen unter pragmatisch-technischer wie auch moralischer Hinsicht sind charakteristisch für das Verhältnis von Pädagogik und Migration. Pädagogisches Handeln und pädagogische Institutionen werden sowohl unter der Perspektive Handlungsfähigkeit als auch unter dem Gesichtspunkt Legitimität durch die Anwesenheit von Migrant/innen herausgefordert. Von der Tatsache der Migration ist Pädagogik in vielerlei Hinsicht grundlegend betroffen. Nicht nur gewohnte Praxen und Institutionalisierungsformen pädagogischen Handelns, auch pädagogische Selbstverständnisse und Programme werden unter Bedingungen der Vielfalt von ethnisch-kulturellen Zugehörig- Paul Mecheril 11 Schlüsselbegriff: Migrationsgesellschaft Die Tatsache der Migration betrifft und bestimmt in entscheidendem Maße gesellschaftliche Wirklichkeit. Wie soll diese Wirklichkeit bezeichnet werden? »Einwanderungsgesellschaft«? »Zuwanderungsgesellschaft«? »Migrationsgesellschaft«? In diesem Buch verwenden wir den Ausdruck »Migrationsgesellschaft«, da der Begriff »Migration« weiter als der der »Einwanderung« oder »Zuwanderung« ist und dadurch einem weiteren Spektrum an Wanderungsphänomenen gerecht wird. Die historische Stärke der Rede von Einwanderung und Einwanderungsgesellschaft bestand zum Ende des 20. Jahrhunderts darin, dass sie als politisches und analytisches Statement die dauerhafte Zugehörigkeit und die Bürgerechte eingewanderter Personen betonte. »Einwanderungsgesellschaft« ist ein Begriff, der in einer bestimmten historischen Situation eingeführt worden ist und dort eine wichtige Funktion hatte, da er als politischer Gegenbegriff »von unten« zu der lange unverrückbaren Position offizieller Politik -»Deutschland Ist kein Einwanderungsland« - bedeutsam war und Wirkungen entfaltet hat. Zugleich aber legt der Ausdruck »Einwanderungsgesellschaft« den Eindruck nahe, dass Phänomene der Migration auf den Migrationstyp der Immigration beschränkt seien, also jenen Typ, bei dem die transnationale Wanderung im Wesentlichen als einmalige Überschreitung einer relevanten Grenze gedacht wird. Neben dem »klassischen« Typ der Immigration gibt es aber eine Zahl weiterer Migrationstypen, wie die sogenannte Transmigration und die Pendelmigration (genauer Kap. 2). Auch der in Deutschland politisch eingeführte Ausdruck der »Zuwanderung« ist irreführend, da auch er eine Perspektive darstellt, die Migrationsphänomene nur eingeschränkt thematisiert und zudem suggeriert, dass es sich bei Migrationsphänomenen um Phänomene handle, die zusätzlich und additiv zu dem bereits Bestehenden hinzukämen. Die Bezeichnungen »Einwanderung« und »Zuwanderung« blenden bestimmte Migrationsphänomene aus. Der Ausdruck »Migration« ist somit allgemeiner als Ausdrücke wie »Zuwanderung« oder »Einwanderung« und ermöglicht damit, dass eine Vielfalt gesellschaftlicher Phänomene zum Thema werden kann. Mit dem Ausdruck »Migration« ist eine allgemeine Perspektive verbunden, mit der Phänomene erfasst werden, die für die gesellschaftliche Wirklichkeit kennzeichnend sind, wie beispielsweise: - Phänomene der Ein- und Auswanderung sowie der Pendelmigration - Formen regulärer und irregulärer Migration - Vermischung von Sprachen und kulturellen Praktiken als Folge von Wanderungen - Entstehung von Zwischenwelten und hybriden Identitäten - Phänomene der Zurechnung auf Fremdheit - Strukturen und Prozesse alltäglichen Rassismus - Konstruktionen des und der Fremden - Erschaffung neuer Formen von Ethnizität - migrationsgesellschaftliche Selbstthematisierungen: Diskurse über Migration oder »die Fremden«. Der Ausdruck »Migration« erfasst eine Vielzahl von Phänomenen, die für eine Gesellschaft charakteristisch sind, in der Aus- und Einwanderung, das Entstehen von Zwischenwelten oder »Fremdheit« erfindende Diskurse von großer Bedeutung sind. Weil es sich hierbei um Phänomene handelt, die bildungsrelevant sind, da sie auf Bildungsverläufe wirken und für Bildungsinstitutionen von Bedeutung sind, sind »Migrationsgesellschaft« und »Migration« terminologisch angemessene Referenzen pädagogischen Nachdenkens. Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive keiten und demokratisch nicht legitimierbarer Ungleichheit prekär bzw. in ihrem prekären Status sichtbar. So gehören Diagnosen über die Benachteiligung von »ausländischen« Kindern und Migrantenjugendlichen zu Einschätzungen, die seit Beginn der 1970er-Jahre wiederholt formuliert wurden (vgl. Kap. 6). Der Hinweis auf die relative Untätigkeit der bundesdeutschen Bildungsinstitutionen, auf die Anwesenheit von Schüler/innen aus Migrationsfamilien mit entsprechenden organisatorischen und curricularen Konzepten zu reagieren, begleitete den deutschsprachigen pädagogischen Diskurs über Migration von Beginn an (etwa Müller 1974; Schmidtke 1978; Essinger/Hellmich/Hoff 1981). In dem letzten Jahrzehnt hat die Auseinandersetzung über die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudien wie PISA, TIMMS oder IGLU die Benachteiligung von Schüler/innen, die als Migrantenkinder gelten, in und durch die deutsche Schule auf die Agenda des öffentlichen und insbesondere des bildungspolitischen Diskurses gesetzt. Zu welchen Ergebnissen der Diskurs auch immer führen wird, eines ist klar: Die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bildungsinstitutionen tun sich mit der vielfältigen Realität der Migration schwer. Dies ist umso hervorhebenswer-ter, als Deutschland als einer der wichtigsten Migrationskontexte weltweit gilt (vgl. Kap. 2). Zugespitzt kann davon gesprochen werden, dass Deutschland »ein Land mit Migrationshintergrund« ist, das Identitätsschwierigkeiten, Schwierigkeiten also mit sich selbst hat. 1.2 Die Perspektive Migrationspädagogik Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsverhältnisse Migration problema- Das Erfordernis, sich pädagogisch und erziehungswissenschaftlich mit dem tisiert Grenzziehungen Themenfeld Migration und Bildung auseinanderzusetzen, ergibt sich vor dem Hintergrund, dass für die Migrationsgesellschaft und ihre Bildungszusammenhänge Unterschiede und Unterscheidungen bedeutsam sind. Um welche Unterschiede und Unterscheidungen handelt es sich hierbei? In politischen und alltagsweltlichen Auseinandersetzungen um das Thema Migration geht es immer um die Frage, wie und wo ein nationalstaatlicher Kontext seine Grenze festlegen und wie er innerhalb dieser Grenze mit Differenz, Heterogenität und Ungleichheit umgehen will. Migration problematisiert Grenzen. Dies sind nicht so sehr die konkreten territorialen Grenzen, sondern eher symbolische Grenzen der Zugehörigkeit. Durch Migration wird die Frage der Zugehörigkeit - nicht nur die der sogenannten Migrant/innen - individuell, sozial und auch gesellschaftlich zum Thema, da durch Migration eine Differenzlinie befragt wird, die zu den grundlegendsten gesellschaftlichen Unterscheidungen gehört. Diese (imaginäre) Grenze scheidet das »Innen« von dem Paul Mechern 13 »Außen«. Migration ist somit nicht angemessen allein als Prozess des Überschreitens von Grenzen beschrieben, sondern als ein Phänomen, das die Thematisierung und Problematisierung von Grenzen zwischen »Innen« und »Außen« und zwischen »Wir« und »Nicht-Wir« bewirkt und damit sowohl die Infragestellung einer fundamentalen Unterscheidung gesellschaftlicher Ordnung als auch ihre Stärkung vornimmt. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum Erfahrungen und Phänomene der Zugehörigkeit gegenwärtig von Bedeutung sind: Unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungen der Irritation von Zugehörigkeitsverhältnissen wird Zugehörigkeit - als Topos wie als Erfahrung - zum Thema. Wir sprechen über Zugehörigkeiten, weil Zugehörigkeit zum Problem geworden ist - individuell und überindividuell. Hierbei müssen wir »Erfahrungen« als Phänomene verstehen, die aus sozialen, sprachlich-kulturellen und politischen Kontexten resultieren. Erfahrungen existieren nicht an sich und nicht für sich, sondern sind in einer umfassenden Weise in diskursive Zusammenhänge eingebettet (vgl. Kap. 2) und werden in diesen Kontexten hervorgebracht. Zunächst kann also festgehalten werden, dass für die Migrationsgesellschaft und ihre Bildungszusammenhänge Zugehörigkeitsunterschiede und Zugehörigkeitsunterscheidungen bedeutsam sind. Wichtig ist, dass diese Unterschiede und Unterscheidungen nicht einfach in »natürlicherweise gegeben« sind, sondern politisch, kulturell, juristisch und in Interaktionen (etwa zwischen den Akteuren pädagogischer Zusammenhänge) immer wieder hergestellt werden. Migrationspädagogik beschäftigt sich mit Zugehörigkeiten und den Bedingungen und Konsequenzen ihrer Herstellung. Allerdings bedarf es, da es sehr viele Dimensionen von Zugehörigkeit gibt (von Geschlechts- und Milieuzugehörigkeit bis zur Zugehörigkeit in einer studentischen Lektüregruppe), hier einer weiteren Klärung. Eür die Zugehörigkeitsdimension, die gemeint ist, wenn über »Migration und Zugehörigkeit« nachgedacht wird, finden sich häufig Bezeichnungen wie »ethnische« oder »kulturelle« Zugehörigkeit. Hier soll der Ausdruck »natio-ethno-kulturelle« Zugehörigkeit bevorzugt werden (genauer Mecheril 2003, Kap. IV), Migrationspädagogik beschäftigt sich mit natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten. Nun wird hier nicht behauptet, dass für die Analyse der Situation von Migrant/innen und Nicht-Migrant/innen natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit empirisch allzeit die wichtigste Dimension sei. Die Bildungs- und Lebenssituation von Migranten ist nicht allein von natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsverhältnissen abhängig; andere analytisch und theoretisch zu unterscheidende Einflussgrößen, z.B. Geschlechterverhältnisse, ökonomische Bedingungen, Normalitätskonstruktionen auf der Ebene von Leiblichkeit oder Sexualität, konstituieren die Situation von Migrant/innen wie von Nicht-Migrant/innen. Für die Perspektive natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit bedeutet dies nun zweierlei. Zum einen, dass die Bedeutung natio-ethno-kultureller Zuge- Für die Migrationsgesellschaft und ihre Bildungszusammenhänge sind Zugehörigkeitsverhältnisse bedeutsam 14 Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive Schlüsselbegriff: Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit Obwohl Bezeichnungen wie »türkisch«, »italienisch«, »deutsch«, »arabisch« alltägliche Bezeichnungen und auch Praxen der Unterscheidung sind, werden sie in ihrer Bedeutung unklar, sobald gefragt wird, was sie eigentlich genau unterscheiden. In der alltäglichen Verwendung solcher Bezeichnungen sind sehr unterschiedliche Ideen, nicht immer in gleicherweise, miteinander verbunden, vermischt und ineinander verschränkt. »Deutsch« etwa weist auf ein bestimmtes geografisches Gebiet hin, auf eine politische Ordnung, eine Sprache; das Wort soll zuweilen auf eine Lebensform oder eine Gruppe von Lebensformen hinweisen, die in einer Art Familienähnlichkeit verbunden scheinen: es zeigt einen sozialen und gemeinschaftlichen Zusammenhang an, dem man nicht allein aufgrund eines Zertifikates, sondern in einer wie auch immer »tiefer« reichenden Weise zugehört. Der Ausdruck »deutsch« ist überbestimmt, diffus und unscharf - die Bezeichnung »natio-ethno-kultu-rell« bringt dies zum Ausdruck. Auch unter einer wissenschaftlichen Perspektive verschwimmen die Bedeutungen der Begriffe »Nation«, »Ethnizität« und »Kultur« ineinander: »Nation und Nationalstaat bezeichnen eine historische Entwicklungsstufe von Gesamtgesellschaften in der Moderne. Nation ist ein ethnisches Kollektiv, das ein ethnisches Gemeinschaftsbewusstsein teilt und politisch-verbandlich in der Form des Nationalstaates organisiert ist. Der Nationalstaat ist eine politische Organisationsform, in welcher der Anspruch einer Übereinstimmung von politisch-staatsbürgerlicher und ethnischer Zugehörigkeit gestellt wird« (Heckmann 1992, S. 52f.; Hervorhebung PM). Unter Ethnizität kann mit Heckmann verstanden werden, dass »eine relativ große Gruppe von Menschen durch den Glauben an eine gemeinsame Herkunft, durch Gemeinsamkeit von Kultur, Geschichte und aktuellen Erfahrungen verbunden sind und ein bestimmtes Identitäts- und Solidarbewusstsein besitzen« (Heckmann 1992, S. 56; Hervorhebung PM). Die wechselseitige Verwiesenheit der Kategorien »Nation«, »Ethnizität« und »Kultur« und ihre Verschwommenheit und Unklarheit sind zugleich auch Bedingung ihres politischen und sozialen Wirksamwerdens. Denn diese Unklarheit ist der Hintergrund, vor dem es möglich wird, Imaginationen, Unterstellungen und sehr grobe Zuschreibungen vorzunehmen, die dem Gebrauch solcher Bezeichnungen wie »türkisch«, »italienisch«, »deutsch«, »arabisch« zugrunde liegen. Benedict Anderson hat Nationen als »imagined communities« (1983; dt. 1998) bezeichnet. Nation ist nach Anderson eine vorgestellte politische Gemeinschaft, weil »die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert« (1998, S. 141). Nationen ermöglichen Beziehungen zu Unbekannten im Modus von »face-to-face«-Kontakten. Die national-ethnische Zugehörigkeitspraxis beansprucht gewissermaßen die Eigenschaften, die charakteristisch für lokale und kleinere Wir-Gruppen sind. Die Imagination des natio-ethno-kulturellen »Wir« ist häufig damit verknüpft, dass Differenz nach außen projiziert wird. Das Andere des natio-ethno-kulturellen »Wir«, das »Nicht-Wir«, zeichnet sich in der Fantasie, die dieses »Wir« ermöglicht, dadurch aus, dass es nicht hierher, an diesen Ort gehört und deshalb hier vermeintlich legitimerweise über weniger Rechte verfügt. Wenn in Deutschland von »Migrant/innen«, »Ausländern«, »Polen«, von »Migrantenkindern«, von »Deutschen« oder »Brasilianer/innen« die Rede ist, dann - so die hier formulierte These - ist in der Regel nicht allein von Kultur, Nation oder Ethnizität ú\e Rede, sondern in einer diffusen und mehrwertigen Weise von den auch begrifflich aufeinander verweisenden Ausdrücken Kultur, Nation und Ethnizität. Der Ausdruck natio-ethno-kulturell zetgTdies an. Er ruft in Erinnerung, dass die sozialen Zugehörigkeitsordnungen, für die Phänomene der Migratio1 bedeutsam sind, von einer diffusen, auf Fantasie basierenden, unbestimmten und mehrwertigen »Wir«-Einheit strukturiert werden. —\—-:-- Paul Mecheril ■5 hörigkeit immer auch von anderen Differenzverhältnissen vermittelt wird, und umgekehrt, dass na-tio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit die Bedeutung zum Beispiel der sozioökonomischen oder Klassenlage vermittelt. Zum anderen ist es wichtig, den Punkt methodologisch zu verstehen. Dieses Buch führt in erster Linie nicht in die Bildungs- und Lebenssituation von Migrant/innen ein (es handelt sich hier nicht um eine Migrantenpädagogik) und auch nicht in die Situation von Nicht-Migrant/innen in der Migrationsgesellschaft. Vielmehr geht es in einer »künstlichen Einstellung« darum, das Verhältnis von Migration und Pädagogik unter dem Thema natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit zu betrachten. Andere Differenzlinien treten hierbei in den Hintergrund. Marianne Krü-ger-Potratz und Helma Lutz (2002) haben in ihren Überlegungen zum erziehungswissenschaftlichen Umgang mit Differenzen beispielhaft Sexualität, Geschlecht, Besitz, Sprache, Gesundheit, Religion, Alter, Klasse/Sozialstatus und Kultur als relevante Differenzlinien angegeben, die in einem mehrdimensionalen Raum bedeutsame Dimensionen der sozialen Ungleichheit darstellen. Die Analyse der Verwobenheit der Perspektive natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit mit etwa der Gender-Dimension, also wie sich das Verhältnis von migrationsbedingter Pluralität und sozialen Geschlechterverhältnissen darstellt, rückt in diesem Buch nur punktuell in den Vordergrund. In analytischer Einseitigkeit führt der vorliegende Text in eine Perspektive ein und gibt insofern weniger Auskunft über beispielsweise die spezielle Situation der griechischen oder ungarischen Community in Deutschland und damit verknüpfte pädagogische Fragen, sondern ist in erster Linie an zwei prinzipiellen Fragen interessiert: erstens an der Frage der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnung, in der Menschen unterschieden und so positioniert werden, dass ihnen unterschiedliche Werte der Anerkennung und Möglichkeiten des Handelns zugewiesen werden. Zweitens ist die Frage bedeutsam, wie Pädagogik einen Betrag zur (Re-) Produktion dieser Ordnung leistet und welche Möglichkeiten der Veränderung und Schwächung dieser Ordnung gegeben sind und entwickelt werden können. Merksatz »After all, gender and >race< are not neatly cordoned off from one another. Nor are they neatly cordoned off from sexuality and class. Rather, all these axes of injustice intersect one another in ways that affect everyone's interests and identities. No one is a member of only one such collectivity. And people who are subordinated along one axis of social devison may be dominant along another" (Fraser 1995, S. 91). »Migrationsandere« In der Vorstellung des und der Anderen, des kulturell, des ethnisch und/oder des national Anderen findet sich jene Differenz, die das Nachdenken über eine »Pädagogik der Einwanderungsgesellschaft« (Hamburger 1994) notwendig macht. Eine zentrale Aufgabe der Migrationspädagogik besteht somit in der Beschäftigung mit der Frage, wie der/die Andere unter Bedingungen von Mi- 16 Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive Der Begriff des Anderen ist in der Pädagogik in vielfältiger Hinsicht relevant gration erzeugt wird und welchen Beitrag pädagogische Diskurse und pädagogische Praxen hierzu leisten. Gegenstand der Migrationspädagogik sind die durch Migrationsphänomene bestätigten und hervorgebrachten Zugehörigkeitsordnungen und ist insbesondere die Frage, wie diese Ordnungen in Bildungskontexten wiederholt und produziert, aber auch problematisiert und verschoben werden. Die migrationspädagogischc Perspektive interessiert sich für pädagogische Bedingungen und Konsequenzen einer sozialen Ordnung der Differenzen; sie ist mit Ordnungen des Unterschieds und des Unterscheidens befasst, die immer auch Phänomene der Hierarchisierung und der machtvollen Unterscheidung und Hervorbringung der Differenz zwischen »Anderen« und »Nicht-Anderen« darstellen. Die für die migrationspädagogische Perspektive zentralen Bezeichnungen »Andere« und »Zugehörigkeitsordnung« müssen freilich konkretisiert werden. Migrationspädagogik ist nicht mit dem Problem des Anderen als allgemeinem Phänomen und auch nicht mit dem Gegenstand der sozialen Zugehörigkeitsordnungen generell, sondern mit spezifischen Anderen und spezifischen Ordnungen befasst. Es geht hier um natio-ethno-kulturelle Ordnungen, in denen zunächst die Differenz zwischen natio-ethno-kulturel-len Anderen bedeutsam ist. Der Begriff des Anderen ist in der Pädagogik in vielfältiger Hinsicht relevant. Wichtig ist hierbei, die allgemeine Verwendung des Ausdrucks »Anderer« von dem Begriff des Anderen abzugrenzen, der im Rahmen der Migrationspädagogik bedeutsam ist. Der allgemeine Andere kennzeichnet das für pädagogisches Nachdenken grundlegende Thema der Andersheit, das Thema der Alte-rität, in dem deutlich wird, dass der Andere nicht nur Konstitutionsbedingung des Ich ist, sondern das Ich in mannigfacher Weise durchdringt (etwa Benner 1999). Von diesem Verständnis des allgemeinen Anderen ist aber jener Andere zu unterscheiden, der im Kontext pädagogischen Nachdenkens über migrationsbedingte Vielfalt bedeutsam ist: der natio-ethno-kulturelle Andere. In Migrationsgesellschaften ist natio-ethno-kulturelle Differenz und Plura-lität gewissermaßen in die Gesellschaft hineingeholt, weil sich eine Migrationsgesellschaft dadurch auszeichnet, dass in ihr »Deutsche« und »Italiener/innen«, »Griech/innen« und »Marokkaner/innen«, »Türk/innen« und »Inder/innen« und auch weitere Gruppen aufhalten, wie »Sorb/innen« und »Kurd/in-nen«, »Sinti«, »Roma« oder »Sikhs«, die sich eher als ethno-kulturelle Gruppen verstehen. Die deutsche Migrationsgesellschaft ist also durch die Anwesenheit unterschiedlicher natio-ethno-kultureller und ethno-kultureller Gruppen und Gruppierungen, ihre Lebenspraxen und Ansprüche, Überlagerungen zwischen diesen Gruppierungen sowie Mischungen und natio-ethno-kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten charakterisiert. Insofern ist die migrationsgesellschaftlichc Wirklichkeit durch allgemeine natio-ethno-kulturelle Differenzverhältnisse gekennzeichnet, in der die unterschiedlichen, sich selbst imaginierenden und sich wechselseitig konstruieren- Paul Mechern 1 ? den Gruppen füreinander »Andere« sind. Die migrationspädagogische Perspektive ist auf diese natio-ethno-kulturelle Andersheit und die Zugehörigkeitsordnungen gerichtet, in denen sich dieses Anderssein konkretisiert. Gleichwohl wäre es unangemessen, bei der Beschreibung natio-ethno-kul-tureller Andersheit keine prinzipiellen Unterscheidungen einzuführen. Denn die natio-ethno-kulturellen Unterschiede werden von einer übergeordneten Differenz gerahmt, die die soziale Stellung der »Ausländerin« oder des »Migranten«, der »Fremden« oder der »Zugewanderten« oder »Autochthonen« erst verständlich macht. Das Spektrum natio-ethno-kultureller Pluralität wird gerahmt von einer binären Unterscheidung. Diese Differenz wird hier in der terminologischen Unterscheidung zwischen »Migrationsanderen« und »Nicht-Migrationsanderen« erfasst. Schlüsselbegriff: Migrationsandere »Migrationsandere« ist eine Bezeichnung, die, wie jede andere Bezeichnung von Personengruppen auch, pauschalisierend und festschreibend wirkt. Allerdings ist das Kunstwort »Migrationsandere« eine Bezeichnung, die das Problem der Pauschalisierung und der Festschreibung anzeigt. Denn »Migrationsandere« ist ein Wort, das zum Ausdruck bringt, dass es »Migrant/innen« und »Ausländer/innen« und komplementär »Nicht-Migrant/innen« und »Nicht-Ausländer/innen« nicht an sich, sondern nur als relationale Phänomene gibt. »Migrationsandere« stellt eine Konkretisierung politischer und kultureller Differenz-und Dominanzverhäitnisse dar, mit denen sich Pädagogik dann beschäftigt, wenn sie sich Migrationsphänomenen zuwendet. »Migrationsandere« ist eine Formulierung, die auf Charakteristika der Prozesse und Strukturen verweist, die »Andere« herstellen. Mit der Rede von «Migrationsanderen« wird zwar auf partiell gleichartige Bedingungen in der Büdungs- und Lebenssituation bestimmter Personen hingewiesen. »Migrationsandere« kann somit als Begriff bezeichnet werden, mit dem Prozesse und Phänomene der Konstruktion, Bewältigung, Bewahrung und Veränderung natio-ethno-kultureller Differenz unter bestimmten Bedingungen in den Blick kommen. Dennoch handelt es sich bei »Migrationsanderen« nicht - so wenig wie bei »Migrant/innen« oder auch »Nicht-Migrant/innen« oder beim das Biid essentia-listischer Abstammung aufrufenden Ausdruck »Menschen mit Migrationshintergrund« - um eine einheitliche Gruppe. Mehr noch: Es handelt sich um keine Gruppe. Wichtig ist es, den Konstruktionscharakter der Rede von »Migrationsanderen« nicht aus den Augen zu verlieren. »Migrationsandere« ist ein Werkzeug der Konzentration, Typisierung und Stilisierung, das auf Kontexte, Strukturen und Prozesse der Herstellung der in einer Migrationsgesellschaft als Andere geltenden Personen verweist. Der Wert des begrifflichen Werkzeugs »Migrationsandere« bemisst sich an der Erkenntnis über gesellschaftliche Wirklichkeit, Erfahrungen von Menschen und Bildungsprozesse, die mithilfe dieses Instruments ermöglicht wird. \ 8 Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive Zwischen »Migrant/in- Die überragende Bedeutung, die der Unterscheidung zwischen »Migrant/innen« und »Nicht-Mi- nen« und »Nicht-Migrant/innen« zukommt, muss verstanden werden mit Be-grant/innen« wird in zug auf Merkmale des natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitskontextes Diskursen unterschie- »Deutschland«. Denn anders als bei den meisten anderen Nationalstaaten ist in den Deutschland eine dem »kollektiven Gedächtnis« (Halbwachs 1967) lief einge- schriebene Unterscheidung zwischen natio-ethno-kulturellen Anderen und Nicht-Anderen zu eigen, die mit der Vorstellung der imaginären Praxis eines ethnisch-kulturell einheitlichen »Wir« operiert. Zwar ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine weitreichende Unruhe in dieses Selbstverständnis gekommen - die Revision des Staatsbürgerschaffsrechtes ist ein symbolisches Anzeichen dieser Unruhe -, gleichwohl ist die Rede von »Fremden«, »Zugewanderten«, »Migrant/innen«, in der sich die andere Seite implizit entwirft, nach wie vor jenes Muster, das die imaginäre Unterscheidung zwischen »Wir« und »Nicht-Wir« bestätigt. Die Trägheit der deutschen Bildungseinrichtungen, ihr nationales Selbstverständnis und ihre monokulturellen Praxen zu verändern (genauer Kap. 6), ist ein wichtiges Indiz dieser Verhältnisse und ein wichtiger Mechanismus, der sie hervorbringt. Der migrationspädagogische Blick Seit Anfang der 1980er-Jahre findet das Wort »interkulturell« im Zusammenhang mit Bildung, Erziehung und Pädagogik Verwendung und seither hat sich der Ausdruck »interkulturell« in der erziehungswissenschaftlichen Fachöffentlichkeit zum Schlüsselbegriff entwickelt, um Fragen im Themenfeld »Migration und Bildung« zu thematisieren (ausführlich Kap. 3). Seit etwa Mitte der 1990er-Jahre existiert eine erziehungswissenschaftliche Fachdisziplin, die im Wesentlichen mit Konsequenzen beschäftigt ist, die sich aus migrationsgesellschaftlichen Differenzverhältnissen für Erziehung und Bildung ergeben. Diese Disziplin trägt den Namen »Interkulturelle Pädagogik«. Was spricht nun dafür, ein Buch, das in das Verhältnis von Pädagogik und den vielfältigen Differenzphänomenen einführen will, die mit Migrationspro-zessen einhergehen, unter der Bezeichnung »Migrationspädagogik« zu präsentieren? Der Ausdruck »Migrationspädagogik« findet sich in den mit dem Verhältnis von Bildung und Migration befassten Texten eher selten (so z.B. bei Czock/Radtke 1984 oder bei Lenhart 1999) und wird dann auch ohne explizite Angaben zu der mit dem Ausdruck verknüpften pädagogischen Perspektive benutzt. Hier soll die an den Ausdruck »Migrationspädagogik« geknüpfte pädagogische Perspektive nun im Hinblick auf ihre Grundausrichtung angesprochen werden; letztlich aber bleibt die Präsentation der Perspektive dem Gesamtzusammenhang des Buches vorbehalten. Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive 1992, S. 12), wird im Rahmen migrationspädagogischer Ambition die Möglichkeit der Kritik - das Nicht-angewiesen-Sein - in erster Linie auf ihre sozialen und politischen Ermöglichungsbedingungen befragt und die Rolle skizziert, die der pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Praxis (Denken, Sprechen/Schreiben und Handeln) hierbei zukommt. Migrationspädagogik fragt nach den sozialen und politischen und schließlich subjektiven Bedingungen der Möglichkeit, nicht dermaßen auf einschränkende und beschneidende Handlungs-, Erfahrungs- und Denkformen angewiesen zu sein. Zu diesem Buch Das vorliegende Buch gibt den Stand der pädagogischen Diskussion über Anforderungen an pädagogisches Handeln und an pädagogische Institutionen in der Migrationsgesellschaft wieder und diskutiert diesen unter einer zugehörigkeitstheoretischen Perspektive. Wichtige Themen der nachfolgenden Kapitel sind beispielsweise: • migrationswissenschaftliche Debatten und Konzepte (Kap_.j2)___ ___ • der ik&nzeptionelle Bezug auf »den und die Andere(n)« in Ausländerpäd- ) /agogik und Interkultureller Pädagogik (Kap. 3) • ,. die »reflexiven« Konsequenzen für (insbesondere sozialjpädagogisches Handeln, die aus der Kritik an der mit dem Ausdruck »interkulturell« verknüpften Perspektive resultieren (Kap. 4) • die Debatten zum Thema Mehrsprachigkeit und Bildung (Kap. 5) • die Analyse des Umgangs der deutschen Schule mit Schüler/innen aus Migrationsfamilien (Kap. 6) • der Stellenwert rassismustheoretischer Ansätze für eine Pädagogik der Migrationsgesellschaft (Kap. 7) • normative Leitlinien der Migrationspädagogik (Kap. 8). Die Erläuterung der Themen führt in den fachlichen Diskurs um Migration, Interkulturalität und Pädagogik ein. Der vorrangige Anspruch des vorliegenden Buches ist es dahei nicht, den fachlichen Diskurs als Sammlung von gültigem Wissen darzustellen. Dies aus zumindest zwei Gründen, die für das (Wissenschafts-) Wissen überhaupt kennzeichnend sind: Über die Frage, welches Wissen das gültige ist, werden Auseinandersetzungen und Dispute geführt. Es steht also nicht einfach schon fest, worin das gültige Wissen besteht. Vor diesem Hintergrund kann behauptet werden, dass letztlich paradoxerweise das Nichtwissen kennzeichnend für (Wissenschafts-)Wissen ist. Wissen ist weiterhin nicht nur »in der Gegenwart« umkämpft. Mindestens das empirische Wissen ist vergängliches Wissen, da sich die historischen Bedingungen verändern, unter denen über die Frage der Gültigkeit des Wissens befunden werden kann. Paul Mecheril 21 Somit geht es im Rahmen dieses Buches weniger um die Auflistung »gültigen Wissens« im Hinblick auf das Themenfeld »Migration und Bildung«. Es geht vielmehr um einen Überblick über die Art und Weise, wie diachron und synchron im erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurs, in pädagogischen Handlungskontexten und in »der Gesellschaff« über Migration und Bildung gesprochen wird und welche pädagogischen Konsequenzen an welche Redeweise geknüpft sind. Da allerdings mit der Darstellung und Kommentierung der fachlichen Diskussion in diesem Buch auch die Hinführung zu einer bestimmten Perspektive auf das Verhältnis von Pädagogik und Migration verbunden ist, verknüpft sich mit diesem Buch ein zweites Anliegen. Es geht darum, Leserinnen und Leser zu zweierlei durch die Lektüre zu ermutigen: zu einem Nachdenken über das Themenfeld »Migration und Bildung«, das insbesondere die Dimension der Macht zum Thema macht, und zum Mut, Möglichkeiten zu erwägen, nicht dermaßen auf einschränkende und beschneidende Einteilungsmuster angewiesen zu sein. Daher können die nachfolgenden Ausführungen auch als Ergänzung zu bereits vorliegenden Büchern gelesen werden, die in die »Interkulturelle Pädagogik« (beispielsweise: Allemann-Ghionda 1997; Auernheimer 1996,2007; Kiesel 1996; Nieke 2008; Roth 2002; Krüger-Potratz 2005, Gogolin/Krüger-Potratz 2006; Nohl 2006) respektive in die »Pädagogik der Einwanderungsgesellschaff« (Hamburger 1994) oder das Verhältnis von »Erziehung und Migration« (Diehm/Radtke 1999) einführen. Nicht in jedem dieser Einführungsbücher wird, so wie in diesem Buch, das Selbstverständnis artikuliert, das Feld »Bildung und Migration« unter einer bestimmten Perspektive darzustellen. Einige der Darstellungen präsentieren das Feld in fach- und gegenstandsbezogenem Wissen, das mehr oder weniger perspektivlos und standpunktfrei zu sein scheint. Vom wissenschaftstheoretischen und methodologischen Standpunkt, der für dieses Buch kennzeichnend ist, ist dies jedoch schlichtweg nicht möglich. Das vorliegende Buch geht auf das 2004 erschienene Buch »Einführung in die Migrationspädagogik« zurück. Allerdings handelt es sich nicht allein um eine Neuauflage des vorherigen Buches. Alle Kapitel des vorliegenden Buches sind gründlich überarbeitet worden. Ein neues Kapitel (Kap. 5: »Die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft«) wurde aufgenommen. Dass es sich hier gegenüber dem vorherigen Buch um eine eigenständige Publikation handelt, wird am deutlichsten dadurch, dass das vorliegende Buch nunmehr nicht nur einem Autor zugerechnet werden kann. Die Grundanlage des Buches und auch der einzelnen Kapitel haben wir gemeinsam in Bestätigung und Revision des 2004 erschienenen Buches entwickelt. Gleichwohl gibt es klare Hauptzuständigkeiten für die einzelnen Kapitel, die im Inhaltsverzeichnis wiedergegeben sind. Auch weil in diesem Buch zum Teil eine eigene Terminologie entwickelt und benutzt wird, findet sich am Ende des Buches ein Register zentraler Begriffe. Möglichkeiten erwägen, nicht dermaßen auf einschränkende und beschneidende Einteilungsmuster angewiesen zu sein 22 Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive Die Ausführungen zu den Begriffen, auf die im Register verwiesen wird, finden sich in den Kapiteln im Kasten »Schlüsselbegriff«. Zu Beginn eines jeden Kapitels wird im Kasten »Einführung« das inhaltliche Anliegen des Kapitels vorgestellt. Wesentliche Aussagen sind im Kasten »Merksatz« prägnant zusammengefasst. Weiterhin finden sich Kästen mit exkursiven Anmerkungen und textlichen Illustrationen. Sie dienen der Weiterführung und Vertiefung der dargestellten Inhalte, ebenso wie die kommentierten Hinweise zur »Weiterführenden Literatur«. Reflexionsfragen, mit denen das Verständnis des Gelesenen rekapituliert und präzisiert werden kann, schließen jedes Kapitel ab. Folgende Fragen können Ihnen helfen, Ihr Verständnis der Ausführungen in diesem Kapitel zu präzisieren: - Welche Argumente werden in diesem Kapitel für die Wahl des Ausdrucks »Migrationsgesellschaft« angeführt und welche weiteren Argumente fallen Ihnen ein? - Warum ist in diesem Buch von »Migrationspädagogik« und nicht z.B. von »Interkultureller Pädagogik« die Rede? - Was charakterisiert den "migrationspädagogischen Blick«? - Was ist mit »natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit« gemeint? Maria do Mar Castro Varela/Paul Mecheril 22 2. Grenze und Bewegung. Migrationswissenschaftliche Klärungen -— . Einführung Migration stellt den Normal- und nicht den Ausnahmezustand europäischer Gesellschaften dar. Das Kapitel diskutiert einflussreiche migrationswissenschaftliche Perspektiven, die auch pädagogisch bedeutsam sind: Immigration, multikulturelle Gesellschaft, transnationale Migration. Die Unterscheidung zwischen Migrant/innen und Nicht-Migrant/innen stellt ein zentrales gesellschaftliches Differenzverhältnis dar. In diesem Kapitel werden politische und kulturelle Mechanismen und Praxen thematisiert, mithilfe derer diese Differenz hergestellt wird. Schließlich wird in diesem Kapitel das Migrationsgeschehen in Deutschland auch mit Bezug auf die historische Dimension erläutert. Im Hinblick auf das Migrationsgeschehen nach dem Zweiten Weltkrieg werden vier Wanderungstypen (Aussiedlung, Arbeitsmigration, Flucht, irreguläre Migration) vorgestellt. 2.1 Ein kurzer migrationshistorischer Überblick Migrationsprozesse in Deutschland beginnen nicht erst nach 1949 - wie oft auch in migrationswissenschaftlichen Texten suggeriert wird. Im Gegenteil, Deutschland war immer schon von Ein- und Auswanderung geprägt. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war Deutschland vorwiegend ein Emigrationsland. Die Migration verlief zumeist in Richtung Nord- und Südamerika, aber auch Arbeitswanderungen von Westfalen nach Holland sowie weitere Wanderungsbewegungen nach Frankreich und in die Schweiz sind dafür verantwortlich, dass Deutschland im späten 19. Jahrhundert zum wichtigsten europäischen Emigrationsland avanciert. Der Migrationsforscher Klaus Bade bezeichnet den deutschen Massenexodus der 1890er-Jahre als »Export der Sozialen Frage« (Bade 1994, S. 21). Die einsetzende Industrialisierung verursachte eine schrittweise »Massenverelendung«, die für die Auswanderungswelle verantwortlich gemacht werden kann. Recht bald wurde zudem Ende des 19. Jahrhunderts eine deutsche Kolonialpolitik etabliert, die über gezielte Propaganda versuchte, den Auswanderungsstrom in die deutschen Kolonien umzulenken, damit dem Deutschen Reich keine Arbeitskräfte verloren gingen. Die koloniale Expansion führte zu den ersten weltweiten Massenauswanderungen und zeigte sich bereits zu diesem Zeitpunkt als extrem heterogen. So umfasste sie Formen wie etwa Sklavenhandel, den Aufbau von überseeischen Siedlungskolonien durch europäische Einwanderer, Zwangsarbeit (indentured labour), temporäre Ein- 24 I Grenze und Bewegung. Migrationswissenschaftiiche Klärungen Wanderung von Kolonialbeamten, Missionaren, Soldaten etc. (Papastergiadis 2007, S. 25 ff.). Die europäische Einwanderungsgeschichte tritt insbesondere mit Entstehung der europäischen Großstädte im 18. und 19. Jahrhundert hervor. Diese Städte entstehen als »migrantische Zentren«. Sie sind Ziele der Wanderung von Menschen, Ideen, Gegenständen und kulturellen Praxen. Auch durch das schnelle Wachsen industrieller Gebiete wie dem Ruhrgebiet, dem damit verbundenen Bedarf an billigen Arbeitskräften und der durch verschiedene Faktoren zu erklärenden großen Armut im Osten Europas kam es zu einer bemerkenswerten Ost-West-Wanderung, die Deutschland ab der Wende zum 20. Jahrhundert verstärkt zu einem der wichtigsten Immigrationsländer in Europa machte. Auch zwischen den beiden Weltkriegen gab es - zumeist aus benachbarten europäischen Ländern - Zuwanderung nach Deutschland, und die deutsche Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs war nur aufgrund des starken Einsatzes der Arbeitskraft sogenannter »Fremd-« und »Zwangsarbeiter« möglich (Münz/Seifert/Ulrich 1999, S. 42). Für die 1920er-Jahre kann von einer Zahl von etwa 200 000 bis 300 000 Arbeitskräfte ausgegangen werden, die keinen deutschen Pass hatten. Während der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er-lahre ging diese Zahl deutlich zurück. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 begann eine massive militärische Aufrüstung, die die Frage nach ausländischen Arbeitskräften erneut aufkommen ließ. Die rassistische Weltanschauung des Nationalsozialismus ging allerdings mit einer sehr restriktiven Finwanderungspolitik einher. Zwischen 1950 und 1998 verließen etwa 20 Millionen Menschen Deutschland, im gleichen Zeitraum wanderten etwa 30 Millionen Menschen ein (Münz/ Seifert/Ulrich 1999, S. 18). Migrationsgesetzge- Migrationsgesetzgebungen sind innerhalb des europäischen Raums sehr bungen sind innerhalb heterogen und reagieren empfindlich auf politische Veränderungen. Regie-des europäischen rungswechsel in Deutschland und anderen europäischen Ländern hatten fast Raums sehr heterogen immer Veränderungen in den staatlichen Migrationspolitiken zur Folge, sodass sich immer wieder Verschiebungen in den Migrationsdiskursen ausmachen lassen. Politisch und medial war in Deutschland lange Zeit die Position bestimmend, dass Migration randständig und nicht konstitutiv für die Bundesrepublik sei. Bis Ende der 1990er-Jahre war die offizielle Selbstdarstellung der Bundesrepublik Deutschland hartnäckig dominiert von einer »Lebenslüge« (Bade 1994): Deutschland sei kein Einwanderungsland. Diese politische Irreführung und Ignoranz haben zweifelsohne die sozialen Folgen von Migration verkannt und zum Teil überaus problematische Entwicklungen bedingt, deren Konsequenzen insbesondere auch das Feld der Bildung und Erziehung betreffen. Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts ist eine Reihe von Veränderungen in Richtung einer Anerkennung der Migrationstatsache festzustellen. So wurde die Einbürgerung erleichtert und die Staatsbürgerschaftsregelung geändert. Maria do Mar Castro Varela/Paul Mecheril I 25 Nun können Kinder von seit acht Jahren »rechtmäßig« in Deutschland lebenden Eltern die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben. Zudem wurde 2005 das Zuwanderungsgesetz erlassen, welches zum ersten Mal den Integrationsbegriff in einer migrationspolitischen Gesetzgebung verwendet. Gleichzeitig macht der Name des Gesetzes bereits seine restringierende Ausrichtung deutlich: Gesetz zur Begrenzung und Steuerung von Zuwanderung. Während innerhalb Europas die Grenzen mehr und mehr durchlässig werden (z. B. durch das Abkommen von Schengen), werden die Außengrenzen Europas schärfer gezogen. Bezogen auf Migration kann allgemein somit von einem widersprüchlichen Verhältnis zwischen restriktiver Begrenzung und Neuformierung des Sozialen durch Grenzüberschreitungen gesprochen werden. Auf der einen Seite ist von der »Festung Europa« die Rede, während auf der anderen Seite ein »postnationales Zeitalter« angekündigt und zuweilen bereits in Konzepten wie »Kosmopolitismus« ausgerufen wird. Immer mehr Menschen wandern, pendeln, lassen sich an einem Ort nieder, der nicht ihr Geburtsort ist, arbeiten und leben diachron und synchron an unterschiedlichen Orten. Es gibt Menschen, die im Laufe ihres Lebens in vier, fünf, sechs verschiedenen Ländern gelebt haben oder jahrelang gleichzeitig an mehreren Orten leben, die ein Zuhause an zwei oder drei Orten haben oder deren Staatsbürgerschaft nicht den Ort ihrer Herkunft wi- v derspiegelt. In ihrem Buch »Flexible Staatsbürgerschaften« untersucht die Anthropologin Aihwa Ong (2005) transnationale Praktiken von Menschen im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Bedingungen, die diese spezifische Art von Flexibilität erlauben und herausfordern. Migration und Kapital werden bei Ong in ihrer Wechselwirkung zueinander analysiert. Sic stellt fest, dass - obwohl die Nationalstaaten beständig versuchen, sowohl die Finanzströme als auch die Mobilität von Menschen zu regieren -diese beharrlich nach Wegen suchen, den Disziplinierungsversuchen zu entkommen. Es gilt ein dynamisches Kräftespiel, bei dem nicht nur Individuen sich verändern, sondern auch Staaten und Wirtschaftsunternehmen einem fundamentalen Wandel unterliegen, der durch die Variabilität transnationaler Praxen charakterisiert ist. Merksatz Migrationsregime sind durch Ungleichzeitigkeiten und paradoxe (staatliche) Interventionen und Gegenreaktionen (auch der Migrant/innen) geprägt. Somit ist es unmöglich, von einer einheitlichen Entwicklung des Migrationsgeschehens zu sprechen; die Beschreibung progressiver Linearität jedenfalls - von restriktiver zu liberaler Migrationswirklichkeit - ist nicht überzeugend. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, dass Auswirkungen der Migrationspolitiken auf das Alltagsleben entsprechend widersprüchlich sind. So erleben viele Migrant/innen aus Drittstaaten und Flüchtlinge ihren Aufenthalt in Deutschland nach der Aufgabe der bundesdeutschen »Lebenslüge« durch die Regierung nicht durchgängig als Erleichterung. Im Gegenteil, für viele gelten 26 Grenze und Bewegung. Migrationswissenschaftliche Klärungen heute zunehmende staatliche Kontrollen; Diskriminierungserfahrungen sind nicht geringer geworden (vgl. Kap. 7). Andere wiederum - etwa relativ privilegierte EU-Migrant/innen - profitieren vom Kommunalwahlrecht und anderen Regelungen. Wanderungstypen Soll das Wanderungsgeschehen in (West-)Deutschland in der Zeit nach 1945 unter der Perspektive von, in einem allgemeinen Sinne, Wanderungsanlässen und -Voraussetzungen wiedergegeben werde, dann macht es Sinn, vier »Typen« zu unterscheiden: Aus- und Übersiedlung, Arbeitsmigration, irreguläre Migration und Flucht. Nicht nur weil diese eine Vielzahl von Subtypen und Mischformen umfassen, sondern auch weil sich diese Typen empirisch überlagern, ist diese Skizzierung eine Vereinfachung und Stilisierung, eben eine Typisierung. Sie vermittelt jedoch einen allgemeinen Überblick über das Geschehen nach der Gründung der Bundesrepublik; ein Geschehen, das freilich von der Zeit zuvor vermittelt ist. Jüdische Einwanderung »Eine besondere Gruppe stellen die jüdischen Einwanderer und Einwanderin-nen dar. Die Aufnahme jüdischer Einwanderer erfolgt in Anwendung des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge (das sogenannte Kontingentflüchtlingsgesetz). Motiv für dieses Programm waren unter anderem der Erhalt und die Stärkung der jüdischen Gemeinden in Deutschland« (Haug 2005, S.4). Aus- und Übersiedlung Über vier Millionen Aussiedler/innen sind seit 1950 nach Deutschland gekommen. 2008 reisten nach offiziellen Angaben allerdings nur noch knapp 6000 Menschen deutscher Abstammung aus Osteuropa in die Bundesrepublik Deutschland ein. Von Januar bis April 2009 kamen gerade noch 960 Menschen im zentralen Aufnahmelager Friedland an. Etwa jede/r vierte Einwohner/in Deutschlands entstammt einer Familie, die nach 1945 aus Osteuropa zugewandert ist. In der Terminologie von Rainer Münz, Wolfgang Seifert und Ralf Ulrich (1999) kann zwischen Migration der Deutschen und Zuwanderung von Ausländern unterschieden werden. Bezogen auf die Migration von Deutschen sind zunächst Flucht und die als Vertreibung bezeichnete Wanderung von Osteuropa nach Deutschland bedeutsam. Bis Anfang der 1950er-Jahre sind circa zwölf Millionen Deutsche aus den ehemaligen deutschen Gebieten im Osten nach Ost- und Westdeutschland gekommen. Der Zuzug von Deutschen aus Osteuropa setzte sich zwar seit 1950 fort, allerdings aufgrund der restriktiven allgemeinen Grenzpolitik der sozialistischen Staaten auf niedrigem Niveau. Auch wenn der Eingliederungsprozess dieser Gruppen durchaus mit Schwierigkeiten verbunden war, so konnte sich doch aufgrund massiver finanzieller Eingliederungshilfen, des Bewusstseins, dass es sich bei den Vertriebenen um Deutsche handele, sowie aufgrund relativ geringer Sprachdifferenzen zwischen aufgenommener und aufnehmender Gruppe ein letztlich erfolgreicher Eingliederungsprozess durchsetzen. Dies gilt in noch Maria do Mar Castro Varela/ Paul Mecheril 27 größerem Maße für die Gruppe der Übersiedler, die zu Zeiten der deutschen Teilung aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland - oder umgekehrt -auswanderte bzw. flüchtete. Die größte Zuwanderungsgruppe sind die sogenannten Aussiedler/innen. Bei ihnen handelt es sich um Nachkommen deutscher Siedler/innen, die aufgrund der deutschen Politik als Minderheit in geschlossenen Siedlungen im europäischen Teil des Russischen Reiches lebten. Diese Minderheit in der Sowjetunion war nach 1941 Zwangsumsiedlungen und Repressionen ausgesetzt. Aussiedler/innen gelten im Selbstverständnis der Bundesrepublik als deutsche »Volkszugehörige«. Das Phänomen der Aussiedlung ist an das Konstrukt der Abstammungsgemeinschaft geknüpft. Bis zur Umstellung des deutschen Staatsbürgerschaftsrechtes im Jahr 2000 galt als Deutsche/r, wer von Deutschen abstammte. Unter diesem Verständnis von nationaler Zugehörigkeit erlangten Aussiedler und Aussiedlerinnen einen gegenüber anderen Einwanderungsgruppen deutlich privilegierten Status, der sie allerdings nicht vor Alltagsdiskriminierung schützte (Vogelgesang 2008). Mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und der Aufhebung der Reisebeschränkungen kam es ab den 1980er-Jahren zu einem stark ansteigenden Zuzug von Aussiedler/innen. Die Zeitspanne von 1987 bis 2003 gilt dabei als die Hochzeit der Einwanderung von Aussiedler/innen. Nach den offiziellen Zahlen des Bundesverwaltungsamts von 2006 wandern im Jahre 1987 78523 ein, im Jahre 1990 397073, und bis 2003 sinkt die Zahl wieder auf 72 885. »Allein von 1987 bis 2003 befanden sich unter den zugewanderten Aussied-ler(inne)n 943982 Minderjährige« (Söhne 2008, S. 9). Da Deutschkenntnisse in der Regel umso geringer werden, je jünger die Aussiedler/innen sind und die staatlichen Unterstützungsangebote auch mit Bezug auf Sprachförderung deutlich nachgelassen haben, befindet sich insbesondere die junge Generation der aus als deutsch geltenden Familien stammenden Einwanderer aus Osteuropa in einer prekären Situation. Prägnante Bilder Am 10. September 1964 werden die Menschen am Deutzer Bahnhof in Köln Zeugen eines kuriosen Ereignisses. Mit Blumen und einem neuen Moped wird feierlich der »millionste Gastarbeiter« empfangen. Es ist Armando Rodrigues de Sä aus Vale de Madeiras, der wie seine Mitreisenden eine lange und beschwerliche Zugfahrt, 48 Stunden in vollen Zügen, in Kauf genommen hat, um aus Portugal kommend in Deutschland »sein Glück« zu suchen. Das Bild des etwas verstört in die Kamera blickenden jungen Mannes, mit Anzug und Hut auf einem Moped sitzend, wird zu der Repräsentation von Migration in die Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und ist ein nicht unwichtiger Teil des in Deutschland geltenden Bildes »des Migranten« wie auch Beispiel und Einübung des dominanten Blicks auf ihn. Wir finden diese ikonografische Darstellung der Migration heute häufig in Schulbüchern und Fachbüchern zur Migration. 28 Grenze und Bewegung. Migrationswissenschaftliche Klärungen Doppelseitiger Mythos »Die Vorstellungen vom massenhaften Einsatz in den unattraktiven, unteren Beschäftigungspositionen auf der einen Seite und vom höchstmöglichen Verdienst auf der anderen Seite harmonierten einträchtig miteinander, solange [...] der Mythos vom begrenzbaren provisorischen Arbeitsaufenthalt einerseits und der produktiven Rückkehr< ins Heimatland andererseits aufrechterhalten werden konnte« (Motte/Ohliger/von Oswald 1999, S. 15). Arbeitsmigration Die westdeutsche Wirtschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts avancierte mit ihrer erfolgreichen Exportorientierung zum »Wirtschaftswunder«. Als dessen Folge wurden in einem Ausmaß Arbeitsplätze benötigt und geschaffen, dass trotz jährlichen Zuzugs Hunderttausender Übersiedler/innen aus der DDR der Bedarf an Arbeitskraft in Westdeutschland nicht mehr gedeckt werden konnte. Anwerbekommissionen in den unterschiedlichsten Ländern (Italien, Spanien, Griechenland, Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien, ehemaliges Jugoslawien), die auf Basis bilateraler Anwerbeverträge operierten, warben in diesem Zeitraum junge Frauen und Männer aus den Peripherien Europas an. Dadurch sollte der Arbeitskräftemangel, der auch durch Arbeitszeitverkürzung, Einführung der Bundeswehr, den Eintritt geburtenschwacher Jahrgänge ins Berufsleben, den Zuzugsstopp der Zuwanderung von Frauen und Männern aus der DDR nach dem Mauerbau sowie den Rückzug von Frauen aus dem Erwerbsleben entstanden war, abgefedert werden. Zur Rekrutierung nicht deutscher Arbeitskräfte schloss die Bundesanstalt für Arbeit im Auftrag der Bundesregierung 1955 den ersten Anwerbevertrag mit Italien ab. Erst 1973 kam die Rekrutierung mit der Weltwirtschaftskrise zum Erliegen. In der Migrationsforschung wird von dieser Phase als »Gastarbeiterperiode« oder »Anwerbephase« gesprochen (Mackert 1999, S. 90 ff.). In der Regel erhielten die angeworbenen Arbeiter/innen eine einjährige Arbeitsund Aufenthaltserlaubnis. Die Befristung des Aufenthaltes, zunächst eine noch von den meisten sozialen Akteuren akzeptierte Politik, wurde von zwei Ideen motiviert. Einerseits sollte die »Beheimatung« der Arbeitsmigrant/innen verhindert werden. Zum anderen ermöglichte die Befristungspolitik einen Austausch »verbrauchter« Arbeitskräfte durch »unverbrauchte«. Dieser als Rotationspolitik bekannt gewordene Ansatz »war die modernisierte Variante des alten Konzeptes des Saisonarbeit, das in Deutschland mit dem Einsatz von polnischen Landarbeitern von 1880 an »funktioniert« hat« (Treibel 2008, S. 56). Die industrielle Produktion brauchte Arbeitskräfte wie nie zuvor und in nicht wenigen Betrieben waren in den 1960er-Jahren bald die Mehrheit der am Band arbeitenden Frauen und Männer nicht deutscher Herkunft. Die 1965 beginnende Rezession hatte keine nennenswerte Minderung der Einwanderungszahl zur Folge, was deutlich macht, dass die Anwerbung auch darauf abzielte, schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne durchzusetzen und zu stabilisieren. Nicht zufällig wurden die LeichÜohngruppen in Zeiten der aktiven Anwerbung migrantischer Arbeitskräfte eingeführt. Gleichzeitig wurden Migrant/innen effektiv von der deutschen Mehrheitsbevölkerung segregiert: Deutschkurse waren rar und die Unterbringung der Arbeiter/innen in Baracken auf dem Firmengelände oder in der Nähe der Produktionsstätten waren die Regel. Mathilde Jamin (1999, S. 148) zitiert in ihrem Artikel das Bundesinnenministerium, welches für die Anwerbung türkischer Maria do Mar Castro Varela/Paul Mecheril 2>; Arbeitnehmer verlangte, dass die medizinische Untersuchung nicht nur die »Arbeitsverwendungsfähigkeit« überprüfte, sondern auch »zum Schutz der Bevölkerung aus seuchenhygienischen [!] Gründen vorgenommen wird«. Das auch gegenwärtig in Diskursen bedeutsame Bild des »bedrohlichen Migranten« schließt sich der klassisch kolonialen Repräsentation »des Anderen« an; hier des »Seuchenbtin%ers«. Schon hüh machten sich Migtantl innen auch ökonomisch selbstständig, etwa im gastronomischen Bereich, oder belebten bereits verloren gegangene Gewerbe wie etwa das der Änderungsschneiderei. Heute hat sich hierfür der Begriff der »ethnischen Ökonomien« etabliert. Die meisten Arbeitsmigrant/innen arbeiteten jedoch zeit ihres Arbeitslebens an Fließbändern, Hochöfen, in den Minen des Ruhrpotts oder als Reinigungskräfte. Auch die Anwerbung von Frauen wurde, entgegen vorherrschender Ansichten, aktiv gefördert. »In der zeitgenössischen Wahrnehmung [... ] blieb der >Gastarbeiter< bis in die 1970er-Jahre hinein ein Mann«, schreibt die Historikerin Monika Mattes und merkt kritisch an, dass »auch die migrationshistorische Forschung« die damit verbundenen »Perzeptionsmuster und Denkmuster lange Zeit unhinterfragt festgeschrieben« hat. So blieben in der Wahrnehmung der Mehrheit die Migrantinnen ein »passive(s) Anhängsel ihrer ökonomisch aktiven Ehemänner« (Mattes 2005, S. 10, Anm. 1). Defacto war die Beschäftigung »einer möglichst großen Zahl von Frauen in Leichtlohngruppen« (Mattes 2005, S. 164) einem ökonomischen Kalkül geschuldet. Als beispielsweise gesundheitsgefährdende Arbeitsplätze nicht mehr mit deutschen Frauen zu besetzen waren, wurden Migrantinnen eingesetzt, da ihnen »eine größere Resistenz, aber auch Indifferenz gegenüber unattraktiven Arbeitsplätzen« zugeschrieben wurde (Mattes 2005, S. 169). Die Verwertungslogik des Gastarbeitersystems lässt es verständlich erscheinen, was gegenwärtig zuweilen in Vergessenheit gerät: In den 1960er-Jahren wurden weder Forderungen nach »Integration« erhoben noch entsprechende Anstrengungen unternommen. Es existierten keine staatlicherseits organisierten Integrationsmaßnahmen, wie es mittlerweile das 2004 verabschiedete Zuwanderungsgesetz vorsieht. Interessanterweise begehrten bald die Industrieunternehmen und Arbeitgebenden gegen das Rotationsprinzip auf: Sie weigerten sich, stets kostenintensiv neue Arbeitskräfte einzuarbeiten, die nur kurze Zeit bleiben konnten, und forderten entsprechend die Verlängerung der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse für die von ihnen angelernten Arbeitskräfte. Das Rotationsprinzip erwies sich schlichtweg als zu kostspielig und wurde schließlich auf Druck der Arbeitgeberverbände 1962 - formell 1964 - abgeschafft. Bis 1973, dem lalir, in dem aufgrund der weltweiten Ölkrise auch Deutschland in eine Rezession geriet und daraufhin einen Anwerbestopp beschloss, wanderten 14 Millionen Menschen ein, während etwa elf Millionen zurück - Ethnische Ökonomien Der Begriff »ethnische Ökonomie« beschreibt d\e untemehuxetische \ MAwftät von NVigran-tinnen und Migranten. Viele Migranten nutzen eine Unternehmensgründung als Chance, ihre Existenz nachhaltig zu sichern. Ihre Gründungsdynamik ist im Durchschnitt höher als in der deutschen Bevölkerung. Deutschlandweit sind ethnische Ökonomien in nahezu allen Branchen vertreten. Schwerpunkte der unternehmerisch aktiven Migranten liegen in den Bereichen des Gastgewerbes und Handels, aber auch wissensintensive Dienstleistungen spielen zunehmend eine Rolle, (http:// www.berlin.de/ ba-mitte/wirtschafts-foerderung/aktuell/ ethnischeoekonomie. html (Abruf 23.08.2009). 30 Grenze und Bewegung. Migrationswissenschaftliche Klärungen f—-> Schlüsselbegriff: Gastarbeiter Die Kombination von »Gast« und »Arbeiter« ist kurios. Ein Gast genießt gewöhnlich Gastrecht. Gemeinhin sind Gäste davon entlastet zu arbeiten, und zumeist befinden sie sich in einer privilegierten und nicht in einer deprivilegierten Situation im Haus der Gastgebenden. »Gastarbeiter« ist Produkt eines Alltags- und Me-diendiskurses. Er rückt zweierlei in den Vordergrund: dass diese Menschen in Deutschland sind, um zu arbeiten, und dass sie dies für eine begrenzte Zeit tun. Die zweifache Bedeutung des Begriffs ist eine Beschreibung, die zum normativen und disziplinierenden Anspruch wird: »Gäste«, die beispielsweise länger als vorgesehen bleiben, beginnen, ein Ärgernis zu werden. Zumal dann, wenn sie nicht ihrer Funktion als Arbeitskraft entsprechen. Unter solchen Bedingungen haben die Arbeitsgäste den legitimen Anspruch verloren, sich bei »uns« aufzuhalten. Konsequenterweise waren für Gastarbeiter/innen keine Bildungs-, aber auch keine psychosozialen Angebote vorgesehen. Wichtig war, dass sie arbeitsfähig waren. Aus diesem Grunde erhielten auch nur »gesunde« Arbeitsgäste eine Arbeitserlaubnis und waren Arbeitserlaubnis und Aufenthaltserlaubnis abhängig voneinander. Auch sonst waren keine sozialen Maßnahmen - etwa Deutschkurse -vorgesehen, Folglich mussten sich die eingewanderten Arbeitskräfte die deutsche Sprache selbstständig und auf eigene Kosten aneignen, v__' wanderten (Bade 1994, S. 38, Anm. 7). Erst durch den Nachzug von Familienmitgliedern wuchs die Zahl der Migrant/innen trotz Anwerbestopp und zügiger Auflösung der Verbindungsstellen kontinuierlich an. Die 1980er-Jahre standen im Zeichen der Rückkehrförderung. Ökonomische Abfindungen sollten ausländische Arbeitnehmer/innen dazu motivieren, »freiwillig« in ihre Herkunftsländer zurückzukehren. Tatsächlich steckte dahinter ein massiver Kündigungsdruck, der zum Teil mit Drohungen und Formen des Mobbings erhöht wurde. Die Rückkehrförderung brachte den Betrieben und der Bundeskasse letztiieh etliche Millionen Deutscher Mark ein, da bei einer Rückkehr der Arbeitskräfte Arbeitslosen-, Kurzarbeiter-, Kindergeld und Rentenversicherung entfielen. Seit den 1980er-Jahren steigt die Zahl der Arbeitsmigrant/innen in Arbeitsverhältnissen, die rechtlich, materiell und sozial ausgehöhlt sind, kontinuierlich an. Arbeitnehmer/innen nicht deutscher Herkunft sind auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor deutlich überproportional auf den untersten Ebenen der Beschäftigungsskala vertreten und sind darüber hinaus überdurchschnittlich hoch von Erwerbslosigkeit betroffen, während sie insgesamt eine niedrigere Beschäftigungsrate aufweisen als deutsche Arbeitskräfte. Seit Anfang der 1990er-Jahre - in einer Phase der Verschärfung der restriktiven Flüchtlings- und Asylpolitik, der Anschläge und Übergriffe gegen Flüchtlinge und sogenannte Ausländer - wird in Deutschland wieder verstärkt die Notwendigkeit von Migration in der politisch erfundenen Vokabel der »Zuwanderung« diskutiert. Deutschland bedarf der Migration, so das Argument, aus ökonomischen und demografischen Gründen (ausführlicher Kap.l). Grenze und Bewegung. Migrationswissenschaftliche Klärungen Hoch qualifizierte Migrant/innen Ist die Ikone der »Gastarbeitergeneration« noch der portugiesische Arbeiter, der müde aus dem Zug steigt, um an den Hochöfen der aufblühenden Nachkriegswirtschaft seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, so ist es im 21. Jahrhundert der »Computerinder«. Die schrittweise Digitalisierung der Arbeitswelt verlangt nach einem neuen Typus ausbeutbarer Arbeitskräfte. Nicht mehr physische Leistung, sondern technische Kenntnisse sind gefragt. Im Februar 2000 kündigte der damals amtierende deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für IT-Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten durch die Green-Card-Regelung (Bezeichnung in Anlehnung an das US-amerikanische Rechtsinstrument) an und eröffnete damit eine bis heute anhaltende öffentliche Debatte um hoch qualifizierte Migration. Interessanterweise löste die Einführung der Green Card nicht den vermuteten Ansturm auf die deutschen Botschaften aus. Im Gegenteil: In Indien etwa war die Nachfrage eher moderat (Pethe 2006). Insgesamt können vier Typen von hoch qualifizierter Migration unterschieden werden: hoch qualifizierte Arbeitnehmende, die über die Green-Card-Regelung einwandern, Manager und andere Arbeitnehmende multinationaler Konzerne, internationale Studierende, hoch qualifizierte Asylbewerber/innen sowie irregulär Eingewanderte. Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose [... ] außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will« (zit. nach Treibel 2008, S. 160). Allerdings wird dieses Verständnis von Flucht dem Spektrum der Anlässe und Verläufe gegenwärtiger Flucht nicht gerecht. Denn nur ein Bruchteil der weltweit über 50 Millionen Flüchtlinge kann individuelle Verfolgung nachweisen, Flucht aufgrund von Krieg und Umweltzerstörung, aber auch Binnenflucht werden nicht erfasst (zit. nach Treibel 2008, S. 161). Als zentrale Bedingungen von Fluchtbewegungen gelten unter anderem koloniale Hinterlassenschaften wie willkürlich gezogene Staatsgrenzen, inner-und zwischenstaatliche Kriege, ethnische und religiöse Konflikte, Verfolgung spezifischer Minderheiten (etwa Schwule, Lesben, Transgender; Angehörige religiöser Minoritäten und politischer Widerstandsgruppen), Armut, die vielfach Konsequenz einer internationalen Arbeitsteilung ist, und schließlich Folgen der Umweltzerstörung (insbesondere Umweltkatastrophen, Vergiftung von Luft und Wasser, Verödung und Verwüstung von Land) (Nuscheier 2004). Das internationale Fluchtgeschehen infolge vielfältiger Formen von Gewalt, Unruhen und prekär werdenden Existenzgrundlagen ist eingebunden in international agierende Flüchtlingshilfesysteme, insbesondere das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR). »Der Verlauf von Fluchtbewegungen hängt einerseits von den nationalen politischen Systemen und dem internationalen Flüchtlingssystem und andererseits von den Ressourcen, Handlungschancen und den Netzwerken ab, auf die die Flüchtlinge zurückgreifen können« (Treibel 2008, S. 173). Das Leben von Flüchtlingen wird an dem Ort, an den sie fliehen, entscheidend vom juristischen Diskurs bestimmt. Die einzelnen formalen Schritte des Asylantrages sind in Deutschland rechtlich vorgeschrieben. Flüchtlinge, die ei- Maria do Mar Castro Varela/Paul Mecheri! 33 nen Asylantrag gestellt haben, gelten als »Asylbewerber«. Sie erhalten in der Regel keine Arbeitserlaubnis. Sie unterstehen der Residenzpflicht, das heißt, der Aufenthalt ist nur in dem Bezirk gestattet, bei dessen Ausländerbehörde der oder die Asylbewerber/in seinen oder ihren Antrag gestellt hat. Bis zur Bewilligung des Asylantrags leben die meisten Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften. Das Leben in diesen Unterkünften entspricht nicht immer humanitären Standards. »Die vom Gesetzgeber erzwungene Unterbringungsform >Gemeinschaftsunterkünfte< ist mit dem Inhalt des Begriffs Wohnen ebenso unvereinbar wie mit den rechtlichen Vorgaben des Städtebaus. [... J Die Unterbringung kann so definiert werden, daß eine möglichst große Anzahl von Menschen in einem Gebäude auf jeweils sechs Quadratmeter privatem Raum in Zimmern mit bis zu zehn Personen und einem möglichst geringen allgemeinen Flächenanteil (Flure, Küchen, Sanitär- und Gemeinschaftsräume) unter Aufsicht leben muß« (Thimmel 1994, S. 54). Die Folgen solcher Lebensbedingungen sind erhebliche psychosoziale Probleme. Hinzu kommen weitere Belastungen durch Rassismuserfahrungen auf unterschiedlichen Rhenen. Asylbewerber/innen in Gemeinschaftsunterkünften sind häufig nahezu ungeschützt rassistischen Anschlägen ausgesetzt. In der sozi- _jJ^pzT ^^/i^A_ Irreguläre Migration Irreguläre Migration hat seit Ende der 1980er-Jahre erheblich an Bedeutung zugenommen. Sie wurde unter anderem durch den Fall der Berliner Mauer und den langsamen Zerfall der sozialistischen Länder provoziert. »Irregulär« verweist darauf, dass illegitime Grenzüberschreitung stattfindet, auf ein Leben ohne Papiere und/ oder das Arbeiten ohne gültige Arbeitserlaubnis (etwa Karakayali 2008). Wird der Asylantrag abgelehnt und auch keine Duldung aufgrund humanitärer Gründe ausgesprochen, so werden Flüchtlinge aufgefordert, das Land binnen kurzer Zeit zu verlassen. Tun sie dies nicht, so halten sie sich illegal in Deutschland auf und werden im Alltags- und Mediendiskurs oft als »Illegale« stigmatisiert. Etwa 100000 illegalisierte Menschen (auch »sans papier«, Papierlose oder undokumentierte Flüchtlinge genannt) halten sich Schätzungen zufolge in Deutschland auf. Das grundlegende Problem ist die fast vollkommene Rechtlosigkeit dieser Menschen (Alt 2003). Ohne Dokumente und Aufenthaltsstatus ist etwa keine Krankenversicherung möglich. Fehlende Krankenversicherung und der Zwang, »unsichtbar« sein zu müssen, stehen nicht selten in Zusammenhang mit chronischen Beeinträchtigungen grundlegender Art. Besonders schwierig ist die Lebenssituation für schwangere Frauen oder wenn Familien mit schulpflichtigen Kindern in der lllegalisierung leben müssen. Der Anstieg irregulärer Migration wird in Politik und Öffentlichkeit heftig und kontrovers diskutiert. Die europäischen Staaten versuchen diese Form der Einwanderung mittels Kontrolle und Abschottung zu unterbinden. Zivilgesellschaftliche Organisationen - etwa das Netzwerk »kein mensch ist illegal« - intervenieren in den Diskurs und beeinflussen diesen zunehmend. Seit der 1993 durchgesetzten Änderung des Grundgesetzartikels 16 gilt der Satz: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« nur noch mit Einschränkung. Flüchtlinge, die über sogenannte »sichere Drittstaaten« einreisen (alle EG-Staaten, Europaratstaaten, in denen die Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt ist, alle Staaten, in denen die Genfer Konvention angewandt wird), und Flüchtlinge aus Staaten, in denen politische Verfolgung und inhumane Bestrafungen oder Behandlungen vermeintlich nicht vorkommen, sogenannte »Nichtverfolgerstaaten«, können von der Inanspruchnahme des Grundgesetzartikels 16 ausgeschlossen und abgeschoben werden (Nuscheier 2004, S. 148ff.). v _) Grenze und Bewegung. Migrationswissenschaftliche Klärungen alen Hierarchie der deutschen Gesellschaft finden sie sich am untersten Ende. Durch die juristisch vorgeschriebenen Einschränkungen wird das Leben im Aufnahmeland in einem erheblichen Maße eingeengt und erschwert. Zentral für die Lebenssituation von Familienangehörigen von Asylberechtigten und von Asylsuchenden ist, dass ihre Eingliederung nicht als gesellschaftspolitische Aufgabe verstanden wird. So werden sie im Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung so gut wie nicht erwähnt (Castro Varela 2005). Die massiven Einschränkungen machen letztlich deutlich, dass Asylsu-chendc in Deutschland nicht erwünscht sind. Zwangsunterbringung, nachrangige Arbeitsvermittlung, gegenüber dem Regelsatz gekürzte Sozialhilfe, die teilweise allein in Sachleistungen ausgezahlt wird, Verpflichtung zu gemeinnützigen Arbeiten, eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Versagen aller Eingliederungsmaßnahmen (seit 1982 sind beispielsweise alle staatlichen Zuschüsse für Sprachkurse für Asylbcwerber/innen gestrichen, sie dürfen keine Berufsausbildungen beginnen), eingeschränkte Gesundheitsversorgung und die generell verweigerte Familienzusammenführung in der Zeit des Asylverfahrens sind die wichtigsten Praktiken der Erniedrigung und Entmündigung Asylsuchender. r ^ Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Ein politisch wie pädagogisch oft vernachlässigtes Thema ist die Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Jedes Jahr flüchten zwischen 5 000 und 10000 Kinder und Jugendliche ohne ihre Eltern nach Deutschland. Viele von ihnen lassen sich nicht registrieren und tauchen unter, weil sie Angst haben, abgeschoben zu werden. Sie werden zum Teil von ihren Eltern alleine auf die Reise geschickt, weil diese darin die einzige Möglichkeit sehen, ihnen ein Überleben zu sichern. Andere Kinder und Jugendliche entscheiden sich, selbstständig zu fliehen. Artikel 22 der UN-Kinderrechtskonvention zufolge müssen die Vertragsstaaten sich in der ihnen angemessen erscheinenden Weise bemühen, Flüchtlingskinder zu schützen. Sollten die Eltern oder andere Familienangehörige nicht ausfindig gemacht werden, so ist dem Kind derselbe Schutz zu gewähren wie jedem anderen Kind, das aus irgendeinem Grund dauernd oder vorübergehend aus seiner familiären Umgebung herausgelöst ist. Die deutsche Bundesregierung hat die UN-Kinderrechtskonvention allerdings nur unter ausländerrechtlichen Vorbehalten unterschrieben. Das Ausländerrecht hat in Deutschland Vorrang vor der UN-Kinderrechtskonvention. Vor diesem Hintergrund kann Deutschland - wie auch Österreich - Abschiebehaft gegen Kinder und Jugendliche verhängen und verhängt diese auch. Allein in Hamburg befanden sich 2003 etwa 125 Minderjährige länger als drei Monate in Abschiebehaft. Dies trug der Bundesregierung 2004 eine Rüge des UN-Ausschusses ein. Es wurde u.a. angemahnt, dass Flüchtlingskinder im Alter zwischen 16 und 18 Jahren nicht an den im Jugendhilfegesetz verankerten Rechten teilhaben, sodass Roma-Kinder und andere ethnischen Minderheiten angehörende Kinder zwangsweise in Länder ausgewiesen werden können, aus denen ihre Familien geflohen sind, oder die Rekrutierung von Kindersoldaten im Asylverfahren nicht als kindesspezifischer Verfolgungsgrund anerkannt wird. V_) Maria do Mar Castro 2.2 Wer ist ein »Migrant«? Bestätigende Diskurse und Praktiken Bei jeder natio-ethno-kulturellen Grenzüberquerung werden - nur scheinbar paradoxerweise - Grenzen gleichzeitig irritiert und stabilisiert. Und wie auch immer die Überschreitung wahrgenommen und empfunden wird, sie hinterlässt Spuren im Subjekt. Jede faktische Grenzüberschreitung ist dabei ritualisiert und formalisiert. Schlüsselbegriff: Migration Die biografisch relevante Überschreitung kulturell, juristisch, lingual und (geo-) politisch bedeutsamer Grenzen kann als Migration bezeichnet werden. Migration geht mit der Veränderung und der Bestätigung des Bestehenden einher. Eine Sicht auf Migrationsphänomene, die diese lediglich mit Wandel assoziiert, greift [ insofern zu kurz. Migration muss vielmehr als Gegenstand von Diskursen, als Gegenstand politischer und alltagsweltlicher Auseinandersetzungen verstanden werden, in denen die Frage, ob es eher um Erhalt oder Umgestaltung geht, kontrovers diskutiert wird. In der politischen und alltagsweltlichen Diskussion um das Thema Migration geht es immer auch um die Frage, wie eine nationalstaatliche Gesellschaft ihre Grenze festlegt und wie sie innerhalb dieser Grenze mit Differenz, Heterogenität und Ungleichheit umgeht. Migration problematisiert Grenzen. Dies sind nicht nur die territorialen Grenzen, sondern vor allem die symbolischen Grenzen der Zugehörigkeit. Durch Migration wird die Frage der Zugehörigkeit individuell, sozial und auch gesellschaftlich zum Thema. Dies gilt nicht nur für die Zugehörigkeit der »Migrant/innen«, sondern muss allgemeiner verstanden werden. Denn durch Migration werden Zugehörigkeitsverhältnisse problematisiert. Weil sich diese Problematisierung auch auf die Frage, wie »wir« leben möchten, bezieht, also eine grundsätzliche Ebene des gesellschaftlichen Zusammenlebens berührt, ist der Diskurs über »Migration«, »Zuwanderung«, »Ausländer«, »Multikulturalität« ... ein intensiv geführter, ideologisierter, politisierter und von Affekten begleiteter Diskurs. Es werden beispielsweise Papiere und ein bestimmtes Verhalten erwartet, und sobald die Seite gewechselt ist, ist man nicht mehr derjenige, der man vorher war. Aus einer »Inländerin« wird eine »Ausländerin«, die weniger eine Identitätsfigur darstellt als vielmehr eine prekäre soziale Position anzeigt. »Die >Aus-länderin< ist die Fremde, und damit diese möglichst fremd bleibt, werden die symbolischen Grenzen zwischen Ihn und >Wir< immer wieder neu gezogen und bestätigt« (Rommelspacher 2002, S. 50). Die Grenzziehung geschieht dabei über »Identifikationsritualc, bei denen die Anderen als Fremde identifiziert werden« (Rommelspacher 2002, S. 50). Grenzen werden immer dann vom Subjekt bemerkt, wenn sie entweder überschritten oder neu gesetzt werden. Wenn etwa Staatsgrenzen passiert werden, wird schnell sichtbar, wer im Besitz