Beiträge zur Geschichtskultur Band 13 Chris Lorenz herausgegeben von Jörn Rüsen Konstruktion der Vergangenheit Eine Einführung in die Geschichtstheorie mit einem Vorwort von Jörn Rüsen 1997 Böhlau Verlag Köln Weimar Wien TT. Fakten und Interpretation Wer Vereinfachung nicht scheut, wird ohne großes Risiko das Verhältnis von Fakten und Interpretation als Kernproblem der Geschichtstheorie bezeichnen können. Es ist leicht einzusehen, daß es sich dabei um ein theoretisches Problem handelt, auf das jeder Historiker früher oder später stößt; denn die Feststellung von Fakten über die Vergangenheit wird, wie am Beispiel Barbara Tuchmans und A.J.P. Taylors gezeigt wurde, von den meisten Historikern als eine ihrer wichtigsten Aufgaben betrachtet. Sie paraphrasieren im Grunde, was Leopold von Ranke (1795— 1886) bereits vor etwa hundertfünfzig Jahren gesagt hat: Es sei die Aufgabe des Historikers „zu zeigen, wie es eigentlich gewesen" ist. Auch heute noch wird die Feststellung von Fakten von vielen als der harte Kern der Geschichtsschreibung gesehen. Diese Fakten werden von den Historikern interpretiert. Wie das in etwa vor sich geht, zeigt folgendes Schema: Die Frage, wie die Fakten sich zu Interpretationen verhalten, spielt zwischen allen drei Pfeilen eine Rolle: Zunächst gibt es ein Interpretationsproblem, wenn ein Augenzeuge ein bestimmtes Ereignis - zum Beispiel eine Feldschlacht oder einen Streit geringeren Ausmaßes - registriert und schriftlich oder mündlich wiedergibt. Es fragt sich dann, wie sich der Augenzeugenbericht, die Interpretation, zum „tatsächlichen" Ereignis verhält. Zweitens ist ein Interpretationsproblem vorhanden, wenn der Historiker den Augenzeugenbericht liest und als Quelle benutzt: Interpretiert der Historiker die Quelle gut, und ist seine Rekonstruktion der Tatsachen korrekt? Das dritte Interpretationsproblem entsteht, wenn der Historiker Fakten in einer Darstellung ordnet und sie erklärt. Obwohl Historiker auch das Ordnen oft als Interpretation bezeichnen, wird das dritte Problem Ereignis Darstellung • • - Quelle 2 Historiker 18 II. Fakten und Interpretation 1. Was ist ein Faktum? 19 mit der Frage behandelt werden müssen, was eine Erklärung ist (Kapitel IV und folgende). In diesem Kapitel werden nur die ersten Fragen zur Interpretation behandelt. 1. Was ist ein Faktum? Eine einfache Methode zu erfahren, was mit einem Faktum oder einer Tatsache gemeint ist, besteht darin, sich vor Augen zu führen, wie der Begriff benutzt wird. Im täglichen Sprachgebrauch wird er oft unterschiedlich verwendet; Das erklärt, weshalb es nicht einfach ist, ihm eine einzige Bedeutung zuzuweisen. Einige Beispiele lassen sich aus dem Stegreif anführen: Es ist ein Faktum, daß Miguel Indurain 1991, 1992, 1993, 1994 und 1995 die Tour de France gewonnen hat, daß die Weltbevölkerung 1997 wächst, der Erste Weltkrieg von J 914 bis 1918 dauerte, daß Nationalismus und Wahnsinn in Europa vorkommen und zwei mal zwei vier ist. Was haben diese Fakten gemein und welche Kriterien müssen erfüllt sein, um etwas in die Kategorie der Fakten einreihen zu können? Diese Frage läßt sich beantworten, indem man zunächst die einzelnen Konzepte, die mit dem Begriff „Faktums" verwandt sind, untersucht und ihr Verhältnis zu diesem Begriff bestimmt. Es geht dann um Konzepte wie „Ereignis", „Sachverhalt", „Wahrheit" und „Gewißheit".1 Eine erste Möglichkeit, die untersucht werden kann, ist die Identifizierung von Faktum und Ereignis. Insbesondere in der Geschichte scheint auf den ersten Blick einiges dafür zu sprechen: Stellt sich die Geschichte doch als eine Sammlung von Ereignis-Atomen dar, wie beispielsweise Casars Überschreitung des Rubikons im Jahre 49 v.Chr., Luthers Thesenanschlag von 1517, Hitlers Ernennung zum Staatsoberhaupt im Jahre 1934 usw. Angesichts der Tatsache, daß die meisten Historiker Ereignisse wie diese als historische Fakten ansehen, bietet sich die Identifizierung von Fakten mit Ereignissen an. Kennzeichnend für jene Art von Ereignissen ist, daß sie zeitlich und räumlich begrenzt und von relativ kurzer Dauer sind. Deswegen scheint ein Beobachter sie im Prinzip mit bloßem Auge „überblicken" zu können. Etymologisch gesehen ist die Identifizierung dieser Art von Ereignissen (oder „Evenementen") mit Fakten auch nicht verwunderlich, macht man sich bewußt, daß Faktum vom lateinischen factum („das, was getan ist") abstammt. Das Modellereignis dazu ist eben die Handlung eines Individuums.2 Historisch gesehen ist diese „am Ereignis orientierte" Auslegung des Begriffs des Faktums für die Geschichtswissenschaft von größter Bedeutung gewesen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein haben Historiker die Vergangenheit als eine Sammlung von Ereignisatomen betrachtet, die im Prinzip mit Hilfe von Augenzeugenberichten aus der Vergangenheit (den primären Quellen) rekonstruiert werden kann. Demzufolge sahen und sehen sie die Geschichte als Puzzle oder Mosaik, zu dem alle Historiker/innen mit ihren Forschungen beitrügen, da auch noch die unwesentlichste Tatsache ein Stückchen des Puzzles der Vergangenheit bilde. Analysiert man genauer, was Historiker als Fakten bezeichnen, begreift man schon bald, daß die Identifizierung von Faktum und flüchtigem „Evenement" bei weitem nicht zu kurz greift: Historiker betrachten nämlich nicht nur kurze Hinrichtungen und Aufstände als Fakten, sondern auch lang dauernde Feldzüge und ganze Weltkriege, die beim besten Willen nicht als solche beobachtet werden konnten (Wer -zum Beispie! „sah" die Schlacht bei Verdun oder dem Kampf um Stalingrad?). Daß Fakten nicht mit Ereignissen identifiziert werden können, wird noch deutlicher, wenn man jene Fakten unter die Lupe nimmt, die sich nicht auf Individuen, sondern auf Kollektive oder Gruppen beziehen. Kollektive haben nämlich Merkmale, die man bei Individuen nicht antrifft und die statistisch sind: Es geht um Merkmale wie Durchschnittsgröße, -alter und -einkommen. Die Merkmale eines Kollektivs lassen sich ermitteln, indem man die Daten der Individuen, die man zum Kollektiv rechnet, zusammenfügt beziehungsweise aggregiert und (statistischen) Berechnungen unterzieht, wie der Berechnimg des Durchschnitts, der Verbreitung, der Variationskoeffizienten usw. Darum spricht man in diesem Zusammenhang auch von aggregierten Fakten. Als Beispiele wären Bevölkerungszuwachs, Arbeitslosigkeit, Inflation, Bruttosozialprodukt und soziale Mobilität zu nennen. Jene aggregierten Fakten sind nicht so leicht festzustellen wie die Tatsache, daß ein Individuum zwischen 1975 und 1985 zehn Kinder bekommen hat und daß im gleichen Zeitraum alle Nachbarn einer bestimmten Person arbeitslos wurden. Man kann sie erst feststellen, wenn man zuvor bestimmt hat, was man unter den Begriffen „Bevölkerungszuwachs" und ! Ich folge hier weitgehend der Analyse von B. Rundle, Facts, London 1993, S.9-23, und D.Hamlyn, The theory of knowledge, London 1970, S. 136-142, 2 Johann Gustav Droysen bezeichnete Willensakte als die „primären historischen Fakten" und verglich sie mit Zellen in der Biologie. Vgl. Droysen, Hislorik. S. 1 14-115. 20 Ii. Fakten und Interpretation !. Was ist ein Faktum? 21 „Arbeitslosigkeit" verstehen will. So wird man bei der Berechnung des Bevölkerungszuwachses der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1975 und 1985 entscheiden müssen, wie man die Aus- und Zuwanderungsraten miteinbezieht und ob man Einbürgerungen berücksichtigt. Für die Berechnung der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland zur gleichen Zeit wird man entscheiden müssen, wie man als arbeitslos Gemeldete einstuft. Entscheidet beispielsweise der Staat, daß Personen, die eine Arbeit für weniger als zwanzig Wochenstunden suchen, nicht als Arbeitssuchende registriert werden, verschwinden nach Teilzeitarbeit Suchende (oft sind das Frauen) von selbst aus den Statistiken für Arbeitslose. Für aggregierte Fakten gilt also, daß die Art und Weise, wie sie zusammengestellt werden, von unseren Begriffen abhängt, denn ohne Begriffe wie „Inflation", „Bevölkerungszuwachs" usw. könnte man Inflation und Bevölkerungszuwachs niemals feststellen. Philosophen nennen Fakten daher auch eine begriffliche, konz,eptuelle Vorstellung, da die Fähigkeit, Fakten zu bestimmen, von den Begriffen abhängt, über die man verfügt. Das gilt auch für nicht-aggregierte Fakten wie Aufstände oder Feldschlachten. Uni einen Aufstand oder eine Feldschlacht konstatieren zu können, muß man wissen, was das jeweils ist. Mit anderen Worten, man muß in der Lage sein, einen Aufstand oder eine Feldschlacht als solche zu identifizieren, das heißt zu wissen, welche Art Phänomene unter den betreffenden Begriff fallen. Um eine Tatsache konstatieren zu können, braucht man also konzeptuelles Wissen. Der englische Historiker Carr vergleicht die Begriffe, mit denen der Historiker arbeitet, daher mit den Netzen eines Fischers: So wie das Netz bestimmt, welche Fischsorte gefangen wird, so bestimmt auch das „Begriffsnetz" des Historikers, welche Sorte Fakten er an Land zieht.3 Dray kommt zur gleichen Einsicht in der Formulierung, mit den richtigen Begriffen sei man in der Lage, einen ganzen Kontinent oder Krieg „wahrzunehmen", und ohne sie könne man noch nicht einmal ein Winken mit der Hand als Gruß registrieren.4 Es gibt also gute Gründe gegen eine Identifizierung von Faktum und Ereignis. Sie sind begrifflicher Art und also durch die Bedeutung beider Begriffe bedingt: Ein Ereignis hat im Gegensatz zur Tatsache einen Anfang und ein Ende sowie eine bestimmte Dauer, läßt sich also im Gegensatz zu ihr in Zeit und Raum lokalisieren. Von Ereignissen sagt man, daß sie stattfinden, was man hingegen von einem Faktum nicht behaupten kann: 5 E,H. Carr, What is history' London 1975. S. 23. * W. Dray, Perspectives on history, London 1980, S.61. Die gleiche Einsicht formuliert Dray auf derselben Seite mit den Worten, man könne sowohl die Bäume wie den Wald sehen. Fakten konstatiert man oder stellt man fest. Von Ereignissen hingegen kann man nicht wie von Tatsachen sagen, daß sie strittig sind oder akzeptiert werden Schließlich kann man im Bezug auf ein und dasselbe Ereignis unterschiedliche Fakten feststellen: Wenn der französische König Ludwig XVI. eines gewaltsamen Todes gestorben ist, verweisen „der Tod Ludwigs XVI." und „der gewaltsame Tod Ludwigs XVI." auf dasselbe Ereignis, aber nicht auf dasselbe Faktum: Daß er starb, ist nämlich nicht dasselbe wie die Tatsache, daß er eines gewaltsamen Todes starb. Bezeichnet man ein Ereignis als Tatsache wie in den Sätzen „Es ist eine Tatsache, daß Hitler 1945 starb" oder „Es ist eine Tatsache, daß sich Hitler 1945 das Leben nahm", so gibt man damit eine Umschreibung oder Spezifizierung des Ereignisses. Das betreffende Ereignis existiert ungeachtet der Bezeichnung in der Wirklichkeit, die tatsächliche Spezifizierung jedoch allein in der Sprache. Das Konzept des Faktums ist auch dem der Gewißheit verwandt, da wir Fakten oft als Gegensatz zu Begriffen wie „Theorie", „Hypothese", „Spekulation", „Meinung" oder „Phantasie"gebrauchen. Man sagt, etwas sei eine Tatsache, wenn man der Ansicht ist, daß etwas gewiß ist oder für jeden feststeht. „Facts are sacred and opinion is free", sagt man in diesem Zusammenhang im Englischen, und es ist auch allgemein üblich, am Gegensatz zwischen Fakten und Fiktion festzuhalten. Meinungen und Interpretationen hingegen werden oft als subjektiv bezeichnet, das heißt, daß sie zu Personen (= Subjekten) gehören und unabhängig von ihnen nicht existieren. Mit der Qualifikation, daß etwas eine Tatsache oder tatsächlich der Fall ist, beanspruchen wir also für die betreffenden Äußerungen einen bestimmten Status: Eine Tatsachenbehauptung stellt also einen Anspruch auf Gewißheit. Diese Ansprüche können akzeptiert, aber auch kritisiert oder zurückgewiesen werden. Fakten können daher auch strittig oder diskutabel sein. So ist die Tatsache, daß Kennedy von Lee Harvy Oswald ermordet wurde, noch immer strittig, auch wenn dies nicht wenige Bücher als Tatsache vermelden. Das Konzept des Faktums ist ebenso dem des Sachverhaltes verwandt: Wie Sachverhalte werden Fakten oft als gegeben und objektiv angesehen, das heißt, als beständen sie unabhängig von dem, was man darüber sagt oder denkt. In diesem Sinne wird in der Alltagssprache auch behauptet, die „Tatsachen sprächen für sich", sie seien „hart" oder „nackt", und des öfteren wird einer Person geraten, „sich den Fakten zu stellen". Dennoch können Fakten nicht mit Sachverhalten identifiziert werden, denn letztere können im Gegensatz zu ihnen nicht strittig sein oder bezweifelt werden. Außerdem kann man zwar versuchen, einen Sachverhalt zu 22 II. Fakten und Interpretation 2, Fakten und Beobachtung 23 ändern - beispielsweise die Wohnungsnot in Wertheim oder die Laune des Partners - mit Fakten ist das jedoch unmöglich. Wenn Tatsachen in der Wirklichkeit nicht direkt lokalisiert werden können, befinden sie sich dann vielleicht in der Sprache, in der man über die Wirklichkeit spricht? Ist eine Tatsache dann vielleicht das gleiche wie eine wahre Aussage'? Diese Interpretation scheint vielversprechend, denn wir haben gesehen, daß Fakten genau wie wahre Aussagen akzeptiert, bezweifelt und kritisiert werden können. Zudem kann sie sich auf die Feststellung stützen, daß in der Alltagssprache der Begriff „Tatsache" oft ähnlich wie der Begriff „wahr" verwendet wird. „Es ist eine Tatsache, daß ..." und „Es ist wahr, daß ..." werden im allgemeinen gleichbedeutend verwendet. Dennoch ist eine Tatsache nicht das gleiche wie eine wahre Aussage, wenn auch die Begriffe eng miteinander verwandt sind: Man kann nämlich sagen, daß eine Tatsache das ist, was in einer wahren Behauptung festgestellt wird. Die Fakten sind es, die eine wahre Behauptung wahr machen, denn eine Behauptung ist nur dann wahr, wenn sie mit ihnen übereinstimmt. In diesem Sinne sind Fakten die Ursache dafür, daß Behauptungen wahr sein können, denn allein durch ihre Existenz machen sie Behauptungen wahr oder unwahr; die Existenz von Fakten ist also eine Bedingung für das Sprechen Uber Wahrheit. Daß Hitler 1945 starb, ist für die meisten Historiker ein Faktum, und dieses Faktum ist die Ursache dafür, daß die Aussage „Hitler starb 1945" ihrer Ansicht nach wahr ist und die Aussagen „Hitler starb 1944" und „Hitler starb 1946" unwahr sind; die erste Aussage ist wahr, da sie ihnen zufolge mit einem Faktum übereinstimmt, was bei den anderen beiden Aussagen nicht der Fall ist. Die Verwendung des Begriffs des Faktums setzt also die Vorstellung von Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung mit den Fakten voraus (umgekehrt wird noch gezeigt, daß der Begriff der Wahrheit den Begriff des Faktums voraussetzt). Angesichts des Umstands, daß postmoderne Autoren die Konzepte des Faktums und der Wahrheit oft als überholt oder fragwürdig qualifizieren, ist das eine wichtige Feststellung. Was die Fakten sind, kann, wie gezeigt, nur innerhalb eines begrifflichen Rahmens festgestellt werden. 2. Fakten und Beobachtung Es wurde nun zwar festgestellt, daß Tatsachenaussagen keinen gesicherten Status haben, doch muß noch die Frage behandelt werden, worauf die weitverbreitete Ansicht basiert, daß Fakten „feststehen" und „gegeben" sind. Fragt jemand, warum ein anderer etwas „eine Tatsache" nennt -zum Beispiel, daß es regnet oder eben nicht - so wird die fragliche Person in der Regel antworten, sie habe es selbst gesehen oder gehört. Tatsachenaussagen werden oft mit dem Hinweis auf eine Sinneswahrnehmung gerechtfertigt. Einfach ausgedrückt: Wenn Menschen selbst etwas gehört oder gesehen haben, sind sie der Meinung, es sei auch wirklich so, denn die Sinne betrügen nicht und zeigen die nackte Wirklichkeit. Diese Auffassimg, daß die Erkenntnis der Wirklichkeit auf der Beobachtung durch die Sinne beruht, ist als Empirismus (Empirie - Sinneserfahrung) bekannt. Die Sinne werden im Empirismus als Quelle und Fundament der Erkenntnis der Wirklichkeit aufgefaßt; nach dem Empirismus gleicht der menschliche Geist einer leeren Tafel (lateinisch tabula rasa), die mit Hilfe der Sinne von der Wirklichkeit beschrieben wird. Der in Österreich gebürtige englische Philosoph Karl Popper (1902-1994) sagt daher auch, mit dem Empirismus sei das Bild verbunden, daß der menschliche Geist wie ein Eimer funktioniere: Bei der Geburt sei er leer, und im Laufe der Zeit werde er mit Hilfe der Öffnungen der Sinnesorgane mit Wissen gefüllt.5 Die Konsequenz dieser empiristischen Vorstellung vom Erkenntnisprozeß ist also, daß jedes Individuum - unabhängig von Zeit und Ort - austauschbar ist, weil es über den gleichen Erkenntnisapparat - den gleichen „Erkenntniseimer" - verfügt: Ein jeder hat sozusagen den gleichen Fotoapparat mit den gleichen Linsen (den Augen) und der gleichen Bildplatte (dem menschlichen Geist) im Kopf. Daher ist „echte" Erkenntnis dem Empirismus zufolge nicht an die Person gebunden, nicht subjektgebunden und daher objektiv. Philosophen nennen dies auch die „Austauschbarkeit des erkennenden Subjekts".6 Schematisch: ■ K.R. Popper, Objective knowledge, Oxford 1972, S. 61. 6 Vgl. für die Rolle dieser Annahme in der westlichen Philosophie: R. Rorty, Philosophy and the mirror of nature. Oxford 1980, S. 315-356. 24 II. Fakten und Interpretation 2. Fakten und Beobachtung 25 Die empiristische Auffassung von Erkenntnis hat in dem. was hier der Einfachheit halber mit „gesundem Menschenverstand" bezeichnet werden soll, Wurzeln geschlagen. Überall wird die Sinneswahrnehmung als Fundament der Erkenntnis betrachtet. Doch war das bei weitem nicht immer und überall der Fall, denn lange Zeit verstand man Tradition und Offenbarung oder die Kombination beider als Quelle und Fundament der Erkenntnis. Insbesondere mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaften seil dem 16. und 17. Jahrhundert stieg die Achtung vor der Sinneserfahrung als Quelle der Erkenntnis, und von da an begann das empiristische Verständnis von Erkenntnis die anderen zu verdrängen. Allerdings lebte in der Wissenschaft neben der empiristischen noch lange Zeit eine rationalistische Tradition weiter, worüber später mehr zu sagen ist. Der erste, der den Empirismus explizit als Wissenschaftsprogramm formulierte, war der englische Philosoph Francis Bacon (1561-1626). Bacon übte Kritik an der Art und Weise, wie an den Universitäten Wissenschaft betrieben wurde. So folgte man in der Astronomie den Vorstellungen von Aristoteles (zum Beispiel der, daß die Himmelskörper sich in exakt kreisförmigen Bahnen bewegten), ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, seine Theorien systematisch mit Beobachtungsdaten zu verknüpfen. Bacon war der Meinung, die Wissenschaft würde auf einem toten Gleis bleiben, solange sie sich auf die Tradition verlasse und nicht versuche, die Theorie systematisch mit Beobachtungsdaten zu vereinen. Es mußte sich grundlegend etwas ändern, und wie die Wissenschaft vorgehen solle, erläuterte er in seinem Werk Novum Organum. Wissenschaft müsse - und das wird Historikern bekannt vorkommen - mit dem Sammeln von Fakten beginnen, denn Fakten bilden nach Bacon die Grundlage, das Fundament der Wissenschaft. Anschließend müßten sie, gegebenenfalls in Experimenten, miteinander verglichen werden, um allgemeine Merkmale und Zusammenhänge offenzulegen. Untersuche zum Beispiel jemand das Phänomen Wärme, so müsse er ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen vergleichen, zum Beispiel Feuer, Sonnenstrahlen und Reibungswärme. Der Forscher entdecke dann, daß alle Wärme geleitet und daß Reibungs- und Strahlungswärme in Feuer umgesetzt werden können. So würde auf dem Fundament der Beobachtungsdaten ein Stockwerk empirischer Generalisierungen, d. h. allgemeiner Aussagen über wahrnehmbare Zusammenhänge zwischen Erscheinungen entstehen, die wiederum in einem Stockwerk aus Theorien systematisiert und erklärt werden müßten (beispielsweise der Theorie, daß das Wesen aller Wärme Bewegung ist, denn überall, wo Wärme ist, ist Bewegung). Das Gebäude der wissenschaftlichen Erkenntnis müsse also von Grund auf, wie ein Pyramide. erbaut werden, wobei die höheren Stockwerke, wo sich die Erkenntnis allgemeiner, abstrakter Art befinde (Generalisierungen, Theorien), auf einem empirischen Erkenntnisfundament individueller, konkreter Fakten fußen würden. Den Argumentationsgang, bei dem man aufgrund einzelner Aussagen über eine beobachtete Regelmäßigkeit - zum Beispiel Rabej ist schwarz, Rabe2 ist schwarz, Raben ist schwarz - zu universalen Aussagen über die betreffende Regelmäßigkeit kommt - alle Raben sind schwarz - nennt man Induktion. Die wissenschaftliche Methode ist nach Bacon und der gesamten empiristischen Tradition nach ihm bis zum Neopositivismus also induktiv. Demgegenüber steht der Argumentationsgang, bei dem aufgrund universaler Aussagen - alle Raben sind schwarz — eine einzelne Aussage gemacht wird - der Rabe bei mir im Garten ist schwarz. Er wird Deduktion (= logische Ableitung) genannt. Nach der rationalistischen Tradition ist die wissenschaftliche Methode nicht induktiv sondern deduktiv, da nur Deduktion - wie in der Mathematik - gewisse Erkenntnis garantiere. Gegen logische Ableitungen wie die gerade gezeigte kann man nichts einwenden, denn wenn alle Raben schwarz sind, ist es der Rabe in meinem Garten gewiß auch. Deduktive Argumentationen dieses Typs sind immer „schlüssig", daher werden sie auch Schlüsse oder Syllogismen genannt. Bestreben der Empiristen war es, die Induktion zu einem genauso unantastbaren Fundament der gewissen Erkenntnis zu machen wie die Deduktion. Die Gewißheit suchten sie in einer methodisch disziplinierten Sinneswahrnehmung und einer Induktionsmethode, mit der aus besonderen Beobachtungsaussagen allgemeinere Aussagen abgeleitet werden konnten. Empiristen betrachteten diese (induktive) Methode als Garantie für die Gewißheit von Erkenntnis und damit als Garantie gegen skeptische Zweifel: wurde doch die in der Sinneswahrnehmung erworbene Gewißheit an die „höheren" Stockwerke der Erkenntnis „weitergegeben". Zusammenfassend läßt sich Bacons empiristische Auffassung der Wissenschaft an einem Schema verdeutlichen (s. S. 26). Bacon vertrat also die Ansicht, die festgestellten Fakten bildeten die unveränderliche Grundlage der Wissenschaft; im Empirismus werden sie daher auch als Bausteine der Erkenntnis bezeichnet.7 Daß die Feststellung 7 S.F. Mason, A history of the sciences: main currents in scientific thought. New York 1976, S. 138-148; vgl. hierzu die klassische Studie von E.J. Dijksterhuis. De mechanisering van het wereidbeelä, Amsterdam i 950, S. 436-444. 26 II. Fakten und Interpretation 2. Fakten und Beobachtung 27 Theorien, Prinzipien allgemeine Aussagen / t \ j | h | ü JI Generalisierungen, empirische Gesetze u ~] [jj \^\ \^\ \^\ \^} Beobachtungsfakten individuelle Aussagen der Fakten von Begriffen abhängt und daß diese für verschiedene erkennende Subjekte unterschiedlich sein können, sah er nicht. In Opposition zum Empirismus entstand der Rationalismus, der den menschlichen Geist (= die Vernunft = ratio) als wichtigste Quelle und Fundament der Erkenntnis sah. Rationalisten wie der französische Philosoph René Descartes (1596-1650) betrachteten die Mathematik als reinste Form der Erkenntnis; sie gründet nicht auf Sinneswahrnehmung, sondern auf verstandesmäßiger Argumentation aufgrund einer Reihe von Prinzipien oder Axiomen. Nach dieser Auffassung enthält der menschliche Geist an sich bereits die Keime (die ersten Prinzipien) der Erkenntnis, und der „Erkenntniseimer" wird nicht erst über die Öffnungen der Sinnesorgane gefüllt. Der Weg zu gewisser Erkenntnis besteht dem Rationalismus zufolge in der verstandesmäßigen Begründung dessen, was aus den ersten Prinzipien abgeleitet werden kann; für die Rationalisten ist es also möglich, nur durch Argumentieren - das heißt vorab oder auch a priori ohne Beobachtung - zur Erkenntnis der Wirklichkeit zu kommen. Sie betrachteten es als ihre wichtigsten Aufgaben, zum ersten zu beweisen, welche Verstandesprinzipien unbezweifelbar und also gewiß waren, und zum zweiten eine unbezweifelbare Ableitungsmethode zu entwickeln: Wenn die ersten Prinzipien gewiß wären - wie Descartes' berühmtes „cogito ergo sum" (ich denke, also bin ich) - dann wäre alle daraus richtig abgeleitete Erkenntnis auch gewiß! Die in den Verstandesprinzipien gewonnene Gewißheit mußte so in die niedrigeren Erkenntnisschichten weitergereicht werden. Die wissenschaftliche Methode war nach dem Rationalismus also eine deduktive Methode, die - von unbezweifelbaren Prinzipien ausgehend - als Garantie für Gewißheit und damit als Garantie gegen skeptische Zweifel verstanden wurde. Das Gebäude der wissenschaftlichen Erkenntnis verstanden die Rationalisten als ein Ganzes - ein System - das aus Ableitungen aus der Spitze der Erkenntnispyramide besteht. Galileis These, daß „das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben wurde", bildete dabei die Brücke zwischen der Mathematik und der Naturwissenschaft,8 Genau wie der Empirismus ging übrigens auch der Rationalismus davon aus, daß im Erkenntnisprozeß jedes Individuum im Prinzip -unabhängig von Zeit und Ort - austauschbar sei: Für die Rationalisten war der menschliche Geist einförmig, denn er funktionierte überall nach den gleichen unveränderlichen Prinzipien. Der Rationalismus ging also sozusagen davon aus, daß jeder Mensch denselben Computer im Kopf habe, der auf ein und dieselbe Weise programmiert sei (so wie der Empirismus meinte, bei allen sei derselbe „Fotoapparat" vorhanden). Inzwischen dürfte deutlich sein, daß der Empirismus auch bei der Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt hat. Sie entstand nämlich erst in dem Augenblick, als Historiker zu der Einsicht kamen, daß historische Erkenntnis nur dann wissenschaftlich genannt werden könne, wenn sie sich auf Beobachtungstatsachen stütze und nicht auf das, was Vorgänger behauptet hätten, oder auf Informationen aus dritter oder vierter Hand. Die Forderung, auf die primären Quellen zurückzugreifen, war im Grunde die Umsetzung von Bacons Aufruf, zu den Fakten zurückzukehren. Was die primären Quellen registrierten - beziehungsweise was nach kritischem Sieben daraus abgeleitet werden konnte - wurde von den Begründern der modernen Geschichtswissenschaft also als ein Ersatz für die eigene Sinneswahrnehmung betrachtet. Historiker befinden sich nämlich in der schwierigen Lage, daß sie im allgemeinen das Objekt, über das sie schreiben, nicht mit Hilfe der eigenen Beobachtung registrieren können. Die moderne Geschichtswissenschaft fußt also auf der empiristischen Vorstellung vom Erkenntnisprozeß und geht somit paradoxerweise ebenfalls davon aus, daß alle erkennenden Individuen im Prinzip gleich und also austauschbar sind. Das ist deshalb paradox, weil diese Auffassung der Geschichte - als Wissenschaft der Veränderung - selbst ein unveränderliches und damit ahistorisches erkennendes Subjekt voraussetzt. Es 8 Vgl. Dijksterhuis, De mechanisering van het weretdkeeld, sowie J. Losee, A historical introduction to the philosophy of science, Oxford 1980. 28 II. Fakten und Interpretation 3. Das Ende Ludwigs XVI. 29 ist daher auch nicht verwunderlich, daß diese Annahme später - von Hans-Georg Gadamer - kritisiert wurde (s. S. 147-153). Nach diesem Exkurs zum historischen Hintergrund der empiristischen und rationalistischen Auffassungen von Erkenntnis wieder zurück zur anfänglichen Frage, zu der nach dem Verhältnis von Faktum, Beobachtung und Interpretation. Sie soll nochmals anhand eines fiktiven Beispiels erörtert werden. 3. Das Ende Ludwigs XVI. Das Beispiel führt zurück in die Zeit der Französischen Revolution: Angenommen, eine Person befindet sich am 21. Januar 1793 in Paris auf einem großen Platz (beispielsweise auf der späteren Place de la Concorde) und ist Zeuge des folgenden schauerlichen Schauspiels: Ein gefesselter Mann wird mit dem Kopf unter die Guillotine gelegt und fachmännisch enthauptet. Das Beispiel ist gar nicht so unwahrscheinlich, denn bekanntermaßen ereignete sich dies in jenen Tagen des öfteren. Unser Beobachter - zum Beispiel Pierre - fragt den Mann, der neben ihm steht, wer denn das unglückliche Opfer sei, und hört, es handele sich um den entmachteten König Ludwig XVI. Am Abend schreibt er voller Empörung in sein Tagebuch: „Heute wurde König Ludwig vom Pöbel ermordet." Hier ist folgendes geschehen: Der betreffende Mann nimmt ein Ereignis in der Wirklichkeit wahr und „über-setzt", was er wahrnimmt, mit den Begriffen „König", „Pöbel" und „Mord" sowie dem Eigennamen „Ludwig" in eine Tatsachenbehauptung. Pierre ist kein Mann vieler Worte und schließt sein Tagebuch nach diesem einen Satz betrübt wieder weg. Angenommen, am 21. Januar 1793 war noch jemand - zum Beispiel Jean - Zeuge des Schauspiels auf dem Platz. Jean ist mehr auf der Höhe der Zeit als Pierre und fühlt sich eher der Revolution als dem Königshaus verbunden. Abends schreibt er also in sein Tagebuch: „Bürger Capet wurde heute vom Henker hingerichtet." Ludwig war bereits entthront, und seither wurde er von den Revolutionären als normaler Bürger gesehen, den man einfach mit seinem Nachnamen Capet ansprechen konnte. Auch hier ist es wichtig, darauf zu achten, was genau geschieht: Auch Jean „über-setzt" das beobachtete Ereignis in eine Tatsachenaussage, doch er tut es mit dem Nachnamen „Capet" und den Begriffen „Bürger", „Henker" und „Hinrichtung", mit ganz anderen Begriffen als Pierre. Schematisch läßt sich das folgendermaßen darstellen: Pierre „König Ludwig wurde vom Pöbel ermordet." Jean „Bürger Capet wurde heute vom Henker hingerichtet." Ereignis Aussagen Wiedergabe der Beobach- tung durch den Beobachter; Tatsachenaussagen (Ebene der Wirklichkeit) (Ebene der Sprache) Das Beispiel verdeutlicht mehrere Aspekte des Verhältnisses Wirklichkeit - Tatsache - Interpretation: Erstens erweist sich - nochmals -daß prinzipiell zwischen Sachverhalten in der Wirklichkeit und Tatsachenaussagen darüber unterschieden werden muß. Tatsacherraussagen sind immer bestimmte Interpretationen von Sachverhalten, in denen bestimmte Aspekte beleuchtet oder selektiert werden. So wird in Pierres Tatsachenwiedergabe des oben genannten Ereignisses der seiner Ansicht nach unrechtmäßige Charakter von Ludwigs Tod belichtet (Mord), während Jean den seiner Ansicht nach rechtmäßigen Charakter betont (Hinrichtung). Der selektive oder interpretative Charakter der Tatsachenaussagen läßt sich also auf die verwendete Sprache zurückführen: Sprache verweist immer auf bestimmte Aspekte einer Erscheinung und nicht auf die Erscheinung in ihrer Ganzheit. Das trifft sowohl auf allgemeine Begriffe (wie König, Bürger und Revolution) wie auch auf individuelle Namen zu (wie König Ludwig XIV., Bürger Capet und Französische Revolution.) Der Unterschied zwischen allgemeinem Begriff und individuellem Namen ist im übrigen vom Kontext abhängig, da individuelle Namen (z. B. Guillotine, Spencer, Maggi, Don Juan, Renaissance und Thermidor) als allgemeine Gattungsnamen funktionieren können und umgekehrt. Die Sprache ist also kein Spiegel der Wirklichkeit, sondern verkörpert eine bestimmte Brille oder ein bestimmtes Raster, durch das wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Diese Einsicht in den selektiven, nicht-widerspiegelnden Charakter der Sprache widerspricht der alltäglichen Intuition des Menschen: Man könnte dann auch auf die Möglichkeit hinweisen, daß Pierre und Jean die Wirklichkeit einfach nicht korrekt wiedergegeben haben, da sie emotional oder politisch beteiligt waren. Das ist ein oft gehörtes Argument: 30 IL Fakten und Interpretation 3. Das Ende Ludwigs XVI. 31 Beteiligung oder Engagement würden eine objektive Tatsachenwiedergabe unmöglich machen; Abstand oder Distanz sei daher für jeden, der sich wissenschaftlich betätigt, oberstes Gebot (Engagement als Quelle der Subjektivität. Distanz als Quelle der Objektivität). Ein dritter Beobachter wäre denkbar, beispielsweise Jeanette, die das Ereignis auf dem Platz folgendermaßen wiedergibt: „Der frühere König Ludwig wurde durch die Guillotine enthauptet." Das könnte die echte, objektive Wiedergabe dessen sein, „wie es eigentlich gewesen" ist. und der Satz eine korrekte Spiegelung der Wirklichkeit. Doch auch hier trügt der Schein, denn bei genauerem Hinsehen ist leicht einzusehen, daß auch dieser Satz nicht das Ereignis in seiner Ganzheit resümiert, sondern nur bestimmte Aspekte. Der Begriff „Enthauptung" erhellt nämlich nur die Art und Weise, wie Ludwig umkam, und läßt die eventuelle Rechtmäßigkeit seines Todes außer Betracht. Vom Begriff „Enthauptung" her ist das auch in keiner Weise relevant. Der Begriff „Guillotine" fixiert den Blick auf das Instrument, das den Kopf vom Rumpf trennt, und schenkt den Umständen, unter denen dies geschieht - zum Beispiel der Anwesenheit des Henkers oder der Zuschauer - keinerlei Beachtung. Vom Begriff „Guillotine" her ist das ebenfalls nicht relevant. Aiich Jeanettes scheinbar objektive Wiedergabe des Geschehens erweist sich also als selektiv und beruht auf Entscheidungen, welche Aspekte der Wirklichkeit bei der Wiedergabe relevant sind und welche nicht.9 Diese Entscheidungen sind den Begriffen, die für die Wiedergabe gewählt werden, bereits inhärent: Auch Jeanettes „neutrale" Wiedergabe ist also kein Spiegel der Wirklichkeit. Dieses Beispiel zeigt daher, daß die Wirklichkeit niemals direkt wahrgenommen, sondern immer über die Sprache, über Begriffe, strukturiert wird. Man kann sogar sagen, daß zwei Beobachter mit grundsätzlich verschiedenen Konzepten, wenn sie dasselbe Ereignis wahrnehmen, nicht dasselbe „sehen": Pierre als Monarchist steht einen Mord, Jean als Revolutionär eine Hinrichtung. Beide sehen die Wirklichkeit durch eine andere Brille und daher unterschiedlich. Die Registrierung einer Tatsache besteht also nicht aus zwei getrennten Handlungen - zuerst der Beobachtung eines Phänomens und anschließend der Verbalisierung dieser Beobachtung - sondern aus einer einzigen Handlung.10 Das heißt, daß Tatsachenaussagen immer für Uminterpretation offen bleiben und daß auch das * H. Korsingsveld, Het verschijnsel weienschap, Meppel / Amsterdam 1976, S. 134-135. Vgi. A. Rigney, The rhetoric of historical representation: three narrative histories of the French Revolution. Cambridge, ) 990. "' Feyerabend, Against method, S. 72. Tatsachenwissen nicht in der Beobachtung begründbar ist. Die Einsicht in den interpretativen Charakter von Beobachtungsaussagen bringt also unvermeidlich die Einsicht in die Vorläufigkeit und die Fehibarkeit der Beobachtungserkenntnis mit sich. Es zeigte sich, daß auch Jeanettes Beobachtung selektiv war und sich darin nicht von Jeans und Pierres Beobachtung unterschied. Auch eine anscheinend „objektive" Beobachtung ist also immer selektivl Und das bedeutet - paradoxerweise - daß auch „objektive" Beobachtungen nicht frei von subjektgebundenen Wahlelementen sind. Jeanettes selektive Beobachtung wird jedoch nicht als subjektiv erfahren, da sich ihre Apperzeption des Ereignisses auf Aspekte bezieht, die im Gegensatz zum rechtlichen Aspekt nicht strittig sind.ä! Solange es um nicht-kontroverse Wirklichkeit oder deren Aspekte geht, ist es also nicht schwierig, sie „objektiv" wiederzugeben. Sobald Ereignisse jedoch mit Konflikten verbunden sind - und das ist in der soziohistorischen Wirklichkeit oft der Fall - tritt der subjektive Charakter von Beobachtungen viel schneller zu Tage. Man kann das klassische Streben nach Objektivität so auffassen, daß das Forschungsobjekt „adäquat'1 bzw. angemessen wiedergegeben werden soll: „Eine Handlung oder das Resultat einer Handlung kann ,objektiv' genannt werden, wenn man dabei, in Übereinstimmung mit dem gesetzten Forschungsziel, dem Forschungsobjekt gerecht wird - im Gegensatz zu dem, was vom Beobachter, Beurteilenden, Interpreten, Theoretiker „subjektiv' hineingelegt wurde. Insbesondere dieses letzte, negative Moment, die Abwesenheit von Subjektivität als Störfaktor, ist für den Begriff der Objektivität, wie er gewöhnlich benutzt wird, typisch."12 Es wurde jedoch bereits gezeigt, daß es unmöglich ist, innerhalb einer Beobachtungsaussage eine Grenze zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dem wahrgenommenen Objekt zu ziehen. Daher kann leicht Uneinigkeit darüber entstehen, was eine adäquate Wiedergabe ist. Bei näherer Analyse erweist sich jede Beobachtung als selektiv, da sie begrifflich strukturiert ist. Mit anderen Worten, es gibt keine Beobachtung, die gegeben ist, denn jede Beobachtung stellt zugleich eine Interpretation 11 Vgl, F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Un-zeitgemässe Betrachtungen, Frankfurt a.M, 1981, S. 137: „Es gibt sehr viele gleichgültige Wahrheiten: es gibt Probleme, über die richtig zu urteilen nicht einmal Uberwindung, geschweige denn Aufopferung kostet. In diesem gleichgültigen und ungefährlichen Bereiche gelingt es einem Menschen wohl zu einem kalten Dämon der Erkenntnis zu werden."' 12 A.D. de Groot, Methodologie. Cromlslagen van onden.oek e» denken in de gedraj>s-wetenschappen, Den Haag 1972, S. 172. 32 Ii. Fakten und Interpretation 4. Fakten, Interpretation und „wissenschaftlicher Realismus" 33 des Wahrgenommenen dar. Und Interpretieren ist eine Aktivität des wahrnehmenden Subjekts, was wiederum bedeutet, daß Beobachtungen immer von den Begriffen abhängen, die ihm zur Verfügung stehen. Dieser Befund zeigt, daß zwischen der Tatsachenwiedergabe und dem Interpretieren der Wirklichkeit kein grundsätzlicher Unterschied besteht. Jede Wiedergabe ist bereits eine bestimmte Interpretation. Angesichts dieser unvermeidlichen Subjektivität jeder Beobachtung kann das Streben nach Objektivität bei der Wiedergabe der Wirklichkeit nicht mehr als Bestreben erklärt werden, alle subjektiven Elemente aus ihr zu eliminieren. Der in der Geschichtswissenschaft traditionell gemachte Unterschied zwischen der objektiven Wiedergabe der Fakten und ihrer subjektiven Interpretation beruht also auf einem erkenntnistheoretischen Mißverständnis: Zwischen Registrierung und Interpretation gibt es nämlich keine Grenze, ein jeder, der wahrnimmt und registriert, interpretiert zugleich auch.13 Zweitens zeigt das Beispiel, daß die Erkenntnistheorie des Empirismus in einem wichtigen Punkt unrichtig ist: Die Sinnesorgane registrieren die Wirklichkeit nicht passiv, sondern selektieren bestimmte Aspekte der Wirklichkeit aktiv mit Hilfe von Begriffen, der Sprache. Der menschliche Geist ist also kein unbeschriebenes Blatt, das direkt von den Sinnesorganen beschrieben wird, und kein leerer Eimer, der direkt über die Sinnesorgane gefüllt wird. Zwischen die Wirklichkeit und ihre Beobachtung durch die Sinne schiebt sich immer das Raster oder die Brille der Sprache. Und das heißt, wie am Beispiel deutlich wurde, daß die Erkenntnis der Realität von dem begrifflichen Rahmen abhängt und daß - philosophisch ausgedrückt - das erkennende Subjekt also nicht einförmig und nicht austauschbar ist. Das erkennende Subjekt muß daher immer in einen raumzeitlich bedingten Kontext beziehungsweise in einen bestimmten Horizont (Gadamer) gestellt werden. Das auffallende Phänomen, daß jede Generation die Geschichte neu schreibt und letztere je nach Kulturgruppe unterschiedlich ist, läßt sich mit dieser Kontextbindung des erkennenden Subjekts - in diesem Falle des Historikers - erklären. Drittens lehrt das Beispiel, daß sich der selektive und änterpretative Charakter von Beobachtungen erst dann deutlich offenbart, wenn verschiedene, kontrastierende Beobachtungen nebeneinander stehen. Das ist Traditionell dominierte unter Historikern die Auffassung, eine „objektive" Wiedergabe „der Fakten" sei möglich; erst die daran anknüpfende „Interpretation" sei - mehr oder weniger ~ „subjektiv". Vgl. z. B. Novick, That noble dream und: P. Kosso, „Observing the past", in: History and theory?,] (1992), S. 21 - 36. für den Historiker ein wichtiger Punkt, da ihm nicht selten nur einseitige Quellen zur Verfügung stehen. Die Tendenz, das, was die Quellen registrieren, als uninterpretierte Wirklichkeit zu sehen, liegt dann auf der Hand. Man stelle sich nur einmal vor, wie die Geschichtsschreibung über die Hinrichtung Ludwigs XVI. aussähe, hätten die Historiker nur auf Tagebücher wie die von Jean oder Pierre zurückgreifen können. Der englische Historiker Carr hat in diesem Zusammenhang bemerkt, das Bild des tiefreligiösen mittelalterlichen Menschen, wie es sich in den Quellen manifestiere, könne eventuell mehr über die Brille der Verfasser der Quellen - hauptsächlich Geistliche, insbesondere Mönche - aussagen als über die Beschriebenen.14 Daß der interpretative Charakter von Beobachtungen sich erst durch Vergleich und Kontrast offenbart, läßt sich auch im Journalismus gut feststellen. Erst als mehrere Zeitungen Anfang der siebziger Jahre über „Widerstandskämpfer" und „Freiheitskämpfer" in der Dritten Welt zu schreiben begannen, erwiesen sich die bis dahin üblichen Bezeichnungen wie „Aufständische" und „Rebellen" als bestimmte Interpretationen der dortigen Ereignisse. Gleiches gilt auch für die Berichterstattung über westeuropäische Entwicklungen in den sechziger und siebziger Jahren: Wo manche Journalisten nur „Störungen der öffentlichen Ruhe und Ordnung" und „Krawalle" sahen, sprachen andere von „Aktionen" und „Demonstrationen". 4. Fakten, Interpretation und „wissenschaftlicher Realismus" Wenn die Beispiele nicht täuschen, lautet die Folgerung zwangsläufig, daß die Beobachtung und damit die Tatsachenerkenntnis der Wirklichkeit interpretativen Charakter hat. Diese Auffassung des Verhältnisses von Faktum, Interpretation und Wirklichkeit kann als „wissenschaftlicher Realismus" gekennzeichnet werden.55 14 Carr, What is history?. S. 14. 15 Es gibt sehr viele Varianten des Realismus, die alle auf zwei Voraussetzungen beruhen: l. Die Wirklichkeit existiert unabhängig von ihrer Erkenntnis durch den Menschen (darin unterscheidet sich der Realismus von allen Varianten des Idealismus); 2. Wissenschaftliche Aussagen verweisen auf - oder beziehen sich auf - diese unabhängig bestehende Wirklichkeit. Vgl. für Übersichten über den Realismus und das Problem der Referenz und der Wahrheit: J. Leplin (Hrsg.), Scientific realism, Berkeley 1984; N. Rescher, Scientific realism. A critical reappraisai, Dordrecht 1987; j. van Brakel/D. Raven (Hrsg.), Realisme en waarheid, Assen/Maastricht 1991; M. Devin, Realism and truth, Cambridge 1991. 34 IL Fakten und Interpretation Der Ausgangspunkt des „wissenschaftlichen Realismus" besteht in der im vorigen illustrierten Einsicht, daß man die Wirklichkeit niemals direkt, sondern nur dank bestimmter Beschreibungen erkennt. Diese Beschreibungen stellen Gesichtspunkte beziehungsweise Perspektiven dar, aus denen die Wirklichkeit betrachtet wird. Als solche gehören die Perspektiven immer zum Beschreibungsrahmen und nie zur Wirklichkeit. Wenn man über die Fakten und die Wirklichkeit spricht, so immer über die Fakten und die Wirklichkeit innerhalb eines bestimmten Beschreibungsrahmens. Diese Einsicht kann verdeutlichen, warum zwischen verschiedenen Historikerschulen über dasselbe Thema dauerhaft Uneinigkeit bestehen kann. Angesichts der Tatsache, daß Tatsachenaussagen von Beschreibungsrahmen abhängen, kann der Anspruch, etwas sei eine Tatsache, nicht mehr bedeuten, als daß eine bestimmte Beschreibung adäquat ist. Für solche Ansprüche können nur Argumente angeführt werden, da sie nicht mit einer Berufung auf die Wirklichkeit untermauert werden können: Wie diese aussieht, darum dreht es sich bei den konkurrierenden Ansprüchen (wie am Beispiel Ludwigs XVI. gezeigt wurde). Was die Wirklichkeit ist oder was die Fakten sind, bleibt aus genau diesem Grunde immer diskutabel. Und das ist einer der Gründe, warum die Geschichtsschreibung zu Recht eine „Diskussion ohne Ende" genannt wurde: Mit der Formulierung von Tatsachenbehauptungen wird doch zugleich eine bestimmte Sichtweise der Wirklichkeit vertreten.16 Daß dies nicht nur für die Geschichtswissenschaft gilt, wird im nächsten Kapitel dargelegt. III. Tatsache, Interpretation und Wahrheit Im vorigen Kapitel wurde dargelegt, daß die Feststellung von Fakten immer über das Raster der Sprache verläuft und deswegen jede Beobachtung der Wirklichkeit bereits eine subjektgebundene Interpretation derselben verkörpert. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, daß dies auch in den Naturwissenschaften - Paradebeispiel „objektiver" Erkenntnis -der Fall ist. Anschließend wird die Beziehung von Tatsache und Wahrheit näher analysiert. 1. Galilei gegen den Rest der Welt Als Beispiel soll Galileo Galilei (1565-1642), der berühmte Naturwissenschaftler, dienen. Galilei lebte in einer Zeit, in der noch nahezu jeder davon überzeugt war, daß die Sonne sich um die Erde drehe. Wie das genau funktioniere, hatten bereits der ägyptische Astronom Ptolemäus und der Grieche Aristoteles erklärt. Bekanntermaßen war Kopernikus (1473-1543) wohl der erste, der öffentlich behauptete, die Erde drehe sich um die Sonne und nicht umgekehrt. Seine Zeitgenossen hielten alle krampfhaft an Ptolemäus und Aristoteles fest. Galilei jedoch war davon überzeugt, daß Kopernikus recht hatte, und meinte, mit Hilfe der Sinneswahrnehmung beweisen zu können, daß sich Aristoteles und Ptolemäus geirrt hätten. Das war an sich schon ein sehr moderner Gedanke, der, wie im vorigen Kapitel gezeigt, mit Bacon und dem Empirismus assoziiert werden kann: Gegenüber dem Standpunkt der traditionellen Astronomen: „Die Sonne dreht sich um die Erde, weil Aristoteles und Ptolemäus dies sagen", behauptete Galilei: „Die Erde dreht sich um die Sonne, weil meine Sinneswahrnehmung mir das sagt."1 Bevor er seine Theorie begründete, versuchte er zuerst, an anderen Punkten zu beweisen, daß Aristoteles sich geirrt hatte. Wäre dessen Unzuverlässigkeit in einem Punkt bewiesen, würde es einfacher, ihn 16 Diesen Gesichtspunkt habe ich ausführlicher behandelt in meinem Artikel: „Historical knowledge and historical reality. A plea for .internal realism'", in: History and Theory 33 (1994) 3, S. 297-327. Vgl. J. Rüsen, Historische Vernunft, S. 58-64. ! Mason. A history of the sciences. S. 148-165; Dijksterhuis. De mechaniser'mg van her wereldbeeld, S. 395—402; Koningsveld, Het verschijnsel wetenschap, S. 171; vgl. zum „Turmargument": Feyerabend, Against method, S. 70-92.