Beiträge zur Geschichtskultur Band 13 herausgegeben von Jörn Rüsen Chris Lorenz Konstruktion der Vergangenheit Eine Einführung in die Geschichtstheorie mit einem Vorwort von Jörn Rüsen 1997 Böhlau Verlag Köln Weimar Wien 46 III. Tatsache, Interpretation und Wahrheit 5. Was ist Wahrheit? 47 4. Bedeutung und Wahrheit Was bedeutet es nun genau, daß im Bezug auf Sprachgemeinschaften normalerweise von Intersubjektivität der Bedeutung die Rede ist? Es heißt, daß Sprechende Worte und ihre Verbindungen in gleicher Weise verwenden, das heißt dieselben Regeln befolgen, wenn sie Worte miteinander und mit Dingen verknüpfen. Nur dank dieses Umstandes wissen sie voneinander, was sie mit ihren Aussagen meinen. Das setzt voraus, daß sie die gleichen Urteile über korrekte und inkorrekte Verwendung der Sprache haben, was meint, daß sie die Befolgung der und die Abweichung von den genannten Regeln in gleicher Weise beurteilen. Nur dadurch wissen andere Benutzer der deutschen Sprache, daß ich mit dem Wort „Schnee" auf eine weiße Substanz verweise, die normalerweise vom Himmel herabfällt, und mit dem Wort „Mehl" auf eine weiße Substanz, bei der das normalerweise nicht der Fall ist. Und nur weil Benutzer der deutschen Sprache diese Gebrauchsregeln in der Regel kennen kennen, kommt es selten zur Verwechshing der Worte „Schnee" und „Mehl". Diese Einsicht in den regelhaften Charakter des Verstehens von Bedeutung führt uns - mit Wittgenstein - zu einer näheren Einsicht in den direkten Zusammenhang zwischen den Begriffen der Bedeutung und Wahrheit, auf den bereits hingewiesen wurde. Oben wurde gezeigt, daß das Verstehen der Bedeutung eines Wortes impliziert, daß die betreffende Person das Wort normalerweise korrekt verwendet. Die Implikation wird deutlicher, wenn man die entgegengesetzte Möglichkeit erwägt: Dann zeigt sich nämlich, daß man, wenn jemand ein Wort regelmäßig falsch verwendet, davon ausgeht, daß die betreffende Person das Wort nicht „kennt", das heißt, nicht „verstanden" hat. Wenn jemand an weißen Wintertagen sagt: „Meine Güte, schau mal, wieviel Mehl gefallen ist!", geht man deshalb von fehlenden Deutschkenntnissen oder Verständnislücken aus. Wer ein Wort - wie „Schnee" oder „Mehl" - versteht, weiß normalerweise, wann Aussagen, in denen dieses Wort vorkommt, wahr oder unwahr sein können: Er weiß eben, daß Mehl nicht zu den Stoffen gehört, die normalerweise vom Himmel fallen. Aufgrund der Kenntnis, was die fraglichen Begriffe bedeuten - das heißt aufgrund dieses konzeptuellen Wissens - wissen Sprechende, welche die Sprache korrekt gebrauchen, daß bestimmte Aussagen normalerweise nicht wahr sein können, da sie in diesen Kontexten nicht verwendet werden. Wer die Bedeutung von Worten versteht oder über die betreffenden konzeptuellen Kenntnisse verfügt, weiß somit zugleich, welche Art von Aussagen, in denen diese Worte vorkommen, wahr oder unwahr sein kann. Sprechende kennen mit anderen Worten die Bedingungen, unter denen Aussagen wahr oder unwahr sind, das heißt, säe kennen deren sogenannte Wahrheitsbedingungen. Das Verstehen der Bedeutung eines Begriffs - und das gilt auch für historische Begriffe - impliziert Kenntnis der relevanten Wahrheitsbedingungen: Das gemeinsame Verstehen einer Sprache setzt also ein gemeinsames Urteil über die Wirklichkeit voraus, über das, was die Fakten sind, und also, was wahre Aussagen über sie sind (denn Fakten sind dasjenige, was in einer wahren Behauptung festgestellt wird). Ohne diese gemeinsamen Urteile über die Wirklichkeit hätte der Begriff der Wahrheit keine Bedeutung, da Wahrheit Intersubjektivität voraussetzt: Wenn bei allen permanent <7rteinigkeit über die Wahrheit oder Unwahrheit von Aussagen bestünde, hätten diese Begriffe ihre Bedeutung verloren.9 Diese Einsicht in den direkten Zusammenhang zwischen Bedeutung und Wahrheit hat Folgen für das Verständnis des Begriffs der Wahrheit. 5. Was ist Wahrheit? Obwohl der Begriff „Wahrheit" schon mehrfach verwendet wurde -unter anderem, um den Begriff „Faktum" definieren zu können - wurde seine Bedeutung noch nicht näher analysiert. Das ist jedoch notwendig, da das systematische Streben nach Wahrheit als Wesensmerkmal aller Wissenschaften anzusehen ist. Dies ist so, da alle Wissenschaften nach Erkenntnis streben und der Begriff der Erkenntnis den der Wahrheit voraussetzt. Wer behauptet, über Erkenntnis zu verfügen - und das ist in jeder Wissenschaft üblich - erhebt den Anspruch, daß die Aussagen, die als Erkenntnis bezeichnet werden, wahr sind. Ein Anspruch auf Erkenntnis ist also ipso facto ein Anspruch auf Wahrheit. 9 Vgl. Hamlyn, Theory of knowledge, S. 141: „What we can state about the world depends on this agreed, tntersubjective system of concepts. These bring with them criteria of truth, so that there must be points of agreement concerning the applicability of these criteria of truth. Hence there must be agreement on what is to count as fact and what is not. That there must be facts, therefore, that make certain statements true is a precondition of any view about the world. What these facts are is something that we can raise questions about only from a point of view within what is agreed, and which provides the framework for intelligible discussions about what is fact and what is not (...) understanding itself presupposes some knowledge of what counts as fact and how it might be ascertained what counts as fact". Posttnoüerne Autoren wie Hayden White und der .späte' Ankersmit behaupten daher auch zu unrecht, daß die Wahrheitsbedingungen historischer Begriffe und Erzählungen unbekannt sind. In dem Falle wären sie nämlich auch unverständlich, vgl, Kapitel VIII. 48 III. Tatsache, Interpretation und Wahrheit 5. Was ist Wahrheit? 49 Daß dem so ist, leuchtet am ehesten ein, wenn man die entgegengesetzte Möglichkeit betrachtet, das heißt die Kombination der Begriffe der Erkenntnis und Unwahrheit. Kann man behaupten, daß eine Aussage -zum Beispiel „Die Amsterdamer Polizei ist korrupt" - eine Erkenntnis und zugleich unwahr ist? Nein, das geht nicht, denn dann behauptete man wortwörtlich Unsinn, das heißt, man hätte die Bedeutung des Wortes „Erkenntnis" nicht verstanden - die Erage, ob die Amsterdamer Polizei tatsächlich korrupt ist. noch außer Betracht gelassen. Wer diese Aussage als Erkenntnis bezeichnet, betrachtet sie automatisch als wahr und kann daher die eventuelle Unwahrheit, nicht erkennen, ohne sich in einen Widerspruch zu verwickeln. In dieser Hinsicht existiert zwischen Erkennen und Glauben ein grundsätzlicher Unterschied, denn wer sagt, „Ich glaube, daß die Amsterdamer Polizei korrupt ist", läßt noch die Möglichkeit offen, daß dies nicht der Fall ist - und damit eventuell die Unwahrheit der Aussage. Daher ist es semantisch gesehen angebracht, Erkennen und Glauben auseinanderzuhalten. Wer über Erkenntnis zu verfügen glaubt, beruft sich also implizit auf die Vorstellung der Wahrheit, wie dies auch bei der Verwendung des Begriffs des Faktums der Fall war. Die Frage lautet nun, was genau mit „Wahrheit" gemeint ist. Bei der Analyse dieses Problems sollte die Frage, was „Wahrheit" bedeutet, von der Frage, wie man Wahrheit feststellen (etwas verifizieren) kann, getrennt werden, da die Vermengung beider Probleme für Verwirrung sorgt. Insbesondere die erste Frage soll hier -als konzeptuelle - behandelt werden. Zuerst muß festgehalten werden, von welchen Gegenständen in der Regel gesagt werden kann, sie seien wahr. Im Alltagsleben spricht man oft von einer „wahren Erzählung", einer „wahren Geschichte" oder einem „wahren Bericht". Damit ist im allgemeinen gemeint, daß die Aussagen, aus der eine solche Erzählung, Geschichte oder ein solcher Bericht sich zusammensetzen, wahr sind, das heißt, daß sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Wahrheit ist also näher betrachtet eine Eigenschaft beziehungsweise ein Attribut von (Sammlungen von) Aussagen, das heißt von sprachlichen Konstruktionen, nämlich ihre Korrespondenz mit der Wirklichkeit. Das heißt, daß Wahrheit nichtsprachlichen Dingen nicht zugeschrieben werden kann. Daher kann man nicht von der Wahrheit eines Tennisballs, eines Fußballplatzes oder eines Omnibusses sprechen, ohne daß dies unsinnig wird. „Wahr" heißt, mit anderen Worten, „in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit". Diese Feld-, Wald- und Wiesenauffassung von Wahrheit nennt man die Korrespondenztheorie der Wahrheit. Wahrheit bezieht sich also nur auf das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit; sie deutet eine Eigenschaft von Aussagen an, und zwar, ob sie mit der Wirklichkeit korrespondieren oder nicht. Daher kann sich der Begriff der Wahrheit nicht auf die Tatsachen beziehen. Von Tatsachen kann man nicht sagen, daß sie wahr oder unwahr sind, sondern nur, daß sie in einem Beschreibungsrahmen existieren oder nicht, womit gemeint ist, daß sie objektiv sind oder nicht. Man nennt etwas objektiv, wenn es unabhängig davon existiert, was man darüber denkt, unabhängig von dem Bewußtsein davon. Was existiert - was die Wirklichkeit ist -erfährt man allerdings nur über Tatsachenbehauptungen. Ob Tatsachen objektiv sind, kann also nur festgestellt werden, indem die Wahrheit von Tatsachenaussagen geprüft wird. Die Beziehung von Fakten und Wahrheit kann nun wie folgt präzisiert werden: Wenn Aussagen mit Fakten korrespondieren, die objektiv sind, sind sie wahr. Objektivität ist also nicht dasselbe wie Wahrheit, ebensowenig wie Tatsachen dasselbe sind wie wahre Aussagen, wenn auch diese Begriffe eng miteinander zusammenhängen. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit erntete trotz ihrer Anziehungskraft und Schlichtheit viel Kritik. Diese bezog und bezieht sich insbesondere auf die Verquickung zweier Fragen, die man besser auseinanderhalten sollte, nämlich „Was bedeutet Wahrheit?" oder „Was ist mit Wahrheit gemeint?" und „Wie erkennt man Wahrheit?". Die erste Frage ist die nach der Bedeutung der Wahrheit, die zweite die nach der Feststellung der Wahrheit oder der Verifizierung. Kritisiert wurde häufig, daß die Korrespondenzbeziehung als Verifikationskriterium interpretiert wurde, das heißt die Auffassung, man könne sie als evidente „Meßlatte" zur Feststellung der Wahrheit auffassen. Dieser Gedanke stammt aus dem Empirismus. Klassische Empiristen wie John Locke (1632-1704) gingen nämüch davon aus, daß zwischen der Welt, wie sie sich den ungetrübten Sinnen darstellt, und den Aussagen, mit denen man diese Erfahrungswelt wiedergeben kann, eine deutliche (Korrespondenz-)Beziehung bestehe. Sprache wurde im Empirismus als Spiegel der Wirklichkeit verstanden. Deswegen konnte die evidente Korrespondenz zwischen Sprache und Wirklichkeit in dem Sinne als Garantie für gewisse Erkenntnis verstanden werden. Die Kritik an dem Gedanken, die Korrespondenzbeziehung biete ein Verifikationskriterium, ist berechtigt: Die Spiegeltheorie der Sprache hat sich nämlich als unhaltbar herausgestellt - siehe auch das Beispiel Ludwigs XVI. - da es einen selbstverständlichen, evidenten Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit nicht gibt. Die menschliche Beobachtung der 50 III. Tatsache, interpretation und Wahrheit 5. Was ist Wahrheit? 51 Wirklichkeit erweist sich immer als begrifflich strukturiert, was, wie an den Beispielen Ludwigs XVI. und Galileis illustriert wurde, bedeutet, daß es unmöglich ist, „die Fakten" losgelöst von Begriffen festzustellen. Demzufolge kann man Tatsachenaussagen nicht mit der nackten, uninterpretier-ten Wirklichkeit vergleichen. Fehlt diese Vergleichsmöglichkeit, so kann auch keine Korrespondenzbeziehung zwischen Tatsachenaussagen und der Wirklichkeit festgestellt werden, das heißt, es kann nicht festgestellt werden, ob Tatsachenaussagen und die Wirklichkeit übereinstimmen und die Aussagen wahr beziehungsweise unwahr sind. Außerhalb konzeptueller Rahmen ist es offensichtlich unmöglich, über den Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit zu sprechen, aus dem einfachen Grund, daß die Beobachtung der Wirklichkeit immer sprachlich strukturiert ist. Was als „die Wirklichkeit" identifiziert wird, ist daher immer auch Produkt der Sprache. Sprache ermöglicht nicht nur die Beobachtung der Wirklichkeit, sondern hält sie zugleich „gefangen". Sprache ist nicht nur die Brille, sondern auch das Gitter zwischen dem Menschen und der Wirklichkeit. Daher haben viele in ihrem Streben, dem „Gefängnis" der Sprache zu entkommen, mit Hilfe mystischer Inspiration versucht, „direkten" Kontakt mit der Wirklichkeit herzustellen; und deshalb neigen einige Philosophen, insbesondere postmoderne, dazu, die Wirklichkeit in Sprache „aufzulösen" (s. S. 177-179).10 Dieses Problem, dem sich die Korrespondenztheorie der Wahrheit als Veritikationstheorie stellen muß, wurde im Laufe der Geschichte von zwei anderen Wahrheitstheorien als Ausgangspunkt verwendet, und zwar von der Kohärenztheorie der Wahrheit und der pragmatischen Wahrheitstheorie, die an dieser Stelle kurz behandelt werden sollen. Da es unmöglich ist, die Wahrheit von Aussagen durch einen Vergleich mit der Wirklichkeit selbst festzustellen, kann man sie nach der Kohärenztheorie der Wahrheit nur bestimmen, wenn man Aussagen miteinander vergleicht. Eine Aussage ist dieser Theorie zufolge dann wahr, wenn sie mit einer Reihe anderer Aussagen, die als wahr akzeptiert wurden, zusammenhängt oder, anders ausgedrückt, Kohärenz mit ihnen aufweist. In ihrer klassischen Form setzt diese Wahrheitstheorie also voraus, daß es Aussagen gibt, deren Wahrheit evident ist und die deswegen 1U Zu Versuchen aus der jüngsten Vergangenheit, die Vorstellung der „direkten" Erfahrung der Vergangenheit zu rehabilitieren vgl. FR. Ankersmit, „Historism and postmodernism: a phenomenology of historical experience", in: History and tropology. The rise and fall of metaphor, Berkeley 1994., und J. Tollebeek/T. Vcrschaffel, „The particular character of history: some remarks on an autobiographical fragment of Augustin Thierry", in: History and Memory 4 (1992) 2, S, 69-95. als Fundament für andere Aussagen dienen können, weiterhin, daß ein Konzept von Kohärenz oder Zusammenhang existiert, über das diese evidente Wahrheit an andere Aussagen „weitergegeben" werden kann. Es ist daher auch kein Zufall, daß die Kohärenztheorie aus dem Rationalismus stammt und daß die Kritik, die zu Recht am Rationalismus geäußert wurde, auch die Kohärenztheorie trifft. Beide Voraussetzungen haben sich nämlich als unhaltbar herausgestellt. Im Gegensatz zu Descartes' Überzeugung gibt es, da alle Verstandesprinzipien angezweifelt werden können, im menschlichen Verstand keine Evidenz. (Deshalb ersetzte der Philosoph Johann Gottfried Herder (3744-1803) Descartes' „Ich denke, also bin ich" ohne weiteres durch „Ich fühle, also bin ich".) Daher bietet der Verstand ebensowenig wie die Sinne ein evidentes, unzweifelbares Fundament oder eine Garantie für Gewißheit." Zudem hat sich „Kohärenz" als ein zu vager Begriff erwiesen.12 Letzterem Problem entkommen Rationalisten nur dann, wenn Kohärenz als logischer Zusammenhang interpretiert wird. Hat man die Aussage „Alle Raben sind schwarz" als wahr akzeptiert, so ist die Aussage „Der Rabe in meinem Garten ist schwarz" auch wahr, unabhängig d