1A°, III. Kulturelle Felder Damit ist ein weiteres Stichwort genannt, das die Machttheorie mit der Kultursemiotik verbindet: die Rolle von interstices oder, noch weiter gefasst, interstitiell emergence,41 das heißt der unvorschbaren Neuerungen, die aus der Interferenz zwischen iVlachtfunktionen und Institutionen, oder semiotisch: zwischen verschiedenen Codes erwachsen. Manns gesamtes Theoriedesign stützt sich auf die historische Wirkmächtigkeit solcher interstitiellen Effekte. All diese Beobachtungen bettet Michael Mann schließlich in ein zyklisches Modell ein, nach dem die Ausbreitung antiker Imperien immer wieder ihren eigenen Untergang nährt. Der entscheidende Mechanismus besteht darin, dass zum Schutz des Territoriums Ressourcen, Knowhow und Befehlsgewalt vom Zentrum zu den march-lords, den Machthabern an den porösen Außengrenzen des Reiches, verlagert werden müssen. Das hat zur Folge, dass sich langfristig die Abhängigkeiten umkehren und an der Reichsgrenze neue Herrschervölker und -dynastien entstehen, die sich die bestehende Infrastrukrur zunutze machen, um schließlich die Macht im Zentrum an sich zu reißen. Auch hier lassen sich Verbindungslinien zwischen Macht- und Zeichentheorie ziehen: Denn die historische Schaukelbewegung, die nach Michael Mann den Takt der Imperien schlagt, bildet ein herrschaftstechnisches Äquivalent zu den Zeichenprozessen, die Lotman zufolge an der Peripherie von Semiosphären wirksam sind. 111.3 Zentren und Peripherien, kalte und heiße Zonen Diese knappe Übersicht sollte genügen, um die Wiederanknüpfung an Jurij l.otman plausibel zu machen. Er bietet die Umrisse einer Theorie, die literatur-, kultur- und sozialtheoretische Ansätze miteinander verbindet. Der Generalnenner dieser Ansätze besteht darin, Beschreibungskategorien für polyzentrische, von Grenz- und Übergangsdynamiken bestimmte, in ihren vielfältigen Strebungen schwach koordinierte und vor allem durch die »Stärke schwacher Bindungen« zusammengehaltener Gesellschaften zu entwickeln.'" In den Modellszenarien, die sich daraus ergeben, stellen Bedeutungsfixierung und Unscharfe, Ordnung und Unordnung, Integration und Desintegration 1113 Zentren und Peripherien, kalte und heiße Zonen 12V> keine strikten Gegensätze dar, sondern sind Komponenten eines beweglichen Wechselspiels. Erst wenn man diese Vorgabe beharrlich in all ihren Implikationen durchdenkt, wird in vollem Ausmaß erkennbar, welche weitreichenden Konsequenzen sie nach sich zieht. Allerdings müssen Eotmans Annahmen weiterentwickelt und in einigen Punkten sogar erheblich kompliziert werden. Wie schon erläutert, zeichnet sich die Semio-sphäre bei Lotman durch zwei Grundmerkmale aus: »Getrenntheit von Äußerem« und »Ungleichmäßigkeit im Innern«.44 Sie definiert sich durch eine gewisse Abschließung nach außen, ist jedoch auch innerhalb dieser Umgrenzung vielfach zerklüftet und von inneren Abstufungen durchzogen. Dabei stellt die Außengrenze selbst »einen notwendigen Teil der Semiosphäre« dar und wird von ihr mitbewirtschaftet. Lotmans Worten zufolge »braucht die Semiosphäre eine >nichtorganisierte< äußere Umgebung und konstruiert sich diese, falls sie fehlt. Die Kultur schafft nicht nur innere Organisation, sondern auch ihren eigenen Typ der äußeren Desorganisation. Die Antike konstruiert sich die »Barbaren«, und das >Bewußtsein' konstruiert sich das »Unterbewußtsein«.<«4S Während die eben zitierte Passage so klingt, als wäre die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, Organisation und Chaos, Kultur und »Barbarei« lediglich eine Konstruktion des Systems, werden an vielen anderen Stellen umgekehrt die transformativen Effekte hervorgehoben, die das Grenzgeschehen auf das Innenleben der betreffenden Kultur ausübt. Die Grenze der kulturellen Semiosis ist also beides, offen und geschlossen, eine Zone der Einwirkung von außen und ein Sammelplatz imaginärer Externalisierungen. Dieser Doppelcharakter der Grenze wirkt auf die Grundspannung zwischen Zentrum und Peripherie zurück, die Lotmans Modell der Semiosphäre beherrscht. Mag sich im Zentrum die Macht massieren, so sind doch die Prozesse in den Randbereichen des jeweiligen Systems unruhiger, dynamischer, variationsfähiger, mit einem Wort lebendiger als am offiziellen Machtpol, um den herum Menschen und Zeichen versteinern.46 Es wurde schon angedeutet, dass Lotman als Professor in Tartu (Estland) hier bis zu einem bestimmten Grad pro domo spricht, weil 130 III. Kulturelle Felder 131 er »als Jude Zugang zu akademischen Positionen nur an einem Ort erhielt, der denkhar weit vom politischen und wirtschaftlichen Zentrum der Sowjetunion entfernt lag. Am äußersten Rande des russischen Imperiums, wo Kontrollmechanismen und Zensurmaßnahmen nachlassen, die Durchsetzungsfähigkeit der zentralistischen Regierung folglich schwächer ist, sind Tartu und seine intellektuelle Szene selbst Teil der Überlegungen zur Semiosphäre, die hier entstehen.«47 Aus diesem biographischen Umstand erklart sich die Einzigartigkeit von Lotmans theoretischer Haltung - trotz gewisser Parallelen zu den Hauptvertretern der postcolonial studies, denen es auf ähnliche Weise um die Aufwertung der Peripherie zu tun war, deren Karriere sie aber in die Zentren der hegemonialen westlichen Wissenschaft führte.48 Lotmans Theorie dagegen beharrt, als Theorie des Marginalen, auf dem subversiven Potential und der Hebelwirkung ihrer eigenen marginalen Position. In seinen Studien über Völker, die vordem als »geschichtslos« bezeichnet wurden, hat Claude Levi-Strauss die bekannte Unterscheidung zwischen >kalten< und >warmen< Gesellschaften eingeführt. >Warme< Gesellschaften »interiorisiercn entschlossen das historische Werden, um es zum Motor ihrer Entwicklung zu machen«;49 dagegen versuchten >kalte< Gesellschaften »jeder Veränderung ihrer Struktur, die ein Eindringen der Geschichte ermöglichen würde, verzweifelt Widerstand zu leisten«.^" Wendet man dieses Gegensatzpaar auf die Analyse der inneren Verhältnisse einer Gesellschaft an und setzt sie zu Lotmans Sphärenmodell in Beziehung, dann stellt die Peripherie die semiotisch >heißere< Zone dar, in der sich Neuerungen ergeben, die nach innen zurückstrahlen und das starre, semiotisch »kältere« Zentrum in Unruhe versetzen. Indes wird man eine derartige Modellannahme nicht ohne weiteres verallgemeinern dürfen. In so reiner Form gilt sie wohl nur für einen bestimmten Typus von zentralistischer Herrschaft - zumal einer Herrschaft, die sich, bereits etabliert, auf eine entsprechend verfestigte ideologische Dogmatik stützt und infolgedessen immer weiter verkrustet.51 Leicht lassen sich, vor allem in Phasen gesellschaftlichen Umbruchs, Gegenbeispiele finden. So war im Frankreich der großen Revolution eindeutig die Hauptstadt Paris der >heißeste< Ort, während in den meisten Provinzen zunächst wenig geschah. Ähnliches gilt, wenngleich mit gewissen Einschränkungen, für das revolutionäre London in den 1640er Jahren. Generell ist innerhalb des Modells eine kategoriale Unterscheidung zwischen Provinz und Peripherie vorzusehen: Während die Provinz sprichwörtlich als Hort der Tradition gilt, der in seinem Konventionalismus erstarrt und insofern eine >kalte< Zone bildet, heißt >Peripherie< die Kontaktzone zu anderen Kultur- und Wissensräumen, in denen unterschiedliche Zeichenkonventionen aufeinanderprallen und zersplittern. Diese Kontaktzone erzeugt einen unablässigen Artikulationsbedarf, der nicht durch fixe Codierungen stillgestellt werden kann. Demgegenüber ist >Provinz< nachgerade ein Synonym für Desartikulation, für das Sprachloswerden eingespielter Formen und Routinen.52 Man muss sich also davor in Acht nehmen, einer Tendenz der postkolonialen Theoriebildung folgend die Vorstellung der kulturellen Randlage zu romantisieren. In der spiegelbildlichen Umkehrung dieses Arguments lassen sich zudem Mechanismen erkennen, durch die der Versteinerung der jeweiligen Zentren entgegengearbeitet wird. Dass sich nicht nur die semiotischen Energien, sondern auch - und keineswegs deckungsgleich - die Ressourcenströme in einem Kulturraum ungleich verteilen, wirkt sich oft dynamisierend auf die Prozesse im Zentrum aus. Das gilt jedenfalls in dem Maß, in dem die Privilegierung des Zentrums eine Art Sog erzeugt, der den Austausch mit >heißen< peripheren Akteuren und Ideen beschleunigt. Dann werden die Kräfte der Kodifikation und Normalisierung im Kern der Semiosphäre, die einen beträchtlichen Assimilationsdruck ausüben, durch exzentrische Gegenkräfte überwogen oder zumindest ausbalanciert. Wann im Einzelfall die Vorgänge an der Peripherie eines politisch-semiotischen Machtraums das Einflussgefalle gleichsam umkippen lassen und einen radikalen Wandel im Zentrum erzwingen, ist eine offene, vom Zusammenspiel vieler historischer Faktoren abhängige Frage. Was ideologische Radikalisierungen betrifft, so werden sie regelmäßig von Gegeneliten vorangetrieben, die den Herrschenden zwar soziographisch nahestehen, aber gerade darum in unnachgiebige Opposition zu ihnen treten. Sie legitimieren ihren Veränderungswillen indessen häufig dadurch, dass sie sich zu Wortführern einer unterdrückten Gruppe am Rand der Gesellschaft erklären. In solchen 132 III. Kulturelle Felder III.3 Zentren und Peripherien, kalte und heiße Zonen Fällen überlagern sich also Dynamiken in einer fernen sozialen Peripherie mit Spannungen in der nahen Peripherie, das heißt in den dis-sidenten Strebungen innerhalb der herrschenden Gruppe. Wenn man das empirische Defizit des Semiosphärenmodells heilen will, muss man es deshalb pluralisieren. Je nach Referenzebene und Größenmaßstab treibt die »Ungleichmäßigkeit im Innern« des semio-rischen Raumes" eine Vielzahl an Zentren und korrelativen Peripherien hervor, so dass zahllose Gravitationsfelder entstehen, die entweder voneinander isoliert bleiben oder in Wechselwirkung treten, sich beeinflussen und durchdringen. Auf einer niederen Stufe raumlicher Integration werden die einzelnen Schauplätze semiotischer Produktivität wie in einer unzusammenhängend besiedelten Landschaft nur geringfügigen Austausch haben und jeweils nur einen dünnen Hof um sich anlagern können. Man hätte eher ein Archipel von raumzeitlichen Inseln vor Augen - Chronotopoi in der Terminologie von Bachtin"4 -, die kaum Nachricht voneinander erhalten und womöglich nicht einmal über eine gemeinsame Verkehrssprache verfügen, so dass alle Kontakte sporadisch, riskant und ihrer erzählerischen Darstellungsform nach abenteuerlich bleiben. Doch auch bei zunehmender Interdependenz und Verkehrsdichte bildet sich keine auf allen Ebenen kongruente Zentralstruktur aus. Politisches, militärisches, wirtschaftliches, religiöses und ideologisches Zentrum eines Machtraumes liegen selten am gleichen Ort und sind weder in denselben Personen noch Institutionen verkörpert. Jedes Funktionssystem prozessiert seinen eigenen Gode; es spielt, wenn man so will, sein eigenes Sprachspiel, wodurch sich wiederum komplizierte Interferenzen an den Rändern der unterschiedlichen Gode-Zuständigkeiten ergeben. >Hitze< entsteht dann nicht nur mit wachsender räumlicher Entfernung vom erstarrten Kern einer Semio-sphäre, sondern bildet sich in den Kollisionszonen, im ungeklärten Grenzrevier zwischen unterschiedlichen Godes - wenn zum Beispiel die Orte der wirtschaftlichen und der politischen Aktivität divergieren, oder wenn ein religiöses Feld sich spaltet und eine komplett neue Grammatik von Zusammengehörigkeiten und Unverträglichkeiten erzeugt. Wobei zu betonen ist, dass das Strukturmuster der Differenz zwischen Kern und Peripherie, stärkerer und schwächerer Regula- tion, >Kälte< und >Hitze< nicht nur auf kulturelle iVlakrosysteme, sondern prinzipiell auf alle semiotischen Operationsebenen bezogen werden kann. Diese Erweiterung des Modells lässt sich durchaus mit Lotmans eigenen Prämissen in Einklang bringen. Seine Theorie wendet sich ja gerade gegen einen semiotischen Atomismus, der auf der Annahme ursprünglich reiner, elementarer Zeichenoperationen beruht. Vielmehr kämen, schreibt Lotman, »in der Wirklichkeit keine Zeichensysteme vor, die völlig exakt und funktional eindeutig und in isolierter Form für sich allein funktionieren. Deren I Ieraussonderung ist nur durch heuristische Erfordernisse bedingt. Für sich genommen wäre nicht eines von ihnen faktisch arbeitsfähig. Sie funktionieren nur, weil sie in ein bestimmtes semiotisches Kontinuum eingebunden sind, das mit semiotischen Gebilden unterschiedlichen Typs, die sich auf unterschiedlichem Organisationsniveau befinden, angefüllt ist.«" In einem anderen Text spricht er von der »>incompleteness<«, der »incomplete regulatedness of culture as a unified semiotic System« als Voraussetzung ihres normalen Funktionierens.56 Die vergleichsweise übersichtliche Bipolarität von Zentrum und Peripherie, die Lotmans Sphärenmodell auf den ersten Blick kennzeichnet, multipliziert sich so entsprechend der Zahl möglicher Kernzonen, in denen sich das semiotische Gebilde verfestigt, und der zu ihnen gehörigen Ränder, in denen es in lose Segmente zerfällt, die sich unter bestimmten Voraussetzungen zu neuen Allianzen zusammenfügen und einen eigenen Gravitationskern erzeugen. Ein Infrarotbild würde hier wandernde Wirbelfelder von blau erkaltenden Strukturkernen und gelb-rötlich leuchtenden Zonen semiotischer Entfesselung wiedergeben. Je nach Auflösung und Zoom würde sich dieses Bild zudem ständig ändern, weil die Ungleichverteilung zwischen rigiden und fluiden Regionen sich in jeder Größenordnung wiederholt-von der Gesamtorganisation einer Kultur bis zur Mikroebene einzelner Idecnkomplexe, die auch aus invarianten und beweglichen Teilen bestehen. Je tiefer man in diesen Raum hineinnavigiert, desto mehr zeigt er sich als ein Gefüge von ineinander verschachtelten, selbstähnlichen Figurationen, die mit jedem Schwenk der Blickrichtung veränderte Farblinien bilden. 1 134 III. Kultureile Felder Semiotische >Hitze< entwickelt sich in Lotmans Modell überall dort, wo der Umlauf der Zeichen aus den Bahnen erwartbarer, durch Routinen abgesicherter Kommunikation ausschert. Wenn die Verständigungsregeln zwischen Sendern und Empfängern ungewiss und volatil werden, ist es jedem einzelnen kommunikativen Akt aufgegeben, gleichsam aus dem Stand seine eigenen Rahmenbedingungen zu verändern und neu zu bestimmen. Die semiotische Ordnung als ganze, die keinen verbindlichen Anhaltspunkt mehr zu bieten hat, scheint dann der Kontingenz eines Handelns aus dem Augenblick heraus ausgeliefert. >Hitze< ist hier die Begleiterscheinung einer Intcr-mittenz, in welcher der Sprechakt in den Sprachcode, die parole in die langue, der Moment in die Dauer, das Geschehen in die Situationsrah-mung einbricht. Zu einem Anstieg der >Betriebstemperatur< kommt es dann, wenn die beiden Seiten einer im Normallauf des Systems stabilen Unterscheidung in einer Art Kurzschluss zusammengeführt werden und unkontrollierte Zirkeleffekte auslösen. Rückkopplungsschleifen in Zeichensystemen An dieser Stelle ist noch ein weiterer heiß/kalt-Parameter in das Modell einzuführen, der eine bisher nicht systematisch berücksichtigte Dimension einbezieht, nämlich die Referentialität von Zeichensystemen. Denn auch in Hinsicht auf die Objektreferenz von Zeichen bietet sich die Thermodynamik als Bildspender an, und auch hier ist >Hitze< als Effekt einer in gewisser Weise irregulären systemischen Rückkopplung anzusehen. >Kalte< Zeichensysteme sind entsprechend dadurch gekennzeichnet, dass die Zeichengebung nicht oder nur schwach mit der bezeichneten Objektsphäre rückgekoppelt ist, dass sich folglich die Zeichen nicht auf die bezeichneten Objekte auswirken. Demgegenüber sind Zeichensysteme umso >heißer<, je stärker der Einfluss ist, den das Sagen und Benennen auf das Gesagte und Benannte ausübt. Zwei einfache Beispiele mögen das veranschaulichen. Die Mineralogie kann als >kaltes< Zeichensystem gelten, weil es Steine unbeeindruckt lässt, wie sie von Menschen genannt werden. Zwar bleibt auch hier das klassifikatorische Raster - wie jede Form von Sprache - kon- lü.3 Zenfen und Peripherien, kalte und heiße Zonen 135 stitutiv für die Ordnung der Gegenstände, jedenfalls in der Form, in der sie sich kulturell appräsentieren. Aber diesseits dieser trans-zendentalsemiologischen Grundgegebenheit besteht in der Gesteinskunde keine Interferenz zwischen Zeichen und bezeichneten Objekten. Ganz anders etwa der Zeichenverkehr an der Börse. Hier wirken sich Beschreibungen unmittelbar oder mit geringer Verzögerung auf die beschriebenen Phänomene aus. Es ist möglich, die Insolvenz einer Firma zu behaupten und dadurch herbeizuführen, Kursgewinne zu prognostizieren und so in einer Spirale der Selbstvalidierung tatsächlich zu erzeugen. Scheinbar rein propositionale Aussagen gewinnen eine performative Entscheidungsmacht und präjudizieren schon durch ihr bloßes Vorhandensein die Wahrheit der Proposition. Hier entsteht also eine Zirkelstruktur zwischen der Ebenen der Aussage und des Ausgesagten, und diese Zirkularität erzeugt semiotische >Hitze<: Nicht nur kalkuliert der einzelne Finanzmarktakteur mit einer irregulären, man könnte sagen: magischen Beziehung zwischen Signifikant (der Information über eine Kaufentscheidung) und Referent (dem dadurch beeinflussten Kursverlauf); er muss dasselbe Kalkül auch bei seinen Mitspielern einberechnen, so dass sich in der schnellen Interdependenz von Beobachtungen zweiter oder noch höherer Ordnung ein hochgradig nervöses, chaotisch-selbstregulatives Kommunikationssystem bildet." Die gewählten Beispiele legen es nahe, >kalte< Zeichenordnungen mit einer Referenz auf außerkulturelle Objekte, >heiße< mit dem Eingriff in laufende soziale Prozesse zu korrelieren. Aber die Differenz heiß/kalt ist auch innerhalb der sozialen Sphäre anwendbar. So führt institutionelle Stabilisierung zu einer Abkühlung der zugehörigen Zeichensysteme, während sich durch Störung institutioneller Routinen die kommunikativen Abläufe erhitzen. Wo Sozialregulative wie Status, Hierarchie oder Arbeitsteilung entweder (noch) nicht bestehen oder massiv beeinträchtigt sind, nimmt auch die Kommunikation ungewissere Formen an: Sie wird zum Medium eines Kampfes um Vorteilschancen, der potentiell jeden Sprechakt gefährlich und mehrsinnig scheinen lässt. Statt sich auf Verabredungen oder eine andere Art der vertragsähnlichen Ausgestaltung von Sozialbeziehungen ver- i36 IV. Modellierung von sozialer Zeit Besonders virulent werden solche Prozesse im Fall eines autkeimenden sozialen Konflikts. Ein Teil der freigesetzten Aggression verwandelt sich dann in epistemische Energie. Je stärker die Polarisierung zunimmt, desto hektischer wird ein Suchlauf nach Präzedenzen und früher gebräuchlichen Differenzmarkierungen gestartet, die in der bestehenden Konfliktsituation strategisch einsetzbar sind. Flankierend werden Pathos massiert und Ironieverbote erlassen, was auch Quellen niederen Ranges verwendbar macht. Den wirksamsten Flankenschutz gegen Anzweiflungen bietet das Argument der Ehre. Unter Berufung auf eine angeblich zu verteidigende Ehre lassen sich die willkürlichsten Fiktionen unwidersprechlich machen, vorausgesetzt dass sich die mythopoetische Frontbildung mit hinreichender Gewaltbereitschaft paart. So kommt es schließlich zu einer Spirale zwischen symbolpolitischer und faktischer Eskalation, in der die Vergangenheit zur Geisel der Gegenwart wird. IV.4 Konfliktnarrative Insofern die Grundoperation des Erzählens darin besteht, komplexe Gegebenheiten in eine sequentielle Ordnung zu überführen, nehmen Narrative in der kulturellen Organisation von Zeit eine Schlüsselrolle ein. Sie verbinden das kollektive Gedächtnis im Widerstreit zwischen Prägung durch die Vergangenheit und rückwirkender Prägung der Vergangenheit mit der Ausgestaltung von zukunftsgerichteten Utopien oder Apokalypsen. Sie sind für die kulturelle Fabrikation von Ewigkeit zuständig und dienen unter entgegengesetzten Vorzeichen als Vehikel für Ästhetiken der Beschleunigung und Disjunktion. Narrative können sich zu Miniaturen zusammenziehen und zu Topoi verkümmern - Verfassungspräambeln etwa sind zwar feierliche, doch in der Regel wortkarge Miniaturen früherer Staatsgründungsmythen -oder aber zu jenen geschichtsphilosophischen grands recits heranwachsen, deren Ende Jean-Francois Lyotard mit der Heraufkunft der Postmoderne gekommen sah.79 Die Erfindung archaischer oder nostalgischer Vorwelten, in denen Modernisierungsprozesse sich negativ spiegeln, ist ebenso ihr Geschäft wie die Ausgestaltung von Binaris- V/l Konfliktnarratve 237 men des Typs entwickelt« oder >zivilisiert< versus >wild< oder >primi-tiv<, mit deren Hilfe die betreffende Epoche sich der für ihr Selbstverständnis wichtigen Distinktionen versichert. Narrative organisieren Herkunft, insofern sie Genealogien und Erbfolgen verwalten, und lassen andererseits im Lärm der neu erfundenen Traditionen die faktisch ermittelbare Vergangenheit dem kollektiven Vergessen anheimfallen. Selbst wo Plötzlichkeit und Ereignishaftigkeit als Einbrüche in die Zeitordnung nicht narrativ assimilierbar sind, stellen Narrative Umwegoperationen bereit, um das Undarstellbare traumatischer Erfahrungen gleichwohl kulturell zu appräsentieren. »Times of conflict are the days of grandeur for collective narrati-ves«, heißt es in einer Studie über coexistence education.m Konflikte mögen sehr realpolitische, nicht selten triviale Ursachen haben und sich am Ende schlicht nach dem Gesetz des Stärkeren entscheiden. Aber es kommt so gut wie nie vor, dass sie lediglich in Hinsicht auf einen bezifferbaren Streitwert thematisiert werden und keinen semantischen Überhang produzieren. Fast immer läuft mit den faktischen Handlungen ein Diskurs der Herleitung und Rechtfertigung der kon-fligierenden Ansprüche mit; noch den gewalttätigsten Akteuren scheint nackte Brutalität, die sich nicht ideologisch bemäntelt, unerträglich zu sein. So wird das Geschäft der Gewalt von einem >Sinnge-schäft< überlagert - jedenfalls überall dort, wo über den jeweiligen Augenblick und Tatort hinaus soziale Koordinationsleistungen notwendig sind. Nur im innersten Zirkel von Tätereliten ist es offenbar möglich, sich solcher Verbrämungen zu entledigen und sich über die reine, eines höheren Sinns nicht bedürftige Zweckrationalität von Durchsetzungsmaßnahmen zu verständigen, ja sich sogar an einem unumwundenen Dezisionismus der Ausübung von Gewalt zu ergötzen.'1" Hier zeigt sich das Gewalthandeln in seiner abgründigsten, dem Verständnis Außenstehender und damit auch jeder Art von sinnvoller Erzählbarkeit gänzlich entzogenen, autotelischen Qualität.1*2 Weitaus häufiger dürfte jedoch ein anderes Szenario sein, in dem eine Vielzahl von Konfliktgründen und Einsätzen so miteinander interferieren, dass eine für alle Akteure unübersichtliche Spannungslage entsteht. >Bedarf an Sinn< erwächst dann nicht, um ein von bestimmten (verborgenen) Zwecken geleitetes Handeln oder gar pure Lust an 238 IV. Modellierung von sozialer Zeit IV.4 Konfliktrwrative 239 Gewalt zu kaschieren, sondern aus der Notwendigkeit, das Feld allererst zu kartieren, in dem sich eine Konflikteskalation abzeichnet: Wer ist Freund, wer ist Feind, wer handelt wie, und aus welchen erklärten oder unerklärten Motiven? Hier beginnen tatsächlich die days of grandeur für kollektive Erzählungen, weil den Erzählungen selbst eine Entscheidungsmacht darüber zufällt, wer zur Wir-Ciruppe gehört, wer abseits steht und wer zum Gegner erklärt wird. Mit anderen Worten, dem Erzählen in Spannungslagen obliegt die Aufgabe, imaginäre Gemeinschaften zu formen, die sich als kollektive Akteure verstehen und deren Mitglieder sich wechselseitig so viel symbolischen Kredit geben, dass sie zu koordiniertem Handeln über Partikularinteressen hinaus imstande sind. Die Stiftung solcher Loyalitäten wiederum wird in dem Mals vordringlich, in dem ein Gefühl der Bedrohung, ob lokalisierbar oder diffus, ein wachsendes Bedürfnis nach Trennschärfe erzeugt. Diesem Bedürfnis kommen narrative Konstruktionen insofern entgegen, als sie in ihrer Suche nach Plausibilitä-ten wenig wählerisch sind. Sie ziehen auf synkretistische Weise alle verfügbaren Evidenzen zusammen und liefern kognitive wie affektive Orientierung zu vergleichsweise geringen lnformarionsbeschaffungs-kosten. Insbesondere sind dabei Techniken der narrativen Generalisierung von Nutzen, die mit dem Modus der Abduktion arbeiten, das heilst vom Einzelfall her vermutungsweise auf das Ganze zu schließen erlauben.s' So lassen sich leicht Bilder eines »verallgemeinerten Fein-des< wie eines 'verallgemeinerten Freundes< erzeugen, die bei hinreichender Dichte durch Gegenevidenzen kaum noch erschütterbar sind. Wie werden Differenzen politisch virulent? Der Punkt, um den sich hier alles dreht, ist die kulturelle Modellierung von Differenz. Nach welchen Regeln werden in unübersichtlichen Konfliktlagen Feststellungen über Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit getroffen, wie kommen die hierfür nötigen Distinktionen zustande, und welcher Mechanismus entscheidet darüber, wen man als >gleich<, das heilst zugehörig, beziehungsweise als >andersartigs das heißt nicht zugehörig, betrachtet? Um diese Frage anzugehen, muss man sich über den Grundmechanismus von Differenzbildung Klarheit verschaffen. Dabei ist zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden: der Ebene sozialer Merkmale, durch die Individuen oder Gruppen sich voneinander abheben, und der Ebene ihrer Klassifikation, auf der solche Merkmale ihre kulturelle Signifikanz erhalten. Schon in einer solchen Ebenentrennung liegt jedoch ein Problem, denn was wären Merkmale ohne Signifikanz? Dieses Problem rührt an die alte sprachphilosophische Frage, wie sich Objektgegebenheiten zu den sie bezeichnenden sprachlichen Ausdrücken verhalten. Beide sind ja nicht unabhängig voneinander als jeweils für sich strukturierte Mengen zu haben. In Anlehnung an eine graphische Darstellung Saussures kann man sie sich wie zwei Wellenschichten vorstellen: in der einen Schicht eine indefinite Menge von potentiellen sozialen Markern, in der anderen Schicht eine flottierende, an solchen Merkmalen Halt suchende kulturelle Semantik. Nur wo ein System von Korrelierungen zwischen beiden etabliert ist, stellen sich distinkte Einheiten, Rasterungen, klassifikatorische Ordnungen her. Nun gibt es im sozialen Raum eine große Zahl von potentiellen Unterscheidungen, die sich keineswegs decken, sondern teils verstärken, teils schwächen, vielfältig überlagern, kreuzen, zuwiderlaufen. Im Prinzip eignen sich solche Merkmale zu unendlichen Kombinationen. Also ist es entscheidend, welche Differenzen aktiviert oder akzentuiert werden {■/.. B. Rassemerkmale) und welche insignifikant, sozial inaktiv Illustration /: Vorstellung und sprachlicher Laut (Signifikant) nach Saussure*4 240 IV. Modellierung von sozialer Zeit ÍV/1 Konf:ikTnarrdtive 24 bleiben (z. B. Links- versus Rechtshändigkeit). Wie kommt es zur Validation bestimmter Distinktionsweisen auf Kosten alternativer Möglichkeiten? Und wie wird darüber entschieden, ob solche Differenzen weich oder rigide gehandhabt werden? Damit wäre eine dritte Ebene -oder wenn man so will, eine dritte Wellenschicht - eingeführt. Ebene 1 betrifft die potentiellen Merkmale; Ebene 2 die Differenzsemantiken und Klassifikationsweisen; Ebene .3 schließlich die Regulative und Praktiken, die für die Ermächtigung/Entmächtigung, Intensivierung/ Abschwächung der verwendeten Differenzsemantiken ausschlaggebend sind. So zumindest in einem vereinfachenden Schema, das in der Praxis durch zahllose Querbezüge durchschnitten wird. Mit dieser zuzugebenermaßen umständlichen Übung werden zwei Ziele verfolgt. Zum einen soll der 'Tatsache Rechnung getragen werden, dass Distinktioncn zwar ein Element von Willkür in sich tragen, sich aber vorzugsweise an vorfindliche Auffälligkeiten heften, mithin nicht gänzlich merkmalsblind sind - was nicht daran hindert, andere Auffälligkeiten, die nicht ins Schema passen, zu ignorieren. In Bezug auf das klassische Problem, wie das Verhältnis zwischen Sozialstruktur und kultureller Semantik bestimmt werden soll, ergibt sich daraus eine mittlere, bewegliche Position: Das Spiel der Bedeutungen ist kein bloßer Widerschein faktischer Gegebenheiten, sondern schöpferisch, sowohl im Konstruktiven wie im Destruktiven; aber es behandelt, anders als der Radikalkonstruktivismus behauptet, den sozialen Raum nicht als leere Projektionsfläche.**5 In welchem Maß die gesellschaftlichen Verhältnisse die Art ihrer Wahrnehmung und Beschreibung bestimmen oder umgekehrt, ist ohnehin nicht ein für alle Mal dogmatisch entscheidbar. In keinem Eall führen geradlinige kausale Bahnungen aus der Welt ökonomisch-politischer Bedingtheiten zu den diskursiven Praktiken der Ein- und Ausgrenzung, sondern verworren geschlängelte Pfade, die auch den Richtungssinn ihrer Beschreiter, ihre Absichten und Selbstdeutungen in Mitleidenschaft ziehen. Zum anderen bringt eine Grammatik der Differenzsetzung, wie sie eben umrissen wurde, einen veränderten Blick auf die Ausformung sozialer Konflikte mit sich. Sie hindert daran, soziale Gruppen vorschnell als fertige Einheiten zu betrachten. Stattdessen setzt sie schon früher an und lässt danach fragen, wie solche sozialen Entitäten sich formen, wie es ihnen gelingt, Leitdifferenzen zu etablieren, die andere Differenzen in den Hintergrund drängen und dadurch dem unendlichen differentiellen Gefüge, das Gesellschaften sind, harte Innen/ Außen-Konturen aufprägen. Wie kommt es, dass Mikrodifferenzen, die in unendlichen Mengen bestehen und deshalb für sich genommen kaum Strukturierungsleistungen erbringen, sich auf einer nächsten Stufe unter Meso-Differenzen versammeln und eingruppieren, die bestimmte Unterschiede hervorheben und andere aus dem Feld der sozialen Wahrnehmung rücken, bis daraus schließlich großformatige Wir/sie, eigen/fremd, Inklusion/Exklusion-Blockbildungen werden? Was bewehrt besonders virulente, um nicht zu sagen: ansteckende Kategorien sozialer Abgrenzung mit der Macht, mögliche andere Differenzen zu >verschluckenAndersmachung< und Aufkündigung von Gemeinsamkeiten mit sich, sondern führt auch stränge bedfellows auf der eigenen Seite zusammen.87 opponierende Konfliktmodelle Fragen dieses Typs können nicht abstrakt-modellhaft beantwortet werden, sondern bedürfen der Analyse der konkreten Umstände im Einzelfall. Die Modellannahmen haben hier allein den Zweck, eine hinreichend voraussetzungsarme und für multifaktorielle Beschreibungsweisen geeignete Terminologie bereitzustellen. Was die nar-rative Godierung von Konfliktlagen angeht, ist es auffällig, dass oft zwei inkompatible Erzählmuster gleichzeitig Anwendung finden. Prototypisch zeigt sich dies in Bürgerkriegssituationen - im zerfallenden Jugoslawien oder in den Kämpfen zwischen Schiiten und Sunniten, die den Irak nach der US-Invasion weiter destabilisierten.88 Die Erfahrungsberichte der Betroffenen handeln häufig davon, wie auf schleichende, schwer erklärliche Weise Risse zwischen Gruppen entstehen, die neben- und miteinander gelebt und sich teilweise sogar ineinander aufgelöst hatten und in einem Prozess wechselseitiger Radikalisierung überhaupt erst lernen müssen, worin ihre eigentliches von den anderen distinkte Identität besteht. Sie erfahren, dass sich 242 !V. Modellierung von sozialer Zeit bisher unmaßgebliche oder schlummernde Linterschiede nun in angebliche kulturelle Bruchlinien verwandeln, die quer durch bestehende Partnerschaften, Familien, Dörfer, Städte, Landstriche oder ganze Staaten verlaufen. Das Narrativ, dessen sich gewöhnlich die Ideologen der streitenden Parteien bedienen, steht unter umgekehrten Vorzeichen. Es greift weit in die Vorgeschichte aus und verpflichtet dazu, den Konflikt als eine mehr oder weniger zwingende Folge naturwüchsiger oder historisch verfestigter Unvereinbarkeiten zu betrachten. In diesen beiden Erzählweisen stehen sich also zwei antagonistische Konfliktmodelle gegenüber, die trotzdem oft eine merkwürdig hybride Allianz bilden und sowohl von den Akteuren als auch von Beobachtern offenbar weitgehend optional eingesetzt werden können. Für das erste Modell liefert in der populären politischen Philosophie Huntingtons clash of civilizations die Blaupause: Es geht von Kulturen im Sinn von kollektiven Identitäten aus, die Gemeinsamkeit Konfliktmodell 1 Ausgangspunkt: kollektiv c Identitäten Problem: Differenz als Konfliktgenerator >Naturwüchsigkeit< von Identität Plausibilität des Konflikts ethnische, kulturelle, religiöse etc. Unvereinbarkeit als Motiv von Konflikten Passivität des kulturellen Gedächtnisses: Vergangenheit determiniert Gegenwart Macht der Tradition Konfliktmodell 2 Ausgangspunkt: Vielfalt von Differenzen Problem: Verhärtung von Differenzen zu konträren Identitäten Durchsetzung einer hcgemonialen Konfliktsemantik Implausibilität des Konflikts nachträgliche Motivierung des Konflikts durch ethnische etc. Faktoren Aktivität des kulturellen Gedächtnisses: Gegenwart schafft sich Vergangenheiten invention of tradition Illustration 8: Schematiche Gegenüberstellung von Kanfliktmodellen IV ■■ Konfliktndrrdtive 74 \ und Gemeinschaft im Innern durch Abgrenzung nach außen erzeugen; es platziert Konflikte vorrangig an den Außengrenzen solcher kollektiven Identitäten, an den Bruchlinien zwischen ihnen; es sieht diese kollektiven Identitäten in langen historischen Entwicklungen verankert, wobei es vor allem endogene kulturelle Prozesse betont. Nach diesem Modell gibt es bestimmte, aus einer langen Geschichte erwachsene, kulturspezifische Merkmale, die es evident machen, wer zusammengehört und wer nicht zusammengehört. Pauschal gesagt, ist hier Differenz das Problem, nicht Identität; und am besten tut man, wenn man andere Identitäten so lässt, wie sie historisch, ethnisch und/oder religiös-kulturell determiniert sind, und ein tolerantes und friedliches Auskommen mit ihnen sucht.*1' Das zweite Modell lässt sich unter anderem mit dem Namen Amar-tya Sen verbinden, der eine Erwiderung auf Huntington verfasst hat.'"' Es ist bis zu einem gewissen Grad die Umkehrung des ersten. Danach bestehen Gesellschaften zunächst einmal aus unzähligen kleinen Unterschieden - Abweichungen, Besonderheiten, Partikularitä-ten -, die an und für sich nicht besonders bedeutungsvoll sind. Statt der großen Weltkarte mit ihren Kulturblöcken, die über Zugehörigkeit und Identität entscheiden, müsste man hier viele mikrodifferen-tielle Karten aufeinanderlegen, je nach Perspektive oder Systemreferenz. Dieses Modell ist also plural, und es geht davon aus, dass jeder eine plurale Identität hat, in vielen Beziehungen steht, die ihn teilweise definieren oder doch Spielräume lassen, dass Menschen unterschiedliche Rollen einnehmen können und in hohem Maß wandlungsfähige Wesen sind. Für dieses Modell ist nicht Differenz das Problem - alles ist Differenz, jedes Leben eine Serie von tausendfachen Unterscheidungen -, sondern die Verhärtung von Differenzen zu konträren Identitäten. Was in Modell I als quasi natürlicher Vorgang erscheint, ist nach Modell II unwahrscheinlich und erklärungsbedürftig: dass die vielen mikrodifferentiellen Gewebeschichten plötzlich entlang einer Linie zu reißen beginnen - dass eine unter den vielen umlaufenden oder möglichen Differenzsemantiken so etwas wie einen Herrensignifikanten errichtet, der nach und nach alle Unterscheidungsenergien auf sich zieht. Modell II zufolge ist das ein struktureller Vorgang, der nicht in erster Linie inhaltlich oder ideolo- 244 IV. Modellierung von sozialer Zeit IV.4 Konfliktnarative gisch motiviert ist. Im Gegenteil, das Zerreißen des sozialen Bandes wird erst nachträglich durch religiöse, ethnische, kulturelle Unvereinbarkeiten erklärt, weil der Riss selbst als ein Attraktor für alle aggressiven Bestrebungen dient, weil er das Spiel von Gewalt und Gegengewalt bis zu einem gewissen Grad übersichtlich macht und organisiert, bis schließlich ein gemischtes Zusammenleben, wie es vorher bestand, unmöglich scheint. Wie man einen Konflikt erzählt, hängt davon ab, wie man ihn erklärt, und umgekehrt. Es bezeichnet den Gegensatz zwischen den beiden Modellen, wie sie das Verhältnis zwischen der Gegenwart und der Vorgeschichte des Konflikts bestimmen. In Modell I steuert die Vergangenheit das gegenwärtige Handeln und Denken der Akteure; sie prägt ihnen die Zugehörigkeiten und Feindschaften auf, und die einzige Variable besteht darin, ob und in welchem Maß die Vorgeschichte sich der Gegenwart bemächtigt. Auch in Modell II gehört es zur erfolgreichen Einrichtung einer hegemonialen Differenz, sie mit der nötigen Anciennität und historischen Tiefe auszustatten. Aber dies gilt hier als ein nachträglicher, mehr noch: als ein rückwirkender Vorgang. Nicht die Geschichte determiniert die Gegenwart, vielmehr sind es umgekehrt die aktuellen Konfliktkonstellationen, die aus dem Fundus der Historie eine Vorgeschichte hervorziehen oder erfinden -Mythen einer verbindenden Herkunft und Identität, die zugleich als mythische Begründung für Feindschaften dienen. Das kulturelle Gedächtnis wird also nicht in seiner passiven, sondern in seiner aktiven Rolle in Anspruch genommen - als Überschreibimg der Vergangenheit unter den Vorzeichen zeitgenössischer Konfliktsemantiken. Der Kausalnexus zwischen Gegenwart und rekonstruierter Vergangenheit verläuft in solchen Fällen in Gegenrichtung zum Zeitpfeil: von der Jetztzeit zurück in eine Vorgeschichte, die nach den Vorgaben des Konflikts akzentuiert, aktiviert, umgemodelt wird. Das Stichwort heißt hier: invention of tradition.L>i (Und genau darin besteht das Geschäft sogenannter Traditionalisten.) Es geht hier nicht allein um die Frage, welche Erzählweise den Verhältnissen in einem konkreten Fall besser entspricht. Noch wichtiger ist, welche Folgen die jeweilige narrative Zurichtung nach sich zieht. Denn die Erzählungen vom Krieg, oder allgemeiner: von gewaltför- migen Konflikten, sind nicht einfach sprachliche Repräsentationen von etwas, das außerhalb von ihnen besteht und folgenlos auf die eine oder andere Weise interpretiert werden kann. Vielmehr dienen sie als »Formatierungsvorlagen«,92 mit denen sich sowohl die Beteiligten selbst als auch die Außenstehenden den Konflikt begreiflich zu machen versuchen und wonach sie ihr Handeln ausrichten. Sie beschreiben also nicht nur, was geschieht, sondern intervenieren in das Geschehen, indem sie ihm ein Deutungsschema und cognitive mapping aufprägen. Es ist deshalb keine harmlose Frage, was und wie erzählt wird und welche Erzählweise sich auf dem jeweiligen Deutungsmarkt durchzusetzen versteht. Von Huntingtons Thesen ist bekannt, dass sie von Ethnonationalisten in Indien und anderswo dankbar rezipiert wurden, deren ideologische Sichtweise bestärkten und dementsprechend einen Mechanismus der self-fulfilling prophecy in Gang setzten.4' So wird eine akademische Diagnose zum Drehbuch für die weitere Eskalation. Solche Rückkopplungseffekte gibt es überall, selbst wo nur die besten Absichten herrschen. Diplomatische Demarchen, die Entscheidung über militärische Intervention und nicht zuletzt die tägliche humanitäre Hilfe vor Ort orientieren sich an den vorherrschenden Konfliktnarrativen. Und genau dasselbe tun die Konflikte auch: Sie reagieren auf ihre Außendefinition und passen sich ihrerseits den Formatierungsvorlagen an. Der Konflikt modelliert die Erzählung, und die Erzählung modelliert den Konflikt. Deshalb ist die Erzähltheorie, so wie sie hier verstanden sein soll, eine politische Wissenschaft. In die Zirkelbeziehung zwischen Erzählung und Konflikt sind zusätzliche Variablen einzutragen, wenn man daraus ein tragfähiges heuristisches Modell ableiten will. Ob eine bestimmte Erzählversion sich gegen konkurrierende Darstellungen durchsetzt oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. Einige davon betreffen den Charakter der Erzählung als solcher: Sie muss an aktivierbare soziale Erfahrungen und kulturelle Gedächtnisbestände anknüpfen und eine Deutungshoheit erringen, die sich zugleich den Anschein natürlicher Evidenz gibt. Eine wichtige Vorentscheidung bezieht sich auf den Erzählanfang, der den Rahmen setzt und auf diese Weise immer auch schon das Problem definiert, das die Erzählung bearbeitet. Besonders 246 IV. Modellierung von sozialer Zeit IV.4 Konfliktnarrative 2-17 in Bürgerkriegserzähiungen ist die Wahl des Anfangs folgenreich, weil von dem jeweils festgelegten Beginn an gleichsam der Zähler des Unrechts mitläuft, das einer Konfhktpartei zugefügt wurde und das ihre Gegenwehr legitimiert.94 Die Kontroverse zwischen möglichen Fassungen des Geschehens findet dabei nicht auf dem Weg einer dialogischen Auseinandersetzung statt (die höchstens in der Einschaltung diskursiver Passagen ihren Platz findet), sondern durch ein aus der Mythologie bekanntes Verfahren, das man als synkretistische Absorption bezeichnen könnte: Lokale Begebenheiten und Traditionen werden in die Episodenstruktur einer weiträumigeren Großerzählung eingebaut, fremde Gottheiten (Mächte, Werte, Ideale) mitsamt ihren Kultpraktiken werden den eigenen assimiliert oder finden einen Aufbewahrungsort in den Katakomben des kulturellen Gedächtnisses (Hölle, Barbarei, Unterwelt, Subkultur). Wie polytheistische Religionen stehen kollektive Erzählungen zwar in einem dichten Austausch miteinander, haben aber jede für sich eine holistische Tendenz: Sie wollen in einem gegebenen Feld alles umfassen und alles erklären. Was sich gegen diesen Anspruch sperrt, wird entweder >weg-erzählt<, als blindes Motiv eingekapselt oder in einen Seitenstrang beziehungsweise an einen Nebenschauplatz der erzählten Flandlung verwiesen. Wenn man sagen kann, dass das Erzählen seiner Gat-tungsbeschaffenheit nach entsprechend der rhetorischen Figur der Synekdoche verfährt - der jeweilige Handlungsverlauf mit all seinen Besonderheiten und Kontingenzen steht in der einen oder anderen Weise für ein größeres Ganzes -, dann dehnt sich die Synekdoche bei mächtigen Kollektivmythen aus, während der sinkende Stern einer Wir-Gruppe sich darin äußert, dass ihre Synekdochen entweder obsolet (im Grenzfall: für wahnhaft erklärt) werden oder im Hinblick auf ihren semantischen Umfang und ihre kulturelle Reichweite einschrumpfen. Dementsprechend haben große politische Mächte nacheinander eine Art Stellvertreterschaft für das Weltgeschehen beansprucht und diesen Anspruch mythologisch untermauert; mit der translatio imperii als einem Modell machtpolitischer Nachfolge ging häufig auch die Übernahme der zugehörigen Erzählbestände einher, die nur den neuen Umständen angepasst, das heißt >umgebucht< werden mussten. Neben solche immanenten Kriterien tritt die Frage, wie sich - potentiell oder faktisch - ein Narrativ im Machtraum einer Gesellschaft positioniert. Welche kollektiven Akteure bringt es ins Spiel, welche Organisationen können daraus ihre raison d'etre gewinnen oder erneuern, und vor allem: Über welche Medien und Institutionen vermag es sich auszubreiten und gesellschaftliche Breitenwirkung zu erlangen? Findet es den Weg in die staatlich sanktionierten Lehrpläne und Schulbücher oder vervielfältigt es sich über gegen- beziehungsweise subkulturelle Kanäle? Das hängt wiederum mit der Frage zusammen, welche Statusgruppen sich einer bestimmten Erzählung annehmen, damit ihr Schicksal verbinden und sie mit der notigen existentiellen Schwere ausstatten."5 Bis zu einem gewissen Grad sind Narrative mit semantischen Investitionen vergleichbar, bei denen hohe Opportunitätskosten anfallen können.911 Das gilt für den Kampf zwischen den Parteien ebenso wie für das Kalkül, das sie im Hinblick auf die Außenwahrnehmung ihres Konflikts anstellen müssen. Dabei ist stets die Wechselwirkung zwischen überregional jeweils begünstigten Konfliktdefinitionen, die bestimmten Konjunkturen gehorchen, und den Selbst-Erzählungen der lokalen Akteure einzuberechnen. (In Zeiten des Kalten Kriegs etwa wurden Konflikte entsprechend der vorherrschenden ideologischen Alternative Kapitalismus/Sozialismus gedeutet, später in vorgeblich ethnische oder kulturell-religiös bedingte Auseinandersetzungen umgeschrieben.) Wer seine Konfliktposition >falsch< erzählt, wer sich als Opfer >falsch< definiert, kann sich von überlebenswichtigen Ressourcen abschneiden. F> passt dann nicht in diplomatische, massenmediale und humanitäre Schablonen. Für die Akteure in Krisengebieten bedeutet dies, dass sie zusätzlich zu dem Durcheinander, als das ihnen die Verhältnisse vor Ort gewöhnlich erscheinen, auch noch das Gemenge der auswärtigen Konfliktdefinitionen im Blick haben müssen-dass ihre Existenz also doppelt auf dem Spiel steht, weil sie um ihre physische und erzählerische Selbstbehauptung zu ringen haben. 252 IV. Modellierung von sozialer Zeit !V.5 Phrasierungen, Laufzeiten ?53 verbunden, doch führt sie keineswegs zwingend zur Modifikation des Narrativs. Wenn ein Paradigma, eine Theorie oder eben ein Narrativ auf eine opponierende Tatsache treffen, geht dies meist zu Ungunsten der Tatsache aus. Das hat den schlichten Grund, dass es in mehrfacher Hinsicht »kostengünstiger« ist, ein Faktum zu leugnen beziehungsweise so weit zu isolieren, bis es keine Signifikanz mehr besitzt, als die Erklärungsleistung eingespielter Vorannahmen in Frage zu stellen. Erst wenn die Kosten der Leugnung das Trägheitsmoment etablierter Erklärungen spürbar überwiegen oder wenn das erklärende System aus anderen Gründen brüchig geworden ist, kommen widerständige Linzeltatsachen zu ihrem Recht. Beharrungskraft von Narrativen Einmal mehr laufen hier erzähltheoretische und epistemologische Problemstellungen zusammen. Im Bereich der Wissenschaftstheorie hat Thomas Kuhn seinerzeit analoge Überlegungen in Hinsicht auf Stabilität und Wechsel wissenschaftlicher Paradigmen angestellt.108 Kuhn zufolge sind es soziologische, genauerhin: institutionssoziologi-sche, nicht im wissenschaftlichen Objekt selbst liegende Gründe, die einen paradigm shift veranlassen. Auch das Erzählen findet unter institutioneilen Rahmenbedingungen statt, wie im folgenden Teil dieses Buches ausführlicher dargelegt werden soll. Im letzten Teil schließlich wird das Verhältnis zwischen Erzähl- und Erkenntnistheorie in seinen noch darüber hinausgehenden Konsequenzen entwickelt werden. An dieser Stelle soll es genügen, einige der Faktoren zu benennen, die für die Beharrungskraft speziell von Narrativen verantwortlich sind. Denn während das >Narrativ< mit dem >Paradigma< (im Kuhn'schen Sinn) den Grundzug der Gruppenabhängigkeit und damit seine soziologische Entfärbung teilt, sind für das Verständnis der Funktionsweise des Erzählens noch weitere Merkmale bedeutsam. Zum einen werden, wie schon öfter hervorgehoben, über das Erzählen affektive Bindungen orchestriert. Ein nicht allein von Gruppeninteressen oder von der Beharrungskraft institutioneller Normierungen, sondern auch von starken Affektbesetzungen getragenes Narrativ ist schwerer zu erschüttern als eines, das nur schwache Bin- dekrafte entfaltet. Zum zweiten ist die Entstchungsdynamik von Narrativen in Rechnung zu stellen, die kraft ihrer Mehrdeutigkeiten und Polyvalenzen große semantische Ressourcen zu mobilisieren vermögen. Man kann sich dies durch das Bild eines narrativen Stromes veranschaulichen, in den von allen Seiten die Nebenarme von Einzelgeschichten, Tropen, Metaphern einmünden, wodurch sich seine Umlaufmasse und Wucht vergrößern. Dies hängt drittens mir der Tatsache zusammen, dass entsprechend »hochdotierte« kollektive Erzählungen auf ihre Realisation, das heißt auf Wirklichkeitsgeltung drängen. Der Abbau einer solchen Wirklichkeitsgeltung kann nur dort gelingen, wo komplementär eine neue narrative Realisierung erfolgt, die Funktionen und, in abgewandelter Form, auch manche der Inhalte ihrer Vorgängerfiguration übernimmt. Weil, mit einer Formulierung Hans Blumenbergs, der Mythos das Vakuum scheut1"1' und der borror vacui eine mächtige Triebkraft des Erzählens bildet, muss eine Lücke im Geschichtengewebe sogleich gefüllt werden. Es herrscht mithin eine Art Summenkonstanz in der narrativen Ontológie: Eine Geschichte entkräften heißt, ersatzweise eine andere Geschichte erzählen.1 111 Viertens schließlich ist auch die epistemische Organisationsleistung von Narrativen zu berücksichtigen. Die Masse des durch Große Erzählungen aufbereiteten Wissens ist so unüberschaubar und das stabilisierende Geflecht ihrer internen Querverweise so dicht, dass sie zu einem eigenständigen, von außen kaum steuerbaren Gravitationssystem werden können. Insofern trägt es erheblich zum Beharrungsvermögen einmal gebräuchlich gewordener Erzählweisen bei, dass ohne deren synthetisierende Kraft große Wissensressourcen verwaisen, weil sie mit ihrer Struktur und Rahmung zugleich ihre soziale Ver-ortung einbüßen. Ähnlich wie Computerdatensätze ohne das Programm, das sie generiert hat, unleserlich würden, ist das Wissen einer Gesellschaft, jedenfalls insoweit es in Gestalt sinnhafter Aggregate vorliegt, in ihren Selbsterzählungen abgelegt und zerfällt, sobald man es aus diesen herauslöst, in unzusammenhängende Kenntnisparzellen. Im Fall von lokalen Überlieferungen betrifft dies lediglich ein mino-ritäres Wissen, das durch solche Isolation seine semantischen Anschlussstellen verliert und erblindet. Die gesellschaftlichen master 254 IV. Modellierung von 502 aler Zeit IV.5 Phrasierungen, Laufzeiten 255 narratives jedoch binden große Mengen an Wissen und sind allein schon aus diesem Grund unentbehrlich. Daraus lässt sich eine Art Trägheitsgesetz von kollektiven Erzählungen ableiten, die ihre nominelle Außerkraftsetzung oft aus dem Grund überdauern, dass immense 'Datensätze durch sie verschlüsselt sind. Dies nicht zuletzt deshalb, weil historisch entstandene Kategorisierungen, etwa entlang von narrativ unterfütterten Kategorien der Nationalität oder Konfession, Relevanzbereiche der Datenerhebung schaffen, die auch noch späteren Historiographien ihr Gliederungsprinzip aufzwängen. Nur oberflächlich, als Sprachregelung ohne soziales Fundament, kann deshalb ein master narrative einfach ausgetauscht werden. Es dauert sehr lange, bis eine neue erzählerische Anordnung das Dickicht der Denkgewohnheiten, institutionellen Rahmungen, der epistemischen Koordinationen von sozialen Funktionssystemen und nachgeordneten Wissensbezirken wirklich durchdringt und neu konfiguriert. In der Regel überlagert sich ein neues narratives Regime den in einer älteren Erzählweise codierten Beständen. Wie alle Innovationen durchwandert es den sozialen Raum nur in langsamen Schüben. Bekanntlich vergehen oft Jahre und Jahrzehnte, bis etwa eine neue Geschichtsdarstellung die Lehrpläne der Schulen erreicht, sich in den Schulbüchern niederschlägt, von den Lehrern akzeptiert wird und schließlich ihre Spuren in die Gedankenlosigkeiten des Alltagsdiskurses, diese wahren Gradmesser eines erfolgten kulturellen Wandels, eingräbt. Überhaupt bietet die Geschichtsschreibung reiches Material zur Illustration des hier beschriebenen Phänomens. Viele Epochenbezeichnungen sind ja Kontraktionsformen von Narrativen. Im Begriff der Renaissance - um ein augenfälliges Beispiel herauszugreifen - wurde dieser Erzählkern von den Zeitgenossen selbst geschaffen und von einer Nachwelt kanonisiert, die von dem Identifikationsangebot, das in der euphorischen Selbstwahrnehmung italienischer Künstler des f 6. Jahrhunderts enthalten ist, gern Gebrauch machte. Vasaris Lehre von den drei Zeitaltern (Altertum, Verfallszeit des Mittelalters, Wiedergeburt der Antike) hat mit ihrem tnumphalistischen Gestus eine in hohem Maß affektiv besetzbare und zur Teilhabe einladende Wir-Form geschaffen. Zugleich erlaubte sie, aus unterschiedlichen Rich- tungen semantische Quellen zusammenzuführen. So ist Vasaris Dreiteilung, wenn auch mit einigen zeitlichen Verschiebungen, zu dem bis heute gültigen historiographischen Grundschema Europas geworden - etwas halbherzig ergänzt um den Begriff einer Moderne, die von sich selbst nicht genau weiß, ob auch sie mit der Renaissance oder erst später begann (und ob sie inzwischen zu Ende ging). Durch die Rubrizierungen von Bibliothekskatalogen, Museumsbeständen und disziplinaren Zuständigkeiten verfestigt und weithin popularisiert, hat die Epochenbezeichnung >Renaissance< eine kaum noch revidierbar scheinende Faltung des epistemischen Feldes bewirkt. Dagegen kommen weder die Selbsterzählungen des sogenannten Mittelalters an, die keineswegs dem Bild einer dunklen, von der Kultur der Antike abgefallenen Epoche entsprechen; noch können sich Versuche dauerhaft durchsetzen, gegen die erfolgreiche Dramatisierung einer kulturellen Zäsur im Cinquecento den Kontinuitäten quer durch die Frühe Neuzeit hindurch stärker zur Geltung zu verhelfen. Solche Gegenerzählungen scheinen allenfalls als kurzlebige Episoden auf, die zu einer Randexistenz in Spezialistenkreisen verurteilt sind, solange es ihnen nicht gelingt, die überwältigende Evidenz der künstlerischen Revolution, die sich in Italien zutrug, kulturgeschichtlich anders zu rahmen und zu perspektivieren. Wenn in den Kapiteln über die räumliche Struktur der kulturellen Semiose das Bild des einheitlichen Gefäßraumes durch ein Schichten-inodell ersetzt wurde, das die unterschiedlichen Reichweiten von Zeichengebilden mitberücksichtigt, dann ist an dieser Stelle dasselbe mit Bezug auf die Laufzeiten narrativer Elemente zu tun. Nur so wird nachvollziehbar, wie Erzählungen über ihren ursprünglichen Ent-stehungs- und Verwendungszusammenhang hinausragen, wie ihre Geltung sich von ihrer Genese verselbständigt und dadurch ihren instrumenteilen Charakter verliert. Dieser Effekt erübrigt viele der fruchtlosen Grundsatzdiskussionen darüber, ob die Sprecher Herren oder Diener der Sprache sind, die sie benutzen. Auch hier ist die abstrakte Dichotomie in gestufte Interdependenz aufzulösen. Zweifellos gibt es innerhalb eines semiotischen Feldes Wahlfreiheit zwischen Alternativen. Doch jedes der zu wählenden sprachlichen Gebilde trägt innere Gesetzmäßigkeiten mit sich, in die sich der Sprecher involviert, 256 IV. Modell eruny von sozialer Zeit IV.5 Phrasieaingen, Laufzeiten 25? ob er das will oder nicht. In dem hier erörterten Zusammenhang manifestiert sich dies im Spannungsgefüge zweier Zeitformen: Wie alle kulturellen Erzeugnisse sind die Bausteine eines Narrativs den Zufällen ihrer jeweiligen historischen Nutzung ausgesetzt. Gegenüber dieser äußeren Zeitlichkeit ist in sie jedoch auch eine innere Zeitlichkeit eingefaltet - in Gestalt eines bestimmten kulturprägenden Sequenzmusters, das weit über den Bewusstsemshorizont ihres Anwenders hinausreichen kann und diesen zur abhängigen Größe seiner eigenen Anwendung macht. Wer >Renaissance< sagt, verwendet nicht bloß einen Begriff, der in der Souveränität seiner Wortwahl steht, sondern schreibt sich in eine imaginative Struktur ein: in ein mythenähnliches Initiationsdrama von Ursprung, Selbstverlust und Wiedergeburt. Wer ein noch nicht erobertes Land als >jungfräulich< bezeichnet, entscheidet sich damit, in welcher Absicht auch immer, für den Gebrauch einer assoziationsreichen Metapher; doch diese Metapher und das Drama erotischer Überwältigung, das sie impliziert, ist für einen bestimmten Typus von Männlichkeit so suggestiv, dass sie zu einem eigenen Antriebsmoment von Handlungen zu werden vermag - vielfach belcgbar in den Phantasmen kolonialer Landnahme"1 mitsamt ihren tourismusindustriellen Spätfolgen. Zwar wird situativ der Gebrauch von Sprachbildern und narrativen Versatzstücken durch vorhandene Interessen oder pragmatische Erfordernisse bestimmt; aber auf der Ebene der longue duree wohnt solchen Sprechweisen eine dramaturgische Kraft inne, die Aufmerksamkeit und Wunschrichtung steuert und dementsprechend Einfluss auf die Definition von individuellen Handlungszielen ausübt. Tempi, Phrasierungsbögen Kulturprägende Erzählungen sind Konglomerate, die, von dem leicht in andere Kontexte transferierbaren Mikroplot einer Metapher bis hin zum großen epischen Bogen von Geschichtsnarrativen, simultan mehrere Phrasierungsbögen und damit Stufen von Zeitlichkeit in sich bergen. Deshalb sprechen sie ein potentiell breites Spektrum von Adressaten an: in ihrem episodischen Kern, mit kurzer Verfallszeit, die Gruppe der unmittelbar Betroffenen; in ihrer synekdochischen Ausweitung all diejenigen, die sich in einem übertragenen Sinn als adressierte Wir-Gruppe verstehen. Eine Bedeutungsschicht nach der anderen lagert sich um einen für sich genommen kontingenten Erzählanlass. Parallel dazu vergrößert sich der Personenkreis, für den die Erzählung bestimmt scheint und der am Geschehen teilhat. So werden imaginäre Gemeinschaften zwischen Personengruppen gestiftet, die in den unterschiedlichsten Zeitwelten beheimatet sind. Für die Analyse von narrativen Laufzeiten ist besonders der Stabilisierungseffekt von Bedeutung, der sich aus dem Übereinander-ge-spannt-Werden mehrerer ungleicher Phrasierungsbögen ergeben kann. Kaum eine Rezeptionsgeschichte, die ja immer auch eine Kette von Weitererzählungen ist, führt das so eindrücklich vor wie diejenige des Neuen Testaments: Einer schwangeren Frau mit ihrem Beschützer, später einem Häufchen von Jüngern aus Galiläa gesellen sich, durch das Zaubernlittel einer imaginären Kopräsenz, Gläubige aller Zeiten und aus aller Welt zu, schreiben sich in die Erzählung ein und vervielfältigen sie sowohl durch Weitererzählen wie in ihren praktischen Lebensentwürfen.112 Der >große Sinrx (in dem zuletzt angesprochenen Fall: die heilsgeschichtliche Dimension der Jesus-Geschichte), der einem Narrativ durch angelagerte Bedeutungsschichten zuwächst, konserviert episodische Einzelheiten, die andernfalls schnell aus dem kulturellen Gedächtnis eliminiert worden wären, wird aber auch durch deren textkritische Anzweiflung nicht wirklich gefährdet - gemäß dem Gleichnis der anagogischen Stufenleiter, die man am Ende wegstoßen kann. Die erzählerischen Details, die dem unmittelbaren Kontext verhaftet sind (Eigennamen, historische beziehungsweise fiktiv historische Umstände), leihen dem großen narrativen Bogen nicht nur Lokalkolorit und effets de reel, sondern verschaffen ihm überhaupt die prägnanten Momente, ohne die er die Einbildungskraft nicht fesseln könnte. In der Oszillation zwischen beiden Temporalitä-ten entsteht ein Bedeutungsraum, in den sich erzählerische Zusätze von mittlerer Reichweite (apokryphe Traditionen, Legenden) einspeisen lassen. Verliert der umfassende heilsgeschichtliche Zusammenhang seine Kraft, dann zerbricht auch das tragende Sinngerüst der legendarischen Überlieferung, und riesige Traditionsbeständc, die zu- 32.8 V. Narrative urd Inst tutionen legt. Wenn Gehlen die Ideen mit »Institutionen des Gedankenvolkes« vergleicht,107 dann können mit gleichem Recht, wie weiter oben schon angeführt,""* Kollektivsymbole und narrative Schematisierungen als Proto-lnstitutionen im Bereich der semiotischen Ordnung betrachtet werden. Aber die semiotische Ordnung kann für sich allein nicht bestehen; sie muss institutionell implementiert werden, um kollektive Verbindlichkeit zu erlangen. »Die Institutionen einer Gesellschaft«, schreibt Gehlen, »sind es also, welche das Handeln nach außen und das Verhalten gegeneinander auf Dauer stellen; auch die höchsten geistigen Synthesen, die >idees directrices<, dauern nur so lange, wie die Institutionen, in denen sie gelebt werden.«104 An anderer Stelle heißt es bei ihm: »In den überideellen Zustand tatbegründender Selbstverständlichkeit kommen die großen Gedanken nur als Inhalte von Institutionen.« 1111 Institutionen, nicht etwa charismatische Individuen lassen eine Idee zur unumstößlichen gesellschaftlichen Realität werden -mit einer so überwältigenden Evidenz ausgestattet, dass der Einwand, es handle sich bloß um ein aus gewissen historischen Umständen hervorgegangenes Zeichenkonstrukt, wirkungslos bleibt. Was das Erzählen betrifft, so folgert daraus, dass es keine narrato-logische Analyse in einem umfassenderen Sinn geben kann, die nicht auch den institutionellen Gegebenheiten Beachtung schenkt. Die Erzähltheorie wäre machtblind, würde sie Fragen der Instituierung der erzählenden Rede ausklammern: Wer spricht, von welchem Ort aus, unter welchen normativen Voraussetzungen, die seine Erzählweise konditionieren, in welcher (autoritativen oder subalternen) Position und in welchem Rahmen? Wie ist die Zulassung zur Rede geregelt, handelt es sich um ein Sprechen im eigenen Namen (und welcher Art ist dieser ermächtigende Eigenname?) oder >im Namen von ...<, und wer ermächtigt dann zu dieser Stellvertretung? Erst die institu-ierte Rede verschränkt Wort und Tat dauerhaft miteinander. Wobei es zu den Besonderheiten des Verhältnisses zwischen Narrativen und Institutionen zählt, dass beide von derselben kommunikativen Substanz zehren, dass »festen Rahmen und >flüssige< Rede nur verschiedene Aggregatzustände eines einzigen Grundelements sind - oder, anders gewendet, dasselbe Grundelement in unterschiedlichen Formen der Zeitlichkeit. VI. Epistemische Narrative VI.1 Wissen und Erzählen. Kulturelle Organisation von Fremdreferenz Den Anstoß für das vorliegende Buch gab die Beobachtung, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine starke Konvergenz zwischen Literaturtheorie, Kultursemiotik und Wissensgeschichte abzeichnet und dass dies mit der Karriere des Begriffs >Erzählung< zusammenhängt, der lange einen Gegenpol zu wissenschaftlichem Wissen markierte. Er hat seine literarische Domäne verlassen und seinen Geltungsbereich immer weiter ausgedehnt: in die soziale Praxis, die Rekonstruktion kollektiver Vergangenheiten, die Legitimation politischer Ziele und Ist-Zustände, ins Recht, in das Handeln ökonomischer Akteure und nicht zuletzt in die wissenschaftliche Selbstreflexion, wo er inzwischen sogar bis in die Geschichtsschreibung der »hartem, exakten Naturwissenschaften vordringt.1 Grundlage für diese erfolgreiche Expansion ist die Einsicht, dass Narrative ein wesentliches Element in der Organisation von Wissensordnungen sind. Demnach stehen Erkennen und Erzählen nicht, wie es das klassische Ideal von Wissenschaftlichkeit nahelegt, zwingend im Widerspruch. Narrative Techniken sind auf mehreren Ebenen der Wissensproduktion wirksam. Sie werden außerwissenschaftlich verwendet, um mehr oder minder abstrakte Theoriebefunde für ein breiteres Publikum zu illustrieren - um Expertenwissen ins Allgemeinsprachliche zu übersetzen, es mit Plausibilität zu versehen und ihm zu gesellschaftlicher Akzeptanz zu verhelfen. In solchen Fällen scheint die narrative Aufbereitung gewonnener Erkenntnisse deren eigentlichen Kern nicht zu berühren. Doch ist das Erzählen nicht auf die Rolle des Maklers zwischen Experten- und Laienwissen beschränkt. Denn auch innerwissenschaftlich ist die Organisationskraft von Er- 330 VI. Episterriische Narrative VI. I Wissen und Erzählen. Kulturelle Organisation von Fremdreferenz 331 zählungen vielfach unentbehrlich. Sie leiten zu Beobachtungen an, legen Zusammenhänge und Querverbindungen nahe und fügen zerstreutes Einzelwissen zu kohärenten, sinnhaften Abläufen zusammen. Zuweilen zeigen sogar vollständige Theorien, etwa die Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts, die Merkmale einer narrativen Struktur. Das Erzählen ist dann keine Zutat zur >reinen< Wissenschaft, sondern eines ihrer Verfahren der Datensynthese; demzufolge sind genuin wissenschaftliche Erkenntnisprozesse, zumindest in Teilen, erzähltheoretisch reformulierbar. Die epistemische Leistungsfähigkeit des Erzählens in einem solchen Maß auszudehnen, schafft jedoch ein doppeltes Problem. Auf der einen Seite geht damit der Wissenschaft das Bündel der Leitunterscheidungen verloren, auf Grund derer sie sich in der europäischen Neuzeit als eigenes System konstituierte und ihren großen Siegeszug antrat: das Vermögen, einen kategorischen Abstand zwischen der Autorität der Fakten und der Autorität der Tradition, zwischen experimentell überprüfbaren Tatsachen und bloßen Meinungen oder zusammengereimtem FEilbwissen, zwischen Wahrheit und Mythologie zu erzeugen. Auf der anderen Seite ist die Erzähltheorie, die innerhalb der Literaturwissenschaft hauptsächlich aus der Behandlung mit poetischen Texten hervorging, auf einen derartigen Kompetenzzuwachs nicht vorbereitet gewesen. Insbesondere ist das Begriffspaar von fak-tualem und fiktionalem Erzählen nicht hinreichend nuanciert, um Differenz und Ineinanderwirken, Trennungsgeschichte und immer wieder erneuerte Synergien zwischen faktographischen und fiktiona-len Darstellungsverfahren nachvollziehbar machen zu können. Schon in der Analyse literarischer Texte sind Zusammenspiel wie wechselseitige >Umnutzung< beider Erzählweisen weitaus komplexer, als es zunächst den Anschein haben mag: zum einen, weil auch die Darstellung wirklicher Geschehnisse sich im weitesten Sinn ästhetischer Mittel bedient; zum anderen, weil selbst die freiesten poetischen Fiktionen auf ihre Weise weltlialtig sind und überdies reichen Gebrauch von faktualistischen Schreibweisen machen. Umso schwieriger gestalten sich die Verhältnisse, wenn man die poiesis der Gesellschaft als ganzer ins Auge fasst, deren schöpferisches Vermögen die res fictae, erfundene und gemachte Dinge, in res factae, sozial unabweisbare Tatsa- chen, verwandelt. Und dies ist wiederum kein irreversibler Vorgang, denn ebenso schnell kann eine machtvolle soziale Ubereinkunft am Ende ihrer Laufzeit zu einem Hirngespinst ihrer Erfinder und Gläubigen zurückschrumpfen. Bei genauer Beobachtung verfugen soziale Tatsachen über keinen eindeutigen Status auf der einen oder anderen Seite der Unterscheidung, sondern wandern, je nach der auf sie einwirkenden Umfelddynamik, über einer fließenden Grenze hin und her. Auf ähnliche Weise ist auch der kategoriale Gegensatz zwischen Erzählung und Begriff, auf dem alle Bestrebungen zur Entmythologi-sierung, epistemischen Reinigung und Verwissenschaftlichung aufruhen, in seiner strikten Form nicht aufrechtzuerhalten. Wie bereits dargelegt, steckt in vielen Begriffen, als für das menschliche Weltverständnis unentbehrlichen Gedankenwerkzeugen, ein miniaturisiertes beziehungsweise stillgestelltes Narrativ. Man kann die Bedeutungsreichweite von Begriffen in all ihren Dimensionen nur dann vollständigermessen, wenn man die metaphorisch-narrativen >Ladungen<, die sie kontrahierend in sich aufnehmen und bearbeiten, in das Gesamtbild einbezieht.2 Ein kultursemiotischer Ansatz führt hier zu Resultaten, die herkömmlichen Begriffsmetaphysiken diametral widersprechen. Er zeigt erstens, dass sich Begriffssysteme - wie alle kulturellen Zeichengebilde - ungleichmäßig über unebene und diskontinuierliche Wissensräume verteilen; zweitens, dass sie infolgedessen unvollständig und inkonsistent sind; und schließlich drittens, dass diese Inkon-sistenz eine notwendige Bedingung ihrer kulturellen Leistungsfähigkeit darstellt und elementare soziale Funktionen erfüllt. Dieser Aspekt soll im Folgenden noch vertieft werden. Trotz oder vielmehr wegen des Wirklichkeit konstituierenden Charakters von Erzählungen bleibt jedoch der Einwand bestehen, dass das Erzählen, was seinen Wahrheitsgehalt angeht, eine notorisch unzuverlässige Aktivität ist und nicht ohne Grund aus dem Kreis seriöser wissenschaftlicher Verfahren hinausgedrängt wurde. Zwar teilt es seinen Grundzug der ontologischen Indifferenz5 mit dem Denken und der Sprache als solchen, die auch alle möglichen Gegenstände vorstellen und benennen, gleichgültig ob sie existieren oder nicht. Doch während man der Sprache als reiner Potentialität, als Matrix der Er- VI. F pistemische Nanative VI.1 Wissen und Erzählen, Kultuielle Organisation von Fremdreferenz möglichung jedweder Aussage, zumeist nachsieht, dass sie kein intrinsisches Realitätszeichen kennt, steht das Erzählen unter dem Verdacht der Lüge - mehr noch (jedenfalls in der europäischen Tradition) als das Bild, das nicht erst seit Piaton auf einen vergleichbaren Vorbehalt trifft und auf analoge Weise immer wieder Anlass geboten hat, vor den Verführungskünsten der Phantasie zu warnen. Eigenweltlichkeit und Außcnweltbezug von Zeichengebilden An dieser Stelle ist noch einmal eine allgemeine Bemerkung zur Funktionsweise von Zeichengebilden einzuschalten. Je nachdem, unter welchem Gesichtspunkt man solche Gebilde betrachtet, erscheinen sie als selbstbezügliche Medien oder als Instrumente der Repräsentation (abgesehen von anderen möglichen Funktionen). Diese beiden Aspekte sind komplementär und stehen doch in Spannung zueinander. Als Medium aufgefasst, sind Sprachen Systeme, die eine unab-zählbare Menge interner Verknüpfungen erlauben, ohne dass jeder sprachlichen Operation ein Korrelat in der außersprachlichen Wirklichkeit zukommt. Natürliche Sprachen bestehen aus einer Verkettung von Phonemen, Morphemen, Lexemen und Sätzen, die auf jeder Stufe bestimmten Selektionen unterliegt, die allein den Regeln der Sprache als Sprache gehorchen. In dieser Hinsicht beziehen sich die Zeichen also nicht auf Weltsachverhalte oder Ich-Zustände, sondern auf andere, vor- oder nachlaufende Zeichen; das ist der Beziehungsmodus der linguistischen Inferenz.4 Unter dem Gesichtspunkt ihrer Repräsentationsfunktionen betrachtet, tritt diese ßinnenbezüglich-keit von Sprachen jedoch hinter ihrem referentiellen, im Grenzfall deiktischen Charakter zurück. Der inferentielle Operationsmodus von Sprachen, sosehr er von deren Eigentümlichkeiten und geschichtlichen Entwicklung abhängig ist, hindert sie nicht daran, als Darstellungsmittel nutzbar zu sein, mit deren Hilfe man die Welt ordnen und sich über außersprachliche Gegebenheiten verständigen kann. Im Übrigen liegt die gleiche Doppelstruktur von Eigenweltlichkeit und Außenweltbezug, wie schon angedeutet, auch der Gedankentätigkeit und überhaupt den Aktivitäten des neurosensorischen Apparats zugrunde.s Das hat zur Folge, dass Außenweltstimuli nur nach Maßgabe der internen Verarbeitungskapazitäten prozessiert und insofern unvermeidlich >verfälscht< werden. Andererseits stellt erst der Selbstbezug des kognitiven oder semiotischen Systems, der solche >Verfälschungen« bewirkt, die Voraussetzungen dafür her, dass überhaupt etwas wahrgenommen oder benannt werden kann. In einer Sprache, die unter dem strikten Diktat von Außenweltimperativen steht, wäre es nicht einmal möglich, primitive Begriffe zu bilden, die ja Generalisierungen sind, in der Art ihrer Verallgemeinerung von Nachbarbegriffen abhängen und als solche über kein empirisches Äquivalent verfügen. Eine Sprache, die nicht als eigenweltliches Medium Unabhängigkeit von der Macht der Dinge erlangt, könnte folglich auch kein Instrument von Objektrepräsentation sein. Dieselbe Eigenschaft, die Sprache daran hindert, die Welt, wie sie >wirklich ist«, zu repräsentieren, macht einen symbolischen Wcltzugang allererst möglich. Nicht nur schließen sich Inferenz (das heißt: interne Bezüglichkeiten zwischen den Zeichen) und Referenz (Bezugnahme auf außersprachlich Bezeichnetes) wechselseitig nicht aus; sie bedingen einander sogar/' Das mag eine schlichte Feststellung sein, die aber viele sprachtheoretische Kontroversen zumal des 20. Jahrhunderts erübrigt. Womit nicht geleugnet sein soll, dass es sich um ein intrikares Verhältnis handelt, weil sich beide Bezugnahmen, sosehr sie voneinander abhängen, zugleich bis zu einem gewissen Grad wechselseitig zu entkräften scheinen. Was soeben für Zeichengebilde im Allgemeinen entwickelt wurde, trifft vielleicht in einem besonderen Maß auf den Zeichengebrauch in Erzählungen zu. Sie sind aus Sprache geschöpfte und im Vergleich zu elementaren Sprechakten hoch aggregierte Gebilde, zu deren Eigentümlichkeiten die Freiheit gehört, ohne jeden Bruch ihre Bindung an die wirkliche Welt zu lockern oder ganz aufzulösen. Faktualität lässt sich zum Erzählen hinzuschalten, ohne dass der Erzählvorgang dadurch modifiziert werden müsste; bis auf wenige, noch dazu unzuverlässige Marker funktionieren Erzählungen auf gleiche Weise, ob ihre Gegenstände nun vorhanden oder erfunden sind. Weil die Sogkraft einer Geschichte sich in dem Maß steigert, in dem sie ihre Eigenwirklichkeit intensiviert und dazu einlädt, sich in die erzählte Welt zu verlieren (Immersion), bringt das Erzählen einen Realismus eigener Art 334 VI. Epistemische Narrative mit sich, der vielfach von Effekten der Mimikry an eine extradiegeti-sche Wirklichkeit zehrt. Deshalb bestehen erfolgreiche Erzählstrate-gien weniger darin, die Evidenz des Faktischen abzuwehren, als sie zu absorbieren. Fiktionen sind daraufhin angelegt, sich in Richtung auf eine angenommene oder vorgespiegelte Faktizität hin zu überschreiten. Ohne ein Minimum an kompositorischer Freiheit kommt indessen auch der treueste Faktenbericht nicht aus, wenn er elementare Anforderungen an Stimmigkeit und Sinn zu erfüllen versucht. Gestaltungsfreiheit im Hinblick auf die Überfülle ungeordneter empirischer Daten hat dabei nicht unbedingt etwas mit Willkür zu tun. Inferenz, also das Gewebe interner Relationen innerhalb einer Zeichenwelt, heißt erzählerisch zweierlei: erstens Erzeugung eines zwingend scheinenden Ablaufes, in dem alle tragenden Elemente der jeweiligen Geschichte einen Platz finden; zweitens Bekräftigung durch den Bezug, implizit oder explizit, auf andere Geschichten. Gewöhnlich werden nicht diejenigen Erzählungen für besonders realistisch gehalten, die Wort für Wort den Tatsachen entsprechen, sondern die sich auf plausible Weise gegen mögliche Einsprüche und Alternativen abdichten und zudem Rückendeckung bei allgemein anerkannten Plot-Konventionen suchen. Die Überzeugungskraft einer Geschichte hängt mithin sowohl von ihrer Absorptionsfähigkeit im Hinblick auf das in sie hineingebrachte Faktenmaterial wie von der Mächtigkeit erzählweltlicher Kontexte ab, auf die sie sich inferentiell stützen kann. Dies gilt auch und gerade da, wo allen beteiligten Akteuren klar ist, dass es auf die wahrheitsgetreue Wiedergabe faktischer Abläufe ankommt. In ihrer Studie Reconstructing Reality in the Courtroom legen Bennert und Feldman dar, in welcher Weise die gerichtliche Wahrheitsfindung - ganz abgesehen davon, dass der vor Gericht ermittelte »objektive« Tatbestand in hohem Maß durch juristische Prozeduren vorgeprägt ist - empirische und narrative Evidenzen verschmelzen lässt: Judgments bascd on story construction are, in many important rcspects, unverifiable in terms of the reality of rhe Situation that the story represents. Adjudicators judge the plausibiliry of a story aecording ro certain struetu-ral relations among Symbols in the story. Although documentary evidente VI.1 Wissen und Erzählen. Kulturelle Organisation von Fremdreferenz 335 may exist to support most symboli/.jtions in a story, both the teller and the interpreter of a story always have some margin of control over the definition of certain key symbols. Therefore, stories are judged in terms of a combination of the documentary or »enipirical« warrants for symbols and the internal structural relations among the collection of symbols presented in the story. In other words, we judge stories aecording to a dual standard of »did it happen that way?« and »could it have happened that way?«. In no ease can »enipirical - standards alone produce a completely adequate judgment |...|.« Ohne dies eigens hervorzuheben, greifen die Verfasser auf ein altehrwürdiges Kategorienpaar der aristotelischen Poetik zurück - dort aufgeteilt auf die Rollen des Geschichtsschreibers und des Dichters, von denen »der eine erzählt, was geschehen ist, der andere, was geschehen könnte«" oder, so wäre hier zu ergänzen, was geschehen sein könnte. E>s handelt sich dabei jedoch, wie Bennett und Feldman zeigen, eher um eine Koproduktion als um eine strikte Alternative. Beide Verfahren sind gleichzeitig in Anwendung, sowohl die Frage nach empirisch beweisbaren Fakten als auch die andere, ergänzende beziehungsweise abkürzende Frage nach Plausibilität und (inferenriellcr) Konsistenz. What makes a particular fact or hit of evidence take on meaning in a case is not its physical form, the credibility of die witness who introduced it, or the corroborating testimony of several witnesses. These things all play important roles when we weigh evidence and assess its reliability, but they do not determine its significance. What makes a fact or piece of evidence meaningful in a particular case is its contextual role in the stories that make up the case.'' Glaubhaftigkeit, nicht Objektivität ist das entscheidende Erfolgskriterium.10 Sie kommt nicht allein dort zur Geltung, wo die empirischen Evidenzen lückenhaft sind, sondern auch wo sie einer deutenden Synthese bedürfen, die anders als erzählerisch nicht zu erzeugen ist. Aber dieses Mittel der Wahrheitsfindung kann eben auch der Perpetuie-rung von Lügen dienen, die sich in das Gewand einer plausiblen story kleiden, das heißt durch einen starken inferentiellen Zusammenhang absichern und gleichsam naturalisieren.1' 336 vi. Epistemische Narrative VI. 1 Wissen und Erzählen. Kulturelle Organisation von hremdrefererv 337 Erzähltheorie als Erkenntnistheorie Auch wissenschaftliche Theorien sind in ein Netz inferentieller Bezugnahmen eingebettet. Ihr primäres Anliegen besteht gewöhnlich darin, in sich selbst widerspruchsfrei und logisch unangreifbar zu sein. Einen kaum geringeren Faktor in ihrer Genese macht die Konfrontation mit 'feindlichen' beziehungsweise die Anlehnung an befreundete' Erklärungsmodelle aus. (Hier kommt die Sozialdimension von Zeichenoperationen ins Spiel, von der im folgenden Kapitel ausführlicher die Rede sein soll.) Selbst von naturwissenschaftlichen Theorien ist deshalb gesagt worden, dass sich ihre Formierung weniger dem Dialog mit der Natur als »mit den Mitgliedern anderer Schulen« verdankt.12 Denn die empirische Welt, über die Aussagen zu treffen sind, ist ja nicht einfach zuhanden, sondern das selektive Erzeugnis einer theoriegeleiteten Aufmerksamkeit. Insofern ist auch die Ordnung des wissenschaftlichen Wissens doppelt codiert: Die Wahrheit einer Aussage bemisst sich einesteils an ihrer inferentiellen Stimmigkeit, im Abgleich mit anderen als gültig anerkannten Aussagen, andernteils an ihrer referentiellen Richtigkeit, das heißt ihrer Uber-prüfbarkeit am Objekt. Diese doppelte Konditionierung des Wissensfeldes spiegelt sich darin wider, dass sich seit langem zwei Typen von Wahrheitslehren, heute unter den Namen Kohärenz- beziehungsweise Korrespondenztheorie der Wahrheit geläufig, im Wettstreit miteinander befinden. Bezeichnenderweise ist es bisher keiner von beiden gelungen, einen bleibenden Sieg davonzutragen. In vielen Hinsichten ergänzen sich beide Wahrheitsformen - prominent in der Symbiose der modernen, experimentell >extrovertierten< Naturwissenschaften mit der Mathematik als rein inferentiellem System. Indessen zeigt auch die Geschichte der modernen Wissenschaften, dass Theorieabhängigkeit und Beobachtungsabhängigkeit selten ohne weiteres zur Deckung zu bringen sind, sondern zu Zickzack-Bewegungen, zu Spaltungen des disziplinaren Feldes oder zu Patt-Situationen innerhalb des gemeinsamen Relevanzbereichs führen können." Was unterscheidet, in diesem Licht betrachtet, narrative Fassungen eines Sachverhalts von anderen, wissenschaftlich anerkannten Repräsentationsweisen? Als Zeichengebilde sind Erzählungen durch ein weites und wenig reglementiertes inferentielles Bezugsfeld gekennzeichnet, und zwar sowohl im Hinblick auf die Eigenwelt der jeweiligen Geschichte als auch auf all das, was sonst erzählt wird. Ihrer Tendenz nach holistisch, spielen sie auf der Klaviatur der in ihrem Material enthaltenen Polysemien, um möglichst viele potentielle Bezüge in sich zu versammeln. Dadurch lassen sie Überdeterminationen entstehen, die sowohl einer affektiven Mobilisierung als auch dem Streben nach einer dichten tentativen Kausalität14 dienlich sind. Ihr Widerstand gegen arbeitsteilige Spezialisierung und ihre rasche Improvisationsgabe erleichtert es ihnen, mit vergleichsweise geringem Aufwand niederschwellige Verknüpfungen herzustellen. Dann stehen sie dem Assoziationsreichtum natürlicher Sprachen näher als rigide, durch Restriktionen institutioneller und epistemischer Art gegen eine vorschnelle >Vergemeinschaftung< sperrig gemachte Wissenssysteme. Obwohl ihrer Natur nach dem Einzelfall zugewandt, finden sie doch Mittel und Wege - durch >Denksprünge< per analogiam, durch geschmeidige Einflechtung von Fremdkörpern in ihre Episodenstruktur -, ein hohes Maß an Konnektivität herzustellen. Im Zeichenuniversum der Kultur bilden sie krafr dieser Eigenschaften ein verflüssigendes Element; entsprechend bereitwillig bieten sie sich als Trägermedium an, um geeignete Sequenzmuster quer über die Grenzen zwischen Wissensbereichen hinwegwandern zu lassen. Die Genugtuung, einen imaginativen Zusammenhang zu stiften, ist dabei so groß, dass die Tendenz, sich in einen Kokon der Eigenweltlichkeit einzuspinnen, die Irritierbarkeit durch die mitlaufende Referenzfunktion der Zeichen absenkt oder sogar ganz, neutralisiert. Dennoch gibt es richtige und falsche Erzählungen, so wie es richtige und falsche Theorien gibt. Die Evolutionstheorie mag als Große Erzählung lesbar sein, die tief im Entwicklungsdenken des 18. und 19. Jahrhunderts und damit auch in den ästhetisch-literarischen Modellen der Zeit verankert ist; sie ist aber eine Erzählung anderen Typs als etwa der Kreationismus und in ihrem epistemischen Stellenwert mit diesem unvergleichbar. Entsprechendes gilt für kontroverse Darstellungen der Vergangenheit. Dass jede Art von Geschichtsschreibung mit narrativen Mitteln arbeitet und insofern ein schöpferischer Prozess ist, wie Hayden White betont hat, setzt das »Vetorecht« der 338 VI. Epistemische Narrative VI. 1 Wissen und Erzählen. Kulturelle Organisation von Fremdreferenz Quellen (Koselleck15) nicht außer Kraft. Die Möglichkeit des Satzes »Das ist falsch!« muss integraler Teil einer jeden semiotischen und Medientheorie sein.16 Sie muss als eine den Pluralismus umlaufender Erzählungen einschränkende Wahrheitsoption bestehen bleiben und darf nicht auf die Dimension eines sozialen Ereignisses neben anderen reduziert werden.17 Auch und gerade Ideologien bedienen sich der suggestiven Kraft des Erzählens; aber das darf nicht daran hindern, sie - soweit das möglich ist - als Ideologien bloßzustellen und anzugreifen. So spricht zwar vieles für einen methodologisch und epistemo-logisch starken Begriff von Erzählung, doch das Referenzproblem bleibt als Wahrheitsproblem im Raum und lässt sich durch keinen kulturwissenschaftlichen Relativismus wegdisputieren. Keine Wissenschaft, die Welterkenntnis sein will, kommt ohne eine Form von verbindlicher Referentialität aus, die sie über die Gefahr eines mentalen oder kulturellen Solipsismus hinwegrettet. Die gleiche Grenze zwischen Cieist und Welt, die mit Blick auf das transzendentale oder kulturelle Apriori der Išrkenntnis intransitiv zu sein scheint, muss von einer alternativen, ebenso zwingenden Gedankenführung her als durchlässig gedacht werden, wenn Wissenschaft überhaupt möglich sein soll. Es bedarf also einer doppelten Perspektive und Akzentuierung: Andernfalls würde kulturelles Wissen schlicht aufhören, kulturelles Wissen zu sein. Unvermeidlich geht die Allgemeine Erzähltheorie an diesem Punkt in eine zentrale erkenntnistheoretische Problemstellung über. Zu Beginn dieses Buches wurde die Frage aufgeworfen, wie eine Dar-stellungsweise, die eine so willkürliche Beziehung auf Realität und Wahrheit unterhält und damit die überlebenswichtige Unterscheidung zwischen wahr und falsch unterläuft, zu einer derartigen kulturellen Omnipräsenz gelangen konnte. Die Unverlässlichkeit des Erzählens ist demnach nicht nur ein Randphänomen, das durch anästhetische Schutzmaßnahmen eingehegt werden kann, sondern symptomatisch für den Wirklichkeitssinn von Kulturen im Ganzen. Damit ist zugleich die Grundfrage aller Erkenntnistheorie angesprochen: Wie ist die extramentale, außersprachliche Wirklichkeit mit Gewissheit erkennbar? Im Vokabular der Kultursemiotik reformuliert: Wie sichern Gesellschaften ihren Wirklichkeitsbezug? Wie funktioniert kulturelle Premdreferenz? Bis zu einem gewissen Punkt kann man auch diese Wendung des Problems narratologisch angehen und seine Aufmerksamkeit auf die Frage richten, mittels welcher Erzählstrategien Wissenssysteme sich ihrer eigenen Referentialität vergewissern und sie gegen Anzweiflungen verteidigen. Da die Referenz selbst nicht Teil des jeweiligen Zeichensystems und seiner immanenten Verknüpfungsregeln sein kann, kommt es in diesem Bereich, so lässt sich vermuten, gehäuft zu >irre-gulären< epistemischen Manövern, zumeist durch Behelfskonstruktionen, die ihren improvisatorischen Gharakter kaum verbergen. Solche Konstruktionen out of area sind ihrer Natur prekär, weil sie sich auf einer anderen Ebene situieren als derjenigen einer wissenschaftsinternen Konsistenzprüfung mit ihren Routinen der Verifikation/Falsifikation. Ein herkömmliches Verfahren der ontologischen Rückversicherung besteht darin, wissenschaftliche Ergebnisse durch einen anderen Diskurs, vorzugsweise religiöser Natur, zu rahmen. (Wenn es etwa um die Frage geht, warum von Erdbewohnern erdachte Formeln ein kosmisches Geschehen weit jenseits ihrer Lebensreichweite zu beschreiben vermögen, werden auch viele moderne Physiker philosophisch-religiös und lassen sich auf weltanschauliche Debatten ein, die ihrem Gegenstandsbereich ansonsten fremd bleiben.) Wissenschaftshistoriker behelfen sich gewöhnlich damit, dem Problem durch Strategien der Asymmetrisierung, nämlich durch Einsatz der Differenz zwischen Norm und Abweichung, zu begegnen. Wie weiter oben ausgeführt,"* wird diese Differenz wiederum häufig zu einem kompletten Narrativ ausgestaltet: als Geschichte eines zielgerichteten wissenschaftlichen Fortschritts oder als mutiger Heroenkampf um die Wahrheit, was in beiden Fällen auf eine Kanonisierung des >echten< und (bis auf weiteres) >ewigen< gegenüber dem in seinen Zeitumständen befangenen und hinfällig gewordenen Wissen hinausläuft. Ohne solche Asymmetrisierungen würde es die modernen Wissenschaften mit ihren immensen Leistungen nicht geben. Sie bleiben gleichwohl problematisch, weil die errichtete Barriere innerhalb der Leitdifferenz empirisch/konstruiert, faktisch/ideologisch, rein/unrein den üblichen Paradoxieeffekten von Grenzen ausgesetzt ist: Ist 340 VI. Epistemische Narrative die Grenzziehung ihrerseits eine wissenschaftliche Tatsache oder ein kulturelles Konstrukt? Ist sie rein oder unrein? Welche Metaregel hält wahres und falsches Wissen, die sich in derselben Person, scientific Community, Fachdisziplin, historischen Formation vielfältig begegnen und überlagern, auseinander? Wie erklärt sich andererseits ihr beständiger Grenzverkehr? Zumal im Licht der postcokmial studies sind die modernen »westlichem Wissenschaften in einen Zwiespalt zwischen universalistischem Wahrheitsanspruch einerseits, gesellschaftlicher Selbstrelati-vierung und Selbsthistorisierung andererseits geraten.19 Fan bis zur letzten Konsequenz getriebener Relativismus würde die Objektreferenz des Wissens durchstreichen und damit die Errungenschaften des Wissenschaftssystems insgesamt annullieren; ein szientifischer Realismus dagegen hat dort seinen blinden Fleck, wo es um die historische Dimension dieses Wissens geht. Vom letzteren Standpunkt aus wird nämlich die Frage unbeantwortbar, warum ältere Wissensordnungen Jahrhunderte- oder jahrtausendelang erfolgreich an Behauptungen ( festhalten, die dem Augenschein der Moderne eklatant widersprechen. Warum gelangt erst die Moderne zu einer (aus ihrer Sicht) adäquaten Auffassung naturgesetzlicher Phänomene, die nichtmodernen Kulturen verborgen geblieben ist? Warum bricht also, aus wissenschaftlichem Blickwinkel betrachtet, mit jeder Jetztzeit das Ende der Geschichte an? Wie ist es andererseits möglich, dass sich die gleiche Moderne sentimentalisch als ein Zeitalter der verlorenen Übereinstimmung zwischen Mensch und Natur erzählt? - Wie kann man infolgedessen mit dem Dilemma umgehen, dass eine postkolonial aufgeklärte westliche Welt die Relativität ihrer eigenen epistemischen Ordnung anerkennt und doch andererseits an allgemeinen Rationalitätsstandards, auch und vor allem gegenüber inneren Gefährdungen, festhalten möchte? VI.2 Sachdimension vs. So.? aldimension 341 VI.2 Sachdimension vs. Sozialdimension Roy Bhaskars »central paradox of science« In seiner Realist Theory of Science hat der britische Wissenschaftsphilosoph Roy Bhaskar das hier zu behandelnde Problem mit großer Deutlichkeit pointiert: Any adequate philosophy of science must find a way of grappling with this central paradox of science: that men in their social activity produce knowledge which is a social product much like any other, which is no more independent of its production and the men who produce it than motor cars, armchairs or hooks, which has its own craftsmen, technicians, publicists, standards and skills and which is no less subject to change than any other commodity. This is one side of >knowlcdgc<. The other is that knowledge is of things which arc not produced by men at all: the specific gravity of mercury, the process of electrolysis, the mechanism of light propagation. None on these »objects of knowledge depend upon human activity. If men ceased to exist sound would continue to travel and heavy bodies fall to the earth in exactly the same way, though ex hypothesi there would be no-one to know it.20 Wie bei fast allen Büchern zu diesem Problemkomplex scheint indessen Bhaskars Diagnose pertinenter als sein Bemühen, philosophische Abhilfe zu schaffen. (Das aufzuzeigen, bliebe einer eigenen Auseinandersetzung vorbehalten.) Bhaskar reiht sich damit in eine lange und würdige Tradition, die den philosophischen Diskurs der Moderne als ganzen kennzeichnet. Denn nicht erst in der Postmoderne, nicht erst mit Nietzsche und in der Sprachkrise um 1900 ist das Problem des Realitätsbezugs von Sprechen und Denken virulent und überdauert hartnäckig alle Versuche, es im Grundsätzlichen erkenntnistheoretisch zu lösen; die Unzugänglichkeit der Dinge, der unüberbrückbare Hiatus zwischen ihrer wahren Beschaffenheit und ihren mentalen Repräsentationen lassen sich (mindestens) bis zu Kants Kritik der reinen Vernunft zurückführen.21 Was bedeutet es, wenn ein philosophisches Kernproblem über so lange Zeit allen denkerischen Bemühungen trotzt? Wie ist es zu erklären, dass die Sphäre der wirklichen Dinge -der Dinge an sich, des Realen - sich den erkenntnistheoretischen