II. Die weltlichen Dichtungen 2.1 Die mündliche Dichtung j Das ganze Mittelalter hindurch gab es einen breiten Strom mündli-! eher Dichtung. Dem modernen Menschen ist diese Vorstellung nur schwer zugänglich, setzt sie doch einen ganz anderen, nicht mit Druck oder Schrift verbundenen Dichtungsbegriff voraus. Aber schon von den Griechen des Altertums ist bekannt, daß an ihren Fürstenhöfen Sänger auftraten und von den Helden der Vorzeit, den Göttern oder auch besonderen Ereignissen ihre Lieder i sangen; bei den Germanen war es nicht anders. Mündliche Dich-' tung ist ein Kennzeichen vorschriftlicher Kulturen.' Über die Gestaltung eines solchen Liedvortrags ist nichts überliefert, man kann aber einige Grundprinzipien ableiten, wenn man etwa die Kunst der jugoslawischen Guslaren analysiert, die heute noch zur Gusle, der einsaitigen Gitarre, ihre Lieder singen, und sie mit anderen lebenden mündlichen Dichtungsformen vergleicht. Uberall lassen sich ähnliche Techniken des Vortrags feststellen. Mit Sicherheit hatte ein Sänger nicht viele, oft über mehrere Abende vorzutragende Lieder Wort für Wort auswendig gelernt. Den Handlungsverlauf mußte er natürlich genau im Kopf haben, auch verfügte er über eine besondere Dichtersprache für seinen Vortrag. Wie sah sie aus? Wer heute eine Fremdsprache lernt, prägt sich i. a. als erstes einfache Mustersätze ein, denen er je nach Situation durch Austausch verschiedener Wörter einen neuen Sinn gibt. Hiermit laßt sich die mündliche Dichtersprache gut vergleichen: Der Sänger arbeitet mit einer Anzahl von Musterversen, die, den Satzbau wie Schablonen vorgebend, es erlauben, das Lied improvisierend vorzutragen; neben diesen Formeln beherrscht er andere Versatzstücke wie Bilder und Vergleiche, Reime usw. Nur wenige, besonders dramatische oder sonst wichtige Passagen werden vermutlich ausgestaltet und dann als Höhepunkte vorgetragen worden sein. Feste Formeln und formelhafte Sätze sind auch für die deutsche Dichtung des Mittelalters charakteristisch: sie stammen mehr oder weniger alle aus der mündlichen Tradition, auf die sich noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Brüder Grimm für ihre >Kinder-und Hausmärchen< stützen konnten oder auch Achim von Arnim und Clemens Brentano bei ihrer Volksüedsammlung >Des Knaben Wunderhorn<. Mit der Alphabetisierung der Bevölkerung durch die allgemeine Schulpflicht verstummte die mündliche Dichtung in Deutschland weitgehend; aber im Alpenraum z.B. gibt es heute noch die Sitte des »Aussingens«, d.h. in kurzen improvisierten Strophen, den »Gstanzln«, macht man sich über einander lustig, verwendet dabei ebenfalls Formeln und andere Versatzstücke. Genauere Angaben über die Form der mündlichen Dichtung zu machen, ist problematisch; man nimmt an, daß ihre Formprinzipien gerade in der frühen volkssprachlichen Literatur aufgegriffen wurden. Daß von der mündlichen Dichtung im Deutschen allein das >Hildebrandslied< überliefert ist, hat seine Gründe. Die Geistlichen, als einzige schriftkundig, kämpften im Bewußtsein ihrer missionarischen Aufgabe gegen die alten Lieder an: die heidnischen Stoffe mußten ihnen ein Dorn im Auge sein. Die weltlichen Herren hatten wenig Veranlassung zur Niederschrift, ihrem Unterhaltungsbedürfnis genügte der mündliche Vortrag. Auch war Pergament, der Schreibstoff des Mittelalters, sehr teuer. Nur von Karl dem Großen wird überliefert, daß er eine Sammlung alter Heldenlieder anlegen ließ, die aber nicht erhalten ist. Viele Berichte, Briefe usw. des Mittelalters spielen auf mündliche Dichtungen an, geben manchmal sogar ihren Inhalt wieder. Auch wurden ab dem 12. Jahrhundert weltliche Versromane verfaßt und die alten Geschichten z.T. wieder aufgegriffen, so daß der stoffliche Umfang ungefähr zu erkennen, ist. 2.2 Die Merseburger Zaubersprüche Wer einer Sache Namen weiß, kann sie beherrschen. Vor der Namensgebung durch die Sprache liegt das noch unbewußte Ausgeliefertsein. Wer noch nicht lesen und schreiben kann, achtet sehr genau auf das einzelne Wort: die Benennung bannt das Unbekannte, nimmt die Angst. So sprechen Kinder laut im Dunkeln und verändern im Spiel die Wirklichkeit, indem sie sich andere Namen geben und der andere dann sind. Der Mensch einer vorschriftlichen Kultur glaubt fest an die Macht des Wortes. Magie ist Besprechen, Zauber ist Benennung in rhythmischer Weise mit schwerem Gewicht auf jedem Wort. Ganz ist dem modernen Menschen dieses Gefühl noch nicht verlorengegangen: Jeder Fluch, jedes Schimpfwort hat hier seine Wurzel genauso wie der Kindertrost »Heile, heile, Segen ...« Die >Merseburger Zaubersprüche< (um 75Ö?) weisen weit zurück in diese vorliterarische Zeit - und blieben lange nach der Christia- 20 21 nisierung und dem Entstehen einer deutschen Schriftkultur lebendig. Erst im io. Jahrhundert hat sie ein unbekannter Mönch notiert. Eiris sazun idisi, sazun her.a duoder. suma M2pt hjfptidun, suma hgri lezidun, suma clubodun umbfcuoniowidi: insprinc haptbandun, invar viganduti. (Einst setzten sich Idise [weise Frauen], setzten sich hierhin und dorthin. / Einige befestigten Fesseln, einige hemmten Heere, / einige lösten die Fesseln: / Entspring den Haftbanden, entfahr den Feinden!) Idise bezeichnen hier wohl göttliche Frauen, Walküren, die dem gefangenen Freund helfen und die Feinde aufhalten. Die Zaubersprüche hielten sich lange in ihrer altertümlichen Form, vermutlich weil sie als heidnischer Aberglaube besonderer Geheimhaltung unterlagen. Sonderbar ist eher, daß sie überhaupt aufgeschrieben wurden. Der hier verwendete Stabrejm ist die wohl älteste Reimform der Germanen, jedenfalls clas althochdeutsche >Hildebrandslied<, der altenglische >Beo\vull< und vor allem die umfangreiche,..altnordische Dichtung verwenden den alliterierenden Vers. Der Begriff Stabreim meint den gleichen Anlaut (Anfangsbuchstaben) der stark betonten Silben eines Verses (suma hapt hßptidun, suma heri lezidun); Vokale müssen dabei nicht gleich sein, sondern gelten immer als »Stäbe«. Seiner Natur nach verlangt der Stabreim die Hervorhebung des einzelnen Wortes, dessen Anlaut nicht in der Klangfülle eines Verses untergehen darf. So haben »stabende« Verse stets jene karge Wucht, die sie so eindrucksvoll von der flüssigen Eleganz der späteren Endreimdichtung abhebt. 2.3 Heldendichtung: Das Hildebrandslied Vom Anfang des 9. Jahrhunderts datiert das >Hildebrandslied<, das einzige germanische Heldenlied, das wenigstens als Fragment erhalten ist. Der Stoff entstammt den Sagen um Dietrich von Bern, ^"d^sen'Waffenmeister Hildebrand auftritt. Die Ereignisse, um die sich diese Geschichten ranken, gehören in die Zeit der Völkerwanderung: Mit Dietrich ist der Ostgotenkönig Theoderich (um 471-526) gemeint, zu dessen Reich Verona gehörte, das in der Sage als Bern erscheint. Das„>Hildebrandslied< führt anmittelbar in den dramatischen Konflikt: Ik gihorta dat seggen, dat sih urhettun aenon muotin, Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem. sunufatarungo ... (^-4) (Ich hörte das berichten, / daß sich als Herausforderer einzeln begegneten / Hildebrand und Hadubrand zwischen ihren beiden Heeren, / den Scharen des Sohnes und des Vaters ...) Hildebrand kehrt nach 30 Jahren an der Spitze eines Hunnenheeres zurück und trifft auf seinen Sohn Hadubrand, der sich ihm entgegenstellt. Es droht der Zweikampf der Heerführer. In der be ginnenden Streitrede fragt Hildebrand, wer sein Gegner sei; stolz gibt sich Hadubrand zu erkennen, rühmt dabei den totge-daubten Vater. Hildebrand will nun den Sohn ehren und beschenken, um den Kampf zu vermeiden; Hadubrand aber lehnt ab: »mit gcru scal man geba infahan, ort widar orte. du bist dir alter Hun, ummet spaher, spenis mih mit dinen wortun, wili mih dinu sporn werpan. pist also gialtct man, so du ewin inwit fortos. dat sagetun mi seolidante westar ubar wcntilseo, dat inan wie furnam: tot ist Hiltibrant, Hcribrantes suno.« »welaga nu, waltant got, wewurt skihit. ih wallota sumaro enti wintro sehstic ur laute, dar man mih eo secrita in folc secotantero: so man mir at burc enigeru banun ni gifasta, nu scal mih suasat chind suertu hauwan, breton mit sinu billiu, eddo ih imo ti banin werdan. (37'54) (»Mit dem Speer [gerj soll man Gabe empfangen, / Spitze wider Spitze____ / Du scheinst dir, alter Hunnc, unmäßig schlau, / verführst mich mit deinen Worten, willst mich mit deinem Speer werfen. / Bist nur deshalb als Mann [Krieger] so alt geworden, weil du immer Betrug vollbrachtest. / Das sagten mir Seefahrende / nach Westen über das Miltelmeer, daß ihn der Krieg fortnahm: / Tot ist Hildebrand, Heribrands Sohn!« ... »Wehe nun, waltender Gott, Wchgcschick geschieht! / Ich wanderte der Sommer und Winter sechzig außer Landes, / seit man mich scharte in das Heer der Speerwerfer: / Da man mir bei keiner Stadt den Tod zufügte, / soll nun mich das eigene Kind mit dem Schwerte schlagen, / niederstrek-ken mit seiner Waffe, oder ich ihm zum Mörder werden ...«) 22 23 Der Kampfbeginn ist noch beschrieben, der Ausgang nicht mehr überliefert, aber aus der altnordischen Dichtung erfährt man, daß am Ende der Vater den Sohn erschlägt. Die beleidigenden Worte Hadubrands zwingen den Alten zum Zweikampf; er muß seine Ehre, das höchste Gut des germanischen Kriegers, verteidigen, auch wenn er in seinem Gegenüber das eigene Kind erkannt hat. »Wehgeschick geschieht!« Das >Hildebrands-. liedrist'zwar schon Dichtung aus christlicher Zeit - mit waltant got wurde stets der Christengott bezeichnet —, dennoch hat es nichts von seiner archaischen Härte verloren. Zur Faszination des Liedes trug sicher die heroische Tragik des Geschehens bei, vor allem aber beschäftigte das Publikum das Problem der zu wahrenden Ehre. Für den fränkischen Reichsadel war Ehre immer zweierlei: materieller Herrschaftsanspruch und daraus abgeleiteter kriegerischer Verhaltenskodex. Der karolingische Adelige erkannte seine eigene Problematik in dieser Geschichte von Ehre und ihrem Bedrohtsein wieder. Der Vater-Sohn-Konflikt dient zur dramatischen Illustrierung, daß die Ehre in jedem Fall, auch gegen den denkbar nächsten Verwandten, zu verteidigen ist. Das blutige Handwerk des herrschenden Kriegeradels fand im >Hildebrandslied< seine poetische Rechtfertigung. Um Adelsliteratur handelt es sich also, beschränkt auf einen kleinen Kreis von höchstens 10000 Menschen. Diese Dichtung blieb das ganze Mittelalter hindurch lebendig, aber mit der Zeit wurde sie "in ihreniljtife^je.a.S.ch^exsw'iegend verändert; Im jüngeren Hildebraridslied<, dessen Entstehung vielleicht ins 1.3. Jahrhundert zurückreicht, kehren Vater und Sohn nach dem Kampf versöhnt nach Hause zurück und feiern ein gewaltiges Fest. So formte der Geschmack eitles verfeinerten Rittertums, vertraut mit dem christlichen Versöhnungsgedanken, die vernichtende Gewalt eines unerbittlichen Verhängnisses in eine eher ergötzliche Episode um. III. Die Klöster: Träger und Mittler der Literatur Das >Hildebrandslied< wurde auf zwei leere Seiten einer theologischen Handschrift geschrieben von Mönchen im Reichskloster Fulda, wie überhaupt die gesamte Uberlieferung der lateinischen Literatur und der frühen deutschen Dichtungen den Klöstern zu verdanken ist. Zur Zeit Karls des Großen stand das Mönchtum in voller Blüte. Die Klöster bildeten mit ihrer straffen Organisation und dem Fleiß der Mönche eine wesentliche Grundlage für Macht und Wohlstand des Adels, der sie deshalb auch mit reichen Schenkungen ausstattete; sie mußten dafür aber von ihren Erträgen Bewaffnete unterhalten, Gasträume bereitstellen und Abgaben an ihre weltlichen Herren leisten usw. Für Karl den Großen waren die Reichsklöster, wie schon gezeigt wurde, eine Stütze seines Reichs und seiner Herrschaft. Der heilige Benedikt von Nursia (um 480-um 547) hatte in seiner Mönchsregel keinen Raum für eine weltflüchtende imitalio (Nachfolge) Christi gelassen; das berühmte ora et labora (bete und arbeite) stellte das Mönchtum tätig in eine grausame, chaotische Welt. Cassiodor (um 487 - um 583) weitete das Arbeitsgebot Benedikts auf die Tätigkeit des Schreibens aus und maß damit den Klöstern ihre Aufgabe als Wahrer und Uberliefercr der Kultur zu. Das Abschreiben von Handschriften wurde schließlich zu einer dem Gottesdienst fast gleichwertigen Aufgabe, so daß die Skripto-rien, die Schreibstuben, neben dem Altarraum, sozusagen mit Blick auf das Allerheiligste, eingerichtet wurden. In seiner besonderen Vorliebe für Kunst und Wissenschaft förderte Karl der Große die Entwicklung der Buchkunst in großem Stil; die Zeitgenossen rühmten seine Sammlung kostbarer Handschriften. Die Palastschule des Kaisers, die schola palatina, oder etwa die Gelehrten-schule des Klosters Fulda besaßen hohen wissenschaftlichen Rang, sie waren die »Universitäten« der Karolingerzeit. Die Klöster stellten sich häufig ihren Schreibstoli, das Pergament, selbst her. (F.s wird aus Tierfellen gemacht, die in Kalklauge entfettet, auf Spannrahmen getrocknet und glattgerieben werden mußten.) Pergament ist bekanntlich viel haltbarer als unser heuti- !;es Papier, und Handschriften oft ungeahnter Schönheit bilden leute noch die kostbaren Prunkstücke großer Bibliotheken. Für Bibeltexte z.B., die für die Bibliothek des Kaisers bestimmt waren, wurde das Pergament mitunter mit Purpur getränkt und mit Gold und Silber beschrieben. Die Anfangsbuchstaben einzelner Kapitel, die Initialen, malte man kunstvoll zu oft ganzseitigen Bildern aus, 24 25 >Edda<. Die Herkunft des Helianddichters ist ungeklärt, möglicherweise wirkte er im Kloster Werden an der Ruhr; bestimmte Wörter, die er gebraucht, lassen auf eine Verbindung zu den Rheinlanden schließen. 4.2 Das Wessobrunner Gebet Vermutlich noch aus dem'8. Jahrhundert stammt das >Wessobrun-ner Gebet<, benannt nach der Klosterbibilothek, in der es gefunden wurde. Der Text ist zweigeteilt:, einem Prosagebet vorangestellt ist ein in Stabreimen abgefaßtes Schöpfungsgedicht, das jedoch nur als Fragment erhalten ist. Durch die Beschwörung der Allmacht Gottes soll dem nachfolgenden Gebet mehr Nachdruck verliehen werden; ähnlich verfuhren die >Merseburger Zauberspruches die -im oben zitierten Beispiel - erst die bewährten Kräfte der weisen Frauen in Erinnerung rufen, bevor sie den eigentlichen Lösezauber sprechen; auch aus der Messe ist diese Art der Gebetseinleitung bekannt. Dat gafregin ih mit firahim firiuuizzo meista, Dat ero ni uuas noh ufhimil, noh paum ... noh pereg ni uuas, ni... nohheinig noh sunna ni seein, noh mano ni liuhta, noh der mareo seo. Do dar niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo, enti do uuas der eino almahtico cot, manno miltisto, enti dar uuarun auh manake mit inan coothhhe geista. enti cot heilac .., Cot almahtico, du himil enti erda gauuorahtos, enti du mannun so manac coot forgapi, forgip mir in dino ganada rehta galaupa enti cotan uuilleon, uuistom enti spahida enti craft, tiuflun za uuidarstantanne enti arc za piuuisanne enti dinan uuilleon za gauurchanne. (Das erfragte ich unter den Menschen als der Wunder größtes, / daß die Erde [noch] nicht war, noch der Oberhimmel, / noch Baum ... noch Berg war, / nicht irgendein ..., noch die Sonne schien, / noch der Mond leuchtete, noch das herrliche Meer. / Als da gar nichts war, nicht Ende nicht Wende, / und doch war da der allmächtige Gott, / der freigebigste unter den Herrschern, und es waren auch mit ihm mancherlei / göttliche Geister, und es war der heilige Gott. Allmächtiger Gott, du hast Himmel und Erde geschaffen und den Menschen so viel Gutes verliehen, verleihe mir in deiner Gnade den rechten Glauben und guten Willen, Weisheit und Klugheit und die Kraft, den Teufeln zu widerstehen und die Sünde zu meiden und deinen Willen zu tun.) In den germanischen Religionen gab es die Vorstellung, daß die Götter in eine bestehende Welt hineingeboren wären; dieser Lehre mußte eine christliche Programmdichtung, wie sie das >Wesso-brunner Gebet< darstellt, entgegentreten. Daher betont der einleitende Schöpfungshymnus als »der Wunder größtes«, daß es Erde und Himmel, Baum, Berg usw. einmal nicht gegeben hat, und doch der allmächtige Gott schon war. Anders als im Schöpfungsbericht der Bibel (>Genesis< I.iff.), wird Gott gepriesen als unbegreifliches Wesen, das vor allen Zeiten, von Ewigkeit an, war; das Schöpfungswunder selbst tritt in den Hintergrund. Indem der Dichter des >Wessobrunner Gebets« in der Bilderfolge Erde, Himmel, Sonne, Mond, die von den Germanen kultisch verehrt wurden, an deren vertraute Weltvorstellungen anknüpft, erleichtert er ihnen die Aufnahme christlicher Ideen. Auf die mündliche germanische Uberlieferung beruft sich der Autor ganz deutlich, denn Dat gafregin ih .. . ist eine häufige Ein-gangsformel, die im >Heliand<, aber auch in altenglischen und altnordischen Texten auftaucht (auf die Parallele des >HiIdebrandslie-des< Ik gihorta dat seggen sei hingewiesen). Auch begrifflich lehnt sich der Dichter an altgermanische Vorstellungen an, das zeigt ein so archaisches Wort wie ufhimil (Oberhimmel), das sich nur noch in altsächsischer und altenglischer Epik wiederfindet; formal übernimmt er die alte Stabreimtechnik mit dem einfacheren Zeilenstil, in dem syntaktischer Einschnitt und Versende zusammenfallen. Der zweite Teil, das Prosagebet um den rechten Glauben, schließt sich mit seiner alliterierenden Wortwahl deutlich an den vorangegangenen Schöpfungshymnus an; sprachlicher Duktus und Inhalt fügen sich zu traditionellen christlichen Gebeten. 4.3 Muspilli Der Weltuntergang ist das Thema des >Muspilli<, eines bairischen Gedichts, das an der Grenze zwischen Stab- und Endreimdichtung steht; es wurde in ungelenker Schrift in eine Handschrift Ludwigs des Deutschen nach der Jahrhundertmitte eingetragen; insgesamt 106 Verse sind erhalten, am Anfang und am Ende fehlen Teile. Den merkwürdigen Namen verdankt das Gedicht jenem im Ober- 30 3i deutschen nur an dieser Stelle belegten Wort rnuspilli, das sonst nur noch aus dem altsächsis^he,n,>Heliand<„.und dem Altnordischen bekannt ist: es ist bis heute nicht sicher geklärt, gehört jedoch in das Bedeutungsfeld Weltgericht, Weltende, Weltenrichter. Der erhaltene Ausschnitt beginnt mit dem Kampf der Engel und Teufel um die Seele des Menschen, die sich im Tode vom Körper gelost hat. In der Höflewarten Feuer und Finsternis, im Himmel aber »Lebenohne Tod, Licht ohne Finsternis, eine Wohnung ohne Sorgen ...« Mit einer Mahnung zu christlicher Umkehr schließt dieser erste Teil. Der zweite beginnt mit der Ladung zum Weltgericht: Niemand kann sich dem Ruf (»Gerichtsbann«) des mahtigo khimhic, des allmächtigen Himmelskönigs, entziehen; jeder muß Rechenschaft über seine Taten ablegen. Es folgt der unten zitierte hochdramatische Zweikampf des Elias mit dem Antichrist, über dessen Ausgang verschiedene Meinungen herrschen: Die Kenner des weltlichen Rechts gehen davon aus, daß Elias als Vertreter der Sache Gottes siegen wird; manche Theologen dagegen glauben, daß Elias in diesem Kampf verwundet würde; das aber würde den Weltuntergang auslösen. Daz hortih rahhon dia uueroltrehtuuison, daz sculi der antichristo mit Eliase pagan. der uuarch ist kiuuafanit, denne uuirdit untar in uuic arhapan. khenfun sint so kreftic, diu kosa ist so mihhil. Elias stritit pi den euuigon lip, uuili den rehtkernon daz rihhi kistarkan: pidiu scal imo helfan der himiles kiuualtit. der antichristo stet pi demo altfiante, stet pi demo Satanase, der inan varsenkan scal: pidiu scal er in deru uuicsteti uunt pivallan enti in demo sinde sigalos uuerdan. doh uuanit des vilo ... gotmanno, daz Elias in demo uuige aruuartit uuerde. so daz Eliases pluot in erda kitriufit, so inprinnant die perga, poum ni kistentit enihe in erdu, aha artruknent, muor varsuuilhit sih, suilizot lougiu der himil, mano vallit, prinnit mittilagart, sten ni kistentit, verit denne stuatago in lant, verit mit diu vuiru viriho uuison: dar ni mac denne mak andremo helfan vora demo muspille. denne daz preita uuasal allaz uarprinnit, enti vuir enti luft iz allaz arfurpit, uuar ist denne diu marha, dar man dar eo mit sinen magon piehc? diu marha ist farprunnan, diu sela stet pidungan, ni uueiz mit uuiu puaze: so verit si za uuize. (37-62) (Das hört ich erzählen die Kenner weltlichen Rechts, / daß der Antichrist mit Elias kämpfen wird: / Der Verbrecher ist gewaffnet, denn zwischen ihnen wird Kampf erhoben. / Die Kämpfer sind überaus kraftvoll; die Streitsache ist überaus gewaltig. / Elias kämpft um das ewige Leben, er will den Gerechten die Herrschaft stärken: / deshalb wird ihm helfen, der die Himmel beherrscht. / Der Antichrist steht auf seiten des Erzfeinds, / steht auf Seiten des Satans, der aber ihn vernichten wird: / daher wird er auf dem Kampfplatz verwundet / und auf solche Weise sieglos werden. / Jedoch glaubt mancher [gelehrte] Mann Gottes [Geistliche], / daß Elias in dem Kampf verwundet werde. / Wenn des Elias Blut zur Erde tropft, / dann brennen die Berge auf, kein Baum hält stand, / nirgends auf der Erde, die Bäche vertrocknen, / das Moor saugt sich auf, in der Flamme verglüht der Himmel, / der Mond fällt herab, der Erdkreis brennt, / kein Stein hält stand, dann kommt der Tag des Gerichts ins Land, / kommt, mit dem Feuer die Menschen zu suchen: / Da kann dann nicht ein Verwandter dem anderen helfen vor dem Gericht. / Dann wird die breite, feuchte Erde völlig verbrennen, / und Feuer und Sturm fegen sie ganz hinweg: / Wo ist dann die Gerichtsmark, da der Mensch vordem zusammen mit seinen Verwandten stritt? / Die Mark ist verbrannt, die Seele steht trauernd, / weiß sie nicht, wie sie büße, so fährt sie zur Hölle.) Nach den germanischen Rechtsvorstellungen konnte ein Streitfall im Zweikampf entschieden werden, denn Gott selbst verfügte den Ausgang. Schuld am Tod des Unterlegenen hatte dann der, der ihn für eine ungerechte Sache kämpfen ließ. Deshalb wird der Satan den Antichrist ins Verderben stürzen, wie auch im >Hildebrands-lied< der Sohn als Beleidiger im Unrecht war und sterben mußte. Die christlichen Theologen aber, als Kenner göttlichen Rechts, leugnen die Möglichkeit, daß ein Beklagter sich durch einen Eideshelfer und Kämpfer, i.a. einen Verwandten, vertreten lassen kann (wie es das in der Rechtspraxis wiederholt gegeben hat): Der individuellen Verantwortung kann sich kein Mensch vor Gottes Jüngstem Gericht entziehen. Das letzte erhaltene Drittel schildert, nach einer Warnung an Richter und Prozeßparteien, das Recht nicht durch Bestechung zu beugen, das Jüngste Gericht, das über Lebende und Tote hereinbricht. Nichts kann nunmehr geleugnet werden, keine List vor Strafe schützen, nur wer Buße geleistet hat, wird verschont werden. Die letzten Verse bringen noch das Erlösungswerk Christi ein, doch bevor eine theologische Verbindung von Christi Kreuzestod mit dem Jüngsten Gericht formuliert wird, bricht das Fragment ab. Das >Muspilli< wurde geschrieben für Menschen, die im Rechts-denken geschult, vielleicht sogar selbst Richter waren. Es fügt sich in die aus Quellen der Zeit belegte Diskussion über das Weltende 32 33