Das Nibelungenlied Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse Philipp Reclam jun. Stuttgart 1. Aventiure 1 Uns wird in alten Erzählungen viel Wunderbares berichtet: Von berühmten Helden, großer Mühsal, von glücklichen Tagen und Festen, von Tränen und Klagen und vom Kampf tapferer Männer könnt ihr jetzt Erstaunliches erfahren. 2 Es wuchs im Burgundenland ein junges Edelfräulein heran, so schön wie keine andere auf der Welt. Kriemhild hieß sie. Später wurde sie eine schöne Frau, um derentwillen viele Krieger ihr Leben verlieren sollten, 3 Dieses liebenswerte Mädchen mußte man gern haben. Tapfere Männer umwarben sie, niemand konnte ihr böse sein. Ihre unbeschreibliche Schönheit und ihre Vorzüge ehrten zugleich auch alle anderen Frauen. 4 Sie beschützten drei edle und mächtige Könige: Gunther und Gernot, beide von hohem Ansehen, und der hervorragende junge Giselher. Kriemhild war ihre Schwester; die Fürsten hatten sie in ihrem fürsorglichen Schutz. 5 Diese Herren aus hochadligem Geschlecht waren freigebig und von unermeßlichem Tatendrang, kurzum: ungewöhnliche Ritter. Burgund nannte man ihr Land. Sie vollführten später im Lande Etzels wahrhafte Wunder. 6 In Worms am Rhein hielten sie Hof. Die stattliche Ritterschaft des Landes diente ihnen ehrenvoll bis zu ihrem Tod. Später gingen sie am Haß zweier Königinnen kläglich zugrunde. 1. Aventiure 9 7 Frau Ute, eine mächtige Königin, war ihre Mutter. Ihr Vater Dankrat hatte ihnen nach seinem Tode Land und Besitz vererbt. Er war ein sehr mutiger Mann, der auch schon in jungen Jahren großes Ansehen erworben hatte. 8 Die drei Könige waren, wie ich bereits erwähnt habe, von hoher Kampfbereitschaft. Außerdem waren ihnen die besten Männer Untertan, die als stark, tapfer und mutig in harten Kämpfen galten. 9 Das waren: Hagen von Tronje und auch sein Bruder, der sehr gewandte Dankwart, Ortwin von Metz, die beiden Markgrafen Gere und Eckewart und Volker von Alzey, voll im Besitz seiner ganzen Kraft. 10 Der Küchenmeister Rumold, ein hervorragender Mann, Sindold und Hunold waren als Gefolgsmänner der drei Könige für die Hofhaltung und ihren Glanz verantwortlich. Dazu gehörten noch viele erprobte Krieger, die ich nicht alle namentlich aufzählen kann, 11 etwa der Stallmeister Dankwart, der mit ihm verwandte Ortwin von Metz, Truchseß des Königs. Der hervorragende Sindold war Mundschenk und Hunold Kämmerer. Sie alle verstanden es, das hohe Ansehen des Hofes zu hüten. 12 Von der bedeutsamen Macht dieses Hofes, der weiten Wertschätzung seiner Bewohner, ihrer ausgeprägten Würde und Ritterlichkeit, das heißt von all dem, was diese Herren sich lebenslang in froher Geselligkeit als Ziel vorgenommen hatten, könnte euch bestimmt niemand die ganze Wahrheit berichten. 13 Mitten in dieser höfischen Pracht hatte Kriemhild einen Traum: sie sah, wie sie einen schönen, starken und wilden Falken abrichtete, den ihr plötzlich zwei Adler schlugen und zerfleischten. Daß sie dies mit ansehen mußte! Kein größeres Leid hätte ihr auf der Welt zustoßen können. 1. Aventiure 11 14 Den Traum erzählte sie ihrer Mutter Ute, die der geliebten Tochter keine günstigere Deutung geben konnte: »Der Falke, den du aufziehst, der ist ein Edelmann. Wenn Gott ihn nicht beschützt, wirst du ihn schnell verlieren müssen.« 15 »Was redet Ihr mir von einem Mann, liebste Mutter? Auf die Liebe eines Kriegers will ich immer verzichten. Denn ich will so schön bis an meinen Tod bleiben und niemals aus Liebe zu einem Mann Leid erfahren.« 16 »Nun widersprich nur nicht zu heftig«, antwortete ihre Mutter, »wenn du jemals im Leben glücklich wirst, so geschieht dies allein durch die Liebe eines Mannes. Du wirst eine schöne Frau, wenn dir Gott einen vorzüglichen Ritter zum Mann bestimmt.« 17 »Bitte sprecht nicht weiter, Herrin«, sagte Kriemhild. »Es hat sich an vielen Frauen oft gezeigt, wie schließlich Liebe mit Leid belohnt wird. Ich werde beidem aus dem Weg gehen, dann kann mir niemals etwas Schlimmes zustoßen.« 18 Kriemhild verzichtete in Gedanken auf die Liebe, So lebte sie eine ganze Zeit dahin, ohne jemanden kennenzulernen, den sie hatte lieben mögen. Doch später wurde sie die Frau eines sehr tapferen standesgemäßen Mannes. 19 Der war eben dieser Falke, den sie im Traum gesehen und von der Mutter gedeutet bekommen hatte. Wie furchtbar sie das an ihren nächsten Verwandten, die ihn später erschlugen, rächen sollte! Wegen des Todes eines einzigen mußten die Söhne unzähliger Mütter fallen. 2. Aventiure Über Siegfried 20 Damals wuchs in Niederland der Sohn eines edlen Königs heran, dessen Eltern Siegmund und Sieglinde hießen. Das war in Xanten, einer mächtigen, weithin bekannten Burg am Nie-derrhein. 21 Siegfried hieß der vorzügliche, kämpf gewandte junge Mann. Er war durch viele Länder in kämpferischer Neugier geritten, um seine Kraft zu erproben. Ach, wieviel ritterlich geübte Gefährten sollte er später im Burgundenland kennenlernen! 22 In seinen besten Jugendtagen pflegte man von Siegfried die wunderbarsten Taten zu berichten, wie sein Ansehen täglich wüchse und wie schön er war. Deshalb fanden ihn später die hübschen Frauen so begehrenswert. 23 Man erzog ihn mit der Sorgfalt, die am Hofe üblich war. Aber was entwickelte er auch selbst für glänzende Eigenschaften aus seinen Anlagen heraus! Später gewannen die Länder seines Vaters dadurch Ruhm und Achtung, weil man ihn in jeder Hinsicht so ausgezeichnet beurteilte. 24 Inzwischen war er für die Teilnahme an der höfischen Gesellschaft alt genug geworden. Die Leute sahen ihn gern. Viele Damen und Mädchen wünschten, daß er immer an den Geselligkeiten teilnehmen wolle. Viel zuviele wurden ihm zugetan: das merkte der Herr schnell. 25 Niemals ließ man den Jungen ohne Aufsicht ausreiten. Siegmünd und Sieglinde befahlen, ihn prächtig zu kleiden. Es kümmerten sich auch erfahrene Lehrer um ihn, die den Sinn der 2. Aventiure 15 höfischen Erziehung kannten. So konnte Siegfried Land und Leute gut für sich gewinnen. 26 Bald war er so kräftig, daß er die Waffen zu führen verstand. Alles, was er dazu brauchte, besaß er reichlich. Er fing an, schönen Frauen zu dienen, für die es durchaus ehrenvoll gewesen wäre, auf seine Werbung einzugehen. 27 Da ließ sein Vater Siegmund den Lehnsleuten bekannt machen, er wolle mit seinen lieben Freunden ein Fest feiern. Diese Nachricht brachte man auch in die Länder anderer Könige. Den Auswärtigen und den Einheimischen schenkte er Pferde und Ausrüstungen. 28 Man lud jeden jungen Edelmann, den man ausfindig machte und der nach dem Stand seiner Familie Ritter werden sollte, ins Land zum Feste ein, damit er mit dem jungen König gemeinsam das Schwert empfange. 29 Von diesem Fest könnte man Wunderbares berichten. Siegmund und Sieglinde verstanden vorzüglich, mit ihren reichen Geschenken großes Ansehen zu erwerben: sie teilten freigebig aus. Deshalb sah man viele Fremde zu ihnen ins Land reiten, 30 Vierhundert Knappen sollten zusammen mit Siegfried die Ritterkleidung angelegt bekommen. Viele schöne Mädchen hatten alle Hände voll zu tun, denn sie hatten ihn gern. Die Damen faßten viele Edelsteine in Gold, 31 um sie mit Bändern den jungen, stolzen Männern auf der Kleidung zu befestigen: das mußte nun einmal so sein. Der König ließ für die vielen kühnen Männer Sitze aufstellen, und zwar zur Sonnenwendzeit, als sein Sohn Siegfried den Rang eines Ritters bekam. 2. Aventiure 17 32 Da ging eine große Zahl reicher Knappen und edler Ritter zum Münster. Es war richtig, daß an diesem Tag die Erfahrenen den Unerfahrenen so dienten, wie es ihnen selbst einmal geschehen war. Sie unterhielten sich gut, und die Erwartung auf vielerlei Freuden stieg. 33 Gott zur Ehre sang man eine Messe. Dann entstand unter den Leuten großes Gedränge, als nach ständischer Vorschrift die Knappen mit so herrlichem Gepränge zu Rittern geschlagen wurden, wie es kaum noch einmal zu sehen sein dürfte. 34 Sie liefen zu den vielen schon gesattelten Pferden. In Siegmunds Hof wurde ein so starker Buhurt ausgefochten, daß man davon die gesamte Burg erdröhnen hörte. Die begeisterten Ritter machten beträchtlichen Lärm. 35 Die erfahrenen Kämpfer und die Neulinge hörte man zusammenstoßen, so daß das Zersplittern der Lanzenschäfte die Luft mit Getöse erfüllte, Man sah von der Hand vieler Ritter die zerbrochenen Speere nach der Burg hin fliegen. Dies geschah voller Eifer. 36 Der Hausherr gab schließlich das Zeichen zum Ende des Turniers, und man führte die Pferde fort. Viele metallene Schildbuckiel sah man zerbrochen, und die zahlreichen Edelsteine, die beim Aufprall aus den glänzenden Schildspangen gesprungen waren, blieben im Grase liegen. Das war durch das Stoßen geschehen. 37 Die Gäste des Hausherrn setzten sich, wo man sie Platz zu nehmen bat. Auserlesene Speisen und der allerbeste Wein, wovon man ihnen reichlich auftrug, vertrieben die Müdigkeit. Man erwies allen, die von nah und fern gekommen waren, große Ehrerbietung. 2. Aventiure 19 38 Während sie sich den ganzen Tag über vergnügt die Zeit vertrieben, kamen die vielen Fahrenden keinen Augenblick zur Ruhe. Sie arbeiteten gegen Bezahlung, die man hier als großzügig bezeichnen kann. So erwarb sich das gesamte Land Siegmunds ein hohes Lob. 39 Der König ließ den jungen Siegfried Länder und Burgen als Lehen verteilen, wie er es früher getan hatte. Siegfried schenkte denen viel, die mit ihm den Ritterschlag empfangen hatten. Da freuten sie sich, die Reise in dieses Land unternommen zu haben. 40 Das Fest dauerte bis zum siebenten Tag. Die mächtige Königin Sieglinde teilte nach altem Brauch aus Liebe zu ihrem Sohn rotes Gold aus. Sie verstand es, ihm die Zuneigung der Leute zu gewinnen. 41 Kein einziger Fahrender blieb unbeschenkt. Pferde und Kleider fielen den Gastgebern wie Staub aus der Hand; so als ob sie nicht länger als nur noch einen Tag zu leben hätten. Ich glaube, daß sich niemals zuvor eine Hofgesellschaft so freigebig gezeigt hat. 42 Mit großer gegenseitiger Wertschätzung ging die Festgesellschaft auseinander. Von den Großen des Landes hat man später wohl gehört, daß sie den jungen Siegfried gern als ihren Herrn anerkennen wollten, Aber danach drängte sich der stattliche junge Mann keineswegs. 43 Solange Siegmund und Sieglinde noch lebten, wollte ihr geliebter Sohn nicht die Krone tragen. Doch war der kühne und mutige Ritter bereit, alle Gewalttaten abzuwehren, die er als Bedrohung des Landes befürchtete. 3. Aventiure Wie Siegfried nach Worms kam 44 Niemals bedrückte Siegfried irgendein Herzeleid. Da hörte er eines Tages, im Burgundenland lebe ein Mädchen von vollkommener Schönheit. Um ihretwillen sollte er später viel Freude, aber auch Mühsal erleben. 45 Ihre unbeschreibliche Schönheit war weit und breit bekannt, und ebenfalls erkannten viele Helden die feine höfische Bildung der jungen Dame. Deshalb zog sie zahlreiche Fremde in Gunthers Land. 46 Aber welche Ritter man um ihre Liebe auch werben sah, sie äußerte nie die Absicht, einen von ihnen als Geliebten auszuer-wählen. Noch sehr fern war ihr derjenige, dem sie später gehören sollte. 47 Zu dieser Zeit dachte Sieglindes Sohn erstmals an die hohe Minne. Im Vergleich mit ihm wirkte die Werbung aller anderen wie ein kleines Lüftchen, nämlich nichts. Denn er war sehr wohl imstande, die Aufmerksamkeit schöner Damen zu wek-ken. Später wurde die edle Kriemhild die Frau des kühnen Siegfried. 48 Da Siegfried sich offenbar fest zu binden hoffte, rieten ihm die Verwandten und viele Gefolgsleute zu einer Standesgemä^ ßen Heirat. Da antwortete der kühne Siegfried: »So will ich Kriemhild, 49 die schöne junge Frau aus dem Burgundenland, zur Frau nehmen, wegen ihrer unermeßlichen Schönheit. Ich weiß sehr wohl: Auch jedem noch so mächtigen Kaiser würde es gut anstehen, wenn er eine Frau haben wollte, um die Zuneigung der mächtigen Königin zu werben.« 3. Averttiure 23 50 Das erfuhr Siegmund, denn seine Leute redeten darüber. So wurde ihm die Absicht seines Sohnes bekannt. Es bereitete ihm Kummer, daß Siegfried gerade dieses wunderschöne Mädchen begehrte. 51 Auch Sieglinde, die Gemahlin des edlen Königs, hörte davon. Sie machte sich große Sorgen um ihren Sohn; denn sie kannte Gunther und seine Gefolgschaft genau. So begann man, dem jungen Ritter seinen Plan zu verleiden. 52 Da sagte der tapfere Siegfried: »Mein lieber Vater, ich wollte eher auf die Liebe edler Damen verzichten, wenn ich meine Werbung nicht dort vorbringen kann, wo mein Herz große Liebe empfindet. Alles, was jemand dagegen einwenden konnte, kann mich von meinem Vorhaben nicht abbringen.« 53 »Wenn du also nicht davon ablassen willst«, erwiderte der König, »so freue ich mich über deinen festen Entschluß und will dir dabei helfen, so gut ich kann. Doch König Gunther hat viele stolze Gefolgsleute. 54 Wenn allein niemand weiter da wäre als Hagen, der Ritter! Der kann den Übermut bis zur Hoffart treiben, so daß ich durchaus fürchte, es könnten uns Unannehmlichkeiten entstehen, wenn wir um das wunderschöne Mädchen werben wollen.« 55 »Wieso kann uns das stören?« fragte Siegfried. »Alles, was ich im guten bei ihnen nicht erreiche, das kann uns mit Kraft mein Arm erwerben. Ich traue mir zu, ihnen Land und Leute gewaltsam zu nehmen.« 56 Da antwortete Siegmund, der Fürst: »Solche Rede mag ich nicht; denn wenn man davon etwas in Worms am Rhein erführe, dürftest du niemals dieses Land betreten. Ich kenne Gunther und Gernot seit langem. 3. Aventiure 25 57 Mit Gewalt kann niemand das Mädchen bekommen,« Und König Siegmund fuhr fort: »Das weiß ich genau. Wenn du aber mit ritterlicher Begleitung dorthin reiten willst, so können wir die Freunde, die wir haben, schnell aufbieten.« 58 »Ich habe nicht vor«, entgegnete Siegfried, »mich wie auf einem Kriegszug von einer Gefolgschaft nach Worms begleiten zu lassen, um - was mir leid täte - das wunderschöne Mädchen mit Gewalt zu erobern. 59 Sie zu erwerben, vermag meine Hand sehr wohl allein. Ich will mit elf Begleitern in Gunthers Land reiten. Helft mir dabei, Vater Siegmund.« Da stattete man seine Begleiter mit grauen und bunten pelzverbrämten Kleidern aus. 60 Seine Mutter Sieglinde hörte von den Vorbereitungen. Sie begann, sich um ihren geliebten Sohn zu sorgen, weil sie ihn durch Gunthers Männer zu verlieren fürchtete. Die edle Königin fing sehr zu weinen an. 61 Herr Siegfried sah nach ihr und sagte liebevoll zur Mutter: »Herrin, Ihr sollt meinetwegen nicht weinen. Wahrhaftig, ich werde mich vor keinem Kämpfer fürchten. 62 Bitte helft mir bei der Reisevorbereitung ins Burgunden-land, damit ich und meine Begleiter solche Kleidung bekommen, die stolze Krieger ehrenvoll tragen können. Dafür will ich Euch aufrichtig dankbar sein.« 63 »Wenn du deinen Plan nicht aufgeben willst«, sagte Frau Sieglinde, »so helfe ich dir, die Reise vorzubereiten, mein einziger Sohn, und zwar mit der besten Kleidung für dich und deine Gesellen, die je ein Ritter getragen hat. Ihr werdet genug davon mitnehmen.« 3. Aventiure 27 64 Da verneigte sich der junge Siegfried vor der Königin und sagte: »Ich werde auf die Fahrt nur zwölf Krieger mitnehmen. Denen soll man die Kleidung anmessen. Ich will so gerne sehen, wie es um Kriemhild bestellt ist.« 65 Da saßen schöne Damen Tag und Nacht und gönnten sich keine Ruhe, bis sie die Ausrüstung für Siegfried fertiggestellt hatten. Er wollte auf seine Reise keinesfalls verzichten. 66 Sein Vater ließ die ritterliche Kleidung kostbar ausstatten, mit der Siegfried Siegmunds Land verlassen wollte; ihre glänzenden Rüstungen, die festen Helme und die schönen und breiten Schilde wurden bereit gelegt. 67 Da kam für sie der Tag ihrer Abreise ins Burgundenland. Überall machten sich Frauen und Männer Sorgen, ob die Helden jemals wieder in die Heimat zurückkehren würden. Die Helden ließen sich Waffen und Ausrüstung auf die Saumtiere laden. 68 Ihre Pferde waren schön, ihr Reitzeug rot von Gold. Niemand hatte einen Grund gehabt, sich selbstsicherer zu fühlen als Siegfried und seine Begleiter. Er bat um Abschied für seine Reise zu den Burgunden, 69 den der König und seine Gemahlin traurig gewährten. Siegfried tröstete beide liebevoll und sagte: »Ihr sollt meinetwegen nicht weinen. Nie braucht ihr eine Gefahr für mein Leben zu befürchten.« 70 Das ging den Rittern am Hofe nahe; auch viele Mädchen weinten. Ich glaube, sie ahnten im Herzen, daß viele ihrer Freunde wegen dieser Reise den Tod finden sollten. Zu Recht kla gten sie, sie hatten wirklich Grund dazu. 3. Aventiure 29 71 Am siebenten Morgen ritten die Kühnen an das Ufer bei Worms. Ihre gesamte Ausrüstung glänzte von rotem Gold, ihr Reitzeug war prächtig. Die Pferde der Männer des kühnen Siegfried gingen gleichmäßig. 72 Ihre Schilde waren neu, glänzend und breit, und besonders schön waren die Helme. Da ritt der tapfere Siegfried zur Burg in Gunthers Land. Man hatte noch nie an Helden so prachtvolle Kleidung gesehen. 73 Die Schwertspitzen reichten bis zu den Sporen. Die auserwählten Ritter führten scharfe Wurfspeere mit sich. Siegfried hatte einen, der wohl zwei Spannen breit und an der Schneide furchtbar scharf war. 74 Das goldfarbene Zaumzeug hielten sie in der Hand; die Brustriemen der Pferde waren aus Seide. So kamen sie ins Land. Das Volk starrte sie überall neugierig an. Da liefen ihnen viele von Gunthers Gefolgsleuten entgegen. 75 Die erwartungsfrohen Krieger Gunthers, Ritter wie Knappen, gingen auf die ankommenden Herren zu, wie es sich gehörte, und empfingen sie als Gäste im Land ihres Gebieters. Sie hahmen ihre Pferde Und Schilde in Gewahrsam. 76 Die Pferde wollten sie in die Stalle führen und versorgen. Aber da sagte der tapfere Siegfried sogleich: »Laßt für mich und meine Leute die Pferde stehen. Wir wollen bald wieder weiterreiten; das ist meine feste Absicht. 77 Jeder, der weiß, wo ich den König, den mächtigen Gunther aus dem Burgundenland, finde, soll mir das nicht verschweigen, sondern es sagen.« Das tat einer von ihnen, der es genau wußte. 3. Aventiure 31 78 »Wollt Ihr den König treffen, so ist das sehr leicht möglich. In dem großen Saal da habe ich ihn bei seinen Helden gesehen. Geht dorthin, und Ihr könnt in seiner Gesellschaft viele außergewöhnliche Männer treffen.« 79 Inzwischen war dem König die Nachricht überbracht worden, es seien bemerkenswerte Ritter angekommen, die hellblinkende Rüstungen und prächtige Kleidung trügen. Sie kannte niemand im Burgundenland. 80 Der König wollte deshalb gern wissen, woher die vorzüglichen Krieger in den glänzenden Gewändern und mit so guten, neuen, breiten Schilden gekommen wären. Daß ihm das niemand sagte, ärgerte Gunther. 81 Deshalb antwortete Ortwin von Metz dem König (mit Recht galt er als edel und kühn): »Da wir die Fremden nicht kennen, solltet Ihr nach meinem Oheim Hagen schicken und ihn sie ansehen lassen. 82 Der versteht etwas von der Welt und auch von fremden Ländern. Wenn er diese Herren kennt, dann sagt er uns das.« Der König bat, ihn und seine Leute zu rufen. Man sah Hagen darauf in herrlichem Zug mit seinen Begleitern zum Hofe gehen. ' 83 Was sein König von ihm wolle, fragte Flagen. »Es sind in meinem Haus fremde Ritter angekommen, die hier niemand kennt. Wenn Ihr sie schon einmal gesehen habt, so sollt Ihr, Hagen, mir das aufrichtig sagen.« 84 »Natürlich«, antwortete Hagen. Er ging zu einem Fenster und ließ seine Blicke zu den Gästen schweifen. Gut gefielen ihm ihr Auftreten und ihre Ausrüstung, Aber auch ihm waren sie völlig unbekannt im Burgundenland. 3. Aventiure 33 85 Er meinte, von wo auch immer die Helden an den Rhein gekommen wären, so könnten sie Fürsten oder fürstliche Boten sein. Die Pferde wären tadellos, die Ausrüstung sehr gut. Gleich, woher sie das alles mitbrächten, sie zeigten ritterliche Haltung. 86 Deshalb sprach Hagen: »Ich möchte dazu folgendes sagen; obwohl ich Siegfried noch nie gesehen habe, so möchte ich wohl annehmen, mag es sein, wie es will, daß er der Krieger ist, der dort so stolz auf und ab geht. 87 Er bringt Neuigkeiten in dieses Land. Die Hand des Helden hat die tapferen Nibelungen besiegt, Schilbung und Nibelung, die Söhne eines mächtigen Königs. Mit seinen großen Kräften hat er seither beträchtliche Wunder vollbracht. 88 Als der Held einmal ohne jeden Begleiter aus geritten war, fand er vor einem Berg, wie mir berichtet worden ist, viele kühne Männer um den Hort der Nibelungen versammelt, die ihm fremd waren, bevor er sie dort kennenlernen sollte. 89 Der Hort Nibelungs war nämlich aus einer Berghöhle herausgetragen worden. Nun hört die seltsame Geschichte, wie ihn die Nibelungen teilen wollten. Das beobachtete der ritterliche Siegfried, und er begann, sich darüber zu wundern. 90 Er ging so nahe heran, daß er die Helden und diese auch ihn sehen konnten. Einer von ihnen sagte: >Hier kommt der starke Siegfried, der Held aus Niederlande Sehr merkwürdige Geschichten erlebte er mit den Nibelungen. 91 Den Krieger empfingen Schilbung und Nibelung höflich. Nach einem gemeinsamen Beschluß baten die jungen, edlen Fürsten den wackeren Siegfried, den Schatz zu teilen, und sie drängten solange, bis er es ihnen versprach. 3. Aventiure 35 92 Er sah, wie wir berichten hören, so viele Edelsteine, die hundert Wagen nicht hätten fassen können, außerdem noch mehr rotes Gold aus dem Land der Nibelungen. Und das alles sollte der tapfere Siegfried für sie aufteilen! 93 Da schenkten sie ihm das Schwert Nibelungs als Lohn. Doch mit dem Dienst, den ihnen der gute Siegfried leisten sollte, waren sie schlecht beraten. Denn er konnte die Aufgabe nicht lösen: die Nibelungen waren deshalb zornig. 94 Sie hatten unter ihren Freunden zwölf mutige Männer, die starke Riesen waren. Aber was konnte ihnen das nutzen? Sie hat nämlich Siegfried später voller Wut eigenhändig erschlagen, und außerdem bezwang er noch siebenhundert Krieger aus dem Nibelungenland 95 mit dem vortrefflichen Schwert, das Balmung hieß. Aus großer Furcht vor dem Schwert und dem tollkühnen Mann unterwarfen sich viele junge Ritter Siegfried und übergaben ihm die Burgen und das Land dazu. 96 Außerdem erschlug er die beiden mächtigen Könige. Allerdings kam er danach durch Alberich in große Not, der nämlich gehofft hatte, seine Herren sogleich rächen zu können, bis er selbst Siegfrieds große Kraft zu spüren bekam. 97 Da konnte es der starke Zwerg mit ihm nicht aufnehmen. Sie rannten wie zwei wilde Löwen auf den Berg zu, bis Siegfried Alberich die Tarnkappe abgewann, und damit war er, der furchterregende Mann, Flerr über den Nibelungenhort. 98 Die zu fechten gewagt hatten, lagen alle erschlagen auf dem Feld. Den Schatz ließ er sogleich dorthin führen und tragen, woher ihn die Nibelungen vorher geholt hatten. Der so starke Alberich wurde zum Kämmerer gemacht. 3. Aventiure 37 99 Dafür mußte er Siegfried den Eid schwören, er wolle ihm als Knecht dienen. Zu allem war Alberich bereit.« So berichtete Hagen von Tronje. »Das hat Siegfried getan. Größere Macht hat nie ein Krieger zuvor erlangt. 100 Ich weiß noch mehr von ihm, was mir zu Ohren gekommen ist. Einen Drachen hat der Held erschlagen. Er badete sich in dem Blute, und daraufhin hat er eine Hornhaut bekommen. Deshalb verwundet ihn keine Waffe, wie sich schon oft gezeigt hat. 101 Wir werden den Herrn möglichst freundlich empfangen, damit wir uns nicht die Feindschaft des jungen Kämpfers zuziehen. Er ist so ungebärdig kühn, daß man ihn freundlich gegen sich stimmen sollte. Mit seiner Stärke hat er schon viele Wundertaten vollbracht.« 102 Da sagte der mächtige König: »Du kannst recht haben, nun sieh, wie kampfbereit und streitgierig er mit seinem Gefolge dasteht, der ungewöhnlich tapfere Mann. Laßt uns dem Krieger entgegengehen, um ihn unten im Flof zu begrüßen.« 103 »Das könnt Ihr gut tun«, sagte Hagen, »ohne Euch etwas dabei zu vergeben. Er stammt aus edlem Geschlecht, denn er ist der Sohn eines mächtigen Königs. Seiner Haltung nach, so glaube ich bei Gott, sind es keine Kleinigkeiten, um derentwillen er hierher geritten ist.« 104 Da sprach der König des Landes: »Nun sei er uns willkommen. Er ist adlig und kühn, das habe ich gern gehört. Das soll ihm auch im Land der Burgunden zugute kommen.« Da ging Herr Gunther zu Siegfried hin. 105 Der Landesherr und seine Gefolgsleute empfingen den Gast so, daß ihnen aber auch kein einziger Fehler in den höfischen Regeln unterlief. Der ansehnliche Mann verneigte sich 3. Aventiure 39 und dankte, daß sie ihn und die Seinen so freundlich begrüßt hätten. 106 »Ich möchte gern wissen«, fragte der König sogleich, »weshalb Ihr, edler Siegfried, in dieses Land gekommen seid, oder was Ihr in Worms am Rhein unternehmen wollt.« Da antwortete der Gast dem König: »Das soll Euch nicht verschwiegen bleiben. 107 Ich habe im Land meines Vaters erfahren, daß es hier bei Euch (und davon hätte ich mich gern selbst überzeugt) die tapfersten Männer gäbe, die je ein König um sich versammelt habe. Davon habe ich viel gehört, und deshalb bin ich hergekommen. 108 Wie ich außerdem höre, spricht man Euch einen solchen Kampfgeist zu, daß man keinen mutigeren König je gesehen habe. Davon reden die Leute viel in allen Ländern. Nun will ich nicht ablassen nachzuforschen, bis ich weiß, ob das stimmt. 109 Ich bin auch ein Krieger und hätte schon die Krone tragen sollen. Aber ich will gern erreichen, daß man von mir sagt, Land und Leute seien rechtmäßig auf mich gekommen. Dafür sollen mein Ansehen und mein Kopf bürgen. 110 Da Ihr so tapfer seid, wie mir gesagt worden ist, so habe ich die Absicht, Euch, ganz gleich, ob es jemandem gefällt oder jemanden stört, alles abzuzwingen, was Ihr besitzt. Euer Land und Eure Burgen sollen mir Untertan sein.« 111 Der König und ebenso seine Gefolgsleute wunderten sich über diese Forderung, die sie hier vernahmen, daß Siegfried willens wäre, ihm die Länder zu nehmen. Das hörten seine Leute, und sie spürten Zorn aufkommen. 3. Äventiure 41 112 »Wieso hätte ich verdient«, fragte Gunther, der Krieger, »das an einen Herausforderer zu verlieren, was mein Vater lange Jahre mit hohem Ansehen bewahrt hat? Wenn wir dies zuließen, wären wir klägliche Ritter.« 113 »Ich will davon nicht abgehen«, erwiderte der kühne Mann, »wenn mit deiner Macht dein Land den Frieden nicht bewahren kann, will ich über alles herrschen. Dasselbe gilt auch umgekehrt: siegst du mit deiner Stärke, dann sollen dir meine Erblande Untertan sein. 114 Dein Erbe und das meine sollen gleichstehen. Wer von uns beiden den anderen zu besiegen vermag, dem soll alles dienen, Leute und Land.« Da widersprachen Hagen und Gernot sofort. 115 »Wir haben nicht die Absicht«, sagte da Gernot, »uns irgendwelche Länder gewaltsam anzueignen, so daß jemand durch die Hand eines Helden fällt. Wir besitzen reiche Länder, die uns rechtmäßig dienen; niemandem gehören sie aufgrund eines weitergehenden Rechtes.« 116 Aufgebracht standen seine Freunde herum. Unter ihnen befand sich auch Ortwin von Metz, der sagte: »Diese Art, wie der Streit ausgetragen werden soll, paßt mir nicht. Euch hat der starke Siegfried grundlos den Kampf angesagt. 117 Wenn Ihr und Eure Brüder keine entsprechende Gegenwehr besäßet und selbst wenn Siegfried dann ein ganzes königliches Heer aufböte, traute ich mir wohl zu, so zu kämpfen, daß dieser tapfere Mann seine große Überheblichkeit recht und billig sein ließe.« 3. Aventiure 43 118 Das nahm der Held aus Niederland sehr zornig auf. Er sagte: »Deine Hand soll sich nicht vermessen gegen mich erheben. Ich bin ein mächtiger König, aber du bist nur der Lehnsmann eines Königs. Ja, es dürften wohl zwölf deinesgleichen nicht ausreichen, um mich jemals zu schlagen.« 119 Ortwin von Metz rief darauf laut nach den Schwertern, er handelte damit würdig als Sohn der Schwester Hagens von Tronje. Daß dieser so lange schwieg, ärgerte den König, Da verhinderte Gernot, der kühne und stolze Ritter, das Schlimmste. 120 Er sagte zu Ortwin: »Laßt Euren Zorn, uns hat Herr Siegfried nichts getan, was wir nicht noch auf höfische Art schlichten könnten. Das ist mein Rat, und außerdem gewinnen wir ihn als Freund, was uns noch besser ansteht.« 121 Da sagte der starke Hagen: »Wir, das heißt alle deine Gefolgsleute, haben tatsächlich Anlaß, verstimmt zu sein, daß Siegfried um des Streites willen an den Rhein geritten ist. Das hätte er besser unterlassen sollen. Denn ihm hätten meine Herren eine solche Beleidigung nicht zugefügt.« 122 Darauf antwortete Siegfried, der starke Mann: »Wenn Euch das kränkt, Herr Hagen, was ich gesagt habe, dann werde ich zeigen, daß meine Hände hier im Burgundenland gewaltige Arbeit leisten wollen.« 123 »Das werde ich allein verhindern«, entgegnete Gernot. Allen seinen Leuten verbot er, irgend etwas Überhebliches zu sagen, das den Gast hätte beleidigen können. Da begann auch Siegfried, an das wunderschöne Mädchen zu denken. 124 »Wie käme uns zu, mit Euch zu kämpfen?« fragte wiederum Gernot. »Wenn viele Helden dabei den Tod finden müßten, gewönnen wir davon wenig Ansehen und Ihr kaum einen Nutzen.« Ihm antwortete Siegfried, der Sohn des Königs Siegmund: 3. Aventiure 45 125 »Warum zögert Hagen und auch Ortwin, sich zusammen mit seinen Freunden, von denen er so viele im Burgundenland hat, in den Kampf zu stürzen?« Sie mußten auf die Erwiderung verzichten; das war Gernots Befehl. 126 »Ihr sollt uns willkommen sein«, sprach Gernot, Utes Sohn, »mit Euren Begleitern, die mit Euch hergekommen sind. Wir werden Euch gern zu Diensten stehen, ich und meine Verwandten.« Daraufhin ließ man den Gästen Gunthers Wein ausschenken. 127 Da sagte der Landesherr: »Alles, was wir besitzen, stehe Euch zur Verfügung, wenn Ihr gestattet, und sei mit Euch geteilt - Leben und Gut.« Diese Worte stimmten Herrn Siegfried etwas freundlicher. 128 Man ließ ihre Ausrüstung aufbewahren. Die beste Herberge, die man finden konnte, wählte man für Siegfrieds Knappen, wo man für gute Bequemlichkeit sorgte. Später wurde Siegfried ein sehr gern gesehener Gast bei den Burgunden. 129 An den folgenden Tagen erwies man ihm große Ehren, und zwar tausendmal mehr, als ich euch erzählen kann. Das hatte seine Kraft bewirkt, das könnt ihr mir glauben. Es gab niemanden, der ihn traf und ihn danach hätte hassen können. 130 Die Könige und auch ihr Gefolge unterhielten sich mit höfischen Spielen. Bei allem, was man anfing, war Siegfried stets der Beste. Es konnte ihm niemand gleichtun, so groß war seine Kraft, wenn sie den Stein warfen oder den Speer schössen. 131 Wo immer die hochgestimmten Ritter vor den Damen ihre Spiele zeigten und ihre höfische Bildung entfalteten, da sah man stets den Helden aus Niederland sehr gern. Er hatte seine Gedanken auf die hohe Minne gerichtet. 3. Aventiure 47 132 Zu allem, was man anfing, hatte er Lust. Seine Gedanken waren erfüllt von dem einen liebenswerten Mädchen, und zugleich dachte auch Kriemhild an ihn, die er noch nie gesehen hatte und die in aller Heimlichkeit sehr oft freundlich von ihm sprach. 133 Jedesmal, wenn auf dem Hofe die jungen Leute, Ritter und Knappen, sich vergnügen wollten, sah seit Siegfrieds Ankunft Kriemhild, die stolze Königin, von den Fenstern aus zu. Dann brauchte sie keinen anderen Zeitvertreib. 134 Wenn er gewußt hätte, daß sie ihn sah, deren Bild er im Herzen trug, so wäre er immer voller Freude gewesen. Hätten seine Augen sie gesehen - ich glaube das genau zu wissen - so hätte es ihm auf der Welt nicht besser gehen können. 135 Immer wenn Siegfried bei den Gefährten auf dem Hofe stand, so wie es die Leute noch heute zum Zeitvertreib tun, dann wirkte der Sohn Sieglindes so liebenswert, daß ihm die Herzen vieler Damen zuflogen. 136 Er dachte auch sehr oft: »Wie soll es denn geschehen, daß ich das adlige Fräulein endlich einmal sehen kann? Die ich jetzt und schon lange Zeit von Herzen liebe, die kenne ich noch nicht. Deshalb muß ich traurig sein.« 137 Wenn immer die mächtigen Könige in ihr Land ritten, so mußten auch die Gefolgsleute sie begleiten. Siegfried hatte ebenfalls mitzureiten. Das bedauerte die junge Herrin sehr. Auch er geriet durch ihre Liebe oft in großes Unbehagen. 138 So lebte Siegfried bei den Herren im Lande Gunthers tatsächlich ein ganzes Jahr, ohne in dieser Zeit die liebliche Kriemhild je gesehen zu haben. Von ihr sollte ihm später noch viel Liebe und auch viel Leid geschehen. 14, Aventiure 249 812 Vor dem Münster saßen sie ab. Brünhild war ihren Gästen zu diesem Zeitpunkt noch immer sehr gewogen. Im Krönungsornat betraten sie das weite Münster. Später zerbrach die Zuneigung jäh, und das geschah aus tiefem Haß. 813 Nachdem sie die Messe gehört hatten, kehrten sie wieder zurück. Mit großem Gepränge sah man sie später fröhlich zu Tisch gehen. Ihre Freude hörte bei diesem Fest nicht auf - bis zum elften Tag. 14. Aventiure Wie die Königinnen sich gegenseitig herabsetzten 814 Eines Tages gab es vor der Vesperzeit beträchtliche Unruhe, die von den vielen Kriegern auf dem Hofe ausging. Sie hielten Ritterspiele zur Unterhaltung ab, und deshalb liefen viele Männer und Frauen dorthin, um zuzusehen. 815 Die beiden mächtigen Königinnen saßen nebeneinander und dachten an zwei berühmte Kämpfer. Da sagte die schöne Kriemhild: »Ich habe einen solchen Mann, daß alle diese Reiche in seiner Macht stehen sollten.« 816 Frau Brünhild entgegnete darauf: »Wie wäre das möglich? Wenn niemand lebte als er und du, dann könnten ihm die Länder natürlich Untertan sein. Doch solange Gunther lebt, kann das niemals geschehen.« 14. Aventiure 251 817 Da erwiderte Kriemhild: »Sieh doch einmal, wie er dasteht, wie er so herrlich vor den Kämpfern einherschreitet, genauso wie der helle Mond den Sternen voranleuchtet. Deshalb habe ich allen Grund, fröhlich zu sein!« 818 Da sagte Frau Brünhild: »Wie stolz auch immer dein Mann sein mag, wie tüchtig und schön, so mußt du doch vor ihm Gunther, dem Krieger, deinem edlen Bruder, den Vorrang lassen. Der muß, dessen sei gewiß, über allen anderen Königen stehen.« 819 Frau Kriemhild erwiderte darauf: »So angesehen ist mein Mann, daß ich ihn nicht ohne guten Grund gelobt habe. In vieler Hinsicht ist sein Ansehen groß. Du kannst es mir glauben, Brünhild, er ist Gunther vollkommen ebenbürtig.« 820 »Ja, Kriemhild, du darfst mir dies nicht übel nehmen; denn ich habe diese Worte auch nicht ohne Grund gesprochen. Ich habe nämlich beide das sagen hören, als ich sie das allererste Mal getroffen habe und nachdem der Wille des Königs mich besiegt 821 und er meine Liebe so ritterlich gewonnen hatte. Da sprach Siegfried selbst davon, er wäre der Lehnsmann des Königs. Deshalb halte ich ihn für einen Leibeigenen, eben weil ich es von ihm selbst gehört habe.« Da sagte die schöne Kriemhild: »Dann wäre mir übel mitgespielt worden. 822 Wieso hätten meine edlen Brüder haben wollen, daß ich die Geliebte eines Leibeigenen werden sollte? Deshalb möchte ich dich, Brünhild, als Verwandte bitten, solche Rede mir zuliebe gefälligst zu unterlassen.« 823 »Ich kann sie nicht auf sich beruhen lassen«, sagte die Gemahlin des Königs, »wieso sollte ich auf so viele Ritter verzichten, die uns mit Siegfried zu Lehnsdiensten verpflichtet sind?« Die wunderschöne Kriemhild geriet in großen Zorn. 14, Aventiure 253 824 »Du mußt darauf verzichten, daß er dir irgendeinmal mit seinem Dienst zur Verfügung steht. Er ist sehr viel angesehener als mein Bruder Gunther, der edle Mann. Verschone mich mit dem, was ich eben von dir gehört habe. 825 Übrigens wundert es mich sehr, daß er - da er dein Leibeigener ist und du über uns beide die Gewalt hast - es so lange unterlassen hat, die fälligen Abgaben zu entrichten. Deine Überheblichkeit sollte ich mit Recht übergehen.« 826 »Du willst zu hoch hinaus«, sagte die Frau des Königs, »jetzt möchte ich gerne sehen, ob man dir ebensolche Ehren erweist wie mir.« Die Damen wurden beide sehr zornig erregt. 827 Da sagte Frau Kriemhild: »Und das muß gleich geschehen. Weil du behauptet hast, mein Mann sei ein Leibeigener, sollen heute die Gefolgsleute beider Könige sehen, ob ich vor der Frau des Königs ins Münster zu gehen wage. 828 Du sollst heute erkennen, daß ich aus adelsfreicm Geschlecht stamme und daß mein Mann mehr gilt als der deine. Deshalb will ich mich nicht beschimpfen lassen. Du sollst noch heute sehen, wie die Frau deines Leibeigenen 829 die Spitze des Gefolges am burgundischen Hof anführt. Ich will selbst mehr Ehre erwiesen bekommen als jede Königin, von der man weiß, sie hat einmal eine Krone getragen.« Da brach zwischen den beiden Damen ein unversöhnlicher Haß aus. 830 Brünhild begann erneut: »Wenn du nicht zu den Leibeigenen gehören willst, dann mußt du dich mit deinen Frauen von meinem Gefolge trennen, sobald wir zum Münster gehen.« Kriemhild antwortete darauf: »Wahrhaftig, so soll es sein.« 14. Aventiure 255 831 »Nun kleidet euch festlich, meine Mädchen«, sagte Siegfrieds Frau. »Ich muß hier ehrenvoll bestehen. Und da ihr kostbare Gewänder habt, sollt ihr sie sehen lassen. Brünhild wird allen Grund haben, zurückzunehmen, was sie gesagt hat.« 832 Man brauchte sie nicht lange zu bitten, die reichen Kleider herauszusuchen. Da wurden viele Damen und Mädchen aufs sorgfältigste geschmückt. Die schöne Kriemhild, die Frau des edlen Königs, ging mit ihrem Gefolge. (Auch sie war prächtig gekleidet.) Das waren 833 dreiundvierzig Mädchen, die sie mit an den Rhein gebracht hatte. Sie trugen glänzende, in Arabien gewirkte Stoffe. So erreichten die wunderschönen Mädchen das Münster, vor dem bereits alle Gefolgsleute Siegfrieds auf Kriemhild warteten. 834 Die Leute wunderten sich, was geschehen sein mochte, daß man die Königinnen getrennt sah und sie nicht nebeneinander gingen wie früher. Davon sollte vielen Rittern später tiefes Leid entstehen. 835 Hier vor dem Münster stand Gunthers Frau. Viele Ritter vertrieben sich inzwischen die Zeit mit den schönen Damen, die sie dort trafen. Da erschien die Herrin Kriemhild in stattlicher Begleitung. 836 Alles, was jemals die Töchter edler Ritter an Prachtgewändern getragen hatten, das war, verglichen mit diesem Hofstaat, überhaupt nichts. Kriemhild war so unbeschreiblich reich, daß dreißig Königinnen sie nicht hätten ausstechen können. 837 Auch wenn jemand sich hätte etwas wünschen dürfen, er wäre nicht imstande gewesen, zu sagen, daß er jemals so kostbare Kleider gesehen hätte, wie sie Kricmhilds schöne Mädchen bei diesem Anlaß trugen. Wenn dies nicht in der Absicht geschehen wäre, Brünhild zu kränken, hätte Kriemhild darauf verzichtet. 14. Aventiure 257 838 Die beiden Königinnen trafen vor dem weiträumigen Münster aufeinander. Die Landesherrin handelte aus großem Haß und befahl Kriemhild in scharfem Ton, stehenzubleiben: »Ja, vor der Gemahlin des Königs darf die Frau eines Leibeigenen nicht den Vortritt haben.« 839 Da sagte die schöne Kriemhild voll Zorn: »Hättest du nur schweigen können, wäre das gut für dich gewesen. So aber hast du dich selbst entehrt. Wie hätte denn jemals die Geliebte eines Lehnsmannes die Frau eines Königs werden können?« 840 »Wen hast du hier Geliebte genannt?« fragte da die Frau des Königs. »Dich«, antwortete Kriemhild. »Denn deinen schönen Körper hat zuerst Siegfried, mein lieber Mann, besessen. Es war nämlich nicht mein Bruder, der dir die Unschuld genommen hat. 841 Wo ist bloß dein Verstand geblieben? Es war ein böser Trick! Wieso hast du dich von ihm lieben lassen, wenn er dein Leibeigener ist? Ich höre dich also«, sagte Kriemhild, »ohne jede Berechtigung klagen.« »Wahrhaftig«, sprach da Brünhild, »das werde ich Gunther sagen.« 842 »Was geht das mich an? Deine Überheblichkeit hat dich blind gemacht. Du hast mich mit deinen Worten zur Dienerin erniedrigt. Das nimm auf Treu und Glauben zur Kenntnis: Diese Beleidigung werde ich niemals vergessen. Mit dem vertraulichen Einvernehmen zwischen uns ist es jetzt aus.« 843 Brünhild weinte. Kriemhild zögerte nicht länger und zog vor der Frau des Königs mit ihrem Gefolge in das Münster ein. Daraus entstand eine bittere Feindschaft, weshalb glänzende Augen sehr trüb wurden und sich mit Tränen füllten. 844 Wieviel man Gott diente oder jemand da sang, alles ließ Brünhild die Zeit viel zu lang erscheinen; denn sie fühlte sich 14. Aventiure 259 körperlich und auch geistig niedergeschlagen. Das hatten später viele tapfere und vorzügliche Helden zu büßen. 845 Brünhild blieb mit ihren Damen vor dem Münster stehen. Sie dachte: »Kriemhild muß mich mehr hören lassen von dem, was sie mir scharf züngig in aller Öffentlichkeit vorwirft. Wenn sich Siegfried dieser Tat gerühmt hat, dann geht es ihm ans Leben.« 846 Nun kam die edle Kriemhild mit großem Gefolge. Da sagte Frau Brünhild: »Haltet noch einen Augenblick an. Ihr habt mich als Liebchen bezeichnet: Das müßt Ihr beweisen. Euer Gerede, das wißt Ihr, hat mich schwer beleidigt.« 847 Frau Kriemhild antwortete: »Ihr tätet besser daran, mich weitergehen zu lassen. Ich beweise es mit dem Gold, das ich an der Hand trage. Mein lieber Mann hat es mir mitgebracht, nachdem er als erster bei Euch gelegen hatte.« Niemals erlebte Brünhild einen leidvolleren Tag. 848 Sie sagte: »Dieser kostbare Ring ist mir gestohlen und lange Zeit auf üble Weise vorenthalten worden. Jetzt bekomme ich heraus, wer mir ihn weggenommen hat.« Beide Damen hatten sich in große Aufregung hineingesteigert. 849 Da sagte Kriemhild erneut: »Ich will nicht als Dieb beschuldigt werden. Du hättest besser geschwiegen, wenn dir dein Ansehen lieb gewesen wäre. Ich bezeuge auch mit dem Gürtel, den ich hier trage, daß ich nicht lüge. Ja, mein Siegfried wurde dein Mann.« 850 Sie trug den seidenen Gürtel aus Ninive, besetzt mit edlen Steinen, der wirklich sehr wertvoll war. Als Frau Brünhild den erblickte, fing sie zu weinen an. Das mußten Gunther und alle Burgunden erfahren. 14, Aventiure 261 851 Die Königin sagte: »Bittet den Fürsten vom Rhein herzukommen, ich will ihn hören lassen, wie mich seine Schwester verhöhnt hat. Sie behauptet hier öffentlich, ich sei Siegfrieds Frau gewesen.« 852 Der König kam mit seinen Kriegern. Er sah seine geliebte Frau weinen und sprach voller Mitgefühl: »Sagt mir, liebe Herrin, wer hat Euch etwas getan?« Sie erwiderte dem König: »Ich habe allen Grund, nicht fröhlich zu sein. 853 Meine ganze Ehre wollte deine Schwester mir am liebsten nehmen. Vor dir klage ich an, daß sie behauptet, Siegfried, ihr Mann, habe mich zu seiner Geliebten gemacht.« Da sagte König Gunther: »Dann hatte sie etwas Schlimmes getan.« 854 »Sie trägt hier meinen Gürtel, den ich verloren habe, und meinen rotgoldenen Ring. Daß ich je geboren worden bin, macht mich tief traurig, wenn du mich, König, vor Gericht nicht von diesem schweren Vorwurf befreist. Dafür werde ich dir immer dankbar sein.« 855 Da sagte König Gunther: »Siegfried soll herkommen. Wenn er sich damit gebrüstet hat, soll der Held aus Nicdcrland das gestehen oder widerrufen.« Kriemhilds geliebten Mann ließ man sofort herb ei bringen. 856 Als Herr Siegfried die verstimmte Gesellschaft sah (er kannte ja den Sachverhalt nicht), fragte er sofort; »Warum weinen diese Damen? Das wüßte ich gern, oder aus welchem Grund hat der König nach mir geschickt?« 857 König Gunther sagte: »Mir ist eine schwere Beleidigung zugefügt worden. Meine Frau, Briinhild, hat mir hier das Gerücht gesagt, du hättest dich gerühmt, ihren schönen Körper als erster geliebt zu haben. Das behauptet nämlich Kricmhild, deine Frau.« 14. Aventiure 263 858 Der starke Siegfried antwortete: »Und wenn sie es gesagt hat, so wird ihr das, ehe ich diese Sache auf sich beruhen lasse, noch sehr leid tun. Vor allen deinen Gefolgsleuten will ich dir mit meinen heiligen Eiden versichern, daß ich ihr so etwas nicht gesagt habe.« 859 Da sprach der König vom Rhein: »Beweise das. Wenn der Eid, den du anbietest, hier geleistet werden kann, werde ich dich von allen Unredlichkeiten freisprechen.« Man Heß die stolzen Burgunden zum Gerichtsring zusammentreten. 860 Siegfried, der so Tapfere, hob zum Eid die Hand. Da sprach der mächtige König: »Ich kenne Eure volle Unschuld sehr wohl. Deshalb spreche ich Euch von dem frei, womit Euch meine Schwester belastet, und erkläre, daß Ihr dies niemals getan habt.« 861 Da entgegnete Siegfried: »Wenn meine Frau dafür ungestraft bleibt, daß sie Brünhild gekränkt hat, dann tut mir das bestimmt unendlich leid.« Da sahen sich die guten und stolzen Ritter nur an. 862 »Man soll Frauen so erziehen«, sagte Siegfried, der Ritter, »daß sie übermütiges Gerede bleiben lassen. Untersag dies deiner Frau, mit meiner will ich es ebenso halten. Wirklich, ich schäme mich wegen ihres ausgesprochen ungehörigen Benehmens.« 863 Mit dieser Unterredung waren die vielen schönen Frauen in zwei Lager geteilt. Brünhild trauerte so sehr, daß Gunthers Lehnsmänner Mitleid mit ihr haben mußten. Da trat Hagen von Tronje zu seiner Herrin. 864 Er fragte, was mit ihr los sei, als er sie weinen sah. Sie erzählte ihm den Vorfall, und er gelobte ihr sofort, daß Kriem-hilds Mann dafür bestraft werden müsse, oder er selbst werde niemals wieder froh sein. 14. Aventiure 265 865 Zu der Unterredung, in der Hagen und Gunther Sieg-frieds Tod beschlossen, kamen Ortwin und Gernot hinzu, ebenfalls Giselher, der jüngste Sohn der edlen Ute. Als er den Beschluß hörte, sprach er in seiner treuen Haltung: 866 »Ihr guten Kämpfer, warum tut ihr das? Ja, Siegfried hat doch nie eine solche Feindschaft verdient, daß er deshalb sein Leben verlieren dürfte. Es ist recht unbedeutend, weswegen die Frauen in Zorn geraten sind.« 867 »Sollen wir uns Narren großziehen?« fragte Hagen dagegen. »Davon gewinnen tüchtige Ritter kein Ansehen. Daß Siegfried mit der Liebe meiner Herrin geprahlt hat, dafür will ich sterben, es sei denn, ihm geht es ans Leben.« 868 Da sagte der König selbst: »Siegfried hat uns bisher nur Gutes getan und unser Ansehen gestärkt; man soll ihn leben lassen. Was nützte es, wenn ich den Krieger jetzt hassen würde? Er ist uns stets treu ergeben gewesen, und zwar freiwillig.« 869 Da sagte der Ritter Ortwin von Metz: »ja, hier kann ihm seine große Stärke nicht helfen, wenn es mein LIerr mir erlaubt, werde ich ihn töten.« Damit hatten sich die Helden ohne Grund gegen Siegfried verschworen. 870 Niemand verfolgte die Sache weiter außer Hagen, der immer auf Gunther, den Ritter, einredete, ihm würden, wenn Siegfried nicht mehr lebte, viele Königreiche Untertan sein. Gunther, der Held, fiel darüber in schwere Gedanken. 871 Da ließ man den Fall auf sich beruhen. Man sah den Wettkämpfen zu. Ach, was wurde an starken Schäften vor dem Münster zerbrochen, als sich Siegfrieds Frau mit ihrem Zug zum Saal bewegte. Dagegen waren von Gunthers Lehnsleuten sehr viele empört. 14. Aventiure 267 872 Der König sagte: »Laßt den mordgierigen Zorn bleiben. Siegfried ist uns zum Glück und Stolz geboren. Außerdem ist der tollkühne Mann so furchtbar stark: wenn er auch nur etwas merken sollte, so wagte niemand, ihn zu besiegen.« 873 »Nein, und nochmal nein«, entgegnete Hagen. »Ihr könnt wohl Stillschweigen bewahren. Ich traue mir zu, alles heimlich vorzubereiten: Er soll die Tränen Brünhilds noch tief bereuen. Ihm wird von Hagen für immer Feindschaft angesagt.« 874 Da sagte König Gunther: »Wie kann das geschehen?«, worauf Hagen antwortete: »Ich will Euch das erklären. Wir lassen Boten zu uns ins Land einreiten, die hier niemand kennt und die öffentlich den Krieg erklären. 875 Darauf sagt Ihr vor den Gästen, Ihr und Eure Gefolgsleute würden sich auf einen Kriegszug begeben. Wenn das geschehen ist, so verspricht Euch Siegfried bestimmt seine Hilfe. Dabei wird er das Leben verlieren. Auf diese Weise entlocke ich der Frau des tapferen Kämpfers das Geheimnis seiner Verwundbarkeit.« 876 Der König folgte in übler Weise Hagen, seinem Lehnsmann. Diese große Treulosigkeit begannen die auserwählten Ritter in die Tat umzusetzen, ehe es jemand bemerkt hatte. Vom Streit zweier Damen wurden viele Helden verloren. 39. Aventiure 699 2322 »O weh, lieber Wolfhart, wenn ich dich verloren haben soll, so kann ich nur zutiefst bedauern, je geboren zu sein. Siegestab und Wolfwin und auch Wolfbrand! Wer soll mir denn beistehen im Land der Amelungen? 2323 Und ist mir auch der mutige Helfrich erschlagen worden? Wie könnte ich aufhören, Gerbart und Wichart zu beklagen? Das ist das Ende meiner Freude. Ach, daß niemand vor Leid sterben kann!« 39. Aventiure Wie Herr Dietrich mit Gunther und Flagen kämpfte 2324 Da suchte Herr Dietrich seine Rüstung selbst zusammen. Ihm half Meister Hildebrand, sich zu waffnen. Da klagte der starke Mann so sehr, daß das ganze Haus von seiner Stimme widerhallte, 2325 Dabei gewann er den richtigen Heldenmut zurück. Der Zorn wuchs in dem trefflichen Helden, als er gewaffnet wurde. Er nahm einen sehr festen Schild in die Hand. Sie gingen schnell hinweg, er und Meister Hildebrand. 2326 Hagen von Tronje sagte: »Ich sehe dort Herrn Dietrich herankommen. Der will uns nach seinem tiefen Leid, das ihm hier geschehen ist, angreifen. Man wird heute sehen, wem man den höchsten Preis zusprechen kann. 39, Aventiure 701 2327 Ja, Herr Dietrich von Bern dürfte sich niemals für so stark an Leibeskräften und auch Kampfbereitschaft halten, als daß ich nicht wagte, gegen ihn anzutreten, wenn er jetzt sein Leid an uns rächen will, das ihm zugefügt worden ist«, so sprach Hagen. 2328 Diese Worte hörten Dietrich und Hildebrand. Dietrich kam dorthin, wo sich die beiden Krieger vor dem Saal an die Wand lehnten. Er setzte seinen vorzüglichen Schild ab. 2329 In leidvoller Sorge sagte er: »Warum habt Ihr, mächtiger König Gunther, so gegen mich, einen Landfremden, gehandelt? Was hatte ich Euch getan? Ich stehe jetzt ganz alleine da, ohne jeden Freund. 2330 Ihr habt geglaubt, die bittere Not wäre noch immer nicht groß genug, als ihr uns Rüdiger, den Helden, erschlugt. Nun habt ihr mir auch noch alle meine Leute genommen. Ja, ich habe euch Helden keinen solchen Schmerz zugefügt. 2331 Denkt an euch selbst und an eure Verluste, an den Tod eurer Freunde und auch an die Mühen des Kampfes! Bedrückt euch das alles, ihr tüchtigen Männer, nicht? Ach, wie sehr geht mir der Tod Rüdigers zu Herzen! 2332 Niemals ist auf dieser Welt ein Mann empfindlicher verletzt worden. Ihr habt weder an mein Leid gedacht noch an euer eigenes. Meine ganze Freude liegt von euch erschlagen am Boden. Ich werde niemals über den Tod meiner Verwandten hinwegkommen.« 2333 »Doch so schuldig sind wir nicht«, sagte da Hagen. »Hure Ritter sind sorgfältig bewaffnet, in einer großen Menge zu diesem Haus gekommen. Ich glaube, Ihr seid nicht richtig unterrichtet worden.« 39. Aventmre 703 2334 »Was soll ich da noch glauben? Mir hat es Hildebrand erzählt. Als meine Männer aus dem Amelungenland darum baten, ihr solltet ihnen Rüdiger aus dem Saal holen, hättet ihr die tapferen Helden von oben herab nur verspottet.« 2335 Da sprach der König vom Rhein: »Sie sagten, sie wollten Rüdiger von hier wegtragen. Das habe ich ihnen abgelehnt, und zwar um Etzel, doch nicht etwa um deine Leute zu treffen, bis dann Wolfhart deshalb zu schimpfen anfing.« 2336 Da sagte der Held von Bern: »Es muß nun also sein. Gunther, edler König, bei deiner höfischen Erziehung entschädige mich für alles Leid, das mir von dir zugefügt worden ist, und sühne es so, tapferer Ritter, daß ich davon Genugtuung erfahre. 2337 Ergib dich mir als Geisel, zusammen mit deinem Gefolgsmann. Ich werde dich dann schützen, so gut ich nur kann, damit dir hier bei den Hunnen niemand etwas tut. Du wirst an mir nur Treue und guten Willen finden.« 2338 »Das wolle Gott im Himmel verhüten«, sagte da Hagen, »daß sich dir zwei Ritter ergeben, die immer noch so wehrhaft vor dir stehen und von den Feinden noch unbezwungen sind.« 2339 »Ihr solltet das nicht ablehnen«, so sprach Dietrich, »Gunther und Hagen, ihr beide habt mir Herz und Denken so schwergemacht, daß es recht und billig wäre, ihr würdet mich das vergessen lassen. 2340 Ich gebe euch mein Wort und verspreche in die Hand, daß ich mit euch in euer Land reite. Ich begleite euch, wie die höfische Sitte es erfordert, oder ich sterbe; und euch zuliebe will ich nicht mehr an meinen großen Kummer denken.« 39. Aventiure 705 2341 »Nun besteht nicht länger darauf«, entgegnete Hagen. »Es paßt nicht zu uns, wenn man sagt, zwei so tapfere Männer hätten sich Euch ergeben. Man sieht jetzt neben Euch niemanden als Hildebrand stehen.« 2342 Da sagte Meister Hildebrand: »Weiß Gott, Herr Hagen, wenn einer Euch vorschlägt, Frieden zu schließen, so wird es noch dazu kommen, daß Ihr dieses Angebot annehmt. Den Versöhnungsvorschlag meines Herrn könnt Ihr als angemessen betrachten.« 2343 »Nun ja«, entgegnete Hagen, »ich nähme die Versöhnung eher an, bevor ich auf so schändliche Weise aus einem Saal fliehen würde, Meister Hildebrand, wie Ihr es hier getan habt. Ich hatte geglaubt, Ihr könntet den Feinden besser standhalten.« 2344 Darauf antwortete Hildebrand: »Wieso werft Ihr mir das vor? Wer war es denn, der auf einem Schild vor dem Was-kenstein saß, als Walther von Spanien ihm so viele Freunde erschlagen hat? Ihr habt nämlich Euch selbst genug vorzuwerfen.« 2345 Da sagte Herr Dietrich: »Es paßt nicht zu Helden, sich wie alte Weiber zu beschimpfen. Ich verbiete Euch, Hildebrand, weiterzusprechen. Mich, der ich ein Fremder im Lande bin, quälen ernsthafte Sorgen. 2346 Laßt hören«, fuhr Dietrich fort, »Krieger Hagen, was ihr beiden sturmerprobten Ritter miteinander gesprochen habt, als ihr mich in Waffen zu euch habt kommen sehen? Ihr sagtet, mich allein im Kampf angreifen zu wollen.« 39. Aventiure 707 2347 »Ja, das streitet Euch niemand ab«, sagte Hagen, der Ritter. »Ich will es hier mit kräftigen Schlägen versuchen, es sei denn, das Nibelungenschwert zerbräche mir dabei. Ich bin zornig darüber, daß man uns beide hier als Geiseln haben will.« 2348 Als Dietrich die finstere Absicht Hagens gehört hatte, da riß der kampferprobte, vorzügliche Ritter den Schild sogleich hoch. Wie schnell sprang Hagen von der Treppe auf ihn zu! Das gute Nibelungenschwert klirrte laut auf Dietrichs Rüstung. 2349 Da wußte Herr Dietrich sehr wohl, daß der tapfere Mann besonders wütend war. Der Herr von Bern begann sich vor den gefährlichen Schlägen zu schützen. Er kannte Hagen, den ausgezeichneten Ritter, sehr gut. 2350 Auch fürchtete er Balmung, das ungewöhnlich starke Schwert. Ab und zu hieb Dietrich klug zurück, bis er Plagen im Kampf doch bezwang. Er hatte ihm eine tiefe und lange Wunde geschlagen. 2351 Da dachte der Herr Dietrich: »Du bist durch den Kampf erschöpft. Ich gewinne geringes Ansehen, wenn du tot vor mir liegst. Deshalb will ich versuchen, ob ich dich dazu zwingen kann, meine Geisel zu sein.« Das geschah nicht ohne Gefahr. 2352 Er ließ den Schild fallen. Seine Körperkräfte waren groß. Er umschloß Hagen von Tronje mit den Armen. So wurde von ihm der tapfere Mann bezwungen. Der edle Gunther wurde deshalb sehr traurig. 2353 Dietrich fesselte Hagen, führte ihn zur edlen Königin und gab in ihre Hände den edelsten Ritter, der jemals ein Schwert getragen hat. Da wurde sie nach ihrem tiefen Leid jetzt wieder sehr froh. 39. Aventiure 709 2354 Die Gemahlin Etzels verneigte sich voller Freude vor dem Ritter: »Herz und Hand mögen dir immer glückhaft sein. Du hast mir alle meine Qual entgolten. Das werde ich immer zu danken wissen, wenn mich der Tod dabei nicht aufhält.« 2355 Herr Dietrich sagte: »Ihr sollt ihn leben lassen, edle Königin. Und wenn das noch möglich ist, wie wird er Euch dann Genugtuung für das leisten, was er Euch angetan hat! Er soll nicht deshalb zu leiden haben, daß Ihr ihn in Fesseln vor Euch seht.« 2356 Sie ließ Hagen in einen Kerker führen, wo er eingeschlossen lag und wo ihn niemand sah. Da rief Gunther, der edle König: »Wo ist der Held von Bern hingegangen? Der hat mir großes Leid zugefügt.« 2357 Da ging ihm Herr Dietrich entgegen. Gunthers Tatkraft war hoch einzuschätzen. Er wartete auch nicht länger und lief vor den Saal. Von den Schwertern der beiden hallte großer Lärm wider. 2358 Wieviel Ruhm der Herr Dietrich auch seit langem erworben hatte, Gunther tobte vor gewaltigem Zorn; denn nach dem großen Leid war er Dietrichs Todfeind geworden. Man halt es jetzt noch für ein Wunder, daß damals Herr Dietrich mit dem Leben davongekommen ist. 2359 Kraft und Stärke waren bei beiden groß. Palas und Türme dröhnten vom Lärm der Schläge, als sie mit den Schwertern auf die vorzüglichen Helme einhicben. Der König Gunther besaß hervorragenden Kampfgeist. 2360 Dann bezwang ihn der Berncr, wie es vorher Hagen ergangen war. Man sah das Blut dem Helden aus den Panzerringen fließen. Die Wunden stammten von einem scharfen Schwert, das Dietrich trug. Da hatte sich Herr Gunther trotz seiner Erschöpfung tadellos verteidigt. 39. Aventiure 711 2361 Der Herr wurde von Dietrich selbst gebunden, wenn auch Könige niemals solche Fesseln erleiden sollten. Dietrich aber dachte, wenn er König Gunther und dessen letzten Mann freiließe, dann würden von ihrer Hand alle fallen, die sie träfen. 2362 Dietrich von Bern nahm Gunther an die Hand und führte ihn gebunden zu Kriemhild. Da wurden mit seinem Leid ihre vielen Sorgen beendet. Sie sagte: »Willkommen, Gunther aus dem Burgundenland.« 2363 Er sprach: »Ich sollte mich vor Euch verneigen, meine liebe Schwester, wenn Euer Gruß liebenswürdiger sein könnte. Ich weiß aber, Königin, Ihr seid so zornig, daß Ihr mir und Hagen nur einen flüchtigen Gruß zuteil werden laßt.« 2364 Da sagte der Held von Bern: »Edle Gemahlin des Königs, es sind noch niemals so vorzügliche Ritter Geiseln gewesen, wie ich sie Euch, erhabene Herrin, mit ihnen übergeben habe. Nun sollt Ihr die Fremden mir zuliebe schonen.« 2365 Sie sagte, sie täte das gern. Da verließ Flerr Dietrich die tadellosen Helden mit Tränen in den Augen. Später rächte sich Etzels Gemahlin furchtbar. Sie nahm den beiden ausgezeichneten Helden das Leben. 2366 Sie ließ sie getrennt legen, um ihnen die Lage zu erschweren, so daß keiner den anderen je wieder sah, bis sie den Kopf ihres Bruders zu Hagen trug. Knemhilds Rache vollzog sich an ihnen beiden in vollem Maße. 2367 Da ging die Königin zu Hagen. Mit welcher Feindschaft sagte sie zu dem Helden: »Wenn Ihr mir das zurückgeben wollt, was Ihr mir genominen habt, dann könnt Ihr noch lebend heim ins Burgundenland kommen.« 39. Aventiure 713 2368 Da antwortete der finstere Hagen: »Diese Worte sind umsonst, edle Königin. Denn ich habe wahrlich geschworen, daß ich den Hort nicht zeige, solange einer meiner Herren lebt. Solange werde ich ihn niemandem geben.« 2369 '»Ich bringe es an ein Ende«, sagte die edle Frau. Da ließ sie ihrem Bruder das Leben nehmen. Man schlug ihm den Kopf ab. An den Haaren trug sie ihn vor den Helden von Tronje. Das war ihm ein schneidender Schmerz. 2370 Als der tief traurige Mann den Kopf seines Herrn sah, sagte der Krieger zu Kriemhild: »Du hast es nach deinem Willen zu einem Ende gebracht. Und es ist auch alles genauso gekommen, wie ich es mir gedacht hatte. 2371 Nun sind vom Burgundenland der edle König, der junge Giselher und auch Herr Gernot tot. Den Schatz, den weiß jetzt niemand - außer mir und Gott. Der soll dir, du Teufelsweib, für immer verborgen bleiben!« 2372 Sie sagte: »Übel habt Ihr meine berechtigten Forderungen erfüllt. So will ich wenigstens Siegfrieds Schwert behalten. Das hat mein geliebter Mann getragen, als ich das letzte Mal ihn sah, an dem mir tiefes Herzeleid von Euch geschehen ist.« 2373 Sie zog es aus der Scheide, das konnte Hagen nicht abwehren. Da gedachte sie, dem Krieger das Leben zu nehmen. Sie hob das Schwert mit ihren Händen; den Kopf schlug sie ihm ab. Das sah der König Etzel; da kannte sein Leid kein Maß. 2374 »O nein«, rief der Fürst. »Wie liegt nun der allerbeste Ritter hier, erschlagen von den Händen einer Frau, der je zum Kampfe angetreten ist oder einen Schild getragen hat. Wenn ich auch sein Feind gewesen bin, so ist mir sein Tod ein großer Schmerz.« 39. Aventiure 715 2375 Da sagte der alte Hildebrand: »Ja, ihr darf es keinen Vorteil bringen, daß sie gewagt hat, ihn zu erschlagen, was immer mir geschieht. Wenn Hagen mich auch selbst in gefahrenvolle Not gebracht hat, so will ich den Tod des tapferen Tronjers rächen.« 2376 Zornentbrannt sprang Hildebrand zu Kriemhild. Er traf die Königin mit einem schweren Schwung seines Schwertes. Ja, ihr tat die Angst vor Hildebrand weh. Was konnte es ihr helfen, daß sie so entsetzlich schrie? 2377 Da waren alle zum Tode Bestimmten gefallen. In Stücke war die edle Frau zerhauen. Dietrich und Etzel weinten. Sie klagten von Herzen um Verwandte und Gefolgsleute. 2378 Das glanzvolle Ansehen war da verloschen und tot. Alle Leute trauerten in Jammer und Elend. Leidvoll war das Fest des Königs zu Ende gegangen, wie stets die Liebe schließlich zum Leide führt. 2379 Ich kann euch nicht berichten, was später noch geschehen ist, nur, daß man Ritter, Damen und auch die edlen Knappen den Tod ihrer lieben Freunde beweinen sah. Hier hat die Geschichte ein Ende. Das ist »Der Nibelungen Not«.