IV. Stadtbürgerliche Dichtung 4.1 Der Meistersang was in derben »Strafliedern« angeprangert wurde; aus dem Alltag, aus Geschichte und Literatur, Philosophie, Botanik, Astronomie usw. schöpften die Meistersinger ihre Themen, wobei sie ihre Lieder meist in eine christlich-moralische Lehre einmünden ließen. Eine besondere Form stadtbürgerlicher Dichtung wurde der Meistersang, der sich aus der höfischen Spruchdichtung entwickelt hatte. »Meister« (von lateinisch magister) nannten sich zunächst einige bürgerliche Berufsdichter am Ende des 13. Jahrhunderts, um sich als gelehrte Poeten, unterrichtet in den Sieben Freien Künsten, von den ungebildeten fahrenden Sängern abzugrenzen. Ihre Gedichte waren in Strophen abgefaßt, wobei die Strophenform dem Minnesang entlehnt wurde: Zwei metrisch gleichgebauten Stollen als Aufgesang, die auf die gleiche Melodie gesungen wurden, folgte ein anders gebauter Abgesang; mehrere solcher Strophen konnten ein Gedicht bilden, später wurde die Zahl drei verbindlich (längere Meisterlieder müssen dann aus verschiedenen Dreiergruppen bestehen). Im 15. Jahrhundert übernahmen die in den Städten gegründeten Singschulen, in denen nun nicht akademisch gebildeten Handwerkern die Regeln des Vers- und Strophenbaus und die »Töne« (Melodien) berühmter Vorbilder gelehrt wurden, die Pflege dieser speziellen Form von Spruchdichtung. Diese Singschulen leiteten sich von zwölf alten Meistern ab, die Gott inspiriert habe: Walther von der Vogelweide, Konrad von Würzburg, Frauenlob gehörten dazu. Sie verliehen eigene Meistertitel, wenn die strengen formalen Prinzipien der Dichtung und des Vortrags erfüllt wurden und der Kandidat einen eigenen »Ton« vorgeführt hatte. Die Gelehrsamkeit der frühen Meistersänger trat nun eher in den Hintergrund, ihre religiös-moralisierenden und erbaulichen Themen wurden immer wieder aufgegriffen, bis sie schließlich zu inhaltlichen Versatzstücken degenerierten. Die Form wurde wichtiger als der Inhalt, Qualität erwies sich allein in der Regelrichtigkeit. Was von der klassischen Spruchpoesie etwa eines Walther von der Vogelweide übriggeblieben war, stellte oft nur noch erstarrte, sinnentleerte Reimerei in Spruchform dar. In den lutherisch gesinnten Singschulen der protestantisch gewordenen Reichsstädte nahmen bibelgebundene und reformatorische Lieder den wichtigsten Platz ein. Daneben wurden zunehmend auch weltliche Gegenstände von den Meistersingern »zugerichtet«: Kurioses, Wissenswertes, aber auch unmoralisches Schlemmen und Prassen, Geiz, sexuelle Ausschweifungen, 3°4 Hans Folz Der Barbier und Wundarzt Hans Folz (ca. 1450—1515) gehört zu den bedeutendsten Meistersingern; er war einer der ersten, der sich gegen eine zu enge thematische Begrenzung und die Fixierung auf wenige traditionelle Melodien (nämlich die »Töne« der zwölf Altmeister) wehrte. Nach einer von ihm mitgetragenen Reform des Meistersangs wurden eigene Töne nicht nur zugelassen, sondern Voraussetzung für den Meistertitel. Uber 100 Meisterlieder sind von ihm erhalten, dazu rund 20 Schwanke und eine Fülle von Reimpaarsprüchen, d.h. Abhandlungen in Reimpaaren, wie das >Bäderbüchlein< (über die berühmtesten Heilbäder) oder der Spruch >Von allem Hawßrath< (Hausrat), der in 309 Versen minutiös genau die Ausstattung eines Nürnberger Bürgerhauses um 1490 beschreibt. Von Folz stammen ferner eine ganze Anzahl Prosaabhandlungen vor allem medizinischen und theologischen Inhalts und eine Reihe Fastnachtsspiele. Mit Ausnahme der Meisterlieder, die Eigentum der Singschule blieben, hat der selbstbewußte Folz seine Werke in einer eigenen Druckerei, gewissermaßen im Selbstverlag, herausgebracht. Folz beginnt sein >Meisterlied von der Buchdruckerkunst< (1480) wie folgt: 1 Vor langer frist Wie fort auff erd Gesprochen ist Nicht newez werd. Von konig Salamone Nun ist sey[t] auß dem trone Got komen und mensch worden hie, Daz doch seit waz ein newez ye. Ye doch ez die Geschafft vor hin besane. Daz aber sunst Auff erden vor, Hie dise kunst Glaub ich nit zwor. Puchdrukes sey gewesen Wer hat dar von gelesen? 3°S Doch west es kunfftig Got der werd, Allso ist doch nicht newz auff erd. Lob mit begerd Sprecht im in seinen zesen! ... (Vor langer Frist / Gesprochen ist / von König Salomon // Daß künftig auf Erden / nichts Neues werde. / Nun ist von seinem höchsten Thron // Gott gekommen und hier Mensch geworden / Was doch etwas Neues ist. / Allerdings hat es die / Heilige Schrift schon vorausgesagt. Daß aber ansonsten / hier diese Kunst / des Buchdrucks schon gewesen sei // auf der Erde vordem, / glaube ich in der Tat nicht. / Wer hätte davon gelesen? // Doch wußte Gott, der werte, was künftig sein werde, / Also ist doch nichts Neues auf Erden. / Begierig lobet ihn / in seinem Himmel!...) In diesem Stil geht es noch 13 Strophen weiter. Wenn man mit heutigen Kunstkriterien an diese Gedichte herangeht, wird man sie fast durchweg als gequält, bieder-beflissen, ja banal abqualifizieren, doch sollte nicht übersehen werden, daß es sich hier um Laiendichtung handelt, die nicht schöpferisch, sondern nur regelgerecht sein wollte (vielleicht auch nur konnte). So legte eben oft schon die Wahl des Themas - wie das obige Lied über die Buchdruckerkunst oder jenes, in dem Folz seine reformerischen Ideen vorträgt - auf ein unpoetisches Sprechen fest. Der Gegenstand konnte noch so trivial sein, er wurde in die Reimschmiede gepreßt, ausgewalzt, in die vorgeschriebene Form gegossen und zu Ehren Gottes und/oder zur christlichen Erbauung der Zunftgenossen vorgetragen. Die »Merker« hatten die Regelrichtigkeit von Form, Inhalt und Vortragsweise zu überwachen, die in der sogenannten »Tabulatur« genauestens festgelegt war. In der Figur des Beckmesser hat Richard Wagner in seiner Oper von den >Meistersingern von Nürnberg« dem pedantisch-wichtigtuerischen Gehabe dieser Merker ein Denkmal gesetzt. Hans Sachs Der berühmteste und sprachbegabteste Meistersinger, mit dem sich auch heute noch die Vorstellungen vom Meistersang verbinden, ist Hans Sachs (1494-1576). Er hatte sich, wie Hans Folz, nach dem Besuch der Lateinschule als Autodidakt ein immenses Wissen angeeignet, gehörte schließlich zu den wenigen hochgebildeten Handwerkern Nürnbergs. Nachdem er die Schuhmacherei aufgegeben hatte, lebte Hans Sachs ganz seiner poetischen Beru- 306 fung. Seine dichterische Begabung sah er als Gabe Gottes an, die ihn als erwelte(n) dinstman mindestens ebenso verpflichtete wie freute. Nicht einmal nach vierzig Jahren unermüdlicher dichterischer Arbeit habe er Urlaub von den Musen bekommen, klagt er in seinem selbstbiographischen Gedicht von 1554, in dem der Sechzigjährige Bilanz zieht über seine Gedichte, Lieder, Komödien, Sprüche, Schwanke usw. Sachs war ein »Stoffgenie«, dem streng theologische Inhalte ebenso wie die antike Mythologie, Sagen und Legenden oder auch Boccaccios >Decamerone< zur Verfügung standen. Wegen seiner sozialkritischen Haltung und seines Bekenntnisses zur Reformation und zu Luther, dem er in seinem berühmten Lied >Die Wit-tembergisch Nachtigall« Ausdruck verlieh, hatte Hans Sachs immer wieder Arger mit der Zensur der Stadt Nürnberg. Eines seiner populärsten Meisterlieder behandelt die Geschichte vom >Edelfalk<. Gleich im ersten Vers nennt der Autor die Quelle, der er den Stoff entnahm: die Cento Novelle, das ist der >Decame-rone< Boccaccios mit seinen hundert Novellen, damals ein beliebtes Buch, dessen Kenntnis Hans Sachs beim gebildeten Nürnberger Stadtpatriziat voraussetzen konnte, das er aber volkstümlich machen wollte (andere Geschichten daraus hat er dramatisiert, zum Teil als Schwanke eingedeutscht). Der edelfalk In centonovella ich läse, wie zu Florenz vor Zeiten sase ein jung edelman, weit erkant, Fridrich Alberigo genant, der in herzlicher liebe brennet gen einem edlen weib, genennet Giovanna, an gut ser reiche, an eren stet und gar lobleiche. der edelman stach und turnirt, zu lieb der frauen lang hofirt; sie aber veracht all sein liebe, an irem herren treulich bliebe. Gar reichlich Friderich ausgab, bis er verschwendet große hab; entlich verpfent er all sein gute, zug auf ein sitz und in armute, nichts dan ein edlen falken het, mit dem er teglich baißen tet, und nert sich aus eim kleinen garten, des er auch tet mit arbeit warten. 3°7 Ir her der starb, und sich begäbe: der frauen sun, ein junger knabe, wart schwerlich krank bis in den tot; sprach: »muter, ich bit dich durch got, hilf, das Friderichs falk mir werde, so nimt ein ent all mein beschwerde.« Die muter tröst in, den zu bringen, kam zu her Fridrich in den dingen, der freuet sich irer Zukunft, entpfieng sie mit hoher Vernunft, zum frümal tet sie sich selb laden, fro war Friderich irer gnaden; Het doch weder wildpret noch fisch, darmit er speiset seinen tisch; armut und unglück tet in walken, er würgt sein edlen lieben falken, briet den und in zu tische trug, zerleget in höflich und klug; in mit der edlen frauen aße, die doch selbs nit west, was es wase. Nach dem mal sprach die frau mit sitten: »durch euer lieb wil ich euch bitten um euren edlen falken gut, nach dem mein sun sich senen tut totkrank; wo ir im den tut geben, errettet ir sein junges leben.« Her Fridrich war mit angst 'ocseßen: »den falken«, sprach er, »han wir geßen; die allerliebst mein liebstes aß.« die frau sich des verwundert was. er zeiget ir des falken gfider. schieden sich beide traurig wider. Nach drei tagen ir sune starb, her Fridrich um die frauen warb; sie erkennet sein lieb und treue, het seiner armut kein abscheue, weil er war tugenthaft und frum, zu eim gemahel sie in num. drum ist nit alle lieb verloren; lieb hat oft lieb durch lieb geboren. Hans Sachs stand 1543, als er dieses Lied für die Nürnberger Singschule schrieb, auf der Höhe seiner künstlerischen Entwicklung. Trotz kleiner Schwächen, die bei den strengen, engen Vorschriften für den Meistersang fast unvermeidlich waren, gehört das >Edel-falk<-Lied zu den hervorragenden Leistungen des so produktiven Dichters. Im »Rosenton« ist es gehalten, einer von Hans Sachs selbst komponierten, relativ einfachen Weise. Der Ton schreibt unter anderem zwanzigzeilige Strophen in Reimpaarversen vor, zwei Stollen mit je sechs Versen und den achtzeiligen Abgesang; die Anzahl der Strophen war beliebig. Die Beschränkung auf drei Strophen kam der Dichte des Vortrags entgegen (und entsprach der Tradition), zwang den Autor andererseits zu einer rigorosen Komprimierung des Inhalts. So kommt in der zweiten Strophe etwas unvermittelt der leidenschaftliche Wunsch des kranken Knaben nach dem Falken Friedrichs, der bei Boccaccio einleuchtend motiviert ist. In der Vorlage wird erzählt, daß der Knabe viel mit dem Edelmann auf der Beizjagd war und bereits damals ihm der Vogel über die Maßen gefallen habe. Gleichzeitig werden durch die knappe Schilderung bei Hans Sachs Bilder großer Intensität geschaffen: die Armut des Edelmanns, der, statt zu klagen, selbst seinen Garten bestellt; seine angstvolle Betroffenheit, die geliebte Frau enttäuschen und den Tod ihres Kindes mitverantworten zu müssen; das aufrichtige, schlichte Bekenntnis seiner Liebe, das die beklemmende Situation rettet. Ohne vorher die Möglichkeit eines positiven Ausgangs auch nur angedeutet zu haben, läßt Sachs die wohlhabende Witwe auf Friedrichs Werben eingehen. Die lehrhafte Sentenz am Ende — typisch für den Meistersang — ist eigener Zusatz von Hans Sachs: eine Pointe, die den Gehalt der Novelle aufs schönste zusammenfaßt. Hans Sachs ist einer der fruchtbarsten deutschen Dichter gewesen: 4275 Meisterlieder sind von ihm erhalten, 73 andere Lieder, 1700 Reimpaardichtungen (vor allem Schwanke), 61 Tragödien, 64 Komödien und 85 Fastnachtsspiele. Mit diesem Riesenwerk wurde er der bedeutendste nichtakademische Literat des Jahrhunderts. 4.2 Theater in der Stadt Das Schuldrama Die Humanisten des 15. Jahrhunderts hatten die Werke der römischen Komödiendichter Terenz (um 195—159 v.Chr.) und Plautus (um 250—184 v.Chr.) für sich wiederentdeckt, doch erschöpfte sich ihre Beschäftigung mit dem antiken Theater zunächst im Studium der Texte. Aufführungen der Klassiker sind erst aus der Wende zum 16. Jahrhundert bekannt, als auch schon die ersten neulateinischen Bühnendichtungen erschienen. Terenz vor allem gab das Muster ab, nach dem humanistische Pädagogen und Geistliche ihre 308 309 eigenen Dramen verfaßten, die an den Universitäten und Lateinschulen aufgeführt wurden. Das zunehmende Interesse an diesen Spielen machte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts - mit Rücksicht auf das lateinunkundige Publikum - die Übersetzung der antiken und neulateinischen Stücke notwendig. Der Ausbau des protestantischen Schulwesens trug erheblich zur Popularisierung des Schuldramas bei. Luther hatte sich entschieden für eine fundierte Allgemeinbildung ausgesprochen und aus erzieherischen Gründen Aufführungen des Terenz empfohlen, zum Üben eines fehlerfreien Lateins und zum anderen, weil sie zeigten, »wie sich ein Jeglicher in seinem Stande halten soll«. Auch bot seine Bibelübersetzung eine Fülle vorher nur schwer zugänglicher Stoffe, die sich gerade unter dem moral-pädagogischen Aspekt gut verwerten ließen. So entstand das protestantische Schuldrama, das in der Volkssprache abgefaßt war. Seine Autoren, meist Pfarrer und Lehrer, orientierten sich formal an den antiken Vorbildern, vertraten in ihren didaktischen Zielen aber reformatorische Ideen und eine bürgerlich-protestantische Ethik: Theater als Schule des christlichen Lebens. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts griffen die Jesuiten die Idee eines Schuldramas ebenfalls auf; im Zuge der Gegenreformation sollte es das katholische Bewußtsein stärken. Das Schuldrama beendete weitgehend die mittelalterliche Tradition der geistlichen Spiele. Es veränderte auch die Bühne, denn das Wort war nun wichtiger geworden als das Schauspiel. Die alte »Simultanbühne«, die alle Schauplätze gleichzeitig zeigte, wurde abgelöst von der »Sukzessionsbühne«, auf der die einzelnen Szenen nacheinander gespielt wurden. Die Aufführungen fanden nicht mehr auf einem öffentlichen Platz statt wie die geistlichen Spiele, sondern in einem Saal mit erhöhter, oft zweigeteilter Bühne. Die Zuschauer saßen oder standen zu beiden Seiten der Bühne, wie etwa auch im Theater Shakespeares; eine Trennung von Zuschauer- und Bühnenraum kannte man noch nicht. Die Bühnenausstattung blieb im 16. Jahrhundert eher karg: Gewisse Standardrequisiten wie Möbel oder ein Baum bzw. Strauch (als Versteck oder Treffpunkt) mußten genügen. Erst der Barock wird mit aufwendigen Inszenierungen das Theaterpublikum auch durch Schauspiel fesseln. Das Fastnachtsspiel In den Städten, besonders im alemannischen Sprachraum, pflegte man die hauptsächlich von den Handwerkerzünften getragenen Fastnachtsbräuche. 1348 wird in den Chroniken der Stadt Nürnberg zum erstenmal der »Schembartlauf« erwähnt, ein Maskenumzug, dessen Veranstaltung Privileg der Nürnberger Metzgerzunft war. Bei geselligen Zusammenkünften vergnügten sich dann die maskierten Teilnehmer in den Wirtsstuben an Witzen, Rätseln und possenhaften Einzelvorträgen, in denen die Vortragenden ihre eigenen Narrheiten oder die der Anwesenden karikierten. Die Betonung des Animalischen, vor allem des Sexuellen, ging auch in den späteren literarischen Fassungen nie ganz verloren. Aus solchen Gelegenheitsdichtungen entwickelten sich bald lose verknüpfte, revueartige Reihenspiele, die Improvisation trat hinter dem ausformulierten und erlernten Text zurück. Im Mittelpunkt stand immer wieder die Figur des Bauern als Tölpel, wie sie schon bei Neidhart, Wittenwiler oder in der Schwankdichtung begegnet. In den Fastnachtsspielen wurde der Bauer zum Inbegriff der menschlichen Narrheit; in seiner Maske konnten die Spieler mit obszöner, derber Komik die Ständehierarchie ebenso ignorieren wie die Verdammung der Triebnatur des Menschen durch die Kirche. Die frühen Fastnachtsspiele hatten noch keine moralischen Anliegen, keine didaktischen Ziele; so sollte die Figur des Bauern auch nur zum Lachen reizen. Erst später, als die Stücke wenigstens im Ansatz durchkomponierte Handlungen, die Figuren individuellere Züge erhielten, konnten die Fastnachtsspiele auch satirisch ausgestaltet werden. Der Meister dieser kurzen, zugleich moralisch-belehrenden und unterhaltenden Spiele war Hans Sachs. Die Komik seiner Stücke, die er als Gerichts-, Arzt-, Werber- und Ehespiele entwarf, später auch als Bearbeitungen von Schwänken, Legenden und populären Volksbüchern, erschöpft sich nicht mehr in der vitalen Freude an der Zote, sondern erwächst aus dem eklatanten Widerspruch zwischen moralischer Norm und unzulänglichem menschlichen Verhalten, kurz: aus der Satire. Hans Sachsens eigentliches Talent entfaltete sich in diesen Fastnachtsspielen. In etlichen von ihnen stimmt jeder Satz, jede Figur, sind die Dialoge »echt« und die Szenen sparsam, aber mit untrüglichem Gespür für sichere Effekte gestaltet. In den Fastnachtsspielen gelang es Hans Sachs, die starre stadtbürgerliche Moral aufzugeben zugunsten praktischer Lebensklugheit, die er in eine oft überraschende Schlußpointe verpackte. Im Fastnachtsspiel >Das heiß Eysen< dramatisiert Hans Sachs 310 3" den alten Schwank von der Frau, die zum Beweis der Treue von ihrem Mann die Probe mit dem glühenden Eisen verlangt, das er aus einem Kreidekreis heraustragen soll. Einer Art Gottesurteil muß er sich unterwerfen: bleibt er unversehrt, hat er sich von dem Vorwurf der Untreue gereinigt. Der Mann aber täuscht seine Frau und ihre »Gfatterin«, von der der Gedanke dieser Prüfung stammt, mit einem im Ärmel versteckten Holzspan, so daß er das Eisen unverbrannt tragen kann. Dann aber verlangt er von seiner Frau die gleiche Probe. In ihrer Angst beichtet sie etliche Liebhaber: erst den Kaplan, dann noch zwei und weitere vier, nicht mitgerechnet die jungen gselln; der Mann akzeptiert schimpfend die gebeichteten »Buhlschaften«, beharrt aber auf der Gegenprobe. Schließlich bittet sie ihre Nachbarin: Die Fraw spricht: O Gfatter, tragt das Eyssen vor mich! Die Gfatter spricht: O es taug nit; darzu würd ich Am Eysen mein Hand brennen zwar, Das mir würd abgehn haut und har. Ich war vor jähren auch nit rein. Der Mann spricht: Flucks nimb das Eyssn vnd trags allein, Du zunichtiger Pubensack! Oder ich leg dir auff dein Nack Mein Faust, das dir das liecht erlischt. Die Fraw spricht: Das Eyssen ist heiß, das es zischt, Nun weil es mag nicht änderst sein, So ergieb ich mich dultig drein. Die Fraw hebt das Eissen auff, wil gehn vnd thut ein lauten schrey, lest das Eyssen fallen, spricht: Auwe, Auwe der meinen Hend! Wie übel hat michs Eyssen prent Von meiner Hcnde har vnd hawt! Der Mann spricht: Schaw, du Vnflat! hast mir nicht trawt, Vnd so mans bey dem Liecht besieht, Bist selbs an hawt und Har entwicht [nichts wert]. Ich dörfft dir wohl dein hawt vol schlagen. Die Fraw spricht: So wolt ichs meinen Brüdern klagen. Die Gfatter spricht: O Gfatter, trollt euch vnd schweigt still! Ir habt hie ein verloren spiel. Ir habt ein Handel, ist mistfaul. Darumb nembt nur Süßholtz ins maul! Ziecht auff gut Saiten widerumb, Auff das nicht heint [heut] sant Kolbman [mit dem Knüttel] kumb Vnd euch vmb ewer vnzucht straff. Die Fraw get auß. Der Man spricht: Mein Fraw meint, ich wer gar ein Schaff, Stellt sich so fromb vnd keusch (versteht!), Sams nie kein Wasser trübet het, Wolt mich nur treibn in ein Bockshorn, Biß ich doch auch bin innen worn Irer frömbkeyt, drein sie sich bracht Mit jrem eyffern Tag vnd Nacht, Des sie mit Ehrn wol het geschwiegen. Die Gfatter spricht: Mein Gfatter, lasts best bey euch liegen! Wölt meinr Gfattern vergeben das! Wer ist der, der sich nie vergaß? Kompt! wir wollen dran giessn ein Wein! Der Man spricht: Nun, es sol jr verziehen sein! Mein Fraw bricht Häfn, so brich ich Krüg. Vnd wo ich änderst redt, ich lüg. Doch, Gfatter, wenn jr bürg wolt werden, Dieweil mein Weib lebet auff Erden, Das sie solches gar nimmer thu. Die Gfatter spricht: Ey ja, glück zu, Gfatter! glück zu! Ich wil euch gleich das glait heimgeben. Vnd wollen heint in freuden leben Vnd auff ein newes Hochzeyt halten Vnd gar vrlaub geben der alten. Das kein vnrat weyter drauß wachs Durch das heiß Eyssen, wünscht Hans Sachs. Das Johannes-Evangelium berichtet im 8. Kapitel von der ertappten Ehebrecherin, die nach dem Gesetz Moses' hätte gesteinigt werden sollen. Auf die Frage der Schriftgelehrten und Pharisäer hin fordert Jesus sie auf: »Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.« Diese Antwort klingt hier an, wenn die Gevatterin sagt: »Wer ist der, der sich nie vergaß?« Sie mahnt damit den Mann an seine eigenen Fehltritte, die er ge- 3" rade durch den Betrug mit dem Hölzchen verdeckt hatte, und ans Verzeihen. In Knittelversen ist das Stück geschrieben, vierhebigen Paarreimversen, bei denen Wortbetonung und Hebungen nicht mehr (wie im Mittelhochdeutschen) zusammenfallen, und die deshalb oft etwas holprig klingen. Hans Sachs hat alle seine poetischen Werke in Knittelversen verfaßt, mit ihm wurde dieser Vers recht eigentlich populär. Der einfache Aufbau ohne Akt- oder Szeneneinteilung, die wenigen, stark typisierten Figuren entsprechen dem unproblematischen Schwank der Vorlage; allein ein kurzer Monolog des Mannes in der Mitte, in dem dieser die List mit dem Holzspan dem Publikum erläutert, strukturiert das kurze Stück ein wenig, dem Hans Sachs eine freundlich-pädagogische Wendung gibt. Die Erzählung wie die dramatische Gestaltung solch boshaft-listiger oder auch derber, lustiger Streiche war im 15. und 16. Jahrhundert sehr beliebt, ein großer Teil der weltlichen Epik und Dramatik dieser Zeit lebte daraus. Neben Geschichten aus dem bäuerlich-bürgerlichen Alltag gestaltete Hans Sachs, der die Lateinschule besucht hatte und mit Gelehrten und Künstlern wie Willibald Pirckheimer und Albrecht Dürer in freundschaftlicher Verbindung stand, bewußt auch Stoffe humanistischer Provenienz. Stoffe der griechischen und römischen Sage und Geschichtsschreibung, aber auch z.B. aus Boccaccios >Decamerone< verarbeitete er in seinen Dichtungen, wiederholt dasselbe Sujet in verschiedenen Gattungen, z.B. als Meisterlied und als Fastnachtsspiel. Hans Sachs wollte die Inhalte gelehrter Bildung dem Volk nahebringen und wurde so zu einem der ganz wenigen Vermittler zwischen akademischer Elite und der breiten Masse der Ungebildeten. Lessing, der in den Fastnachtsspielen die Anfänge des deutschen Lustspiels sah, lobte die »alten dramatischen Stücke«, die ihm gegen Gottscheds französisierende Manier kraftvoll, lebendig und originell erschienen. Auch Goethe schätzte den »wirklich meisterlichen Sänger« Hans Sachs und seinen »didaktischen Realismus« sehr, Richard Wagner widmete ihm in den >Meistersingern< eine eigene Oper. Einige Fastnachtsspiele von Hans Sachs wie das obige oder >Der farendt Schuler im Paradeiß,< gehören noch heute zum Repertoire des Laientheaters und der Schulbühnen. I 4.3 Erzählende Prosa Das große Lese- und Unterhaltungsbedürfnis des mittleren Bürgertums in den Städten zu befriedigen, wurde im 16. Jahrhundert eine Fülle erzählender Literatur gedruckt. Fast bis in unsere Gegenwart hinein blieben die Schwanksammlungen beliebt, von denen wohl das >Rollwagenbuch< des Elsässers Jörg Wickram (um 1505- vor 1562), auf den wir noch zurückkommen werden, den größten Erfolg hatte; es erschien 1555 und wurde bis in jüngste Zeit immer wieder neu aufgelegt. Die 111 kurzen Prosaschwänke sollten ausdrücklich nur zur Unterhaltung dienen und niemants zu underwey sung noch leer, auch gar .niemandts zu schmach, hon oder spott. Darauf spielt auch der Titel an; als Reiselektüre gewissermaßen, für die Postkutsche, sind diese anspruchslosen Geschichten gedacht, aber auch zur Überbrückung langweiliger Wartezeiten in Barbier- und Badestuben. Aus Rücksicht auf züchtige, erbare wei-ber, ja auch jungfrawen, die schließlich auch gelegentlich verreisen mußten, hat der Erzähler die sonst im Schwank so beliebten Zoten und Grobianismen weggelassen. Dem Wunsch nach Belehrung und Lebensorientierung kam besonders die Fabeldichtung entgegen, deren beliebteste Sammlung der >Esopus< des Württemberger Humanisten Heinrich Steinhöwel (1412-1482) war. In diesem Werk hat Steinhöwel lateinische Fabeln in einfaches, verständliches Deutsch übertragen und für den interessierten Philologen das Original danebengestellt. Bis ins 18. Jahrhundert blieb Steinhöwels Buch eine der wichtigsten Quellen für die äsopische Fabelliteratur. - Luther schätzte die Gattung der Fabel sehr und wollte Steinhöwels Werk, das ihm zu sehr von zotigen Schwänken durchsetzt schien, durch ein eigenes ersetzen, das er 1530 begann, ohne es allerdings je zu vollenden. Auch Hans Sachs schrieb Fabeln, in Knittelversen. Volksbücher Viele dieser Schwank- und Fabelsammlungen, auch Legendendichtungen wurden im 15. und 16. Jahrhundert zu Volksbüchern. Unter diesem auf die Romantik zurückgehenden Sammelbegriff faßt man eine Menge verschiedenartiger, rein unterhaltender Literatur zusammen, die erst mit Hilfe des Buchdrucks zu einer Massenverbreitung fand. Die Prosaauflösungen der französischen Ritterromane des 15. Jahrhunderts (etwa der >Huge Scheppeh) stellten bereits eine Popularisierung dar; in anonymen Weiterbearbeitun-