1 Flasche (veraltet) 100 15 ans Werk! - Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin, Herr muß ich sein, daß ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht. — — — ..... __ Ein bestürzendes Beispiel für Franz Moors Vorgangsweise, sich auf rationale Weise Rechtfertigungen für seine Handlungen zu konstruieren, ist die folgende Passage, in der er sich argumentativ auf einen Mordversuch an seinem Vater einstimmt (tatsächlich stirbt der von ihm Eingekerkerte bald darauf): l FRANZ MOOR: Es kommt alles nur darauf an, wie man davon denkt, und der ist ein Narr, der wider seine Vorteile denkt. Den Vater, der vielleicht eine Bouteille1 Wein weitergetrunken hat, kommt der Kitzel an - und draus wird ein Mensch, und der Mensch war gewiß das letzte, woran bei der ganzen Ilerkulesarbeit gedacht wird. Nun kommt mich eben auch der Kit- 5 zel an - und dran krepiert ein Mensch, und gewiß ist hier mehr Verstand und Absichten, als dort bei seinem Entstehen war. - Hängt nicht das Dasein der meisten Menschen mehrentcils an der Hitze eines Juliusmittags, oder am anziehenden Anblick eines Bettuchs, oder an der waagrechten Lage einer schlafenden Küchengrazie, oder an einem ausgelöschten Licht? - Ist die Geburt des Menschen das Werk einer viehischen Anwandlung, eines Ungcfährs, wer soll- 10 te wegen der Verneinung seiner Geburt sich einkommen lassen, an ein bedeutendes Etwas zu denken? [...] Mord! Wie eine ganze Hölle von Furien um das Wort flattert. - Die Natur vergaß, einen Mann mehr zu machen - die Nabelschnur ist nicht unterbunden worden - der Vater hat in der Hochzeitsnacht glatten Leib bekommen - und die ganze Schattenspielerei ist verschwunden. Es war etwas und wird nichts. - Heißt es nicht ebensoviel, als: es war nichts 15 und wird nichts, und um nichts wird kein Wort mehr gewechselt. - Der Mensch entstehet aus Morast und watet eine Weile im Morast und macht Morast und gärt wieder zusammen in Morast, bis er zuletzt an den Schuhsohlen seines Urenkels unflätig anklebt. Das ist das Ende vom Lied - der morastige Zirkel der menschlichen Bestimmung, und somit - glückliche Reise, Herr Bruder. Am Ende läßt Schiller Franz Moors Versuche, sich unter Beseitigung oller moralischen Schranken zum Herrn über seine Umgebung aufzuschwingen, kläglich scheitern: von seinem Gewissen eingeholt, begeht er Selbstmord. 30 Versuchen Sie, eine Art Psychogramm des Franz Moor zu entwerfen! Wie argumentiert er hier? - Welche Gefahren sehen Sie in seinem Mißbrauch rationalen Denkens? Zusammenfassende Stichworte ■ Sturm und Drang: Jugendbewegung gegen die rationalistischen Tendenzen der Aufklärung, Kernworte: Kraft, Empfindung, Gefühl, Liebe, Herz. ■ Natur als organische Ganzheit, Betonung des Ursprünglichen und Unverbildeten (Rousseau), Geniekult (der Künstler als gottähnlicher Schöpfer), neues Bewußtsein von Geschichtlichkeit (Herder), Streben nach Volkstümlichkeit der Literatur, Faszination Shakespeares auf die Dramatiker. ■ Dramen der Selbsthelfer und Außenseiter, aber auch realistische Zeitstücke, Motive: Generationskonflikt, Bruderzwist. ■ Autoren: Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Jakob Michael Reinhold Lenz, Gottfried August Bürger. Tips zum Weiterlesen Ludwig Harig: „Rousseau. Der Roman vom Ursprung der Natur im Gehirn" Ulrich Plenzdorf: „Die neuen Leiden des jungen W." (Aktualisierung eines Autors der ehemal. ddr) Die klassisch-romantische Kunstperiode Nach einem Wort des Dichters Heinrich Heine fassen wir die teilweise zur gleichen Zeit ablaufenden Bewegungen der Klassik und der Romantik mit dem Oberbegriff „Kunstperiode" zusammen. In historischer Hinsicht waren sowohl die Autoren der Klassik als auch jene der Romantik gezeichnet vom Entsetzen über die Greuel im weiteren Verlauf der Französischen Revolution (1789), deren Zielen einer Änderung der gesellschaftlichen Strukturen man durchaus nicht negativ gegenübergestanden hatte. Gemeinsam war beiden Bewegungen deshalb die Hochschätzung der Kunst als eines alternativen Mediums zur allgemeinen Verbesserung der Zustände. In der späteren Romantik, unter dem Eindruck der politischen Restauration nach den Napoleonischcn Kriegen, wurde daraus jedoch immer mehr die Klage darüber, daß sich die Künstler gegenüber der Gesellschaft zunehmend als macht- und einflußlos erfuhren. Die Weimarer Klassik: Goethe und Schiller Der lateinische Ausdruck „classicus" benannte im alten Rom die Angehörigen der höchsten Vermögensklasse. In der Spätantike wurde der Begriff erstmals auch für Autoren von Rang verwendet. Da sich die abendländische Kultur seit dem Mittelalter und der Renaissance besonders an der Antike orientierte, wurden „klassisch" und „antik" fortan oft gleichgesetzt. Darüber hinaus aber waren damit ganz allgemein die Höhepunkte einer kulturgeschichtlichen Entwicklung gemeint. píp * ■ " • - ^ V. 3dVZ'r 5.1 J i \ . '"Ji st?: 'Ii p _____ Der Begriff „klassisch* links: lohann Wolfgang Goethe rechts: Friedrich Schiller 101 Nationalistische Interpretation und ästhetische Verabsolutierung Goethe und Schiller in Weimar Klassische Gedankenlyrik 102 In diesem Sinn bestimmte die nationalpolitische Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts die Werke Goethes und Schillers als geistige Blütezeit der Deutschen, der in Gestalt eines vereinigten und im bürgerlichen" Sinn modernisierten Deutschen Reiches eine nationale folgen sollte. Durch diese Interpretation wurden jedoch auch die künstlerischen Wertmaßstäbe der Klassik vielfach absolut gesetzt: Bis herauf in unsere Zeit beurteilte man nun Literatur immer wieder danach, wie weit sie diesen Kriterien entsprach, und verweigerte davon abweichenden Konzepten die Anerkennung. Schauplatz der künstlerischen Zusammenarbeit zwischen Johann Wolfgang Goethe (1749 - 1832) und Friedrich Schiller (1759 - 1805) war die kleine mitteldeutsche Residenz Weimar. Die früh verwitwete Herzogin Anna Amalia war eine für alle geistigen Belange aufgeschlossene Regentin, die ihren Sohn Karl August in aufgeklärtem Sinn durch Wieland hatte erziehen lassen. Der junge Herzog Karl August lud Goethe nach Weimar ein und betraute ihn mit verschiedenen staatspolitischen Aufgaben (Präsident der Kammer, Kriegs- und Finanzministcr, Leiter der inneren Verwaltung und des Hoftheaters sowie des Unterrichtswesens). Goethe, der Sohn einer Frankfurter Patrizier-familie, hatte zuvor in Leipzig und Straßburg Jura studiert und am Reichskammergericht in Wetzlar gearbeitet. Im Jahr 1794 trafen Goethe und Schiller in Jena zusammen, wo letzterer als Professor für Geschichte wirkte. Mit Schillers Übersiedlung nach Weimar (1799) begann eine fruchtbare künstlerische Zusammenarbeit, die bis zu Schillers Tod 1805 währte. Schlagworte zu einer Charakterisierung der Klassik Die Grenzen des Menschen Beispiel 1: „GRENZEN DFR MENSCHHEIT" (1781) von Johann Wolfgang Goethe Wenn (1er uralte Heilige Vater Mit gelassener Hand Aus rollenden Wolken Segnende Blitze Über die Erde sät Küss' ich den letzten Saum seines Kleides, Kindliche Schauer Treu in der Brust. Denn mit Göttern Soll sich nicht messen Irgend ein Mensch. Hebt er sich aufwärts Und berührt Mit dem Scheitel die Sterne, Nirgends haften dann Die unsichern Sohlen, Und mit ihm spielen Wolken und Winde. Steht er mit festen, Markigen Knochen Auf der wohlgegründeten Dauernden Erde, Reicht er nicht auf, Nur mit der Eiche Oder der Rebe Sich zu vergleichen. Was unterscheidet Götter von Menschen? Daß viele Wellen Vor jenen wandeln, Ein ewiger Strom: Uns hebt die Welle, Verschlingt die Welle, Und wir versinken. Ein kleiner Ring Begrenzt unser Leben, Und viele Geschlechter Reihen sich dauernd An ihres Daseins Unendliche Kette. 1 Vergleichen Sie Goethes Gedicht mit der Sturm-und-Drang-Hymne „Prometheus" Orientierung in der Vielfalt des Lebens: Typus und Metamorphose1 Beispiel 2: Aus „DIE METAMORPHOSE DER PFLANZEN" (1798) von Johann Wolfgang Goethe 1 Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung Dieses Blumengewühls über dem Garten umher; Viele Namen hörest du an, und immer verdränget Mit barbarischem Klang einer den andern im Ohr. 5 Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern: Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, Auf ein heiliges Rätsel. O könnt ich dir, liebliche Freundin, Überliefern sogleich glücklich das lösende Wort! -Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze, io Stufenweise geführt, bildet zu Blüten und Frucht. Aus dem Samen entwickelt sie sich, sobald ihn der Erde Stille befruchtender Schoß hold in das Leben entläßt Und dem Reize des Lichts, des heiligen, csvig bewegten. Gleich den zartesten Bau keimender Blätter empfiehlt. 15 Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild Lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt, Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos; Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt, Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend, 20 Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht. Aber einfach bleibt die Gestalt der ersten Erscheinung, Und so bezeichnet sich auch unter den Pflanzen das Kind. [...] Nun, Geliebte, wende den Blick zum bunten Gewimmel, 25 Das verwirrend nicht mehr sich vor dem Geiste bewegt. Jede Pflanze verkündet dir nun die ewgen Gesetze, Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir. Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern, Überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug. 2 Versuchen Sie, Goethes Auffassung über die natürliche Entwicklung der Pflanzen in eigenen Worten zu formulieren! Unterstreichen Sie die wichtigsten Wörter! Goethe betrieb zeitlebens naturwissenschaftliche Studien. Er beschäftigte sich mit der vergleichenden Anatomie (er entdeckte den Zwischenkieferknochen des Menschen), mit der Botanik und mit der Optik („FARBENLEHRE": Gegen Isaac Newton, der die Farben aus dem weißen Licht abgeleitet hatte, sah Goethe die Farben durch den Zustand des menschlichen Auges bedingt). Vor allem aber sah er im Wachstumsprozeß alles Natürlichen (Typus als Grundgestalt, Metamorphose als Übergangs- und Vermittlungsprozeß) eine Analogie zu den Entwicklungsvorgängen in Kunst und Menschenleben. Die Erziehung des Menschen durch die ICunst Beispiel 3: Aus „ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG DES MENSCHEN, IN EINER REIHE VON BRIEFEN" (1793) von Friedrich Schiller Schillers Abhandlung beginnt mit einer bemerkenswerten Analyse der gesellschaftlichen Situation seiner Zeit. Er vergleicht sie mit der Kultur des alten Griechenland: Ein klassisches Lehrgedicht 1 Umgestaltung der Grundform (biol.) Ausrichtung an den Gesetzmäßigkeiten der Natur Goethe und die Naturwissenschaft Analogie der Wachstumsprozesse in Natur, Kunst und Menschenleben 103 m i Damals, bei jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte, hatten die Sinne und der Geist noch kein strenge geschiedenes Eigentum; denn noch hatte kein Zwiespalt sie gereizt, miteinander teindselig abzuteilen und ihre Markung zu bestimmen. [...] Wie ganz anders bei uns Neuem! Auch bei uns ist das Bild der Gattung in den Individuen vergrößert auseinander geworfen - 5 aber in Bruchstücken, nicht in veränderten Mischungen, daß man von Individuum zu Individuum herumfragen muß, um die Totalität der Gattung zusammenzulesen. Bei uns, möchte man fast versucht werden zu behaupten, äußern sich die Gemütskräfte auch in der Erfahrung so gelrennt, wie der Psychologe sie in der Vorstellung scheidet, und wir sehen nicht bloß einzelne Subjekte, sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, io während daß die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind. [...] Die Kultur selbst war es, welche der neuern Menschheit diese Wunde schlug. Sobald auf der einen Seite die erweiterte Erfahrung und das bestimmtere Denken eine schärfere Scheidung der Wissenschaften, auf der andern das verwickeitere Uhrwerk der Staaten eine slrenge- 15 re Absonderung der Stände und Geschäfte notwendig machte, so zerriß auch der innere Bund der menschlichen Natur, und ein verderblicher Streit entzweite ihre harmonischen Kräfte. [...] Jene Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens genoß und. wenn es not tat, zum Ganzen werden konnte, machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerke Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser 20 Teile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet. Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die 25 Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. Später überlegt Schiller, wie der gegenwärtige Zustand zu verbessern wäre, ohne nach einer Revolution das drohende Chaos in Kauf nehmen zu müssen: l Das große Bedenken also ist, daß die physische Gesellschaft in der Zeit keinen Augenblick aufhören darf, indem die moralische in der Idee sich bildet, daß um der Würde des Menschen willen seine Existenz nicht in Gefahr geraten darf. Wenn der Künstler an einem Uhrwerk zu bessern hat, so läßt er die Räder ablaufen; aber das lebendige Uhrwerk des Staats muß gebes- 5 sert werden, indem es schlägt, und hier gilt es, das rollende Rad während seines Umschwunges auszutauschen. Diese Veränderung der Gesellschaft soll durch die Kunst erfolgen: durch die „ästhetische Erziehung" des Menschen, wie Schiller sagt. 3 Welche Mißstände diagnostiziert Schiller an seiner Zeit? Welches Idealbild vom Menschen steht dahinter? Ist Schillers Kritik auch auf unsere Zeit übertragbar? Das Vorbild der griechischen Antike Beispiel 4: Aus „GEDANKEN ÜBER DIE NACHAHMUNG DER GRIECHISCHEN WERKE IN DER MALEREI UND BILDHAUERKUNST" (1755) von Johann Joachim Winckelraann (1717-1768) l Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen hei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele. [...] 5 Je ruhiger der Stand des Körpers ist, desto geschickter ist er, den wahren Charakter der Seele zu schildern: in allen Stellungen, die von dem Stande der Ruhe zu sehr abweichen, befindet sich die Seele nicht in dem Zustande, der ihr der eigentlichste ist, sondern in einem gewallsa- 104 men und erzwungenen Zustande. Kenntlicher und bezeichnender wird die Seele in heftigen Leidenschaften; groß aber und edel ist sie in dem Stande der Einheit, in dem Stande der Ruhe. Beispiel 5: Aus „DIE GÖTTER GRIECHENLANDS" (1788 bzw. 1800) von Friedrich Schiller Da ihr noch die schöne Welt regieret. An der Freude leichtem Gängelband Selige Geschlechter noch geführet. Schöne Wesen aus dem Fabelland -Ach, da euer Wonnedienst noch glänzte, Wie ganz anders, anders war es da! Da man deine Tempel noch bekränzte, Venus Amathusia!1 Da der Dichtung zauberische Hülle Sich noch lieblich um die Wahrheit wand, Durch die Schöpfung floß da Lebensfülle, Und was nie empfinden wird, empfand. An der Liebe Busen sie zu drücken, Gab man höhern Adel der Natur, Alles wies den eingeweihten Blicken, Alles eines Gottes Spur. [...] Schöne Welt, wo bist du? Kehre wieder, Holdes Blütenalter der Natur! Ach, nur in dem Feenland der Lieder Lebt noch deine fabelhafte Spur. Ausgestorben trauert das Gefilde, Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick, Ach, von jenem lebenwarmen Bilde Blieb der Schatten nur zurück. [...] Unbewußt der Freuden, die sie schenket, Nie entzückt von ihrer Herrlichkeit, Nie gewahr des Geistes, der sie lenket, Sel'ger nie durch meine Seligkeit, Fühllos selbst für ihres Künstlers Ehre, Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr, Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere, Die entgötterte Natur. Morgen wieder neu sich zu entbinden, Wühlt sie heute sich ihr eignes Grab, Und an ewig gleicher Spindel winden Sich von selbst die Monde auf und ab. Müßig kehrten zu dem Dichterlande Heim die Götter, unnütz einer Well, Die, entwachsen ihrem Gängelbande, Sich durch eignes Schweben hält. Ja, sie kehrten heim, und alles Schöne, Alles Hohe nahmen sie mit fort, Alle Farben, alle Lebenstöne, Und uns blieb nur das entseelte Wort. Aus der Zeitflut weggerissen, schweben Sie gerettet auf des Pindus2 Höhn: Was unsterblich im Gesang soll leben, Muß im Leben untergehn. Was unterscheidet nach Schiller die idealisierte Zeit der griechischen Antike von der Gegenwart? Die Kunst der Moderne als Vergegenwärtigung eines verlorenen Idealzustands Beispiel 6: Aus der Abhandlung „ÜBER NAIVE UND SENTIMENTALISCHE DICHTUNG" (1795/96) von Friedrich Schiller Schiller formuliert hier eine Theorie der modernen Dichtkunst. Er spricht zu Beginn von der Faszination, die naturbelassene Gegenstände auf den Menschen auszuüben vermögen: i Wir sehen alsdann in der unvernünftigen Natur nur eine glücklichere Schwester, die in dem mütterlichen Hause zurückblieb, aus welchem wir im Übermut unserer Freiheit heraus in die Fremde stürmten. Mit schmerzlichem Verlangen sehnen wir uns dahin zurück, sobald wir angefangen, die Drangsale der Kultur zu erfahren, und hören im fernen Auslande der Kunst 5 der Mutter rührende Stimme. Solange wir bloße Naturkinder waren, waren wir glücklich und vollkommen; wir sind frei geworden und haben beides verloren. Daraus entspringt eine dop-■■ pelte und sehr ungleiche Sehnsucht nach der Natur, eine Sehnsucht nach ihrer Glückseligkeit, eine Sehnsucht nach ihrer Vollkommenheit. [,..] Daher kommt es, weil die Natur bei uns aus der Menschheit verschwunden ist und wir sie io nur außerhalb dieser, in der unbescclten Welt, in ihrer Wahrheit wieder antreffen. Nicht unse- Klassische Gedankenlvrik 1 Venus: röm. Göttin der Liebe (griech. Aphrodite, die in Amalhus auf Zypern ein Heiligtum hatte) 2 Sitz der Musen (der griech. Göttinnen der Künste) 105 Die Elegie 1 Nänie: Lied zur Totenklage 2 Stygischer Zeus: Totenrichter (Styx) 3 Anspielung auf Orpheus, der seine Gattin Eurydike durch Liebe und Gesang fast aus dem Totenreich zurückholt 4 Aphroditcs Geliebter Ado-nis wird vom Kriegsgott Ares durch einen Eber getötet 5 Achill Sohn einer Halbgöt-lin, stirbt im Trojanischen Krieg 6 Nereus: Meer-greis, Großvater Achills 7 Orkus: Totenreich 106 re größere Naturmäßigkeit, ganz im Gegenteil die Naturwidrigkeit unsrer Verhältnisse, Zustände und Sitten treibt uns an [,..]. Deswegen ist das Gefühl, womit wir an der Natur hangen, dem Gefühle so nahe verwandt, womit wir das entflohene Alter der Kindheit und der kindlichen Unschuld beklagen. [...] Unser Gefühl für Natur gleicht der Empfindung des i 's Kranken für die Gesundheit. Ausgehend von dieser Unterscheidung charakterisiert Schiller nun die Haltung, die er von den modernen Dichtem vertreten sieht: ] Die Dichter sind überall, schon ihrem Begriffe nach, die Bewahrer der Natur. Wo sie dieses nicht ganz mehr sein können und schon in sich selbst den zerstörenden Einfluß willkürlicher und künstlicher Formen erfahren oder doch mit demselben zu kämpfen gehabt haben, da werden sie als die Zeugen und als die Rächer der Natur auftreten. Sie werden entweder Natur 5 sein, oder sie werden die verlorene suchen. [...] Jenes macht den naiven, dieses den sentimen-talischen Dichter. Die moderne sentimentalische Dichtung unterscheide sich dadurch von der naiven, daß sie nicht einfach den „wirklichen Zustand" unmittelbar wiedergibt, sondern ihn „auf Ideen 10 bezieht und Ideen auf die Wirklichkeit anwendet". Wir erhalten auf diese Art nie den Gegenstand, nur, was der reflektierende Verstand des Dichters aus dem Gegenstand machte, und selbst dann, wenn der Dichter selbst dieser Gegenstand ist, wenn er uns seine Empfindungen darstellen will, erfahren wir nicht seinen 15 Zustand unmittelbar und aus der ersten Hand, sondern wie sich derselbe in seinem Gemüt reflektiert, was er als Zuschauer seiner selbst darüber gedacht hat. 5 Versuchen Sic, mit eigenen Worten wiederzugeben, was nach SchiUersxAuffassung die Dichtung der Moderne von der antiken unterscheidet! Werde die Natur der Kunst bzw. das Ideal der Wirklichkeit positiv entgegengesetzt und dabei als wirklich vorgestellt, so entsteht nach Schiller eine Idylle. Die Natur und das Ideal als verloren, als unerreicht darzustellen, sei hingegen die Aufgabe der Elegie. Beispiel 7: „NÄNIE"1 (1799) von Friedrich Schiller l Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget, Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.2 Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher, Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.5 5 Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde, Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.4 , Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter, Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt.5 Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,6 10 Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn. Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, Daß das. Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt. Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich, Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus7 hinab. Die Form der Elegie ist gekennzeichnet durch die Aneinanderreihung von Distichen, zweizeiligen Strophen, die sich aus einem Hexameter (6 Hebungen) und einem Pentameter (5 Hebungen) zusammenfügen. 6 In welche Abschnitte könnte man den Text unterteilen? Welche Funktion erhält am Ende des Gedichts die Kunst zugesprochen? Beispiel 8: Aus den „RÖMISCHEN ELEGIEN" (1788/90) von Johann Wolfgang Goethe: Nr. V 1786-1788 unternahm Goethe eine Italienreise, um selbst die Kunst der Antike zu studieren. l Froh empfind ich mich nun auf klassischem Boden begeistert; Vor- und Mitwelt spricht lauter und reizender mir. Hier befolg ich den Rat, durchblättre die Werke der Alten Mit geschäftiger Hand, täglich mit neuem Genuß. 5 Aber die Nächte hindurch hält Amor1 mich anders beschäftigt; Werd ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt beglückt. Und belehr ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busen Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab? Darm versteh ich den Marmor erst recht; ich denk und vergleiche, io Sehe mit fühlendem Aug, fühle mit sehender Hand. Raubt die Liebste denn gleich mir einige Stunden des Tages, Gibt sie Stunden der Nacht mir zur Entschädigung hin. Wird doch nicht immer geküßt, es wird vernünftig gesprochen; Überfällt sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel. 15 Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand Ihr auf den Rücken gezählt. Sie atmet in lieblichem Schlummer, Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins Tiefste die Brust. Amor schüret die Lamp' indes und denket der Zeiten, 20 Da er den nämlichen Dienst seinen Triumvirn2 getan. 7 Warum spricht Goethe hier nicht nur vom Studium der antiken Kunstdenkmäler (die offene Erotik der Römischen Elegien wurde damals als skandalös empfunden)? Achten Sie vor allem auf die Zeilen 9 und 10! Von welcher Art der Auseinandersetzung mit der kulturellen Tradition setzt er sich damit ab? 8 Vergleichen Sie die beiden Elegien inhaltlich! Die Humanisierung des Menschen Beispiel 9: Aus „IPHIGENIE AUF TAURIS" (1787) von Johann Wolfgang Goethe Iphigenie, von ihrem Vater Agamemnon als Sühneopfer bestimmt, ist von der Göttin Diana nach Tauris gebracht worden, wo sie durch ihre Menschlichkeit König Thoas dazu veranlaßt hat, nicht mehr wie bisher jeden Fremdling der Göttin Diana zu opfern. Als Iphigenie die Werbung des Thoas ausschlägt, befiehlt der König die Opferung zweier soeben festgenommener Fremdlinge. Es sind Iphigenies Bruder Orest, der die Mörder seines Vaters, seine Mutter Klytemnästra und deren Geliebten Ägisth, getötet hat und deshalb von den Furien verfolgt wird, und dessen Freund Pylades, die zu Orests Befreiung von den Furien gemäß dem Orakel „die Schwester von Tauris nach Griechenland" bringen wollen. Orest mißversteht den Orakelspruch und will das Göttinnenbild der Diana (der Schwester Apolls) entführen. Dadurch gelangt Iphigenie in eine Konfliktsituation, aus der sie sich auf bemerkenswerte Weise befreit: i IPHIGENIE (nach einigem Stillschweigen): Hat denn zur unerhörten Tat der Mann Allein das Recht? Drückt denn Unmögliches Nur er an die gewalt'ge Heldenbrust? 5 Was nennt man groß? Was hebt die Seele schaudernd Dem immer wiederholenden Erzähler, Goethes IUlienreise 1 röm. Gott der I .iebe (griech. Eros) 2 Triumvir: Mitglied einer Dreimärmer-herrschaft im alten Rom . 107 1 kriegerisches, berittenes Frauenvolk der griech. Sage 2 Tantalus: für Vergehen gegen die Götter zu ewigem Hunger und Durst verurteilt („Tantalusqualen") 3 Atrcus: Vater des Agamemnon, Onkel Ägisths, Mörder seiner Neffen und (vergeblicher) Anstifter Ägisths zum Vatermord Als was mit unwahrscheinlichem Erfolg Der Mutigste begann? Der in der Nacht Allein das Heer des Feindes überschleicht,- _ io Wie unversehen eine Flamme wütend Die Schlafenden, Erwachenden ergreift, Zuletzt, gedrängt von den Ermunterten, Auf Feindes Pferden, doch mit Beute kehrt, Wird der allein gepriesen? der allein, 15 Der, einen sichern Weg verachtend, kühn Gebirg' und Wälder durchzustreifen geht, Daß er von Räubern eine Gegend saubre? Ist uns nichts übrig? Muß ein zartes Weib Sich ihres angebornen Rechts entäußern, 20 Wild gegen Wilde sein, wie Amazonen1 Das Recht des Schwerts euch rauben und mit Blute Die Unterdrückung rächen? Auf und ab Steigt in der Brust ein kühnes Unternehmen: Ich werde großem Vorwurf nicht entgehn, 25 Noch schwerem Übel, wenn es mir mißlingt; Allein euch leg' ich/s auf die Kniee! Wenn Ihr wahrhaft seid, wie ihr gepriesen werdet, So zeigt's durch euern Beistand und verherrlicht Durch mich die Wahrheit! - f.,.1 30 Sie sagt Thoas offen, was ihr Bruder plant, und appelliert an seine Großmut: Uns beide hab' ich nun, die Überbliebnen \ Von Tantals2 Haus, in deine Hand gelegt: 35 Verdirb uns - wenn du darfst. THOAS; Du glaubst, es höre Der rohe Skythe, der Barbar, die Stimme Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus3, Der Grieche, nicht vernahm? 40 IPHIGENIE: Es hört sie jeder, Geboren unter jedem Himmel, dem Des Lebens Quelle durch den Busen rein Und ungehindert fließt. -[.,.] THOAS: Unwillig, wie sich Feuer gegen Wasser 45 Im Kampfe wehrt und gischend seinen Feind Zu tilgen sucht, so wehret sich der Zorn In meinem Busen gegen deine Worte. IPHIGENIE: O laß die Gnade, wie das heil'ge Licht j Der stillen Opferflamme, mir, umkränzt 50 Von Lobgesang und Dank und Freude, lodern, THOAS: Wie oft besänftigte mich diese Stimme! IPHIGENIE: O reiche mir die Hand zum Friedenszeichen. THOAS: Du forderst viel in einer kurzen Zeit. IPHIGENIE: Um Gut's zu tun, braucht's keiner Überlegung. 55 THOAS: Sehr viel! denn auch dem Guten folgt das Obel. IPHIGENIE: Der Zweifel ist's, der Gutes böse macht. Bedenke nicht; gewähre, wie du's fühlst. Thoas läßt Iphigenie und die beiden Griechen in Frieden ziehen. Nun erkennt Orest, daß nur die eigene Schwester als Verkörperung der Humanität den Fluch von ihm und seiner Familie zu nehmen vermag. 9 Welches Menschenbild wird in Goethes „Iphigenie" entworfen? Nennen Sie die wichtigsten Eigenschaften! 108 Dramen der Weimarer Klassiker Goethes „Tasso": Der Künstler und die Gesellschaft Beispiel 10: Aus „TORQUATO TASSO" (1790) von Johann Wolfgang Goethe Der Dichter Torquato Tasso (sein historisches Vorbild lebte 1544 - 1595) wird vorn Herzog von Ferrara, an dessen Hof er lebt, für sein großes Epos „Das befreite Jerusalem" mit einem Lorbeerkranz gekrönt. Doch er paßt mit seinen Lebens- und Kunstvorstellungen nicht so rech! in die polierte höfische Gesellschaft, wie der folgende Dialog mit Prinzessin Leonore zeigt: l TASSO: Die goldne Zeit, wohin ist sie geflohn, Nach der sich jedes Herz vergebens sehnt? Da auf der freien Erde Menschen sich Wie frohe Herden im Genuß verbreiteten; 5 Da ein uralter Baum auf bunter Wiese Dem Hirten und der Hirtin Schatten gab, Ein jüngeres Gebüsch die zarten Zweige Um sehnsuchtsvolle Liebe traulich schlang; Wo klar und still auf immer reinem Sande io Der weiche Fluß die Nymphe1 sanft umfing; Wo in dem Grase die gescheuchte Schlange Unschädlich sich verlor, der kühne Faun2, Vom tapfern Jüngling bald bestraft, entfloh; Wo jeder Vogel in der freien Luft 15 Und jedes Tier, durch Berg' und Täler schweifend, Zum Menschen sprach: Erlaubt ist, was gefällt. PRINZESSIN: Mein Freund, die goldne Zeit ist wohl vorbei; Allein die Guten bringen sie zurück. Und soll ich dir gestehen, wie ich denke: 20 Die goldne Zeit, womit der Dichter uns Zu schmeicheln pflegt, die schöne Zeit, sie war, So scheint es mir, so wenig, als sie ist; Und war sie je, so war sie nur gewiß, Weil sie uns immer wieder werden kann. 25 Noch treffen sich verwandte Herzen an Und teilen den Genuß der schönen Well; Nur in dem Wahlspruch ändert sich, mein Freund, Ein einzig Wort: Erlaubt ist, was sich ziemt. 10 Vergleichen Sie die Positionen des Dichters und der höfischen Dame! Unterstreichen Sie die wichtigsten Begriffe! Als der Staatsmann Antonio über Tasso spottet, fordert ihn der Dichter zum Zweikampf. Und als er der Prinzessin seine Zuneigung durch eine Umarmung zeigt, wird er endgültig vom Hof gewiesen. Ausgerechnet Antonio ist es, an den er sich am Ende hilfesuchend wendet: TASSO: Ich kenne mich in der Gefahr nicht mehr Und schäme mich nicht mehr, es zu bekennen. Zerbrochen ist das Steuer, und es kracht Das Schiff an allen Seiten. Berstend reißt • Der Boden unter meinen Füßen auf! Ich fasse dich mit beiden Armen an! So klammert sicli der Schiffer endlich noch Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte. Doch aus diesem Scheitern entsteht zugleich seine Kunst: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide." 1 griech. weibliche Naturgottheit 2 altröm. Feld-und Waldgott (als lüstern bekannt) 109 Der Künstler der Moderne 11 Welche paradoxe Situation beschreibt Tasso mit seinem Bild? Mit einem berühmten Gleichnis formuliert Tasso gegenüber Herzog Alfons das Selbstverständnis des modernen Künstlers, der seine Tätigkeit nicht mehr an den Bedürfnissen und Aufträgen der Gesellschaft zu orientieren bereit ist: i ALFONS: Dich führet alles, was du sinnst und treibst, Tief in dich selbst. Es liegt um uns herum Gar mancher Abgrund, den das Schicksal grub; Doch hier in unserm Herzen ist der tiefste, 5 Und reizend ist es, sich hinabzustürzen. Ich bitte dich, entreiße dich dir selbst! Der Mensch gewinnt, was der Poet verliert. TASSO: Ich halte diesen Drang vergebens auf,- Der Tag und Nacht in meinem Busen wechselt. 10 Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll, So ist das Leben mir kein Leben mehr. Verbiete du dem Seidenwurm, zu spinnen, Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt: Das köstliche Geweb entwickelt er 15 Aus seinem Innersten, und läßt nicht ab, Bis er in seinen Sarg sich eingeschlossen. 0 geb ein guter Gott uns auch dereinst Das Schicksal des beneidenswerten Wurms, • J Im neuen Sonnental die Flügel rasch / Und freudig zu entfalten! 12 Welchen gut gemeinten Rat erteilt Alfons dem Dichter, und wie definiert dieser seine künstlerische Arbeit? Das Stück erwuchs nicht zuletzt aus eigenen Erlebnissen Goethes. Ferrara wurde zu einem Abbild des Hofes von Weimar. Im Gegensatz zwischen dem Weltmann Antonio und dem Künstler Tasso spiegelt sich Goethes innerer Widerstreit durch seine Doppelstellung als Minister und Dichter. (1787) von Friedrich Schiller 1 den Flamen 110 Schillers Theater: Das Drama der Politik Beispiel 11: Aus „DON CARLOS, INFANT VON SPANIEN" Das Stück ist vor allem durch die Szene berühmt geworden, in der Marquis Posa versucht, König Philipp II. von Spanien von seinem despotischen Regierungsstil abzubringen: i MARQUIS: [...] Sanftcrc Jahrhunderte verdrängen Philipps Zeiten; Die bringen mildre Weisheit; Bürgerglück Wird dann versöhnt mit Fürstengröße wandeln, 5 Der karge Staat mit seinen Kindern geizen, Und die Notwendigkeit wird menschlich sein. KONIG; Wann, denkt Ihr, würden diese menschlichen. Jahrhunderte erscheinen, hätt' ich vor Dem Fluch des jetzigen gezittert? Sehet io In meinem Spanien Euch um. Hier blüht Des Bürgers Glück in nie bewölktem Frieden; Und diese Ruhe gönn' ich den Flamändern.1 MARQUIS (schnell): Die Ruhe eines Kirchhofs! Und Sie hoffen, Zu endigen, was Sie begannen? Hoffen, 15 Der Christenheit gezeitigte Verwandlung, Den allgemeinen Frühling aufzuhalten, Der die Gestalt der Welt verjüngt? Sie wollen Allein in ganz Europa - sich dem Rade Des Weltverhängnisses, das unaufhaltsam 20 In vollem Laufe rollt, entgegenwerfen? Mit Menschenarm in seine Speichen fallen? [...] Sie wollen pflanzen für die Ewigkeit Und säen Tod? Ein so erzwungnes Werk Wird seines Schöpfers Geist nicht überdauern. 25 Dem Undank haben Sie gebaut - umsonst Den harten Kampf mit der Natur gerungen, Umsonst ein großes königliches Leben Zerstörenden Entwürfen hingeopfert. Der Mensch ist mehr, als Sie von ihm gehalten. [...] 30 O, könnte die Beredsamkeit von allen Den Tausenden, die dieser großen Stunde Teilhaftig sind, auf meinen Lippen schweben, Den Strahl, den ich in diesen Augen merke, Zur Flamme zu erheben! - Geben Sie 55 Die unnatürliche Vergöttrung auf, Die uns vernichtet. Werden Sie uns Muster Des Ewigen und Wahren. Niemals - niemals Besaß ein Sterblicher so viel, so göttlich Es zu gebrauchen. Alle Könige 40 Europens huldigen dem span'sehen Namen. Gehn Sie Europens Königen voran. Ein Fcdcrzug von dieser Hand, und neu Erschaffen wird die Erde. Geben Sie Gedankenfreiheit! - (Sich ihm zu Füßen werfend.) 45 KÖNIG (überrascht, das Gesicht weggewandt und dann wieder auf den Marquis geheftet): Sonderbarer Schwärmer! Marquis Posa versucht, seine liberalen Ideen mithilfe von Philipps Sohn Don Carlos durchzusetzen, doch er scheitert dabei an menschlichen Gefühlen: Carlos liebt seine junge Stiefmutter Elisabeth von Frankreich, die seine Braut gewesen ist, ehe sie sein Vater aus politischen Gründen geheiratet hat. Um Carlos vor den Intrigen am Hof zu schützen und ihn damit für seine politischen Pläne zu retten, läßt ihn Posa verhaften und lenkt allen Verdacht auf sich, worauf er selbst ermordet wird. Und Carlos verfällt der Inquisition, als er nach den Niederlanden fliehen will, um als späterer König allen Staaten Philipps die Freiheit zu geben. 13 Welches Idealbild von Herrschaft zeichnet Marquis Posa? In welchen sprachlichen Bildern drücken sich seine Vorstellungen aus? Beispiel 12: Aus „WALLENSTEINS TOD" (1800, folgt auf „WALLENSTEINS LAGER" und „DIE PICCOLOMIN1") von Friedrich Schiller Im Mittelpunkt der Trilogie steht der Verrat Wallensteins, des großen Feldherrn aus dem Dreißigjährigen Krieg, an seinem Kaiser. Er will den schon überlang dauernden Krieg -auch gegen den Willen des Wiener Hofes - beenden und - mit Hilfe der Schweden - König von Böhmen werden. Nachdem der argwöhnische Wiener Hof Maßnahmen zur Verminderung von Wallensteins Macht anordnet, ist Wallenstein zum Handeln gezwungen: l WALLENSTEIN (mit sich selbst redend): Wärs möglich? Könnt ich nicht mehr, wie ich wollte? Nicht mehr zurück, wiemirs beliebt? Ich müßte . Die Tat vollbringen, weil ich sie gedacht, 5 Nicht die Versuchung von mir wies - das Herz Genährt mit diesem Traum, auf ungewisse Erfüllung hin die Mittel mir gespart, Die Wege bloß mir offen hab gehalten? -Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht lü Mein Ernst, beschloßne Sache war es nie. In dem Gedanken bloß gefiel ich mir; Die Freiheit reizte mich und das Vermögen. Wars unrecht, an dem Gaukelbilde mich Der königlichen Hoffnung zu ergötzen? 15 Blieb in der Brust mir nicht der Wille frei, Und sah ich nicht den guten Weg zur Seite, Der mir die Rückkehr offen stets bewahrte? Wohin denn seh ich plötzlich mich geführt? Bahnlos liegts hinter mir, und eine Mauer 20 Aus meinen eignen Werken baut sieh auf, Die mir die Umkehr türmend hemmt! [...] Kühn war das Wort, weil es die Tat nicht war. Jetzt werden sie, was planlos ist geschehn, Weitsehend, planvoll mir zusammenknüpfen, 25 Und was der Zorn, und was der frohe Mut Mich sprechen ließ im Überfluß des Herzens, Zu künstlichem Gewebe mir vereinen, Und eine Klage furchtbar draus bereiten, Dagegen ich verstummen muß. So hab ich 30 Mit eignem Netz verderblich mich umstrickt, Und nur Gewalttat kann es reißend lösen. [...] In meiner Brust war meine Tat noch mein: Einmal entlassen aus dem sichern Winkel Des Herzens, ihrem mütterlichen Boden, 35 Hinausgegeben in des Lebens Fremde, Gehört sie jenen tückschen Mächten an, Die keines Menschen Kunst vertraulich macht. 14 Vollziehen Sie das Dilemma Wallensteins genau nach und formulieren Sie seine Gedanken in moderner Sprache! Gegenspieler Wallensteins ist Fürst Pkcolomini, der treu zum Kaiser steht. Sein Sohn Max, der den Feldherrn verehrt und dessen Tochter Thekla liebt, gerät dadurch in einen unauflöslichen Konflikt und sucht den Tod in der Schlackt. Er ist einer der unglücklichen Söhne in Schillers Werk, wie seine folgenden Vorwürfe gegenüber Wallenstein zeigen: i MAX: Sieh! Alles- alles wollt ich dir verdanken, Das Los der Seligen wollt ich empfangen Aus deiner väterlichen Hand. Du hasts Zerstört, doch daran liegt dir nichts. Gleichgültig 5 Trittst du das Glück der Deinen in den Staub, Der Gott, dem du dienst, ist kein Gott der Gnade. Wie das gemütlos blinde Element, Das furchtbare, mit dem kein Bund zu schließen, Folgst du des Herzens wildem Trieb allein. io Weh denen, die auf dich vertraun, an dich Die sichre Hütte ihres Glückes lehnen, Gelockt von deiner gastlichen Gestalt! [...] Unglücklich schwere Taten sind geschehn, Und eine Frevelhandlung faßt die andre 15 In enggeschloßner Kette grausend an. Doch wie gerieten wir, die nichts verschuldet, In diesen Kreis des Unglücks und Verbrechens? Wem brachen wir die Treue? Warum muß Der Väter Doppelschuld und Freveltat 20 Uns gräßlich wie ein Schlangcnpaar umwinden? Warum der Väter unversöhnter Haß Auch uns, die Liebenden, zerreißend scheiden? 15 Welche Vorwürfe spricht Max aus? Welche allgemeine Aktualität hat seine Anklage, wenn Sie geschichtliche Ereignisse betrachten? Der Schluß des Dramas ist mit tragischer Ironie gestaltet: Wallenstein wird ermordet, als er den Stand der Gestirne endlich für sich günstig sieht. Beispiel 13: Aus „WILHELM TELL" (1804) von Friedrich Schiller Die Landvögte Geßler und Landenberg wollen die drei reichsunmittelbaren Waldstätten Uri, Schwyz und Untenvalden unter die landesherrliche Gewalt der Habsburger zwingen. Das Volk schließt im „Rütlischwur" eine Eidgenossenschaft, um dem Land die alten Freiheiten wieder zu erringen. Wilhelm Teil, der wagemutige Jäger, nimmt am Bund der anderen nicht teil, bis ihn seine Weigerung, den aufgerichteten Herzogshut zu grüßen, selbst in Bedrängnis bringt: l GESSLER: Du bist ein Meisler auf der Armbrust, Teil, Man sagt, du nehmst es auf mit jedem Schützen? WALTER TELL: Und das muß wahr sein, Herr - 'nen Apfel schießt Der Vater dir vom Baum auf hundert Schritte. 5 GESSLER: Ist das dein Knabe, Teil? TELL: (a, lieber Herr. GESSLER: Hast du der Kinder mehr? TELL: Zwei Knaben, Herr. GESSLER: Und welcher ist's, den du am meisten liebst? io TELL: Herr, beide sind sie mir gleich liebe Kinder. GESSLER: Nun, Teil! Weil du den Apfel triffst vom Baume Auf hundert Schritte, so wirst du deine Kunst Vor mir bewähren müssen - Nimm die Armbrust -Du hast sie gleich zur Hand - und mach dich fertig, 15 Einen Apfel von des Knaben Kopf zu schießen -Doch will ich raten, ziele gut, daß du Den Apfel treffest auf den ersten Schuß, Denn fehlst du ihn, so ist dein Kopf verloren. 20 Tatsächlich gelingt der Meisterschuß, doch Geßler hat eine Handlung Teils stutzig gemacht: GESSLER: - Dustecktest Noch einen zweiten Pfeil zu dir - Ja, ja, Ich sah es wohl - Was meintest du damit? 25 TELL (verlegen): Herr, das ist also bräuchlich bei den Schützen. Doch Geßler dringt weiter in ihn, bis er gesteht: . ' 30 TELL: Mit diesem zweiten Pfeil durchschoß ich - Euch, Wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte, Und Eurer - wahrlich! hätt' ich nicht gefehlt. GESSLER: Wohl, Teil! Des Lebens hab ich dich gesichert, Ich gab mein Ritterwort, das will ich halten - 1 Parricida ermordete aus persönlichen Motiven seinen Onkel Albrecht I. von Habsburg (1308). Die Verbindung von Adel und Bürgertum 1 jemand, der Heu macht. 35 Doch weil ich deinen bösen Sinn erkannt, .Will ich dich führen lassen und verwahren, Wo weder Mond noch Sonne dich bescheint, Damit ich sicher sei vor deinen Pfeilen. Ergreift ihn, Knechte! Bindet ihn! 40 (Teil wird gebunden.) STAUFFACHER: Wie, Herr? So könntet Ihr an einem Manne handeln, An dem sich Gottes Hand sichtbar verkündigt? GESSLER: Laß sehn, ob sie ihn zweimal retten wird. Der bisherige Einzelgänger Teil stellt sich nun auf die Seite des Volkes. Er flüchtet und tötet Geßler. Durch einen allgemeinen Aufstund wird das Land befreit. In einer abschließenden Szene grenzt Teil seine Tat als Akt der Notwehr vom Kaisermord Johann Parriädas! ab, den er zur Buße nach Rom schickt. Hinter dem Stück steht natürlich das seit 1789 hochaktuelle Thema des Aufstands gegen Tyrannei. Auffällig sind allerdings der ständige Verweis auf gültige traditionelle Rechte, die es wiederherzustellen gilt, und Schillers Lösungsvorschlag einer brüderlichen Verbindung zwischen dem Adel und den niederen Ständen, wie sie in der Zukunftsvision des sterbenden alten Freiherrn von Attinghausen aufklingt: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, / Und neues Leben blüht aus den Ruinen. [...] Der Adel steigt von seinen alten Burgen / Und schwört den Städten seinen Bürgereid". Der Schweizer Gegenwarlsautor Max Frisch (1911-1991) gibt die Apfelschußszene auf völlig andere Weise als Schiller wieder: j Beispiel 14: Aus „WILHELM TELL FÜR DIE SCHULE" (1971) von Max Frisch l Ein leidiger Zwischenfall ereignete sich noch in letzter Stunde - Ritter Konrad von Tillendorf, heute noch berüchtigt unter dem Namen Geßler, ließ sich gerade den zweiten Stiefel geben, als die Meldung kam: Einer habe den Hut auf der Stange nicht gegrüßt! [...] Als er auf den Platz kam, wo der Hut noch auf der Stange hing, wimmelte es schon von Neugierigen. Die 5 Waffenknechte, wichtigtuerisch vor ihrem Ritter, drängten das Publikum mit ihren Lanzen zurück; dabei versuchte niemand den Verhafteten zu befreien; sie wollten nur zuschauen. Wilhelm Teil ist hier ein Heuerl, „vermutlich ein Choleriker, der es in der Gesellschaft auch nicht immer leicht hatte". Er entschuldigt sich zunächst - es sei nicht mit Absicht geschehen. 10 Die Leute van Uri hingegen waren enttäuscht von dieser untertänigen Rede, das spürte der Heuer und verbesserte sich: er sei ein freier Mann und grüße keinen Habsburger-Hut! [...] Auch den Hut des Kaisers täte er nicht grüßen, nie und nimmer, ein freier Ürner usw. Das war unnötig, aber gesagt. Der Mann hatte plötzlich einen roten Kopf, sagte es sogar noch ein- 15 mal und lauter als zuvor. Vielleicht spürte er ebenfalls den Föhn. Einige sagten: Gott stehe ihm bei! Andere warteten wortlos auf seine Verhaftung. Auch der Bub spürte, daß sein verwirrter Vater irgendeinen .Schnitzer begangen hatte, und wollte ihm beistehen, indem er den Vater rühmte: er treffe den Vogel im Flug. Das war im Augenblick nicht gefragt. Als der Herr Vogt auf seinem Pferd gar nichts sagte, im Augenblick ratlos, wie er mit dem Sonderling zu 20 Rande kommen sollte, sagte der Bub, sein Vater treffe den Apfel auf dreißig Schritt. Auch das war eigentlich nicht gefragt - irgendwie hielt es Konrad von Tillendorf für einen rettenden Witz: dann solle der Armbrust-Vater doch seinem vorlauten Bub, der ihm, nämlich dem dicklichen Ritter, auf die Nerven ging, einmal einen Apfel vom Kopf schießen! Das sagte er, indem er schon die Zügel straffte, um vom Platz zu reiten - er begriff gar nicht, warum das 25 Fräulein von Bruneck, das immer noch zugegen war, zu flehen anfing: Herr Konrad! Sie nahm es emst. Sie redete von Gott. Hinzu trat jetzt Pfarrer Rösselmann, um es ebenfalls ernst zu nehmen. Schon lange hatte man auf irgendeine Ungeheuerlichkeit gewartet, nun hatte man sie: Vater muß Kind einen Apfel vom Kopf schießen! Alle drängten sich, das wollten sie gesehen haben: Vater muß Kind einen Apfel vom Kopf schießen. Der Heuer selbst, als er sich im 30 Mittelpunkt öffentlichen Mitleids sah, konnte kaum anders: er nahm einen Pfeil aus dem 114 Köcher, legte ihn auf seine Armbrust, um seinen Landsleuten zu zeigen, daß er kein Schwätzer war. [,..] Beinahe war es zu spät, als Ritter Konrad oder Grisler von seinem Pferd sprang; der kniende Schütze zielte bereits mit gekniffenem Auge, als Ritter Konrad oder Grisler zu ihm trat und den Pfeil von seiner zitternden Armbrust nahm, wortlos - dieser Urner wäre 35 imstande gewesen und hätte auf den grünen und ziemlich kleinen Apfel geschossen bloß um seiner Schützenehre willen. [..,] Einige verließen bereits den Platz, als der Herr Vogt, jetzt wieder zu Pferd, etwas unwillig fragte: „Was willst du denn mit diesem zweiten Pfeil?" Der Heuer weiß selbst nicht recht, warum er in seiner Verwirrung einen zweiten Pfeil gezückt 40 hat, und der Vogt will ihn schon freilassen: Leider hatten die beiden Waffenknechte gehört, was der Mann, um seinen Landsleuten doch Eindruck zu machen, eben gesagt hatte: er nämlich habe schon gewußt, was er wollte mit dem andern Pfeil im Goller, nämlich er hätte den Vogt erschossen, jawohl, vor aller Augen. 45 Einen Augenblick lang zögerte der dickliche Ritter, ob er den Choleriker fragen sollte: Hast du das gesagt? Dieser aber hätte kaum widerrufen können, ohne vor seinen Landsleuten lebenslänglich als Angeber zu gelten, und wenn er nicht verleugnete und nicht bestritt, was die Waffenknechte gehört haben wollten, so wäre es in der Tat, wie jedermann fürchtete, ohne Gericht und Kerker kaum noch zu erledigen gewesen. So war es Zeit und ratsam, diesen 50 Mann jetzt abzuführen. Die Waffenknechte packten zu, und da sie's in mittelalterlicher Manier taten, nämlich ohne Fußtritte und ohne Knüppelei, aber mit der Kraft ihrer Arme, fanden es die Waldleute sehr ungerecht. 16 Vergleichen Sie die beiden Darstellungen nach Stil und Inhalt! Welche Motive unterlegt Frisch den Geschehnissen? Welche Absicht verfolgt seine (mit zahlreichen historischen Quellenbelegen untermauerte) Neuerzählung? (Bedenken Sie die Bedeutung des Teil-Mythos für die Schweiz, und lesen Sie dazu Frischs Anmerkung: „Nicht zu Unrecht, wenn auch zur allgemeinen Empörung haben die palästinensischen Attentäter, die in Zürich am 18. Februar 1969 aus dem Hinterhalt ein startendes EL-ALFlugzeug beschossen, sich auf Wilhelm Teil berufen; die Vogt-Tötung bei . Küßnacht, wie die schweizerischen Chroniken sie darstellen, entspricht den Methoden der El-Fatah") Goethes „Faust" und „Wilhelm Meister": Der Tatmensch und die Entsagenden Beispiel 15: Aus „FAUST. EINE TRAGÖDIE" (1 .Teil: 1808, 2. Teil: 1832) von Johann Wolfgang Goethe Die Arbeit an diesem Werk hat Goethe den Großteil seines Lebens begleitet; sie reicht bereits in die Zeit des Sturm und Drang zurück. In einem „Prolog im Himmel" sprechen Gott und Mephistopheles, der „Geist, der stets verneint", über Faust. l mephistopheles: Fürwahr! er dient Euch auf besondre Weise. Nicht irdisch ist des Toren Trank noch Speise. Ihn treibt die Gärung in die Feme, . Er ist sich seiner Tollheit halb bewußt; 5 Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne Und von der Erde jede höchste Lust, Und alle Näh und alle Feme Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust. 115 DER HERR: Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient, So werd ich ihn bald in die Klarheit führen. Weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt, Daß Blüt und Frucht die künft'gen Jahre zieren. -MEPHISTOPHELES: Was wettet Ihr? Den sollt Ihr noch verlieren, Wenn Ihr mir die Erlaubnis gebt, Ihn meine Straße sacht zu führen! DER HERR: Solang er auf der Erde lebt, So lange sei dir's nicht verboten. Es irrt der Mensch, solang er strebt. [...] Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab Und führ ihn, kannst du ihn erfassen, Auf deinem Wege mit herab, Und steh beschämt, wenn du bekennen mußt: Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange Ist sich des rechten Weges wohl bewußt. „In einem hochgewölbten, engen, gotischen Zimmer" lernen wir den Genannten kennen: FAUST: Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie! Durchaus studiert, mit heißem Bemiihn. Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor; Heiße Magister, heiße Doktor gar, I Und ziehe schon an die zehen Jahr j Herauf, herab und quer und krumm Meine Schüler an der Nase herum - Und sehe, daß wir nichts wissen können! [...] Es möchte kein Hund so länger leben! Drum hab ich mich der Magie ergeben, Ob mir durch Geistes Kraft und Mund Nicht manch Geheimnis würde kund; Daß ich nicht mehr, mit sauerm Schweiß, Zu sagen brauche, was ich nicht weiß; Daß ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammenhält. Vergeblich beschwört Faust den Erdgeist, dessen Größe er nicht zu fassen vermag. Vor einem Selbstmordversuch bewahrt ihn nur die einsetzende Osterstimmung. Auf charakteristische Weise übersetzt er den Beginn des johannesevangeliums neu - statt „Im Anfang war das Wort" schreibt er zunächst „Im Anfang war der Sinn", dann „die Kraft", zuletzt aber: „Im Anfang war die Tat". In der Folge schließt Faust mit Mephisto einen Pakt: FAUST: Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, So sei es gleich um mich getan! Kannst du mich schmeichelnd je belügen, Daß ich mir selbst gefallen mag, Kannst du mich mit Genuß betrügen: Das sei für mich der letzte Tag! Die Wette biet ich! MEPHISTOPHELES: Topp! FAUST: Und Schlag auf Schlag! Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn! [...] Der große Geist hat mich verschmäht, 70 Vor mir verschließt sich die Natur. Des Denkens Faden ist zerrissen, Mir ekelt lange vor allem Wissen. Laß in den Tiefen der Sinnlichkeil Uns glühende Leidenschaften stillen! [...] 75 Dem Taumel weih ich mich, dem schmerzlichsten Genuß, Verliebtem Haß, erquickendem Verdruß, Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist, Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen, Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, 80 Will ich in meinem innern Selbst genießen, Mit meinem Geist das Höchst' und Tiefste greifen, Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern, Und, wie sie selbst, am End auch ich zerscheitem. 85 Mephisto führt ihn nun zuerst in die „kleine Well" Gretchens, das von Faust verführt wird. Gretchen tötet auf Fausts Rat ihre Mutter, um mit ihm ungestört zu sein, und sie ermordet ihr Kind. Faust tötet ihren Bruder im Zweikampf. Im Kerker verzichtet die Angeklagte auf Fausts Hilfe, eine Stimme aus der Höhe verkündet ihre Rettung. 90 Im zweiten Teil gelangt Faust auf die verschiedensten Schauplätze der „großen Welt" von Macht, Besitz und Ruhm. Goethe bringt die politischen Existenzbereiche des beginnenden 19. Jahrhunderts auf die Bühne (vor allem das absterbende Kaisertum mit seinen Verfallserscheinungen). Faust verbindet sich aber auch (in einer traumartigen Szenerie) mit der klassischen 95 Helena, dem Urbild der Schönheit (um sie wurde der trojanische Krieg geführt). Für seine Verdienste erhält Faust vom Kaiser einen unwirtlichen Küstenstrich als Lehen. Neue Pläne entstehen: FAUST: Mein Auge war aufs hohe Meer gezogen; 100 Es schwoll empor, sich in sich selbst zu türmen, Dann ließ es nach und schüttete die Wogen, Des flachen Ufers Breite zu bestürmen. [...] Da herrschet Well auf Welle kraftbegeistert, Zieht sich zurück, und es ist nichts geleistet -105 Was zur Verzweiflung mich beängstigen könnte! Zwecklose Kraft unbändiger Elemente! Da wagt mein Geist, sich selbst zu überfliegen; Hier möcht ich kämpfen, dies möcht ich besiegen. lio Wiederum wird eine historische Tendenz des 19. Jahrhunderts mit ihren positiven wie negativen Aspekten durchlebt: Faust wird zum Kolonisator, der im Sinne der Allgemeinheit der Natur Land abgewinnen will, dabei aber in Kauf nehmen muß, daß Mephistos Gehilfen in Erfüllung seines Auftrags auch über das Leben von Einzelmenschen hinwegschreiten: Phile- ii5 mon und Baucisein altes Ehepaar, das ihnen im Weg steht, wird einfach umgebracht. Schon erblindet, äußert der gealterte Faust seine Zukunftsvision: FAUST: F.röffn ich Räume vielen Millionen, Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen. i!0 Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde Sogleich behaglich auf der neusten Erde, Gleich angesiedelt an des Hügels Kraft, Den aufgewälzt kühn-emsige Völkerschaft. Im Innern hier ein paradiesisch Land, 125 Da rase draußen Flut bis auf zum Rand, Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen, Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen. 117 Die Gretchen-tragödie Politik und klassische Schönheit Der Kolonisator 1 in der kriech. Mythologie die einzigen, die den verkleideten Zeus auf Erden gastlieh aufnehmen; dafür von ihm belohnt (Rettung vor Sintflut) Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben, Das ist der Weisheit letzter Schluß: Bö Nur der verdient sichJFreiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß. Und so verbringt, umrungen von Gefahr, Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, 135 Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. Zum Augenblicke dürft ich sagen: „Verweile doch, du bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdetagen Nicht in Äonen1 untergehn. -" 140 Im Vorgefühl von solchem hohen Glück Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick. Faust stirbt, doch der Teufel, der seine Wette gewonnen glaubt, wird von den Engeln der Seele Fausts beraubt. In einem mystisch-phantastischen, der Form der Oper angenäherten Nach-145 spiel sprechen die Engel die Begründung für seine Rettung aus; ENGEL (schwebend in der höheren Atmosphäre, Faustens Unsterbliches tragend): Gerettet ist das edle Glied Der Geisterwelt vom Bösen: l so „Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen." Und hat an ihm die Liebe gar Von oben teilgenommen, \ Begegnet ihm die selige Schar \ 155 Mit herzlichem Willkommen. Im Gegensatz zu den streng nach dem Muster des klassischen Dramas gebauten Stücken „Iphigenie" und „Tasso" mutet der „Faust" überaus modern an. Nicht der Akt dominiert, sondern die selbständige Szene, die gruppenweise gereiht oder gegeneinandergestellt wird. Dazu treten revuehafte Massenszenen, die dem Bauprinzip des Reigens gehorchen. Auch die Hauptperson selbst ist kein einheitlicher Charakter mehr, sondern eine Kunstfigur, die vom Autor einfach in die verschiedensten Realitätsbereiche hineinversetzt wird. 17 Erarbeiten Sie aus den zitierten Stellen Stichworte zu einer Charakteristik von Goethes Faust! Goethes Faust wurde in allzu einseitiger Ausdeutung im späteren 19. Jahrhundert unter dem Schlagwort vom „faustischen Menschen" ah politische Identifikationsfigur mißbraucht. Vor allem zwischen 1870 und 1918, im zweiten deutschen Kaiserreich, wurde „faustisch" zum „Leitwort nationalen Selbstbewußtseins und ideologischer Selbstberuhigung und Selbstverherrlichung, bis in die Schützengräben des Ersten Weltkrieges, bis in die nationalen Manifeste der Weimarer Zeit und noch in die des Nationalsozialismus." (Hans Schwerte)1 Beispiel 16: Aus „WILHELMS MEISTERS LEHRJAHRE" (1795/96) von Johann Wolfgang Goethe Der „Wilhelm Meister" ist das Modell des klassischen Bildungsromans, der einflußreichsten bürgerlichen Romanform in Deutschland. Diese Romanform behandelt die Auseinandersetzung eines Individuums mit der Gesellschaft und seine Eingliederung in dieselbe. 1 Hans Schwerte: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Stuttgart 1962, S. 148. . 50 In seiner Urform als „WILHELM MEISTERS THEATRALISCHE SENDUNG" war das Buch als Theaterroman geplant. Wilhelm Meister sollte zum Begründer eines deutschen Nationaltheaters werden (vgl. die Bedeutung des Theaters zur Zeit der Aufklärung). Auch in der Endfassung zieht es Meister zum Theater. Er will dort jene Selbstverwirklichung finden, die ihm in einem bürgerlichen Beruf unmöglich scheint. In einem Brief an seinen Freund, den Kaufmann Werner, schabt er: Ich weiß nicht wie es in fremden Ländern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf personelle, Ausbildung möglich, Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen wie er will. Dem Adeligen sei (ähnlich dem Schauspieler) eine auf äußerliche Wirkung bedachte Existenzform möglich: Er ist eine öffentliche Person, und je ausgebildeter seine Bewegungen, je sonorer seine Stimme, je gehaltner und gemessener sein ganzes Wesen ist, desto vollkommner ist er. Wenn er gegen Hohe und Niedre, gegen Freunde und Verwandte immer eben derselbe bleibt, so ist nichts an ihm auszusetzen, man darf ihn nicht anders wünschen. Anders der Bürger: Er darf nicht fragen: was bist du? sondern nur: was hast du? welche Einsicht, welche Kenntnis, welche Fähigkeit, wie viel Vermögen? Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts und soll nichts geben. Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur sein, und was er scheinen will, ist lächerlich und abgeschmackt. Jener soll tun und wirken, dieser soll leisten und schaffen; er soll einzelne Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon vorausgesetzt, daß in seinem Wesen keine Harmonie sei, noch sein dürfe, weil er, um sich auf eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachlässigen muß. [...] Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung. Doch immer mehr lernt Wilhelm die äußerst ärmlichen Lebensbedingungen des damaligen Theaters kennen. Hingegen lenkt ihn eine geheime „Turmgesellschaft" (ähnlich wie die Geheimgesellschaften der Freimaurer, die zu den wichtigsten Beförderern der Aufklärung gehörten) hin zu seiner Bestimmung als nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Jarno, der ebenfalls der Turmgesellschaft angehört, sagt über deren Zielvorstellungen: Es ist gut, daß der Mensch, der erst in die Welt tritt, viel von sich halte, daß er sich viele Vorzüge zu erwerben denke, daß er alles mögliche zu machen suche; aber wenn seine Bildung auf einem gewissen Grade steht, dann ist es vorteilhaft, wenn er sich in einer größeren Masse verlieren lernt, wenn er lernt um anderer willen zu leben, und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen. [...J Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt. Diese sind unter sich oft im Widerstreit, und indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie die Natur zusammen und bringt sie wieder hervor. Von dem geringsten tierischen Handwerkstriebe bis zur höchsten Ausübung der geistigsten Kunst, vom Lallen und (auchzen des Kindes bis zur trefflichsten Äußerung des Redners und Sängers, vom ersten Balgen der Knaben bis zu den ungeheuren Anstalten, wodurch Länder erhalten und erobert werden, vom leichtesten Wohlwollen und der flüchtigsten Liebe bis zur heftigsten Leidenschaft und zum ernstesten Bunde, von dem reinsten Gefühl der sinnlichen Gegenwart bis zu den leisesten Ahnungen und Hoffnungen der entferntesten geistigen Zukunft, alles das und weit mehr liegt im Menschen, und muß ausgebildet werden; aber nicht in einem, sondern in vielen. „Der Mensch ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst seine Begrenzung bestimmt", heißt es später. Und der Abbé, die führende Persönlichkeit der Turmgesellschaft, sagt: „Wer alles und jedes in seiner ganzen Menschheit tun oder genießen will, wer alles außer sich zu einer solchen Art von Genuß verknüpfen will, der wird seine Zeit nur mit einem ewig unbefriedigten Streben hinbringen." Der Theaterroman Die Existenzformen von Adel und Bürgertum Die Turmgesellschaft Bürgerliche Eingliederung in die Gesellschaft 119 Die Entsagenden Die Zeit der Einseitigkeiten Goethe hat die „Lehrjahre" mit einem zweiten Teil fortgesetzt, mit „WILHELM MEISTERS WANDERJAHREN" (1829). Dieser Roman ist, wie der 2. Teil des „Faust", ungewöhnlich modern gebaut; er besteht, aus einer losen Folge von Einzeltexten, Sachlexle stehen zwischen Novellen und Spruchsammlungen. Sein bezeichnender Untertitel lautet: „Die Entsagenden". In einem Gespräch zwischen Wilhelm, der sich zuletzt für den Beruf des Wundarztes entscheidet, und Montan, dem Jarno der „Lehrjahre", wird das neue bürgerliche Lebensideal festgeschrieben: l Man hat aber doch eine vielseitige Bildung für sehr vorteilhaft und notwendig gehalten. - Sie kann es auch sein zu ihrer Zeit, versetzte jener [Montan]; Vielseitigkeit bereitet eigentlich nur das Element vor, worin der Einseitige wirken kann, dem eben jetzt genug Raum gegeben ist. Ja es ist jetzo die Zeit der Einseitigkeiten; wohl dem, der es begreift, für sich und andere in 5 diesem Sinne wirkt. Bei gewissen Dingen versteht sich's durchaus und sogleich. Übe dich zum tüchtigen Violinisten und sei versichert, der Kapellmeister wird dir deinen Platz im Orchester mit Gunst anweisen. Mach' ein Organ aus dir und erwarte, was für eine Stelle dir die Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen werde. [...] Sich auf ein Handwerk zu beschränken ist das beste. 18 Formulieren Sie nochmals kurz das Menschenbild des Romans, und vergleichen Sic es mit der Figur des Faust! Inwiefern sind beide Charaktere typische „Kinder" des 19. Jahrhunderts (bürgerliches Zeitalter, neuzeitliche Arbeitswelt...)? - Vergleichen Sie aber auch die Haupteigenschaften Werthers und des Torquato Tasso, der als „gesteigerter Werther" bezeichnet worden ist! Zusammenfassende Stichworte B Biographischer Ausgangspunkt: Goethes politische Tätigkeit am Hofe zu Weimar und die Freundschaft Goethes und Schillers. B Streben nach einer auf die sittliche Freiheit des Menschen gegründeten Kultur, zu der die neue Kunst der Klassik emporführen soll (Gedankenlyrik, Dramen, Bildungsroman). B Anknüpfung an die Antike (Winckelmann), geschlossene, ausgewogene künstlerische Formen, gehobene Sprache. fl Alles Leidenschaftliche, Bewegte, Dunkle, Regellose des Sturm und Drang soll durch Streben nach Ruhe, Ordnung, Klarheit, Ebenmaß und Harmonie ersetzt werden, ausgeglichene Verbindung von Natur und Geist, von Gefühl und Vernunft als Ziel. Orientierung an den Wachstumsprozessen der Natur (Typus und Metamorphose). B Harmonische Einheit der Individualität unter gleichmäßiger Ausbildung aller Eigenschaften als Bildungsideal, allerdings beim späten Goethe („Wilhelm Meister") Forderung nach Einfügung in die bürgerliche Gesellschaft. Tips zum Weiterlesen (ohann Wolfgang Goethe: „Die Wahlverwandtschaften" (Roman) Friedrich Schiller: „Die Jungfrau von Orleans" - George Bertiard Shaw: „Die heilige Johanna" - Bertolt Brecht: „Die heilige Johanna der Schlachthöfe" - Jean Anouilh: „Jeanne oder die Lerche" Friedrich Schiller: „Maria Stuart" - Wolfgang Hildesheimer: „Mary Stuart" Martin Walser: „In Goethes Hand" (Theaterstück) Peter Hacks: „Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe" (Theaterstück) Autoren zwischen Klassik und Romantik Während Goethe und Schiller ihr anspruchsvolles Projekt einer Verbesserung der Gesellschaft durch die Kunst verfolgten, entstanden jedoch auch literarische Werke, die sich in Form und Tendenz zum Teil deutlich von denen der Klassik unterschieden. Die Eigenständigkeit dieser Autoren wurde gerade in den letzten Jahrzehnten immer mehr erkannt und gewürdigt, und nicht selten nahmen Autoren der Gegenwartsliteratur in ihrer Arbeit auf sie Bezug. Jean Paul Die Romane Johann Paul Friedrich Richters (17.63-1825), der sich aus Verehrung für Rousseau Jean Paul nannte, wurden damals von der großen Masse, besonders von den adeligen Frauen, wesentlich mehr gelesen als die Werke der Klassiker. Sie sind gekennzeichnet durch subjektive Willkür in der formalen Gestaltung, durch die Einschaltung enzyklopädischen Wissens und von Zwischenreden sowie durch eine Detailverliebtheit, die den Handlungsrahmen überquellen läßt. Vorbild dieser Romantradition, die schon moderne Zweifel an der Einheitlichkeit des Ichs vorwegnimmt, sind die Romane des Engländers Lawrence Sterne (1713-1768), z.B. der „TRISTRAM SHANDY" mit seiner Darstellungsform der Abschweifungen und Assoziationssplitter. Das Grundthema seiner Werke ist die Entwicklung hochgespannter Idealisten im Kampf gegen die Widerstände der rauhen Wirklichkeit und die Dämonen in der eigenen Brust. Dieser Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit äußert sich auch in Jean Pauls ausgiebigem Gebrauch der Metapher, des ungewöhnlichen poetischen Bildes, mit dessen Hilfe die beiden getrennten Ebenen wenigstens literarisch zusammengesparmt werden sollen. Stets ist bei diesem Autor die Not einer mittellosen Kindheit und einer erst allmählich erfolgreichen Laufbahn als freier Schriftsteller zu verspüren: Beispiel 1: Aus „LEBEN DES VERGNÜGTEN SCHULMEISTERLEIN MARIA WUZ IN AUENthal. EINE ART IDYLLE" (1793) von Jean Paul l Wie war dein Leben und Sterben so sanft und meerstille, du vergnügtes Schulmeisterlein Wuz! Der stille laue Himmel eines Nachsommers ging nicht mit Gewölk, sondern mit Duft um dein Leben herum: deine Epochen waren die Schwankungen, und dein Sterben war das Umlegen einer Lilie, deren Blätter auf stehende Blumen flattern - und schon außer dem 5 Grabe schliefest du sanft! ' .Tri , iX*»Xv?ľ ■x (can Pauls Stil Ideal gegen Wirklichkeit 120 121 1 Kazike: mittel-und südamerik. Indianerhäuptling 2 appretieren: Textilien durch Bearbeitung qualitativ verbessern 3 sublimieren: läutern, verfeinern 4 Konklave: streng abgeschlossener Versammlungsraum (bcs, bei Papstwahl) Mit schmerzlicher Ironie beschreibt Jean Paul die Leiden an der zeitgenössischen Erziehung, die auch Wuz über sich ergehen lassen muß: Zu wichtigen Ämtern muß der Staatsbürger erst gehänselt werden. Verdient denn aber bloß io der katholische Novize zum Mönch geprügelt oder ein elender Ladenjunge in Bremen zum Kaufmannsdiener geräuchert oder ein sittenloser Südamerikaner zum Kaziken1 durch beides und durch mehrere in meinen Exzerpten stehende Qualen appretiert2 und sublimiert3 zu werden? Ist ein lutherischer Pfarrer nicht ebenso wichtig, und sind seiner künftigen Bestimmung nicht ebensogut solche übende Martern nötig? Zum Glück hat er sie; vielleicht mauerte 15 die Vorwelt die Schulpforten, deren Konklavisten4 insgesamt wahre Knechte der Knechte sind, bloß seinetwegen auf: denn andern Fakultäten ist mit dieser Kreuzigung und Radbrechung des Fleisches und Geistes zu wenig gedient. Der folgende Abschnitt zeigt, aufweiche Weise das „vergnügte" Schulmeisterlein die „Meeres-20 stille" seiner Existenz zustandebringt: War der Tag gar zu toll und windig - es gibt für uns Wichte solche Hatztage, wo die ganze Erde ein Hatzhaus ist und wo die Plagen wie spaßhaft gehende Wasserkünste uns bei jedem Schritte ansprützen und einfeuchten -, so war das Meisterlein so pfiffig, daß es sich unter das 25 Wetter hinsetzte und sich nichts darum schor; es war nicht Ergebung, die das unvermeidliche Übel aufnimmt, nicht Abhärtung, die das ungefühlte trägt, nicht Philosophie, die das verdünnte verdauet, oder Religion, die das belohnte verwindet: sondern der Gedanke ans warme Bett wars. .Abends', dacht er, ,lieg ich auf alle Fälle, sie mögen mich den ganzen Tag zwicken und hetzen, wie sie wollen, unter meiner warmen Zudeck und drücke die Nase ruhig ans 30 Kopfkissen, acht Stunden lang,' - Und kroch er endlich in der letzten Stunde eines solchen Leidentages unter sein Oberbett, so schüttelte er sich darin, krempte sich mit den Knieen bis an den Nabel zusammen und sagte zu sich: „Siehst du, Wuz, es ist doch vorbei." \ 1 Die literarische Form der Idylle (die meist der Schilderung friedlichen Lebens in ländlicher Abgeschiedenheit dient) entspricht nach Jean Paul der Lebensform des „Vollglücks in der Beschränkung". Warum nennt er seinen Text nur eine „Art Idylle"? Kommentieren Sie das hier beschriebene System der Lebensbewältigung und den realen Hintergrund, auf den es verweist! Beispiel 2: Aus der „REDE DES TOTEN CHRISTUS VOM WELTGEBÄUDE HERAB, DASS KEIN GOTT SEI" (enthalten in dem Roman „SIEBENKÄS", 1796/97) von Jean Paul In einer der für Jean Paul charakteristischen „Zwischenreden" (das Buch schildert eigentlich die nicht zuletzt an den mißlichen ökonomischen Umständen scheiternde Ehe des Armenadvokaten Siebenkäs) läßt der Autor seinen Erzähler träumen, daß Christus selbst in einer unheimlichen nächtlichen Kirchhofsatmosphäre den Verlust der Gotteskindschaft beklage: i „Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ,Vater, wo bist du?' aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne 5 eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. - Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!" Die entfärbten Schatten zcrflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen io Hauche zerrinnt; und alles wurde leer. Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: „Jesus! haben wir keinen Vater?" - Und er antwortete mit strö- 122 menden Tränen: „Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater." [.,.] Und als ich niederfiel und ins leuchtende Weltgebäude blickte: sah ich die emporgehobenen Ringe der Rie- 15 senschlange der Ewigkeit, die sich um das Welten-All gelagert hatte - und die Ringe fielen nieder, und sie umfaßte das All doppelt - dann wand sie sich tausendfach um die Natur - und quetschte die Welten aneinander - und drückte zermalmend den unendlichen Tempel zu einer Gottesacker-Kirche zusammen - und alles wurde eng, düster, bang - und ein unermeßlich ausgedehnter Glockcnhammcr sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude 20 zersplittern ... als ich erwachte. Der Alptraum endet versöhnlich, denn „zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater". 2 Vergleichen Sie diese metaphysische Angstvision mit den Gottesdarstellungen in Hallers Theodizee-Gedicht „Über den Ursprung des Übels", Klopstocks „Frühlingsfeier" und Goethes „Prometheus"! Fast zwei Jahrhunderte später spielte ein Autor unserer Zeit auf Jean Pauls Text an: Beispiel 3: Aus dem Roman „DIE RÄTTIN" (1986) von Günter Grass (geb. 1927) Eine Rättin, die dem Erzähler im Traum erscheint, malt ein grausiges Bild vom Zustand der Erde nach dem selbstverschuldeten Untergang des Menschengeschlechts: l Das ging in Erfüllung, sagte die Rättin, von der mir träumt. Wo der Mensch war, an jedem Ort, den er verließ, blieb Müll. Selbst auf der Suche nach letzter Wahrheit und seinem Gott auf den Fersen, machte er Müll. An seinem Müll, der Schicht auf Schicht lagerte, war er, sobald man ihm nachgrub, jederzeit zu erkennen; denn langlebiger als der Mensch ist sein 5 Abfall. Einzig Müll hat ihn überdauert! [...] Wahrlich, ihr seid nicht mehr! höre ich sie verkünden. Wie einst der tote Christus vom Weltgebäude herab, spricht weithallend die Rättin vom Müllgebirge: Nichts spräche von euch, gäbe es uns nicht. Was vom Menschengeschlecht geblieben, zählen wir zum Gedächtnis auf. Vom Müll befallen, breiten sich Ebenen, strändelang Müll, Täler, in denen der Müll sich io staut. Synthetische Masse wandert in Flocken, Tuben, die ihren Ketchup vergaßen, verrotten nicht. Schuhe, weder aus Leder noch Stroh, laufen selbsttätig mit dem Sand, sammeln sich in vermüllten Kuhlen, wo schon des Seglers Handschuh und drolliges Badegetier warten. All das redet von euch ohne Unterlaß. Ihr und eure Geschichten in Klarsichtfolie verschweißt, in Frischhaltebeuteln versiegelt, in Kunstharz gegossen, in Chips und Klips ihr: das gewesene 15 Menschengeschlecht. [...I Zugegeben: selbst euer Müll ist beachtlich! Und oft staunt unsereins, wenn Stürme mit dem strahlenden Staub sperrige Bauelemente von weither über die Hügel ins flache Land tragen. Seht, es segelt ein Glasfiberdach! So erinnern wir den verstiegenen Menschen: immer höher hinaus, immer steiler erdacht... Seht, wie zerknautscht sein Fortschritt zu Fall kam! 20 Zugegeben: selbst euer Müll ist beachtlich! Und oft staunt unsereins, wenn Stürme mit dem strahlenden Staub sperrige Bauelemente von weither über die Hügel ins flache Land tragen. Seht, es segelt ein Glasfiberdach! So erinnern wir den verstiegenen Menschen: immer höher hinaus, immer steiler erdacht... Seht, wie zerknautscht sein Fortschritt zu Fall kam! Und ich sah, was mir träumte, sah Gelee bibbern und Filmbänder unterwegs, sah rollenden 25 Schrott und Folien von Stürmen bewegt, sah Gift aus Fässern suppen; und ich sah sie, die vom Müllberg herab verkündete, daß der Mensch nicht mehr sei. Das, rief sie, ist euer Nachlaß! 3 Vergleichen Sie diesen Text mit seinem literarischen Vorbild! Benennen Sie die unterschiedlichen Angstvorstellungen, welche die Autoren gestaltet haben! Welche Bilder verwendet Grass für seine sprachgewaltige Warnung? ] altrömische Schicksalsgöttin 124 Friedrich Hölderlin (1770-1843) Hölderlin, einer der größten deutschsprä--ehigen Lyriker, studierte zunächst Theologie und wurde dann Hauslehrer, vor allem beim Bankier Gontavd in Frankfurt am Main, dessen unglücklich geliebte Gattin Susette er in seinen Dichtungen als Dioti-ma verklärte. Die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbrachte er in Tübingen mit allen Anzeichen der Schizophrenie, die von manchen Germanisten auch als Rückzug eines Kompromißlosen von einer als unverbesserlich empfundenen Zeit- und Lebensmisere gedeutet wurde. Beispiel 4: Aus „MEIN EIGENTUM" (1799) von Friedrich Hölderlin In seiner Fülle ruhet der Herbsttag nun, Geläutert ist die Traub und der Hain ist rot Vom Obst, wenn schon der holden Blüten Manche der Erde zum Danke fielen. Und rings im Felde, wo ich den Pfad hinaus, Den stillen, wandle, ist den Zufriedenen Ihr Gut gereift und viel der frohen Mühe gewähret der Reichtum ihnen. [.-] Beglückt, wer, ruhig liebend ein frommes Weib, Am eignen Herd in rühmlicher Heimat lebt, Es leuchtet über festem Boden Schöner dem sicheren Mann sein Himmel. Denn, wie die Pflanze, wurzelt auf eignem Grund Sie nicht, verglüht die Seele des Sterblichen, Der mit dem Tageslichte nur, ein Armer, auf heiliger Erde wandelt. Zu mächtig, ach! ihr himmlischen Höhen, zieht Ihr mich empor, bei Stürmen, am heitern Tag Fühl ich verzehrend euch im Busen Wechseln, ihr wandelnden Götterkräfte. [...] Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl! sei du, Beglückender! mit sorgender Liebe mir Gepflegt, der Garten, wo ich, wandelnd Unter den Blüten, den immerjungen, In sichrer Einfalt wohne, wenn draußen mir Mit ihren Wellen allen die mächtge Zeit, Die Wandelbare, fern rauscht und die Stillere Sonne mein Wirken fördert. Ihr segnet gütig über den Sterblichen, Ihr Himmelskräfte! jedem sein Eigentum,. O segnet meines auch, und daß zu Frühe die Parze1 den Traum nicht ende. / ..............._ Wie charakterisiert Hölderlin in diesen Strophen seine Stellung im Verhältnis zur Umwelt? Welche Funktion mißt er dabei der Fähigkeit zu dichten bei? Eines der schönsten Gedichte Hölderlins zeugt von der bangen Stimmung, die ihn zu diesem Zeitpunkt angesichts der Zukunft befallen hat: Beispiel 5: „HÄLFTE DES LEBENS" (1805) von Friedrich Hölderlin Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. Weh mir, wo nehm ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. 5 Vergleichen Sie die Bilder in den beiden Strophen! (Achten Sie dabei vor allem auf die Adjektive!) Beziehen Sie in Ihre Interpretation mit ein, daß der Schwan traditionell mit der Person des Dichters assoziiert ist! Beispiel 6: Aus dem Briefroman „HYPERION ODER DER EREMIT IN GRIECHENLAND" (1797 - 1799) von Friedrich Hölderlin Hyperion, ein junger Grieche, will sein Volk zur ehemaligen geistigen Größe zurückführen. In einem Gespräch über die Kultur des alten Athen formuliert er programmatisch: l Laßt von der Wiege an den Menschen ungestört! treibt aus der engvereinten Knospe seines Wesens, (reibt aus dem Hüttchen seiner Kindheit ihn nicht heraus! tut nicht zu wenig, daß er euch nicht entbehre und so von ihm euch unterscheide, tut nicht zu viel, daß er eure oder seine Gewalt nicht fühle, und so von ihm euch unterscheide, kurz, laßt den Menschen spät 5 erst wissen, daß es Menschen, daß es irgend etwas außer ihm gibt, denn so nur wird er " Mensch. Der Mensch ist aber ein Gott, so bald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön. [...] Das erste Kind der menschlichen, der göttlichen Schönheit ist die Kunst. In ihr verjüngt und wiederholt der göttliche Mensch sich selbst. Er will sich selber fühlen, darum stellt er seine 10 Schönheit gegenüber sieb. So gab der Mensch sich seine Götter. Denn im Anfang war der Mensch und seine Götter Eins, da, sich selber unbekannt, die ewige Schönheit war, - Ich spreche Mysterien, aber sie sind. - Das erste Kind der göttlichen Schönheit ist die Kunst. So war es bei den Athenern. Der Schönheit zweite Tochter ist Religion. Religion ist Liebe der Schönheit. Der Weise liebt 15 sie selbst, die Unendliche, die Allumfassende; das Volk liebt ihre Kinder, die Götter, die in mannigfaltigen Gestalten ihm erscheinen. Auch so wars bei den Athenern. Und ohne solche Liebe der Schönheit, ohne solche Religion ist jeder Staat ein dürr Gerippe ohne Leben und Geist, und alles Denken und Tun ein Baum ohne Gipfel, eine Säule, wovon die Krone herabgeschlagen ist. 20 Nach der Teilnahme am griechischen Freiheitskampf gegen die Türken 1770 und dem Tod seiner Geliebten Diotima geht Hyperion nach Deutschland, um dort Ruhe zu finden. Die Kantkrise Redits: einziges authentisches Bildnis Kleists 25 30 40 Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber;_keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen - ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt? [...] Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlichrein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt, und können es nicht anders, denn wo einmal ein menschlich Wesen abgerichtet ist, da dient« seinem Zweck, da sucht es seinen Nutzen, es schwärmt nicht mehr, bewahre Gott! es bleibt gesetzt, 0 Bellarmin! wo ein Volk das Schöne liebt, wo es den Genius in seinen Künstlern ehrt, da weht, wie Lebensluft, ein allgemeiner Geist, da öffnet sich der scheue Sinn, der Eigendünkel schmilzt, und fromm und groß sind alle Herzen und Helden gebiert die Begeisterung. Die Heimat aller Menschen ist bei solchem Volk und gerne mag der Fremde sich verweilen. Wo aber so beleidigt wird die göttliche Natur und ihre Künstler, ach! da ist des Lebens beste Lust hinweg, und jeder andre Stern ist besser, denn die Erde. Wüster immer, öder werden da die Menschen, die doch alle schöngeboren sind; der Knechtsinn wächst, mit ihm der grobe Mut, der Rausch wächst mit den Sorgen, und mit der Üppigkeit der Hunger und die Nahrungsangst; zum Fluche wird der Segen jedes Jahrs und alle Götter flichn. Enttäuscht lebt Hyperion fortan in Griechenland in engster Bindung an die in der Natur wirkenden göttlichen Kräfte. "" - Welche Idealvorstellung des alten Griechenland zeichnet Hyperion im ersten Textausschnitt? Wie schildert er hingegen Deutschland? (Unterstreichen Sic die wichtigsten Wörter!) Heinrich von Kleist (1777-1811) Kleist, der aus einer traditionsreichen preußischen Offiziersfamilie stammte, führte nach dem enttäuschten Austritt aus dem Militär ein ruheloses Wanderleben, da ihm jede berufliche Eingliederung in die Gesellschaft mißlang. Nach einem vergeblichen Versuch, sich in Anlehnung an Rousseaus Ideale in der Schweiz als Landwirt niederzulassen, und gescheiterten Verlagsprojekten beging er gemeinsam mit einer Bekannten Selbstmord. Zu seinem Grundthema wurde die Brüchigkeit der menschlichen Lebensordnungen und die mühsame Suche nach der Wahrheit. Das Studium der Philosophie Immanuel Kants stürzte ihn, dessen höchstes Ziel von Anfang an die Vervollkommnung des Menschen durch das Streben nach Wahrheit war (vgl. Aufklärung), in eine tiefe Krise: 1 Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün - und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie äe sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstände. Wir können 5 nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr - und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich - Ach, Wilhelmine, wenn die Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht io über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr - (Brief an seine Braut Wilhelmine von Zenge, 22. 3. 1 ROI) Beispiel 7: Aus der Novelle „DAS ERDBEBEN IN CHILI" (1810) von Heinrich von Kleist Die Novelle ist eine meist kürzere, ähnlich dem Drama gebaute Erzählform, die sich (anders als der Roman) auf einen szenischen Ausschnitt konzentriert, oft auf einen krisenhaften Vorfall (Goethe nennt sie in einer berühmten Definition „eine unerhörte i Begebenheit"). t In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili2, stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken. 5 Im gleichen Moment soll Josephe, deren Hauslehrer Jeronimo war, hingerichtet werden, weil sie ihm ein Kind geboren hat, obwohl sie von ihrem Vater in ein Karmelitenkloster gesteckt wurde. Das Erdbeben befreit Jeronimo aus dem berstenden Gefängnis, und auch Josephe kann fliehen. Die Symbole der gesellschaftlichen Macht sind zerstört: 10 Sie hatte noch wenig Schritte getan, als ihr auch schon die Leiche des Erzbischofs begegnete, " die man soeben zerschmettert aus dem Schutt der Kathedrale hervorgezogen hatte. Der Palast des Vizekönigs war versunken, der Gerichtshof, in welchem ihr das Urteil gesprochen worden war, stand in Flammen, und an die Stelle, wo sich ihr väterliches Haus befunden hatte, war 15 ein See getreten und kochte rötliche Dämpfe aus. In einem Tal finden einander die Geliebten. Für kurze Zeit tritt eine geradezu paradiesische Situation ein: Die Novelle 1 hier; noch nie gehört 2 veraltet für Chile 20 Josephe dünkte sich unter den Seligen. Ein Gefühl, das sie nicht unterdrücken konnte, nannte den verfloßnen Tag, soviel Elend er auch über die Welt gebracht hatte, eine Wohltat, wie der " Himmel noch keine über sie verhängt hatte. Und in der Tat schien mitten in diesen gräßlichen Augenblicken, in welchen alle irdischen Güter der Menschen zugrunde gingen, und die ganze Natur verschüttet zu werden drohte, der menschliche Geist selbst wie eine schöne Blume auf- 25 zugehn. Auf den Feldern, soweit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinanderliegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen, einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mitteilen, als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht 30 hätte. Doch dann versammeln sich Jeronimo und Josephe mit den anderen Überlebenden zum Dankgottesdienst: 35 Niemals schlug aus einem christlichen Dom eine solche Flamme der Inbrunst gen Himmel wie heute aus dem Dominikanerdom zu St. Jago; und keine menschliche Brust gab wärmere Glut dazu her als Jeronimos und Josephens! Die Feierlichkeit fing mit einer Predigt an, die der ältesten Chorherren einer, mit dem Festschmuck angetan, von der Kanzel hielt. Er begann gleich mit Lob, Preis und Dank, seine zitternden, vom Chorhemde weit umflossenen Hände 40 hoch gen Himmel erhebend, daß noch Menschen seien auf diesem in Trümmer zerfallenden Teile der Weit, fähig, zu Gott-emporzustammeln. Er schilderte, was auf den Wink des Allmächtigen geschehen war; das Weltgericht kann nicht entsetzlicher sein; und als er das gestrige Erdbeben gleichwohl, auf einen Riß, den der Dom erhalten hatte, hinzeigend, einen bloßen Vorboten davon nannte, lief ein Schauder über die ganze Versammlung, Hierauf kam er, im 45 Flusse priesterlicher Beredsamkeit, auf das Sittenverderbnis der Stadt; Greuel, wie Sodom und Gomorrha sie nicht sahen, strafte er an ihr; und nur der unendlichen Langmut Gottes schrieb er es zu, daß sie noch nicht gänzlich vom Erdboden vertilgt worden sei. Aber wie dem Dolche gleich fuhr es durch die von dieser Predigt schon ganz zerrissenen Herzen unserer beiden Unglücklichen, als der Chorherr bei dieser Gelegenheit umständlich des Frevels erwähn-50 te, der in dem Klostergarten der Karmeliterinncn verübt worden war; die Schonung, die er bei der Welt gefunden hatte, gottlos nannte und, in einer von Verwünschungen erfüllten Seitenwendung, die Seelen der Täter, wörtlich genannt, allen Fürsten der Hölle übergab! Die wütende Menge fällt über die Entdeckten her und bringt sie um. 7 Welche Konsequenz hat die Naturkatastrophe zunächst? Wie interpretieren Sie die Geschehnisse am Ende (v. a. auch in bezug auf das Erdbeben)? Ein Beispiel für Kleists Vorliebe für den plötzlichen Einbruch übermenschlicher Mächte in irdische Zurechtlcgungcn ist auch die folgende Anekdote: Beispiel 8: „DER GRIFFEL GOTTES" (1810) von Heinrich von Kleist j l In Polen war eine Gräfin von P..., eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Lehen führte und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution erteilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz 5 gegossenen Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den I.eichenstein ein und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet! - Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt lü der besagten Inschrift gesehen. Kleist war ein Meister der Anekdote, einer kurzen Erzählgattung, die mit Vorliebe historische Geschehnisse abseits der offiziellen Überlieferung zur Sprache bringt. Eine humorvolle Variante des Themas der Wahrheitssuche bietet Kleists Lustspiel „DER ZERBROCHENE KRUG". / Beispiel 9: Aus „DER ZERBROCHENE KRUG" (1811) von Heinrich von Kleist Kleist verwendet hier die Form des analytischen Enthüllungsdramas, bei dem auf der Bühne nur das Endstadium des Geschehens dargeboten wird. Die Vorgeschichte wird erst im Verlauf der Handlung enthüllt. (Ein berühmtes Beispiel dafür ist „KÖNIG ÖDI-PUS" von Sophokles, der erkennen muß, daß er selbst der von ihm gesuchte Mörder seines Vaters ist und zudem mit seiner Mutter in inzestuöser Ehe lebt.) Der niederländische Dorfrichter Adam muß (noch dazu unter den Augen des Gerichtsinspektors Walter) gegen sich selbst verhandeln, als eine Frau die nächtliche Zertrümmerung eines wertvollen Kruges beklagt. Er selbst hat nämlich ihrer Tochter Eve nachgestellt und dabei das Geschirr zerbrochen, je mehr er zu verschleiern sucht, desto deutlicher kommt die Wahrheit an den Tag. Schon der vieldeutige Beginn zeigt, daß Kleists Stück auf mehreren Sinnebenen angesiedelt ist: i (Adam sitzt und verbindet sich ein Bein. Licht tritt auf.) LICHT: Ei, was zum Henker, sagt, Gevatter Adam! Was ist mit Euch geschehn? Wie seht Ihr aus? ADAM: Ja, seht. Zum Straucheln brauchts doch nichts als Füße. 5 Auf diesem glatten Boden, ist ein Strauch hier? Gestrauchelt bin ich hier; denn jeder trägt Den leidgen Stein zum Anstoß in sich selbst. LICHT: Nein, sagt mir, Freund! Den Stein trüg jeglicher - ? ADAM: Ja, in sich selbst! io LICHT: Verflucht das! ADAM: _ Was beliebt? LICHT: Ihr stammt von einem lockern Ältervater, Der so beim Anbeginn der Dinge fiel Und wegen seines Falls berühmt geworden; 15 Ihr seid doch nicht - ? ADAM: Nun? LICHT; Gleichfalls-? ADAM: Ob ich - ? Ich glaube - ! Hier bin ich hingefallen, sag ich Euch. 20 LICHT: Unbildlich hingeschlagen? ADAM: Ja, unbildlich. Es mag ein schlechtes Bild gewesen sein. 8 Benennen Sie die verschiedenen Bedeutungsebenen des Textausschnitts (achten Sie auch auf die Namen)! Zeigen Sie, wie Kleist mit der Vieldeutigkeit von einzelnen Wörtern spielt! Beispiel 10: Aus dem Trauerspiel „PENTIIESILEA" (1808) von Heinrich von Kleist Die Amazonenkönigin Penthesilea sieht sich eingespannt in den Konflikt zwischen dem eige-- nen Gefühl, das sie zu Achill (dem Helden des Trojanischen Krieges) hinzieht, und dem Gesetz ihres Volkes, das ihr nur einen im Kampf Überwundenen zu liehen erlaubt. Als ihr Achill, der sie bezwungen hat, waffenlos nochmals entgegentritt, um diese gesetzliche Bedingung zu erfüllen, flammt in ihr statt der anfänglichen Liebe plötzlich grenzenloser Haß auf: t DIE OBERPRIESTERIN: fetzt unter ihren Hunden wütet sie, Mit schaumbedeckter Lipp, und nennt sie Schwestern, Die heulenden, und der Mänade1 gleich, Mit ihrem Bogen durch die Felder tanzend, 5 Hetzt sie die Meute, die mordatmende, Die sie umringt, das schönste Wild zü fangen, Das je die Erde, wie sie sagt, durchschweift. [...] EINE AMAZONE (die währenddessen den Hügel erstiegen, mit Entsetzen): Euch, ihr der Hölle grauenvolle Götter, io Zu Zeugen ruf ich nieder - was erblick ich! DIE OBERPRIESTERIN: Nun denn - als ob sie die Medus2 erblickte! DIE PRIESTERINNEN: Was siehst du? Rede! Sprich! DIE AMAZONE: Penthesilea, Sie liegt, den grimmgen Hunden beigesellt, 15 Sie, die ein Menschenschoß gebar, und reißt,-Die Glieder des Achills reißt sie in Stücken! Diese Art der Schilderung von auf der Bühne schwer darzustellenden Ereignissen nennt man „Mauerschau" (Teichoskopie). Die folgende Darstellungstechnik heißt „Botenbericht": l MEROE; Ihr wißt, Sie zog dem Jüngling, den sie liebt, entgegen, 3 röm. Göttin der Sie, die fortan kein Name nennt - In der Verwirrung ihrer jungen Sinne, Den Wunsch, den glühenden, ihn zu besitzen, Mit allen Schrecknissen der Waffen rüstend, — Von Hunden rings umheult und Elefanten, Kam sie daher, den Bogen in der Hand; [.,.] „Ha! sein Geweih verrät den Hirsch", ruft sie, Und spannt, mit Kraft der Rasenden, sogleich Den Bogen an, daß sich die Enden küssen, Und hebt den Bogen auf und zielt und schießt, Und jagt den Pfeil ihm durch den Hals; [...] Und stürzt - stürzt mit der ganzen Meut, o Diana3! Sich über ihn, und reißt - reißt ihn beim Helmbusch, Gleich einer Hündin, Hunden beigesellt, Der greift die Brust ihm, dieser greift den Nacken, Daß von dem Fall der Boden bebt, ihn nieder! [...] Sie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe reißend, Den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust, Sie und die Hunde, die wetteifernden, Oxus und Sphinx den Zahn in seine rechte, In seine linke sie; als ich erschien, Troff Blut von Mund und Händen ihr herab. Wieder zu sich gekommen, verwirft Penthesilea die gesellschaftlichen Zwänge, die ihre Gefühle derart pervertiert haben: PENTHESILEA: Ich sage vom Gesetz der Fraun mich los, i Und folge diesem Jüngling hier. [...] Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder, Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz, Mit ein vernichtendes Gefühl hervor. Dies Erz, dies läutr ich in der Glut des Jammers Hart mir zu Stahl; tränk es mit Gift sodann, Heißätzendem, der Reue, durch und durch; Trag es der Hoffnung ewgem Amboß zu, Und schärf und spitz es mir zu einem Dolch; Und diesem Dolch jetzt reich ich meine Brust: So! So! So! So! Und wieder. - Nun ists gut. (Sie fällt und stirbt.) [...] DIE OBERPRIESTERIN: Ach! Wie gebrechlich ist der Mensch, ihr Gölter! Wie stolz, die hier geknickt liegt, noch vor kurzem, Hoch auf des Lebens Gipfeln, rauschte sie! PROTHOE: Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte! Die abgestorbne Eiche steht im Sturm, Doch die gesunde siürzt er schmetternd nieder, Weil er in ihre Krone greifen kann. 9 Vergleichen Sie Kleists Hauptfigur mit Goethes Iphigenie! Tips zum Weiterlesen Günter de Bruyn: „Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter" (biographischer Roman) Peter Weiss: „Hölderlin" (Drama) Heinrich von Kleist: „Die Marquise von O." (Novelle) Heinrich von Kleist: „Michael Kohlhaas" (Novelle) - Elisabeth Plessen: „Kohlhaas" (Roman, Gegenwart) Christa Wolf: „Kein Ort. Nirgends" (Erzählung über Kleist und die romantische Dichterin Günderrode) Karin Reschke: „Verfolgte des Glücks" (Roman über Kleist) 130 Die Romantik Wesensmerkmale Einige Wesensmerkmale dieser literarischen Epoche versteht man von selbst, wenn man den Ursprung des Wortes „Romantik" kennt. Im mittelalterlichen Frankreich bezeichnete man mit lat. „romanice" (= romanisch) Erzählungen, die anstatt in der lateinischen Gelehrtensprache in einer lateinisch-romanischen Volkssprache geschrieben waren. Abenteuerliche Ritterdichtungen nannte man ab dem 14./15. Jahrhundert „Romane". Die Engländer verwendeten das Wort „romantic" später zur Bezeichnung von Dichtungen, die dem Geist der mittelalterlichen Ritterdichtung entsprachen. Im 17. und 18. Jahrhundert war dieser Begriff allerdings vielfach negativ gefärbt; er bedeutete dann „im Roman vorkommend", „unwirklich", „überspannt". Bei Novalis (= Friedrich von Hardenberg, 1772-1801) bekam das Verb „romantisieren" hingegen die Bedeutung eines weltverändernden Verhaltens durch die Macht der Poesie („nicht romantisch" heißt dann „unpoetisch", „prosaisch"): i Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzreihe sind. J...J Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvol- 5 les Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. („LOGOLOGISCHE FRAGMENTE", NR. 105) Der Ursprung des Begriffs „Romantik" 1 In welcher Bedeutung kennen Sie das Wort „romantisch" aus der Alltagssprache? Schon die frühesten literarischen Zeugnisse der Frühromantik tragen wesentliche Kennzeichen der gesamten Epoche. 2 Lesen Sie den folgenden Text und unterstreichen Sie die Schlüsselwörter! Vergleichen Sie das gewonnene „Profil" romantischen Denkens und Fühlens mit dem Bild, das Sie von Aufklärung und Weimarer Klassik in Erinnerung haben! Beispiel 1: Aus „EIN WUNDERBARES MORGENLÄNDISCHES MÄRCHEN VON EINEM NACKTEN HEILIGEN" (1797 ) von Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773-1798) i Das Morgenland ist die'Heimat alles Wunderbaren, in dem Altertume und der Kindheit der dortigen Meinungen findet man auch höchst seltsame Winke und Rätsel, die immer noch dem Verstände, der sich für klüger hält, aufgegeben werden. So wohnen dort in den Einöden oft seltsame Wesen, die wir wahnsinnig nennen, die aber dort als übernatürliche Wesen verehrt 5 . werden. Der orientalische Geist betrachtet diese nackten Heiligen als die wunderlichen Behältnisse eines höhern Genius, der aus dem Reiche des Firmaments sich in eine menschliche Gestalt verirrt hat und sich nun nicht nach der Menschenweise zu gebärden weiß. Auch sind ja alle Dinge in der Welt so oder anders, nachdem wir sie so oder anders betrachten; der Verstand des Menschen ist eine Wundertinktur, durch deren Berührung alles, was existiert, io nach unserm Gefallen verwandelt wird. Nun erzählt der Autor von einem dieser nackten Heiligen, der von der Vorstellung verfolgt wird, er höre das „Rad der Zeit seinen sausenden Umschwung nehmen". Immer mehr wird er 131 „in den Strudel der wilden Verwirrung" hineingerissen. Er verspürt eine „verzehrende Schn-15 sucht nach unbekannten schönen Dingen": „Er suchte etwas Bestimmtes, Unbekanntes, was er ergreifen und woran er sich hängen wollte; er wollte sich außerhalb oder in sich vor sich selber retten, aber vergeblich!" Das Märchen endet mit der Erlösung des Heiligen aus seinem irdischen Leidenszustand: In einer wunderschönen, mondhellen Sommernacht („die Wohnungen der Menschen waren in 20 dunkle Felsengestalten und dämmernde Geisterpaläste verwandelt",) fahren zwei Liebende auf einem Nachen den Fluß hinauf. Der durchdringende Mondstrahl hatte den Liebenden die innersten, dunkelsten Tiefen ihrer Seelen erhellt und aufgelöst, ihre leisesten Gefühle zerflossen und wogten vereinigt in uferlo-25 sen Strömen daher. Aus dem Nachen wallte eine ätherische Musik in den Raum des Himmels empor, süße Hörner, und ich weiß nicht welche andre zauberische Instrumente, zogen eine schwimmende Welt von Tönen hervor, und in den auf- und niederwallenden Tönen vernahm man folgenden Gesang: 30 Süße Ahndungsschauer gleiten Über Fluß und Flur dahin, Mondesstrahlen hold bereiten Lager liebetrunknem Sinn. Ach, wie ziehn, wie flüstern die Wogen, 35 Spiegelt in Wellen der Himmelsbogen. Liebe in dem Firmamente, Unter uns in blanker Flut, Zündet Sternglanz, keiner brennte, 40 Gäbe liebe nicht den Mut: Uns, vom Himmelsodem gefächelt, \ Himmel und Wasser und Erde lächelt. Mondschein liegt auf allen Blumen, 45 Alle Palmen schlummern schon, In der Waldung Heiligtumen Waltet, klingt der Liebe Ton: Schlafend verkündigen alle Töne, Palmen und Blumen der Liebe Schöne. 50 Mit dem ersten Tone der Musik und des Gesanges war dem nackten Heiligen das sausende Rad der Zeit verschwunden. Es waren die ersten Töne, die in diese Einöde fielen; die unbekannte Sehnsucht war gestillt, der Zauber gelöst, der verirrte Genius aus seiner irdischen Hülle befreit. 55 Eine engelhafte Gestalt schwebt, von Musik begleitet, zum Himmel empor: „Reisende Karawanen sahen erstaunend die nächtliche Wundererscheinung, und die Liebenden wähnten, den Genius der Liebe und der Musik zu erblicken." ! Wackenroder war vor allem von der bildenden Kunst der Renaissance fasziniert. Gemeinsam mit seinem Jugendfreund Ludwig Tieck (1773 - 1853) versuchte er in der programmatischen Textsammlung „HERZENSERGIESSUNGEN EINES KUNSTLIEBENDEN KLOSTERBRUDERS" (1796), mit Hilfe mehrerer idealisierender Biographien von Renaissancekünstlern den vergangenen Glanz des Künstlertums wiederzubeleben. Auch das mittelalterliche Nürnberg Albrecht Dürers beschworen die beiden herauf: „Nürnberg! du vormals weltberühmte Stadt! Wie gern durchwanderte ich deine krummen Gassen; mit welcher Liebe betrachtete ich deine altvaterischen Häuser und Kirchen ... Wie oft hab ich mich in jene Zeit zurückgewünscht!" Begreiflich wird diese Sehnsucht nach der mittelalterlichen Vergangenheit vor allem aus der Erzählung „DAS MERKWÜRDIGE MUSIKALISCHE LEBEN DES TONKÜNSTLERS JOSEPH BERGLINGER", die den Band beschließt. Beispiel 2: Aus „HERZENSERGIESSUNGEN EINES KUNSTLIEBENDEN KLOSTERBRUDERS" (1796) von Wackenroder / Tieck Der idealistische Kunstenthusiast Berglinger gerät schon bald mit der ihn umgebenden Gesellschaft in Konflikt: l Die Empfindung und der Sinn für Kunst sind aus der Mode gekommen und unanständig geworden; - bei einem Kunstwerk zu empfinden wäre grade ebenso fremd und lächerlich, als in einer Gesellschaft auf einmal in Versen und Reimen zu reden, wenn man sich sonst im ganzen Leben mit vernünftiger und gemeinverständlicher Prosa behilft. Und für diese Seelen 5 arbeit ich meinen Geist ab! Für diese erhitz ich mich, es so zu machen, daß man dabei was soll empfinden können! Das ist die hohe Bestimmung, wozu ich geboren zu sein glaubte! [...] Allein das Allerabscheulichste sind noch alle die andern Verhältnisse, worin der Künstler eingestrickt wird. Von allen dem ekelhaften Neid und hämischen Wesen, von allen den widrig-kleinlichen Sitten und Begegnungen, von aller der Subordination der Kunst unter den Willen io des Hofes; - es widersteht mir, ein Wort davon zu reden - es ist alles so unwürdig und die menschliche Seele so erniedrigend, daß ich nicht eine Silbe davon über die Zunge bringen kann. Ein dreifaches Unglück für die Musik, daß bei dieser Kunst grade so eine Menge Hände nötig sind, damit das Werk nur existiert! Ich sammle und erhebe meine ganze Seele, um ein großes Werk zustande zu bringen; - und hundert empfindungslose und leere Köpfe reden mit 15 ein und verlangen dieses und jenes. Ich gedachte in meiner Jugend dem irdischen Jammer zu entfliehen und bin nun erst recht in den Schlamm hineingeraten. Es ist wohl leider gewiß; man kann mit aller Anstrengung unsrer geistigen Fittiche der Erde nicht entkommen; sie zieht uns mit Gewalt zurück, und wir fallen wieder unter den gemeinsten Haufen der Menschen. Am Ende geht Berglinger an seiner verständnislosen Umgebung zugrunde. 3 Im Farbteil unseres Buches finden Sie das Bild „Schloß am Strom" von Karl Friedrich Schinkel. Schinkel wollte damit beweisen, daß er den Gehalt einer literarischen Erzälilung des Autors Clemens Brentano wiedergeben könne. Suchen Sie auch hier _ jene (Bild-)Elemente heraus, die Sie „romantisch" nennen würden! 4 Kreuzen Sie zum Abschluß in der folgenden Rubrik jene Merkmale an, die Ihrer Meinung nach auf die Romantik zutreffen, und begründen Sie Ihre Entscheidung! I I Streben nach Vollendung, klarer Abgrenzung, fester Ordnung, Maß und Harmonie LT] Hinwendung zur Natur LZ] Wiederentdeckung des Mittelalters und seiner Geschichte D Scharfe Trennung zwischen den Dichtungsgattungen Lyrik, Epik und Dramatik ö Beschränkung auf das mit den Sinnen und dem Verstand Erfaßbare I I Die griechische Antike als Vorbild für die menschliche Bildung 1 I Streben nach Verschmelzung der Dichtungsgattungen und Einbezug der Musik I I Herrschaft der frei waltenden Phantasie und des Gefühls EU Positive Bewertung der Verstandesleistungen des einzelnen als Ergebnis eines Humanisierungsprozesses \Z\ Streben nach Unendlichkeit und Entgrenzung 5 Für welche literarische Richtung erscheinen Ihnen die nicht angekreuzten Punkte der Rubrik passend? - Begründen Sie Ihre Meinung! Philosophische Grundlagen der Romantik Bei aller Betonung des Gefühls und der Phantasie waren die Romantiker doch im Grunde höchst intellektuelle Künstler. Vieles an ihren Werken ist deshalb ohne Kenntnis der theoretischen Überlegungen, aus denen heraus sie entstanden sind, nicht recht verständlich. Die gedanklichen Ausgangspunkte der Romantik stammten von den Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), Friedrich Wilhelm Schilling (1775-1854) und Friedrich Schleiermacher (1768-1834). Sie bauten auf der die ganze bisherige Philosophie umstürzenden Erkenntnis des Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant (1724-1804) auf, daß die Dinge nur erkennbar sind, insofern man Sinnesorgane und Vcrstandeskate-gorien dafür hat: Mehr von der Welt kann man nicht erkennen, als wozu der menschliche Geist befähigt ist („KRITIK DER REINEN VERNUNFT", 1781). Fichte führte diesen Gedanken in seiner „WISSENSCHAFTSLEHRE" (1794) weiter und sagte: Das Nicht-Ich (alles, was außerhalb des Ichs ist) ist eine Schöpfung des Ichs (Philosophie des Idealismus). Das Subjekt bestimmt nicht nur die Wirklichkeit (Kant), sondern erzeugt sie auch (Fichte). Schelling hingegen drehte Fichtes Argument gewissermaßen um und sagte: Der Geist bzw. die „Weltseele" ist in allen Dingen, und der menschliche Geist ist ein Teil dieser unendlichen Einheit. Er geht in ihr auf. Schleiermacher bezeichnete das Erfassen und Nachfühlen der Weltseele als Religion. Sie sei das Streben des Menschen, das Unendliche im Endlichen zu erfassen, den Zusammenhang zwischen Geist und Natur zu begreifen. Die frühromantischen Dichter Friedrich Schlegel (1772-1829) und Novalis (1772-1801) machten diese Gedanken für die romantische Dichtung fruchtbar. Schlegel legte in Anlehnung an Fichtes Betonung der freien geistigen Schöpferkraft des Menschen fest: Nur das schaffende Ich ist absolut. Alle Gegenstände sind von ihm geschaffen, können daher von ihm auch wieder aufgehoben und zerstört werden. Der Dichter muß daher auch in seiner Dichtung zeigen, daß alles Vorgebrachte nur etwas von seiner Phantasie Geschaffenes ist, indem er am Schluß seiner Dichtung die von ihm erzeugte Illusion zerstört. Schlegel nannte das die romantische Ironie. In seinem „GESPRÄCH ÜBER DIE POESIE" (1800) gebrauchte er für das von ihm angestrebte absolut gesetzte literarische Spiel den aus der bildenden Kunst stammenden Begriff der ,Arabeske". Wie ein abstraktes Ornament sollte Literatur von der realen Wirklichkeit unabhängig sein. Schlegel wandte sich damit vom traditionellen Prinzip der künstlerischen Nalurnachahmung ab. In der Zeitschrift „ATHENÄUM", die er gemeinsam mit seinem Bruder August Wilhelm (1767-1845)1 herausgab, schrieb Friedrich Schlegel folgende programmatische Äußerung: I i Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und 5 gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegenem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang. [..,] Sie allein ist unendlich, wie sie allein 10 frei ist und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. („ATHENÄUM-FRAGMENT" Nr. 116) 1 Neben Friedrich Schiegel ist August Wilhelm Schlegel der bedeutendste Theoretiker und Organisator der deutschen Frühromantik. Seine umfassende Kenntnis der Weltliteratur machte ihn zum Mitbegründer der Literaturwissenschaft. Die Shakespeare-Übersetzungen von Schlegel und Tieck werden noch immer auf den deutschsprachigen Bühnen verwendet. Die hier (und auch in dem Novalis-Zitat übers „Romantisieren") gewählte Ausdrucksform ist das Fragment, das den Leser dazu einlädt, dort fortzusetzen, wo der Autor abgebrochen hat. Auch eine Reihe fiktionaler Texte der Romantik sind Fragment geblieben, als sei dieser Literatur formale Abgeschlossenheit im Grunde nicht mehr angemessen. Die Frühromantik Die Romantik entstand noch zur Zeit der Weimarer Klassik in Jena, im Schatten Goethes, der in Weimar als oberster Minister regierte. Ihre Vertreter setzten sich, wie früher die Dichter des „Sturm und Drang", kritisch mit den Auffassungen der Aufklärung auseinander. Durch die Einnahme einer ausdrücklichen Gegenposition zum Gedankengut der Aufklärung und der Klassik versuchten sie letztlich, Defizite der beiden literarischen Bewegungen, die sie wahrzunehmen glaubten, zu beheben: etwa die zunehmend eingetretene Kluft zwischen rationaler Vernunft und Glauben, zwischen moderner Naturwissenschaft und Religion. Das zentrale politische Ereignis, auf das sich nach wie vor aller Augen richteten, war die Französische Revolution, auch wenn der anfängliche Enthusiasmus angesichts der weiteren Entwicklung in Frankreich und in Europa nicht lange angehalten hatte. Friedrich Schlegel sah seine Epoche ganz im Zeichen der Emanzipation des Individuums: „Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters" (ATHENÄUM-FRAGMENT Nr. 216). Charakteristisch für die Literatur der Romantik waren die zahlreichen Gmppenbildungen unter den Autoren. Die frühromantischen Dichter gingen aus dem Freundeskreis um die Brüder Friedrich und August Wilhelm Das romantische Fragment Schlegel und den Philosophen Schelling in Jena hervor. Die bekanntesten Autoren unter ihnen waren Ludwig Tieck und vor allem Novalis (Friedrich von Hardenberg): Letzterer verwandelte die romantische Forderung, Leben und Dichtung, Wissenschaft, Philosophie und Religion in eins zu verschmelzen, am konsequentesten in Poesie und wurde nach seinem frühen Tod (Schwindsucht) geradezu ein Kultautor dieser Zeit. Besonders in der Jenaer Gruppe war jedoch die gemeinsame Diskussion, der intensive gegenseitige Gedankenaustausch ein wichtiger Bestandteil des literarischen Schaffens ihrer Mitglieder, Ungewöhnlich für die damalige Zeit war vor allem, daß auch die Frauen der Friihromantiker als gleichberechtigte intellektuelle Gesprächspartner ihrer Männer auftraten: besonders Caroline Schlegel-Schelling (1763 - 1809) und Dorothea Veit-Schlegel (1763 - 1839) sind hier zu nennen. Jenaer Romantik Kritik der Aufklärung Die Emanzipation des Individu- Romantische Gruppen- bilduogen Die Bedeutung der Romantikerinnen 135 Politische und geistige Desillusionierung Die Restauration nach dem Wiener Kongreß Die Heidelberger Romantik Die Faszination des Volks und der Vergangenheit Die spätere Romantik Nach der Euphorie der frühromantischen Dichtung trat Bei den Autoren der Folgezeit eine merkliche Desillusionierung hinsichtlich der Funktion und der Wirkungsmacht ihres Schreibens ein. Es gibt mehrere literaturgeschichtliche Erklärungsversuche für diesen eigentümlichen Bruch in der Entwicklungsgeschichte der literarischen Romantik. Vor allem sei den Autoren der späteren Jahre die Überzeugung verlorengegangen, „daß durch eine .romantische' Erneuerung der Literatur und der Künste - und nur durch sie - eine Überwindung der seit der Französischen Revolution manifest gewordenen globalen Krise der Gesellschaftsordnung wie der individuellen Lebenspraxis zu erreichen sei" (Ernst Ribbat)2. Die Ursachen dafür waren nicht zuletzt historischer Art: „Die Eroberungskriege Napoleons bewiesen, daß selbst in Frankreich die republikanischen, auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gerichteten Ansätze der Revolution erstickt bzw. in nationale Machtpolitik umgeschlagen waren" (Klaus Peter)3. Auch nach dem Sturz Napoleons gingen die Hoffnungen auf eine nationale Einigung Deutschlands und mehr Demokratie nicht in Erfüllung, da im Wiener Kongreß (1814/15) unter Fürst Metternich ein neuer Absolutismus etabliert wurde, der selbst vor strenger Zensur nicht zurückschreckte. „Die frühromantische Progressivität und das Pathos ihrer Begriffe stammte noch aus dem Kampf der Aufklärung gegen Thron und Altar, die Bevormundung des Menschen durch die Herrschaft traditioneller Mächte. Die politische Frustration der 90er Jahre führte, indem sie die gesellschaftliche Hoffnung, die der Begriff der Freiheit im 18. Jahrhundert genährt hatte, enttäuschte und ihn zunehmend auf die .innere' [...] Freiheit, des Individuums einschränkte, zur Desillusionierung des Fortschritts überhaupt und ließ den Preis erkennen, der für diesen bezahlt werden mußte" (Klaus Peter)4. So fehlt jetzt auch die auffällige Betonung individueller Freiheit, wie wir sie vom jungen Schlegel her kennen -er selbst und seine Frau konvertierten in dieser Phase sogar zum Katholizismus. „Daß das Ich instabil sei, ausgeliefert dem raschen Wechsel der Zufälle und der Stimmungen, ist charakteristisch für das Lebensgefühl der jüngeren Romantiker. Der aus ihm wachsenden, existenzgefährdenden Bedrohung sucht man durch die Riickbindung an überindividuelle Lebensmächte zu begegnen" (Emst Ribbat)5. Die Autoren der Heidelberger Romantik sahen diesen positiven Bezugspunkt im „Volk", womit sie jenen ihrer Meinung nach moralisch überlegenen Teil der Bevölkerung meinten, der unberührt von den negativen Einflüssen von Gesellschaft und Zivilisation geblieben war. Clemens Brentano (1778-1842) und Ludwig Achim von Arnim (1781-1831) wirkten nachhaltig durch ihre Sammlung und Bearbeitung deutscher Volkslieder unter dem Titel „DES KNABEN WUNDERHORN" (1806-1808). Man begann, Sagen und Mythen aufzuzeichnen, und die deutsche Vergangenheit wurde historisch erforscht. Zu diesem Kreis gehörte auch'Karoline von Günderrode (1780-1806), die bedeutendste Dichterin der Romantik, die sich im Alter von 26 Jahren das Leben nahm. Unser heutiges Bild von Romantik wohl am meisten geprägt haben jedoch zwei andere Dichter aus dieser Zeit: E.T. A. Hoffmann und Joseph von Eichendorff. 136 2 In: Geschickte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hrsg. von Viktor Zmegac. Bd. 1/2: 1700 - 1848. Königsteinflk 1979 (= Athenäum Taschenbuch 2153), S. 93. 3 In: Geschichte der deutschen Literatur, hrsg. von Einhard Bahr. Bd. 2: Von der Aufklärung bis zum Vormärz. Tübingen 1987 (= UTB 1464), S. 360. 4 Ebda., S. 361. 5 In: Geschichte der deutschen Literatur (Anm. 2), S. 119. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776— 1822) war der international bekannteste deutsche Romantiker. Sein nachhaltiger Einfluß zeigt sich etwa bei dem amerikanischen Dichter Edgar Allan Poe, im Ballett „Der Nußknacker" von Peter 1. Tschaikow-sky und in der Oper „Hoffmanns Erzählungen" von Jacques Offenbach. E.T.A. Hoffmann war ein Multitalent. Trotz seiner Bedeutung als Schriftsteller verstand er sich selbst in erster Linie als Musiker; er war aber auch ein begabter Zeichner und Maler. Hoffmanns Leben war zerrissen zwischen seinem künstlerischen Anspruch und dem Zwang, einen bürgerlichen Beruf als Jurist auszuüben. Deshalb durchzieht sein Werk vor allem ein Thema: der Konflikt zwischen dem künstlerischen Individuum und der kunstfeindlichen Gesellschaft der „Philister", wie der vielgebrauchte Ausdruck für geist- und phantasielose Spießbürger lautete. Berühmt geworden ist Hoffmann aber als Autor gespenstischer Erzählungen, in denen die Oberfläche einer scheinbar geordneten Wirklichkeit plötzlich von einer dämonischen Phantasiewelt durchbrochen wird. „Mit Hoffmann tritt zum ersten Mal eine Kunst auf, die sich mit Vorliebe den Randgestalten des Lebens, den seelischen Sonderfällen, den Grenzlagen aller Art zugewandt hat" (Hans Mayer)6. Den Kapellmeister Johannes Kreisler, in dem sich Hoffmann in mehreren Werken (z. B. den „KREISLE-RIANA") selbst porträtiert hat, läßt er in der Erzählung „NACHRICHT VON DEN NEUESTEN SCHICKSALEN DES HUNDES BERGANZA" sagen: In gewissem Sinn ist jeder nur irgend exzentrische Kopf wahnsinnig, und scheint es desto mehr zu sein, je eifriger er sich bemüht, das äußere matte tote Leben durch seine inneren glühenden Erscheinungen zu entzünden. Jeden, der einer großen heiligen Idee, die nur der höheren göttlichen Natur eigen, Glück, Wohlstand, ja selbst das Leben opfert, schilt gewiß der, dessen höchste Bemühungen im Leben sich endlich dahin konzentrieren, hesser zu essen und zu trinken und keine Schulden zu haben, wahnsinnig, und er erhebt ihn vielleicht, indem er ihn zu schelten glaubt, da er als, ein höchst verständiger Mensch jeder Gemeinschaft mit ihm entsagt, Die Spannung Ktinstler -Philister Gespenster und Außenseiler Inwiefern enthält die zitierte Passage eine deutliche Kritik am gesellschaftlichen Konzept von „Normalität"? Joseph von Eichendorff (1788-1857) wurde durch viele seiner Gedichte beinahe eine Art Volkslyriker. „IN EINEM KÜHLEN GRUNDE", „WEM GOTT WILL RECHTE GUNST ERWEISEN" oder „O TÄLER WEIT, O HÖHEN" gehören zum allseits bekannten Volksliedschatz, und viele Komponisten haben seine Lieder vertont. Aber auch bei ihm zeigt sich die Doppclgesichtigkeit spätromantischer Literatur. In seiner autobiographischen Skizze „ERLEBTES" (1839) findet sich die folgende Passage: 6 Hans Mayer: Das unglückliche Bewußtsein. Zur deutschen Literaturgeschichte von Lessing bis Heine. Frankfurt/Main 1989 (=suhrkamp taschenbuch 1634), S. 508. 137 Eichendorffs Motive Diese Dampffabrten rütteln die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoskop, wo die vorüberjagenden Landschaften, ehe man noch irgend eine Physiognomie gefaßt, immer neue Gesichter schneiden, der fliegende Salon immer andere Sozietäten bildet, bevor man noch die alten recht überwunden, Der Satz, der hellsichtig den Einfluß technischer Neuerungen auf die Wahrnehmung des Menschen erkennt, steht in bemerkenswertem Kontrast zu dem bekannten Motivrepertoire des Dichters, das er den Veränderungen des industriellen Zeitalters unablässig entgegenhält: Wandern, Mondnacht, verträumte Ruinen, Waldeseinsamkeit, liebliche Täler, Brunnenrauschen, Hörner- und Geigenklang, Abendstille und Liebesinnigkeit. Eichendorff stammte aus einer Adelsfamilie, die um 1810 ihr Landgut in den oberschlesi-schen Wäldern verlor. Zum Abschied von Schloß Lubowitz, wo der Dichter seine Jugend verbracht hatte, verfaßte er das Gedicht „ABSCHIED", dessen Beginn den Grundkonflikt seines Autors zusammenfaßt: 0 Täler weit, o Höhen, 0 schöner, grüner Wald, Du meiner Lust und Wehen Andächtger Aufenthalt! Da draußen, stets betrogen, Saust die geschäftge Welt, Schlag noch einmal die Bogen Um mich, du grünes Zelt! 7 In Eichendorffs Zaubermärchen „Das Marmorbild" ist der Wald ein gefährliches Labyrinth, er steht für den Bereich des Irrationalen, des Unbewußten. Welche Vorstellungen soll diese Metapher dagegen in dem Gedicht „Abschied" Leser wachrufen? Versuchen Sie herauszufinden, warum gerade eine Literatur wie das eben charakterisierte Werk Eichendorffs auch später noch Generationen von Menschen fasziniert hat! Hat seine Beschwörung einer heilen, vom Menschen noch nicht ausgebeuteten Natur auch heute noch Aktualität? Epische Formen 1: Der Roman Schlegels Romantheorie In mancher Hinsicht ist Friedrich Schlegels Romanfragment „LUCINDE" (1799) der modernste Beilrag der Romantik zur deutschen Literatur. Das Buch enthält keine fortlaufende Handlung, sondern ein bekenntnisartiger Mittelteil, genannt „Lehrjahre der Männlichkeit", wird von je sechs Einzelabschnitten eingerahmt. Diese ungewöhnliche Form läßt sich aus Forderungen ableiten, die der Autor in seinem „BRIEF ÜBER DEN ROMAN" formuliert hat. Demnach soll der Roman, nach Schlegel die umfassendste aller literarischen Gattungen, der Ausdruck der „Eigentümlichkeit" des dichterischen Subjekts sein, „ein mehr oder minder verhülltes Selbstbekenntnis des Verfassers" - Schlegel verherrlicht in der „LUCINDE" seine Liebesbeziehung zu Dorothea Veit. In Entsprechung zum Konzept der „Universalpoesie" soll der Roman ein „romantisches Buch" jenseits der Gattungsgrenzen sein, „gemischt aus Erzählung, Gesang und andern Formen". Diese ver- 138 schiedenartigen Bestandteile sollen jedoch durch ihre genau komponierte Bezugnahme auf einen „geistigen Zentralpunkt" zur Einheit verschmelzen. Dieser Zentralpunkt ist in Schlegels Buch „das Einswerden von Mann und Frau als die Wiedervereinigung der getrennten Natur, wobei Ehe und sexuelle Leidenschaft, geistige Liebe und erotische Sinnlichkeit im ganzheitlichen Lebensvollzug zusammenfallen sollen" (Gert Ueding)7. Dabei geht Schlegel sogar so weit, die traditionellen Rollenvorstellungen von Mann und Frau ironisch aufzuheben: am schönsten sei es, so der Erzähler des Romans, „wenn wir die Rollen vertauschen und mit kindischer Lust wetteifern, wer den andern täuschender nachäffen kann, ob Dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser gelingt oder mir die anziehende Hingebung des Weibes." Er sieht in diesem Spiel ein Bild für die „Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen, ganzen Menschheit." Beispiel 3: Aus „LUCINDE" (1799) von Friedrich Schlegel i Mit dem äußersten Unwillen dachte ich nun an die schlechten Menschen, welche den Schlaf vom Leben subtrahieren wollen. Sie haben wahrscheinlich nie geschlafen, und auch nie gelebt. Warum sind denn die Götter Götter, als weil sie mit Bewußtsein und Absicht nichts tun, weil sie das verstehen und Meister darin sind? Und wie streben die Dichter, die Weisen 5 und die Heiligen auch darin den Göttern ähnlich zu werden! Wie wetteifern sie im Lobe der Einsamkeit, der Muße und einer liberalen Sorglosigkeit und Untätigkeit! Und mit großem Recht; denn alles Gute und Schöne ist schon da und erhält sich durch seine eigne Kraft. Was soll also das unbedingte Streben und Fortschreiten ohne Stillstand und Mittelpunkt? Kann dieser Sturm und Drang der unendlichen Pflanze der Menschheit, die im Stillen von selbst 10 wächst und sich bildet, nährenden Saft oder schöne Gestaltung geben? Nichts ist es, dieses leere unruhige Treiben, als eine nordische Unart und wirkt auch nichts als Langeweile, fremde und eigne. Und womit beginnt und endigt es als mit der Antipathie gegen die Welt, die jetzt so gemein ist? Der unerfahrne Eigendünkel ahndet gar nicht, daß dies nur Mangel an Sinn und Verstand sei und hält es für hohen Unmut über die allgemeine Häßlichkeit der Welt 15 und des Lebens, von denen er doch noch nicht einmal das leiseste Vorgefühl hat. [...] Endlich wo ist mehr Genuß, und mehr Dauer, Kraft und Geist des Genusses; bei den Frauen, deren Verhältnis wir Passivität nennen, oder etwa bei den Männern, bei denen der Übergang von übereilender Wut zur Langeweile schneller ist, als der Übergang vom Guten zum Bösen? In der Tat man sollte das Studium des Müßiggangs nicht so sträflich vernachlässigen, sondern 20 es zur Kunst und Wissenschaft, ja zur Religion bilden! Um alles in Eins zu fassen: je göttlicher ein Mensch oder ein Werk des Menschen ist, je ähnlicher werden sie der Pflanze; diese ist unter allen Formen der Natur die sittlichste, und die schönste. Und also wäre ja das höchste vollendetste Leben nichts als ein reines Vegetieren. Aufhebung der Geschlechterrollen Der zitierte Ausschnitt stammt aus dem Kapitel „Idylle über den Müßiggang". Vergleichen Sie die darin geäußerte Haltung mit Goethes „Faust" und „Wilhelm Meister"! - Vergleichen Sie auch die beschriebene Form der „Lucinde" mit konventionellen Romanmustern, die Sie kennen! In zahlreichen Texten der Romantik sind die Hauptfiguren Künstler. Das Romanfragment „HEINRICH VON OFTERDINGEN" (1802 veröffentlicht) von Novalis führt den Reifungsprozeß eines legendären mittelalterlichen Dichters vor, der nach dem Plan des Autors mit der Verschmelzung von Phantasie und Wirklichkeit enden sollte, mit der Ausbildung einer alles umfassenden Welt der Poesie. Der romantische Künstlerroman 7 Hansers Soiialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 5: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 17S9- 1815, von Gert Ueding. München 198S (=dtv 4Z46), S. 505/ 139 Die Bedeutung des Traumes Beispiel 4: Aus „HEINRICH VON OFTERDINGEN" (1802) von Novalis Das Buch beginnt mit einem Traum, in dem Heinrich das Ziel seiner Sehnsucht in Gestalt eines Symbols erblickt, das man seither wie kein anderes mit dem Begriff „Romantik" verbindet. i Eine Art von süßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbeschreibliche Begebenheiten träumte, und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand sich auf einem weichen Rasen am Rande einer Quelle, die in die Luft hinausquoil und sich darin zu verzehren schien. Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht, das 5 ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. 10 Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie aufeinmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte, und er sich in der elterli- 15 chen Stube fand, die schon die Morgensonne vergoldete. Er war zu entzückt, um unwillig über diese Störung zu seyn; vielmehr bot er seiner Mutter freundlich guten Morgen und erwiderte ihre herzliche Umarmung. Der romantische Naturwissenschafter Gotthilf Heinrich Schubert (1780-1860) schreibt in seinem Buch „DIE SYMBOLIK DES TRAUMES": v 1 Im Traume, und schon in jenem Zustande des Deliriums, der meist vor dem Einschlafen vorhergeht, scheint die Seele eine ganz andre Sprache zu sprechen als gewöhnlich. Gewisse Naturgegenstände oder Eigenschaften der Dinge bedeuten jetzt auf einmal Personen, und umgekehrt stellen sich uns gewisse Eigenschaften oder Handlungen unter dem Bilde von Per- 5 sonen dar. Solange die Seele diese Sprache redet, folgen ihre Ideen einem andern Gesetz der Assoziation als gewöhnlich, und es ist nicht zu leugnen, daß jene neue Ideenverbindung einen viel rapideren, geisterhafteren und kürzeren Gang oder Flug nimmt als die des wachen Zustandes, wo wir mehr mit unsem Worten denken. Und er meint, daß diese „Hieroglyphensprache" der Natur des Geistes angemessener sei als die Wortsprache: sie sei „viel ausdrucksvoller, umfassender, der Ausgcdchntheit in der Zeit viel minder unterworfen als diese." 10 Inwiefern paßt dieses uligemeine Interesse der Romantiker für die Träume des Menschen ins allgemeine Bild, das wir bisher entworfen haben? Die Spiegelung von Leben und Literatur Auf der Suche nach der geheimnisvollen Blume lernt Heinrich wichtige Lebensbereiche der damaligen Welt kennen. Anläßlich der Begegnung seines Helden mit einem alten Einsiedler illustriert Novalis ein Hauptprinzip romantischen Schreibens: die unendlich fortsetzbare ironische Spiegelung von Leben und Literatur. Beim Stöbern in der Bibliothek des Einsiedlers fällt Heinrich ein Buch in die Hände, das in einer fremden Sprache geschrieben ist. Er hätte sehnlichst gewünscht, die Sprache zu kennen, denn das Buch gefiel ihm vorzüglich ohne daß er eine Sylbe davon verstand. Es hatte keinen Titel, doch fand er noch beym Suchen einige Bilder. Sie dünkten ihm ganz wunderbar bekannt, und wie er recht zusah entdeckte er seine eigene Gestalt ziemlich kenntlich unter den Figuren. Er erschrack und glaubte zu träumen, aber beym wiederhohlten Ansehn konnte er nicht mehr an der vollkommenen Ähnlichkeit zweifeln. Er traute kaum seinen Sinnen, als er bald auf einem Bilde die Höhle, den Einsiedler und den Alten neben sich entdeckte. Allmählich fand er auf den andern Bildern die Morgenländerinn, seine Eltem, den Landgrafen und die Landgräfinn von Thüringen, seinen Freund den Hofkaplan, und manche Andere seiner Bekannten; doch waren ihre Kleidungen verändert und schienen aus einer andern Zeit zu seyn. Eine große Menge Figuren wußte er 140 nicht zu nennen, doch däuchten sie ihm bekannt. Er sah sein Ebenbild in verschiedenen Lagen. Gegen das Ende kam er sich größer und edler vor. Die Guitarre ruhte in seinen Armen, und die Landgräfinn reichte ihm einen Kranz. Er sah sich am kayserlichen Hofe, zu Schiffe, in trauter Umarmung mit einem schlanken lieblichen Mädchen, in einem wilden 15 Kampfe mit wildaussehenden Männern, und in freundlichen Gesprächen mit Sarazenen und Mohren. Ein Mann von ernstem Ansehn kam häufig in seiner Gesellschaft vor. Er fühlte tiefe Ehrfurcht vor dieser hohen Gestalt, und war froh sich Arm in Arm mit ihm zu sehn. Die letzten Bilder waren dunkel und unverständlich; doch überraschten ihn einige Gestalten seines Traumes mit dem innigsten Entzücken; der Schluß des Buches schien zu fehlen. [...] Es ist 20 lange, daß ich es gelesen habe, sagte der Einsiedler. Ich kann mich nicht genau mehr des Inhalts entsinnen. Soviel ich weiß, ist es ein Roman von den wunderbaren Schicksalen eines Dichters, worinn die Dichtkunst in ihren mannichfachen Verhältnissen dargestellt und gepriesen wird. Der Schluß fehlt an dieser Handschrift, die ich aus Jerusalem mitgebracht habe, wo ich sie in der Verlasscnschaft eine Freundes fand, und zu seinem Andenken aufhob. Die literarische Figur Heinrich von Ofterdingen wird ihrerseits zum Gegenstand eines literarischen Werks. Den „Schluß" seines Lebensromans muß Heinrich jedoch erst erleben: erfindet die „blaue Blume" in Gestalt Mathildes, der Tochter des Dichters Klingsohr. In nachgelassenen Notizen des Dichters ist die Rede von „Poetisierung der Welt - Herstellung der Märchenwelt [...] Das ganze Menschengeschlecht wird am Ende poetisch. Neue goldne Zeit." Damit ist „HEINRICH VON OFTERDINGEN" ein bewußter Gegenentwurf zu Goethes Bildungsroman „WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE", dem Novalis vor allem seine unpoetische Grundhaltung vorwarf. Der romantische Bildungsroman 1 1 Vergleichen Sie die Ausschnitte aus den beiden Büchern! Welche Unterschiede fallen Ihnen am stärksten auf? Auf eine völlig andere Weise versuchte E.T.A. Hoffmann, sich vom klassischen Bildungsroman abzusetzen. Seine „LEBENSANSICHTEN DES KATERS MURR" parodieren das Schema des Bildungsromans schon durch ihre eigenartige Form: die Autobiographie des Katers Murr, einer spießbürgerlichen „Philister"-Figur, wird ständig durch eingeschobene Bruchstücke aus der Lebensbeschreibung des Kapellmeisters Kreisler (er ist Hoffmanns dichterisches Ebenbild, wie wir schon wissen) unterbrochen. Ein fiktiver Erzähler erklärt diesen Umstand so: „Als der Kater Murr seine Lebensansichten schrieb, zerriß er ohne Umstände ein gedrucktes Buch, das er bei seinem Herrn vorfand, und verbrauchte die Blätter harmlos teils zur Unterlage, teils zum Löschen. Diese Blätter blieben im Manuskript und - wurden, als zu demselben gehörig, aus Versehen mit abgedruckt!" In Wahrheit ist der Kontrast zwischen den beiden Biographien jedoch kalkuliert: Während Murrs Leben fortlaufend erzählt wird, sind die Fragmente der Kreislerhandlung bunt durcheinandergewürfelt. Parodie des Bildungsromans 1 2 Inwiefern paßt diese Anordnung zur folgenden Charakterisierung Kreislers aus Hoffmanns „KREISLERIANA"? Die Freunde behaupteten: die Natur habe bei seiner Organisation ein neues Rezept versucht und der Versuch sei mißlungen, indem seinem überreizbaren Gemüt, seiner bis zur zerstörenden Flamme aufglühenden Phantasie zu wenig Phlegma beigemischt und so das Gleichgewicht zerstört worden, das dem Künstler durchaus nötig sei, um mit der Welt zu leben und ihr Werke zu dichten, wie sie dieselben, selbst im höhern Sinn, eigentlich brauche. Dem sei wie ihm wolle - genug, Johannes wurde von seinen innern Erscheinungen und Träumen, wie auf einem ewig wogenden Meer dahin - dorthin getrieben, und er schien vergebens den Port 141 zu suchen, der ihm endlich die Ruhe und Heiterkeit geben sollte, ohne welche der Künstler nichts zu schaffen vermag. Beispiel 5: Aus „LEBENSANSICHTEN DES KATERS MURR" (1. E.T.A. Hoffmann Band 1819, 2. Band 1821) von 0 Natur, heilige, hchrc Natur! Wie durchströmt all deine Wonne, all dein Entzücken meine bewegte Brust, wie umweht mich dein geheimnisvoll säuselnder Atem! - Die Nacht ist etwas frisch, und ich wollte - doch jeder, der dies liest oder nicht liest, begreift nicht meine hohe Begeisterung, denn er kennt nicht den hohen Standpunkt, zu dem ich mich hinaufgeschwungen! - Hinaufgeklettert wäre richtiger, aber kein Dichter spricht von seinen Füßen, hätte er auch deren viere so wie ich, sondern nur von seinen Schwingen, sind sie ihm auch nicht angewachsen, sondern nur Vorrichtung eines geschickten Mechanikers. Über mir wölbt sich der weite Sternenhimmel, der Vollmond wirft seine funkelnden Strahlen herab, in feurigem Silberglanz stehen Dächer und Türme um mich her! Mehr und mehr verbraust das lärmende Gewühl unter mir in den Straßen, stiller wird die Nacht - die Wolken ziehen - eine einsame Taube flattert in bangen Licbesklagen girrend um den Kirchturm! - Wie - wenn die liebe Kleine sich mir nähern wollte? - Ich fühle wunderbar es sich in mir regen, ein gewisser schwärmerischer Appetit reißt mich hin mit unwiderstehlicher Gewalt! - O käme sie, die süße Huldin, an mein liebeskrankes Herz wollt ich sie drücken, sie nimmer von mir lassen -ha, dort flattert sie hinein in den Taubenschlag, die Falsche, und läßt mich hoffnungslos sitzen auf dem Dach! - Wie selten ist doch in dieser verstockten, liebeleeren Zeit wahre Sympathie der Seelen. - - wegzureißen; aber sie tanzen und tanzen nur - und ich - was soll ich denn im Kreise? Wer bin ich denn, wenn die Larven verschwinden sollten? Gebt mir einen Spiegel, ihr Fastnachtsspieler, daß ich mich selbst einmal erblicke - es wird mir überdrüssig nur immer eure wechselnden Gesichter anzuschauen. Ihr schüttelt - wie? steht kein Ich im Spiegel wenn ich 15 davortrete - bin ich nur der Gedanke eines Gedanken, der Traum eines Traumes - könnt ihr mir nicht zu meinem Leibe verhelfen, und schüttelt ihr nur immer eure Schellen, wenn ich denke es sind die meinigen? - Hu! Das ist ja schrecklich einsam hier im Ich, wenn ich euch zuhalte, ihr Masken, und ich mich seihst anschauen will - alles verhallender Schall ohne den verschwundenen Ton - nirgends Gegenstand, und ich sehe doch - - das ist wohl das Nichts 20 das ich sehe! - Weg, weg vom Ich - tanzt nur wieder fort ihr Larven!" 14 Welche literarischen Bilder verwendet der Autor hier, und welchen Zweck haben sie? - Vergleichen Sie die oben zitierte Anrede an den „Bruder Poeten" mit dem literarischen Anspruch der Frühromantiker (z.B. Novalis)! Der hier vorgetragene Zweifel an der Existenz jeglicher Werte und Ordnungen ist charakteristisch für den sogenannten „Nihilismus" (lat. nihil = nichts), in dem sich im 19. Jahrhundert die weitverbreitete Orientierungslosigkeit als Reaktion auf die radikalen gesellschaftlichen und geistigen Veränderungen der Zeit niederschlug. Der Nihilismus 13 Auf welche Weise macht sich der Autor Hoffmann hier über den Stil vieler empfindsamer Romane lustig? \ Epische Formen 2: Das Märchen Verlust der frübromantischen Utopien Beispiel 6: Aus den „NACHTWACHEN DES BONAVENTURA" (1804) Die Autorschaft dieses ungewöhnlichen Buches ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Die Utopien der frühen Romantik haben sich hier in ihr absolutes Gegenteil verkehrt, wie die folgende Anrede des fiktiven Schreibers an einen einsamen Berufskollegen zeigt; l „0 du, der du da oben dich herumtreibst, ich verstehe dich wohl, denn ich war einst deinesgleichen! Aber ich habe diese Beschäftigung aufgegeben gegen ein ehrliches Handwerk, das seinen Mann ernährt, und das für denjenigen, der sie darin aufzufinden weiß, doch keineswegs ganz ohne Poesie ist. [...] Nachtwächter sind wir zwar beide; schade nur, daß dir deine 5 Nachtwachen in dieser kalt prosaischen Zeit nichts einbringen, indes die meinigen doch immer ein übriges abwerfen. Als ich noch in der Nacht poesierte, wie du, mußte ich hungern, wie du, und sang tauben Ohren; das letzte tue ich zwar noch jetzt, aber man bezahlt mich dafür. O Freund Poet, wer jetzt leben will, der darf nicht dichten! Ist dir aber das Singen angeboren und kannst du es durchaus nicht unterlassen, nun, so werde Nachtwächter, wie 10 ich, das ist noch der einzige solide Posten, wo es bezahlt wird und man dich nicht dabei verhungern läßt. - Gute Nacht, Bruder Poet." Typisch für Bonaventuras Menschenbild ist der Abschnitt „LAUF DURCH DIE SKALA": i „Das Leben läuft an dem Menschen vorüber, aber so flüchtig daß er es vergebens anruft ihm einen Augenblick Stand zu halten, um sich mit ihm zu besprechen, was es will, und warum es ihn anschaut. Da fliehen die Masken vorüber, die Empfindungen, eine verzerrter wie die andere. Freude, steh mir Rede - ruft der Mensch - weshalb du mir zulächelst! Die Larve 5 lächelt und entflieht. Schmerz, laß dir fest ins Auge schauen, warum erscheinst du mir! Auch er ist schon vorüber. - Zorn, warum blickst du mich an - ich frage es, und du bist verschwunden. Und die Larven drehen sich im tollen raschen Tanze um mich her - um mich der ich Mensch heiße - und ich taumle mitten im Kreise umher, schwindelnd von dem Anblicke und mich to vergeblich bemühend eine der Masken zu umarmen und ihr die Larve vom wahren Antlitze Wir haben unsere Annäherungen an die Literatur der Romantik mit einem Märchen begonnen. Tatsächlich ist das Märchen eine der charakteristischsten literarischen Aus-drucksformen der Romantik. Im allgemeinen Bewußtsein verbindet sich dieser Begriff vor allem mit den „KINDER-UND HAUSMÄRCHEN" der Brüder Grimm. Jacob (1785 - 1863) und Wilhelm Grimm (1786 - 1859), die durch ihre „Deutsche Mythologie", ihre „Deutsche Grammatik", ihre „Geschichte der deutschen Sprache" und ihr „Deutsches Wörterbuch" (16 Bände) auch wegweisend für die Begründung der Germanistik waren, sammelten Märchen in ihren mündlichen Überlieferungen. Diese galten für die Brüder Grimm als Zeugnisse des Volksgeistes, dessen künstlerische Äußerungen es für die Begründung einer neuen Nationalpoesie zu bewahren galt. 15 Lesen oder erzählen Sic ein bekanntes Märchen der Brüder Grimm! Was ist Ihrer Meinung nach charakteristisch für diese Erzählform? Im Unterschied zum Volksmärchen, als dessen Verfasser also ein Kollektiv von Menschen angesehen wird, haben die meisten romantischen Autoren Kunstmärchen geschrieben. Novalis erklärte das Märchen zum Inbegriff von Poesie („ALLGEM, BROUILLON" 234): l In einem echten Märchen muß alles wunderbar - geheimnisvoll und unzusammenhängend sein - alles belebt. Jedes auf eine andre Art. Die ganze Natur muß auf eine wunderliche Art mit der ganzen Gcisterwelt vermischt sein - die Zeit der allgemeinen Anarchie - der Gesetzlosigkeit - Freiheit - der Naturstand der Natur - die Zeit vor der Welt (Staat). [...] 5 Das echte Märchen muß zugleich prophetische Darstellung - idealische Darstellung - absolut notwendige Darstellung sein. Der echte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft. Das Volksmärchen Das Kunstmärchen 142 143 Die Geschichts-Philosophie des Novalis: Das Goldene Zeitalter Darin drückt sich das Geschichts- und Weltbild des Dichters aus. Bei Novalis ist alles zeitliche Geschehen stets in ein dreistufiges Modell eingespannt: Eine entfremdete Gegenwart steht zwischen einer Idealen Vergangenheit und einer Zukunft, in der dieser Idealzustand wiederhergestellt werden soll. Das Gefühl einer allgemeinen Lebens-Einheit des Menschen mit Natur und Welt sei gegenwärtig verloren gegangen und müsse erst wiedergewonnen werden. In seinem schon damals umstrittenen Aufsatz „DIE CHRISTENHEIT ODER EUROPA" (1799) sah Novalis diese utopische Lebensform in einem idealisierten christlichen Mittelalter verwirklicht; erst die Reformation Luthers sowie die Aufklärung und die Französische Revolution hätten den neuzeitlichen Zerfall der Welt bewirkt. Novalis spricht nun dem Dichter die Aufgabe zu, als Prophet des wiederkehrenden Goldenen Zeitalters aufzutreten, als Sprachrohr des Strcbcns nach Wiedervereinigung. So steht auch im Zentrum des „HEINRICH VON OFTERDINGEN", der romantischen Dichlerbiographie, ein Märchen von der gelingenden Errichtung eines neuen goldenen Zeitalters, mit den Hauptfiguren Sophie (Weisheit), Eros (Liebe) und Fabel (Poesie). Unser Zitat markiert den Höhepunkt der komplizierten allegorischen Handlung, die im Roman vom Dichter Klingsohr vorgetragen wird: Beispiel 7: Aus „HEINRICH VON OFTERDINGEN" (1802) von Novalis i Auf einer Anhöhe erblickten sie ein romantisches Land, das mit Städten und Burgen, mit Tempeln und Begräbnissen übersäet war, und alle Anmuth bewohnter Ebenen mit den furchtbaren Reizen der Einöde und schroffer Felsengegenden vereinigte. Die schönsten Farben waren in den glücklichsten Mischungen. [...1 Die Szenen verwandelten sich ■unaufhörlich, 5 und flössen endlich in eine große geheimnißvolle Vorstellung zusammen. Himmel und Erde waren in vollem Aufruhr. Alle Schrecken waren losgebrochen. Eine gewaltige Stimme rief zu den Waffen. Ein entsetzliches Heer von Todtengerippen, mit schwarzen Fahnen, kam wie ein Sturm von dunkeln Bergen herunter, und griff das Leben an, das mit seinen jugendlichen Schaaren in der hellen Ebene in muntern Festen begriffen war, und sich keines Angriffs vertu sah. Es entstand ein entsetzliches Getümmel, die Erde zitterte; der Sturm brauste, und die Nacht ward von fürchterlichen Meteoren erleuchtet. Mit unerhörten Grausamkeiten zerriß' das Heer der Gespenster die zarten Glieder der Lebendigen. Ein Scheiterhaufen thürmte sich empor, und unter dem grausenvollsten Geheul wurden die Kinder des Lebens von den Flammen verzehrt. Plötzlich brach aus dem dunklen Aschenhaufen ein milchblauer Strom nach t5 allen Seiten aus. Die Gespenster wollten die Flucht ergreifen, aber die Flut wuchs zusehends, und verschlang die scheusliche Brut. Bald waren alle Schrecken vertilgt. Himmel und Erde flössen in süße Musik zusammen. Eine wunderschöne Blume schwamm glänzend auf den sanften Wogen. Ein glänzender Bogen schloß sich über die Flut auf welchem göttliche Gestalten auf prächtigen Thronen, nach beyden Seiten herunter, saßen. Sophie saß zu oberst, die 20 Schaale in der Hand, neben einem herrlichen Manne, mit einem Eichenkranze um die Locken, und einer Friedenspalme statt des Szepters in der Rechten. Ein Lilienblatt bog sich über den Kelch der schwimmenden Blume; die kleine Fabel saß auf demselben, und sang zur Harfe die süßesten Lieder. In dem Kelche lag Eros selbst, über ein schönes schlummerndes Mädchen hergebeugt, die ihn fest umschlungen hielt. Eine kleinere Blülhe schloß sich um 25 beyde her, so daß sie von den Hüften an in Eine Blume verwandelt zu seyn schienen. 16 Benennen Sie die auffälligsten Vorstellungsbereiche der Textstelle! Ganz anders als Novalis setzt sich Ludwig Tieck mit der Gattung des Märchens auseinander. Sein „BLONDER ECKBERT" knüpft an Wahnsinnsdarstellungen der Aufklärung an. Beispiel 8: Aus „DER BLONDE ECKBERT" (1797) von Ludwig Tieck Auch hier steht eine Idylle am Anfang: Bertha, die Frau des Ritters Eckbert, erzählt davon, wie sie als Kind von zuhause weggegangen ist und in tiefer „ Waldeinsamkeit" mit einer alten Frau, einem Hund und einem wunderbaren Vogel, der Eier mit Perlen legt, zusammengelebt hat. Schließlich hat sie jedoch diese Idylle verlassen und Eckbert geheiratet. - Als Eckberts und Berthas gemeinsamer Freund Walther nach ihrer Erzählung unerklärlicherweise den Namen des Hundes aus der „ Waldeinsamkeit" ausspricht, kommt es zur Katastrophe: Bertha stirbt, Eckbert tötet Walther, glaubt jedoch in seinem Freund Hugo erneut Walther und die Alte zu erkennen. Er macht sich auf die Suche nach der Alten: 1 Er stieg träumend einen Hügel hinan; es war, als wenn er ein nahes munteres Bellen vernahm, Birken säuselten dazwischen, und er hörte mit wunderlichen Tönen ein Lied singen: „Waldeinsamkeit 5 Mich wieder freut, Mir geschieht kein Leid, Hier wohnt kein Neid, Von neuem mich freut Waldeinsamkeit." 10 Jetzt war es um das Bewußtsein, um die Sinne Eckberts geschehn; er konnte sich nicht aus dem Rätsel herausfinden, ob er jetzt träume, oder ehemals von einem Weibe Bertha geträumt habe; das Wunderbarste vermischte sich mit dem Gewöhnlichsten, die Welt um ihn her war verzaubert, und er keines Gedankens, keiner Erinnerung mächtig. 15 Eine krummgebückte Alte schlich hustend mit einer Krücke den Hügel heran. „Bringst du mir meinen Vogel? Meine Perlen? Meinen Hund?" schrie sie ihm entgegen. „Siehe, das Unrecht bestraft sich selbst: Niemand als ich war dein Freund Walther, dein Hugo." „Gott im Himmel!" sagte Eckbert stille vor sich hin - „in welcher entsetzlichen Einsamkeit hab ich dann mein Leben hingebracht!" 20 „Und Bertha war deine Schwester." Eckbert fiel zu Boden. „Warum verließ sie mich tückisch? Sonst hätte sich alles gut und schön geendet, ihre Probezeit war ja schon vorüber, Sie war die Tochter eines Ritters, die er bei einem Hirten erziehn ließ, die Tochter deines Vaters." 25 „Warum hab ich diesen schrecklichen Gedanken immer geahndet?" rief Eckbert aus. „Weil du in früher Jugend deinen Vater einst davon erzählen hörtest; er durfte seiner Frau wegen diese Tochter nicht bei sich erziehn lassen, denn sie war von einem andern Weibe." Eckbert lag wahnsinnig und verscheidend auf dem Boden; dumpf und verworren hörte er die Alte sprechen, den Hund bellen, und den Vogel sein Lied wiederholen. .17 Vergleichen Sie die Bilder allgemeiner Vereinigung im Märchen des Novalis mit der Verschmelzung der Figuren bei Tieck (die Alte = Walther = Hugo)! 144 Epische Formen 3: Die Novelle Die phantastische Novelle „DER SANDMANN" ist ein gutes Beispiel für jene Gespenstergeschichten, mit denen E.T. A Hoffmann weltberühmt geworden ist.1 Beispiel 9: Aus „DER SANDMANN" (1816) von E.T.A. Iloffmann Hoffmanns Novelle beginnt mit einem Brief der Hauptfigur Nathanael an Lothar, den Bruder seiner Freundin Clara. An manchen Abenden seiner Kinderzeit, erzählt er, sei er mit der Drohung zu Bett geschickt worden, der Sandmann komme gleich zu ihm: 1 Ein Teil von Jacques Ottenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen" geht auf diese Novelle zurück. 145 1 beide Namen von ital. „coppo" (pect, für »Augenhöhle") Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, daß sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sackünd trägt sie in den I Ialbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf. Eines Abends habe er sich in Vaters Zimmer versteckt, um dem Sandmann zu begegnen. Der alte Advokat Coppelius sei hereingetreten: Mein Vater empfing den Coppelius feierlich. „Auf! - zum Werk", rief dieser mit heiserer, schnarrender Stimme und warf den Rock ab. Der Vater zog still und finster seinen Schlafrock aus und beide kleideten sich in lange schwarze Kittel. Wo sie die hernahmen, hatte ich übersehen. Der Vater öffnete die Flügeltür eines Wandschranks; aber ich sah, daß das, was ich so lange dafür gehalten, kein Wandschrank, sondern vielmehr eine schwarze Höhlung war, in der ein kleiner Herd stand. Coppelius trat hinzu und eine blaue Flamme knisterte auf dem Herde empor. Allerlei seitsames Geräte stand umher. Ach Gott! - wie sich nun mein alter Vater zum Feuer herabbückte, da sah er ganz anders aus. Ein gräßlicher krampfhafter Schmerz schien seine sanften ehrlichen Züge zum häßlichen widerwärtigen Teufelsbilde verzogen zu haben. Er sah dem Coppelius ähnlich. Dieser schwang die glutrote Zange und holte damit hellblinkende Massen aus dem dicken Qualm, die er dann emsig hämmerte. Mir war es als würden Mcnschcngesichter ringsumher sichtbar, aber ohne Augen - scheußliche, tiefe schwarze Höhlen statt ihrer. „Augen her, Augen her!" rief Coppelius mit dumpfer dröhnender Stimme. Ich kreischte auf von wildem Entsetzen gewaltig erfaßt und stürzte aus meinem Versteck heraus auf den Boden. Da ergriff mich Coppelius, „kleine Bestie! - kleine Bestie!" meckerte er zähnefletschend! - riß mich auf und warf mich auf den Herd, daß die Flamme mein Haar zu sengen begann: „Nun haben wir vier Augen - Augen - ein schön Paar Kinderaugen." So flüsterte Coppelius, und griff mit den Fäusten glutrote Körneraus der Flamme, die er mir in die Augen streuen wollte. Da hob mein Vater flehend die Hände empor und rief: „Meister! Meister! laß meinem Nathanael die Augen - laß sie ihm!" Coppelius lachte gellend auf und rief: „Mag denn der Junge die Augen behalten und sein Pensum Hennen in der Welt; aber nun wollen wir doch den Mechanismus der Hände und der Füße recht observieren." Und damit faßte er mich gewaltig, daß die Gelenke knackten, und schrob mir die Hände ab und die Füße und setzte sie bald hier, bald dort wieder ein. „'s steht doch überall nicht recht! 's gut so wie es war! - Der Alte hat's verstanden!" So zischte und lispelte Coppelius; aber alles um mich her wurde schwarz und finster, ein jäher Krampf durchzuckte Nerv und Gebein -ich fühlte nichts mehr. Ein sanfter warmer Hauch glitt über mein Gesicht, ich erwachte wie aus dem Todesschlaf, die Mutter hatte sich über mich hingebeugt. „Ist der Sandmann noch da?" stammelte ich. „Nein, mein liebes Kind, der ist lange, lange fort, der tut dir keinen Schaden!" - So sprach die Mutter und küßte und herzte den wiedergewonnenen Liebling. - Ein Jahr später sei sein Vater in Anwesenheit des Coppelius bei einer Explosion ums Leben gekommen. Vor kurzem habe ihn nun die Begegnung mit einem Brillenhändler namens Coppola, in dem er Coppelius1 und damit den Sandmann wiederzuerkennen geglaubt habe, zutiefst schockiert. Vergeblich beschwört Clara ihren verzweifelten Freund: „Du hast recht, Coppelius ist ein böses feindliches Prinzip, er kann Entsetzliches wirken, wie eine teuflische Macht, die sichtbarlich in das Leben trat, aber nur dann, wenn du ihn nicht aus Sinn und Gedanken verbannst. Solange du an ihn glaubst, ist er auch und wirkt, nur dein Glaube ist seine Macht." Nathanael wird jedoch im Forllauf der Handlung wahnsinnig und stürzt sich zuletzt von einem Turm. 18 Charakteristisch für Hoffmanns Erzählungen ist, daß in ihnen die realistisch beschriebene Wirklichkeit und eine bedrohliche Phantasiewelt immer unmittelbar mit- und nebeneinander existieren - anders als etwa in den Märchen des Novalis, die eine einheitliche zauberische Wirklichkeit entfalten. Welche Haltung nimmt er damit gegenüber der Aufklärung (beachten Sie den Namen „Clara") ein? Eine völlig andere Welt eröffnet sich dagegen mit Eichendorffs Novelle „AUS DEM LEBEN EINES TAUGENICHTS", dem vielleicht berühmtesten Text der deutschen Romantik. Beispiel 10: Aus der Novelle „AUS DEM LEBEN EINES TAUGENICHTS" (1826) von Joseph von Eichendorff l Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen; mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesan- 5 bruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und läßt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot. - Nun, sagte ich, wenn ich ein Taugenichts bin, so ists gut, so will ich in die Welt gehn und mein Glück io machen. Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber eingefallen, auf Reisen zu gehn, da ich die Goldammer, welche im Herbst und Winter immer betrübt an unserm Fenster sang: Bauer, miet mich, Bauer, miet mich! nun in der schönen Frühlingszeit wieder ganz stolz und lustig vom Baume rufen hörte: Bauer, behalt deinen Dienst! - Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich recht artig spielte, von der Wand, 15 mein Vater gab mir noch einige Groschen Geld mit auf den Weg, und so schlenderte ich durch das lange Dorf hinaus. Ich hatte recht meine heimliche Freude, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. Ich rief den armen Leuten nach allen Seiten recht stolz und zufrieden Adjes zu, aber es 20 kümmerte sich eben keiner sehr darum. Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte. Und als ich endlich ins freie Feld hinauskam, da nahm ich meine liebe Geige vor und spielte und sang, auf der Landstraße fortgehend. Wem Gott will rechte Gunst erweisen, 25 Den schickt er in die weite Welt, Dem will er seine Wunder weisen In Berg und Wald und Strom und Feld. Die Trägen, die zu Hause liegen, 30 Erquicket nicht das Morgenrot, Sie wissen nur vom Kinderwiegen, Von Sorgen, Last und Not um Brot. Die Bächlein von den Bergen springen, 35 Die Lerchen schwirren hoch vor Lust, Was sollt ich nicht mit ihnen singen ■ Aus voller Kehl und frischer Brust? Den lieben Gott laß ich nur walten; 40 Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld Und Erd und Himmel will erhalten, I Iat auch mein Sach aufs best bestellt! Tatsächtich endet „sein Sach" „aufs best": nach einer turbulenten Handlung findet der „Taugenichts" eine Braut, ohne deshalb seine Wanderlust aufgeben zu müssen. 19 Vergleichen Sie die Textausschnitte von Hoffmann und Eichendorff! Wogegen richtet sich die Existenzform des „Taugenichts"? - Vergleichen Sie die Vorstellungen von Eichendorffs Hauptfigur mit heutigen Formen des „Aussteigens"! 146 Die Lyrik der Romantik Die Romantik war natürlich eine äußerst fruchtbare Zeit für Lyrik. Wie wir gesehen haben, enthalten bereits die Romane und Erzählungen vielfach liedhafte Einschübe. Charakteristisch für viele Gedichte (wie für die gesamte romantische Poesie) ist ihr Versuch, eine verborgene Welt jenseits des vernunftmäßig Wahrnehmbaren wiederzubeleben, wie unsere beiden Beispiele aus der Früh- und aus der Spätzeit dieser Epoche zeigen: Beispiel 11: Aus dem Nachlaß des Novalis zu seinem Roman „HEINRICH VON OFTERDINGEN" Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen, Wenn die so singen oder küssen. Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freie Leben Und in die Welt wird zurückbegeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu echter Klarheit wieder gatten, Und man in Märchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten, Dann fliegt vor Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. Beispiel 12: „WÜNSCHELRUTE" (1835) von Joseph von Eichendorff Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort. 20 Setzen Sie das programmatische Gedicht des Novalis mit den uns schon bekannten Grundgedanken des Dichters in Beziehung! - Warum könnte Eichendorffs Gedicht wohl kaum zur Zeit der Aufklärung entstanden sein? Besonders deutlich wird die romantische Gegenposition zur Tradition der Aufklärung in den „HYMNEN AN DIE NACHT" des Novalis. Beispiel 13: Aus den „HYMNEN AN DIE NACHT" von Novalis (ATHENÄUMSDRUCK 1800) l ERSTE HYMNE Welcher Lebendige, Sinnbegabte, liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten Raums um ihn, das allerfreuliche Licht - mit seinen Farben, seinen Stralen und Wogen; seiner milden Allgegenwart, als weckender Tag. Wie des Lebens innerste Seele atbmet es der rastlo- 5 sen Gestirne Riesenwelt, und schwimmt tanzend in seiner blauen Flut - athmet es der funkelnde, ewigruhende Stein, die sinnige, saugende Pflanze, und das wilde, brennende, vielgestaltete Thier - vor allen aber der herrliche Fremdling mit den sinnvollen Augen, dem schwebenden Gange, und den zartgeschlossenen, tonreichen Lippen. Wie ein König der irdischen Natur ruft es jede Kraft zu zahllosen Verwandlungen, knüpft und löst unendliche Bündnisse, 10 hängt sein himmlisches Bild jedem irdischen Wesen um. - Seine Gegenwart allein offenbart die Wundetherrlichkeit der Reiche der Welt. Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnißvollen Nacht. Fernab liegt die Welt - in eine tiefe Gruft versenkt - wüst und einsam ist ihre Stelle. In den Sayten 15 der Brust weht tiefe Wehmuth. In Thautropfen will ich hinuntersinken und mit der Asche mich vermischen. - Fernen der Erinnerung, Wünsche der Tugend, der Kindheit Träume, des ganzen langen Lebens kurze Freuden und vergebliche Hoffnungen kommen in grauen Kleidern, wie Abendnebel nach der Sonne Untergang. In andern Räumen schlug die lustigen Gezelte das Licht auf. Sollte es nie zu seinen Kindern wiederkommen, die mit der Unschuld 20 Glauben seiner harren? Was quillt auf einmal so ahndungsvoll unterm Herzen, und verschluckt der Wehmuth weiche Luft? Hast auch du ein Gefallen an uns, dunkle Nacht? Was hältst du unter deinem Mantel, das mir unsichtbar kräftig an die Seele geht? Köstlicher Balsam träuft aus deiner Hand, aus 25 dem Bündel Mohn. Die schweren Flügel des Gemüths hebst du empor. Dunkel und unaussprechlich fühlen wir uns bewegt - ein ernstes Antlitz seh ich froh erschrocken das sanft und andachtsvoll sich zu mir neigt, und unter unendlich verschlungenen Locken der Mutter liebe Jugend zeigt. Wie arm und kindisch dünkt mir das Liebt nun - wie erfreulich und gesegnet des Tages Abschied - Also nur darum, weil die Nacht dir abwendig macht die Dienenden, 30 säetest du in des Raumes Weiten die leuchtenden Kugeln, zu verkünden deine Allmacht -deine Wiederkehr - in den Zeiten deiner Entfernung. Himmlischer, als jene blitzenden Sterne, dünken uns die unendlichen Augen, die die Nacht in uns geöffnet. Weiter sehn sie, als die blassesten jener zahllosen Heere - unbedürftig des Lichts durchschaun sie die Tiefen eines liebenden Gemüths - was einen höhern Raum mit unsäglicher Wollust füllt. Preis der Weltköni- 35 ginn, der hohen Verkündigerinn heiliger Welten, der Pflegerinn seliger Liebe - sie sendet mir dich - zarte Geliebte - liebliche Sonne der Nacht, - nun wach ich - denn ich bin Dein und Mein - du hast die Nacht mir zum Leben verkündet - mich zum Menschen gemacht - zehre mit Geisterglut meinen Leib, daß ich luftig mit dir inniger mich mische und dann ewig die Brautnacht währt. Novalis reagierte mit seinem Gedichtzyklus auf den frühen Tod seiner Braut Sophie von Kühn. Die mystische Hinwendung zur Nacht und zum Tod war aber zugleich eine provokante „poetische Widerlegung" des gesamten „aufklärerisch-klassischen Bildungsprogramms" (Gert Ueding)8. 21 Wie lassen sich die beiden Feststellungen im Text belegen? Mit welchen Bildern verschmilzt darin das der Geliebten? Welche inhaltlichen Kontraste baut der Dichter auf? Scheinbar einfach wirken die Gedichte Clemens Brentanos, in Wahrheit sind sie jedoch überaus kunstvoll gebaut. Mit ihrer Betonung der musikalischen Eigenschaften von Sprache nehmen sie Tendenzen der modernen Lyrik vorweg: nicht so sehr der Inhalt, sondern vor allem Rhythmus und Klang der Worte erzielen die poetische Wirkung. Beispiel 14: „DER SPINNERIN LIED" (1818) von Clemens Brentano Es sang vor langen |ahren Wohl auch die Nachtigall, Das war wohl süßer Schall, Da wir zusammen waren. Ich sing' und kann nicht weinen, Und spinne so allein Den Faden klar und rein, So lang der Mond wird scheinen. Als wir zusammen waren, Da sang die Nachtigall, Nun mahnet mich ihr Schall, Daß du von mir gefahren. So oft der Mond mag scheinen, Denk ich wohl dein allein, Mein Herz ist klar und rein, Gott wolle uns vereinen. Seit du von mir gefahren, Singt stets die Nachtigall, Ich denk' bei ihrem Schall, Wie wir zusammen waren. Gott wolle uns vereinen, Hier spinn' ich so allein, Der Mond scheint klar und rein, Ich sing' und möchte weinen. Hansers Sozialgeschichte der Deutschen Literaturl, (Anm. 7), S. 742. 22 Wodurch entsteht der volksliedhafte Charakter des Gedichts (das Brentanos Erzähl-fragraent „CHRONIK EINES FAHRENDEN SCHÜLERS" entstammt)? Achten Sie etwa auf Wortwahl, Satzbau und die Vokalisierung der Endreime! Arbeiten Sie die geradezu formelhafte Wiederholungstechnik des Autors heraus! Welcher inhaltliche Gegensatz prägt das Lied? Worüber wird geklagt? Das folgende Gedicht wird in Brentanos Singspiel „Die lustigen Musikanten" von zwei Personen abwechselnd (jeweils zwei Zeilen) gesungen: Beispiel 15: „ABENDSTÄNDCHEN" (1803) von Clemens Brentano Hör, es klagt die Flöte wieder, Und die kühlen Brunnen rauschen, Golden wehn die Töne nieder -Stille, stille, laß uns lauschen! Holdes Bitten, mild Verlangen, Wie es süß zum Herzen spricht! Durch die Nacht, die mich umfangen, Blickt zu mir der Töne Licht. 2 3 Welche Laute kommen in dem Gedicht besonders häufig vor? Die Übereinstimmung von Vokalen nennt man „Assonanzen". Achten Sie besonders auf die durch „ö"-Assonanz verbundenen Wörter! Ein wichtiges Kennzeichen moderner Lyrik ist die Verschmelzung mehrerer Sinnesberei-Die Synästhesie che (Sehen, Hören, Fühlen etc.), die sogenannte „Synästhesie". 24 Finden Sie in Brentanos Gedicht Beispiele für Synästhesien! Für viele Leser bedeutet die Lyrik Joseph von Eichendorffs den Inbegriff romantischen Schreibens. Das folgende Gedicht faßt noch einmal zentrale Vorstellungen dieser Epoche zusammen: Beispiel 16: r „MONDNACHT" (1837) von Joseph von Eichendorff Es war, als hätt der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blütenschimmer Von ihm nun träumen müßt. Die Luft ging durch die Felder, Die Ähren wogten sacht, Es rauschten leis die Wälder, So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus. 50 25 Inwiefern ist dieses Naturgedicht ohne Zweifel mehr als bloße Landschaftsbeschreibung? - Was deutet der auffällige Konjunktiv an? (Denken Sie auch an Eichendorffs persönliche „unromantische" Lebenssituation als Beamter!) Vielleicht haben Sie die Möglichkeit, die Vertonung des Gedichts von Robert Schumann anzuhören! Seitenblicke Die Romantik war nicht ausschließlich eine Erscheinung des deutschen Geisteslebens. Das Werk von Lord Byron (1788-1824) bildete den poetischen Höhepunkt der englischen Romantik; der Begriff des „Byronismus" wurde in der Folge zu einem Synonym für Weltschmerz und spätromantische Zerrissenheit (vgl. unser nächstes Kapitel). Sir Walter Scott (1771 -1832) gilt als Begründer des modernen historischen Romans. Der Franzose Victor Hugo (1802-1885) ist heute noch dutch den Roman „Der Glöckner von Notre Dame" weithin bekannt. Die Russen Alexander Puschkin (1799-18.17) und Nikolai Gogol (1809-1852) waren erste Vertreter der großen russischen Nationalliteratur. Die phantastischen Schauergeschichten des amerikanischen Dichters Edgar Allan Poe (1809 -1849) werden oft in einem Atemzug mit den Erzählungen E.T.A. Hoffmanns erwähnt. Die Romantik war auch die Epoche der Musik schlechthin. „Der Freischütz" von Carl Maria von Weber (1786-1826) gilt als Inbegriff der romantischen Oper. Franz Schubert (1797-1828) und Robert Schumann (1810-1856) sind die Hauptvertreter des romantischen Liedes, zu nennen ist auch Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847). Die Romantik wirkte in der Musik bis zum ersten Viertel des 20. Jahrhunderts weiter. Noch Gustav Mahler (1860-1911) vertonte eine Reihe von Liedern aus „Des Knaben Wunderhorn". Die meisten Merkmale der romantischen Literatur lassen sich auch in der romantischen Malerei nachweisen. Weltliteratur Musik 26 Suchen Sie das Gemälde „Mondaufgang am Meer" von Caspar David Friedrich im Farbteil! Zu welchen Texten aus unserer Auswahl würde es als Illustration passen, und warum? Lesen wir zu diesem Bild abschließend noch einen Text, in dem eine Autorm das romantische Streben nach Entgrenzung im Unendlichen gestaltet hat: Beispiel 17: Aus „EIN APOKALYPTISCHES1 FRAGMENT" (1804) von Karoline von Günderrode l Ich stand auf einem hohen Fels im Mittelmeer, und vor mir war der Ost und hinter mir der West, und der Wind ruhte auf der See. Da sank die Sonne, und kaum war sie verhüllt im Niedergang, so stieg im Aufgang das Morgenrot wieder empor, und Morgen, Mittag, Abend und Nacht jagten sich in schwindelnder 5 Eile um den Bogen des Himmels. Erstaunt sah ich sie sich drehen in wilden Kreisen; mein Puls floh nicht schneller, meine Gedanken bewegten sich nicht rascher, und die Zeit in mir ging den gewohnten Gang, indes sie außer mir sich nach neuem Gesetz bewegte. Ich wollte mich hinstürzen in das Morgenrot oder mich tauchen in die Schatten der Nacht, 10 um mit in ihre Eile gezogen zu werden und nicht so langsam zu leben; da ich sie aber immer betrachtete, ward ich sehr müde und entschlief. I...J Ich ließ mich von den Lüften in raschen Zügen dahin tragen, ich gesellte mich zum Abendrot n 1 Apokalypse: Weltende 151 und zu des Regenbogens siebenfarbigen Tropfen, ich reihte mich mit meinen Gespielen um den Mond, wenn er sich beigen wollte, und begleitete seine Bahn. Die Vergangenheit war mir dahin! Ich gehörte nur. der Gegenwart. Aber eine Sehnsucht war in mir, die ihren Gegenstand nicht kannte, ich suchte immer, aber jedes Gefundene war nicht das Gesuchte, und sehnend trieb ich mich umher im Unendlichen. Einst ward ich gewahr, daß alle die Wesen, die aus dem Meere gestiegen waren, wieder zu ihm zurückkehrten und sich in wechselnden Formen wieder erzeugten. Mich befremdete diese Erscheinung; denn ich hatte von keinem Ende gewußt. Da dachte ich, meine Sehnsucht sei auch, zurück zu kehren zu der Quelle des Lebens. Und da ich dies dachte und fast lebendiger fühlte als all mein Bewußtsein, ward plötzlich mein Gemüt wie mit betäubenden Nebeln umgeben, Aber sie schwanden bald, ich schien mir nicht mehr ich, und doch mehr als sonst ich, meine Grenzen konnte ich nicht mehr finden, mein Bewußtsein hatte sie überschritten, es war größer, anders, und doch fühlte ich mich in ihm. Erlöset war ich von den engen Schranken meines Wesens, und kein einzler Tropfen mehr, ich war allem wiedergegeben, und alles gehörte mir an, ich dachte und fühlte, wogte im Meer, glänzte in der Sonne, kreiste mit den Sternen; ich fühlte mich in allem, und genoß alles in mir. Drum, wer Ohren hat zu hören, der höre! Es ist nicht zwei, nicht drei, nicht tausende, es ist Eins und alles; es ist nichl Körper und Geist geschieden, daß das eine der Zeit, das andere der Ewigkeit angehöre, es ist Eins, gehört sich selbst und ist Zeit und Ewigkeit zugleich und sichtbar und unsichtbar, bleibend im Wandel, ein unendliches Leben. ZUSAMMENFASSENDE STICHWORTE B Geschichte: Französische Revolution, Befreiungskriege gegen Napoleon, Restauratiom ■ Philosophie: Deutscher Idealismus: das Abbild der Dinge im Verstand als Ausgangspunkt; Freiheit des schöpferischen Individuums. ■ Dichtung: Kritische Auseinandersetzung mit Aufklärung und Klassik. Interesse am Traumhaften und Geheimnisvollen. Betonung der Phantasie und des Gefühls. Sehnsucht nach Entgrenzung und Unendlichkeit, nach der Einheit von Natur und Mensch. Wiederentdeckung des Mittelalters, positive Bewertung des naturnahen „Volkes". Streben nach einer Universalpoesie, die gleichzeitig Wissenschaft, Poesie und Religion sein soll und in der die Dichtungsgattungen mit der Musik verschmelzen. ■ Literarische Formen: Romane, Märchen/Kunstmärchen, Novellen, Lyrik. ■ Bekannteste Dichter: Novalis: Poetisierung der Welt (das Leben als Poesie), Faszination der Nacht und des Todes. E.T.A. Hoffmann: Interesse am Phantastischen und Anormalen, Konflikt Künstler - Gesellschaft. Eichendorff: Verklärung der vorindustriellen Zeit, Sehnsucht nach der unberührten Natur. Tips zum Weiterlesen Clemens Brentano: „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl" (erste deutsche „Dorfgeschichte") Adelbert von Chamisso: „Peter Schlemihls wundersame Geschichte" (Erzählung) |oseph von Eichendorff: „Das Marmorbild" (Kunstmärchen) Iring Fetscher: „Wer hat Dornröschen wachgeküßt?" (Neufassung von Grimms Märchen) Friedrich de Ja Motte Fouque: „Undine" (Kunstmärchen) E.T.A. Hoffmann: „Der gofdne Topf" (Kunstmärchen), „Das Fräulein von Scudery" (Kriminalgeschichte) Ingeborg Bachmann: „Undine geht" (Erzählung) Christa Wolf: „Neue Lebensansichten eines Katers", „Kein Ort. Nirgends" (über Kleist und Günderrode) 5*"-*W * Ml Mittelalter: Aus der Manessischen oder Großen Heidelberger Liederhandschrift, um 1310, unbekannter Meister: „Frauenlob" 1