jcleist-hölderlin ZUSAMMENFASSUNG romantik Abseits der literarischen Strömungen: Heinrich von Kleist und Friedrich Hölderlin Beide Dichter lassen sich weder der Klassik noch der Romantik zuordnen, sie fühlten sich auch keiner Gruppierung zugehörig. Ihre Werke werden erst im 20. Jahrhundert intensiv rezipiert. Heinrich von Kleist (1777-1811) Kleists Leben erscheint heute noch rätselhaft. Er ist unangepasst, will keinen Drotberuf ausüben, hat immer Geldsorgen und nimmt sich schließlich das Leben. Seine Werke sind zu seiner Zeit erfolglos, ei wird andauernd von Selbstzweifeln geplagt. Stücke wie Der zerbroclme Krug oder Prinz Friedrich von Homburg gehören heute jedoch zum Standardrepertoire deutschsprachiger Bühnen. Thematisch beschäftigt sich das Kleistsche Werk mit den für damals ungewöhnlichen Themen wie Gewalt, Sexualität, Entfremdung, Gefühlsverwirrungen, Idenütätskonflikten und deren Darstellung. Kleist muss sich eingestehen, dass die objektive Wahrheit nicht erkannt werden kann (Erkenntniskrise). Er sieht den Beobachter in seiner eigenen Vorstellungswelt eingeschlossen, unfähig, einen Zugang zur Wirklichkeit und zu anderen Menschen zu finden. Kleist bezweifelt, ob die Sprache als Medium der Kommunikation tauglich ist, und befürchtet, falsch verstanden zu werden. Wichtige Stücke: Der zerbrochne Krug, Prinz Friedrich von Homburg, Penthesilea, Das Käthchen von Heilbronn, Amphytrion. Die Erzählungen zeichnen sich durch einen kunstvollen und komplizierten Satzbau aus. Kleists Sprache ist genau, sein Stil sachlich. Er vermeidet es aber, sich festzulegen: Konflikte und Gefühle werden nur indirekt beschrieben, sie erscheinen in ihrer Zwiespältigkeit. Wichtige Erzählungen bzw. Novellen: Michael Kohlhaas, Die Marquise von O..., Das Erdbeben in Chili, Das Betleliucii) von Locarno. Friedrich Hölderlin (1770-1843) Wie Kleist wird Hölderlin von seinen Zeitgenossen kaum oder wenig beachtet. Erst hundert Jahre später wird sein Werk „wiederentdeckt". Hölderlin gilt heute als einer der größten deutschsprachigen Lyriker. Seine Geisteskrankheit wird von der Forschung auch als selbst gewähltes Exil interpretiert. Seine späten Gedieh!e seien verschlüsselte Botschaften. - Allerdings eine umstrittene These. Auf Wunsch seiner Mutter soll Hölderlin Pfarrer werden, besucht die Klosterschule und studiert am Tübinger Stift Theologie. Die Französische Revolution - ihren Idealen bleibt er treu - lässt Hölderlin revoltieren, er will eine Demokratie nach Athener Vorbild. Der Mensch soll in Einklang mit der Natur leben. Nach dem Studium wird Hölderlin Hofmeister. Er lernt Goethe kennen und wird von Schiller gefördert. Nach der unglücklichen Liebe zur Frankfurter Bankiersfrau Susette Gontard wird er 179S als Hofmeister entlassen. Als Schriftsteller scheitert er, wird 1802 geisteskrank. Ab 1807 verbringt er die restlichen 36 Jahre seines Lebens im Tübinger „Hölderlin-Turm". Romantik (1795-1830) Joseph von Eichendorff: Sehnsucht Es schienen so golden die Sterne, Am Fenster ich einsam stand Und hörte aus weiter Ferne Ein Posthorn im stillen Land. 5 Das Herz mir im Leib entbrennte, Da hab ich mir heimlich gedacht: Ach, wer da mitreisen könnte In der prächtigen Sommernacht! 15 20 25 Sie sangen von Marmorbildern, Von Gärten, die überm Gestein In dämmernden Lauben verwildern, Palästen im Mondenschein, Wo die Mädchen am Fenster lauschen, Wann der Lauten Klang erwacht Und die Brunnen verschlafen rauschen In der prächtigen Sommernacht. Zwei junge Gesellen gingen Vorüber am Bergeshang, Ich hörte im Wandern sie singen Die stille Gegend entlang: Von schwindelnden Felsenschlüften, Wo die Wälder rauschen so sacht, Von Quellen, die von den Klüften Sich stürzen in die Waldesnacht. Die Lekensstufen (Caspar David Friedrich, um 1834) ■ Lesen Sie das Gedicht Eichendorffs und betrachten Sie das Gemälde Caspar David Friedrichs! Beschreiben Sie, was Ihnen daran romantisch vorkommt! > Welche Assoziationen haben Sie, wenn Sie das Adjektiv „romantisch" hören? > Welche Landschaften, Gebäude, Tageszeiten oder Kleidung empfinden Sie als romantisch? Was.ist romantische Liebe? Begriffsbestimmung Was heilst „romantisch"? Das Adjektiv „romantisch" wird vieldeutig verwendet. Es heißt vorerst: wie im Roman, im Roman vorkommend, erfunden, wunderbar, fantastisch, irreal, unwahr, lebensfern. Die Vertreter der Spätaufklärung und die Klassiker verwenden es abwertend, für den alten Goethe bedeutet es so viel wie „krank". August Wilhelm Schlegel bezeichnet mit „romantisch" die christlich-mittelalterliche und neuzeitliche Literatur im Gegensatz zur klassisch-antiken. Für Friedrich Schlegel bedeutet es das Poetische an sich, das im Roman am reinsten verwirklicht sei. Novalis \'erwcndet als Erster das Nomen „Romantik", es bedeutet für ihn „Lehre vom Roman". 1 Introvertiertheit-, nach innen gekehrt sein romantik romantik Heute meint man mit dem Wort „romantisch" das Vorherrschen des Gefühls, Sentimentalität, Fantasie, Naturverbundenheit, Introvertiertheit1, aber auch Wcltfremdheit und Lebensun-tüchtigkeit. Es bezeichnet bestimmte Landschaften, ein bestimmtes Naturgefühl. Die Literaturepoche „Romantik" wird auf den Zeitraum von 1795 bis 1830 festgelegt. Im Gegensatz zur Klassik, die ihren Sitz in Weimar hat, hat sie wechselnde Zentren. Die theoretischen und philosophischen Grundlagen liefert der Jenaer Kreis um die Brüder Schlegel sowie der Berliner Kreis um Ludwig Tieck und der Heidelberger Kreis um Achim von Arnim und Clemens Brentano. „Romantische" Werke schreiben die Spätromantiker Adelbert von Chamisso, Joseph von Eichendorff und E. T. A. Hoffmann. Während sich Goethe und Schiller selbst nie als Klassiker verstehen, fühlen sich die Romantiker als Vertreter ihrer Strömung. Sie beginnt parallel zur Klassik und setzt sich mit deren Vorstellungen auseinander und sieht sich als Ergänzung. Man könnte sagen, sie vereint rationale und irrationale Kräfte, das Gefühl wird zum Beurteilungsinstrument. Die Autoren sind sich einig, dass eine Veränderung der Gesellschaft nur durch eine radikale Veränderung im Denken vor sich gehen kann. Philosophische Grundlagen Johann Gottlieb Fichte Die Philosophie hat großen Einfluss auf die Dichtung der Romantik. Die Dichter wählen aus den philosophischen Erkenntnissen, was in ihr literarisches und Lebenskonzept passt. Philosophische Grundlagen der Romantik Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) stellt in seiner Wissenschaftslehre das Ich in den Mittelpunkt seiner Weltbetrachtung. Es fühlt sich als Schöpfer und Herr dieser Welt, die es sich durch die Macht des Willens unterwirft. Das Ich ist der Außenwelt überlegen. Der Mensch, und nicht Gott oder die Natur, wird als Schöpfer des Seins gesehen. Überträgt man diese Meinung auf die Literatur, so ist der Dichter der Herr über die Außenwelt, d. h. über sein Werk. Die Verherrlichung einer schrankenlosen Individualität und Subjektivität, verkörpert durch die künstlerische Einzelpersönlichkeit, erinnert an den Genickult des Sturm und Drang. Aus dieser Betonung der schöpferischen Individualität leitet auch die romantische Ironie ihre Berechtigung ab: Der Dichter spielt mit seinem Werk und seinem Leser. Als Schöpfer ist er berechtigt, sein Werk auch wieder zu zerstören und die Illusionen, die er aufbaut, zunichte zu machen. Dichtung ist Freiheit Dichtung als Ersatz für politische Freiheit Die Romantiker stehen der Französischen Revolution ablehnend gegenüber; die anfängliche Begeisterung - die meisten von ihnen sind Gymnasiasten oder Studenten, als sie ausbricht -weicht schnell der Skepsis. Sie leimen die Ansichten der Jakobiner über die Literatur ab, die diese in den Dienst der Politik stellen. Der Literatur wird von den Romantikern keine soziale Funktion beigemessen, sie vertreten vielmehr die Autonomie2 der Dichtung. Im realen Le- Johann Gottlieb Fichte (Gemälde von Heinrich Plühr) Wilhelm Wackenroder (Marmorbild von Friedrich Tieck, 1798) ben wird den Dichtem die Freiheit versagt, sie. finden sie ersatzweise in der Dichtung, sie ist Kompensation3 für reale politische Ohnmacht. LebenundKunstwerdennichtmehr getrennt, sondern das Leben wird romantisiert. Die Problematik, die sich aus diesen Ansichten ergibt, wird in der romantischen Literatur oft behandelt: Der Widerspruch zwischen künstlerischem Selbstverständnis und bürgerlichem Alltag, die Konfrontation Künstler-Philister4, wird zu einem wesentlichen Thema. Merkmale der romantischen Dichtung • Entdeckung des Unbewussten und Irrationalen: Erfahrungen wie Wahnsinn, Krankheit, Schwärmerei,Träume, Abgründe der Seele, Nachtseiten des Lebens, Doppelgängertum, Automaten sind Thema der Literatur. Manche Dichter entdecken den psychischen In-nenraum lange vor Sigmund Freud. Die Beschäftigung mit diesen Bereichen wird von den Zeitgenossen meist negativ beurteilt und als mangelnde Tatkraft, als Ausweichen in Schemwelten interpretiert. • Wiederbelebung des deutschen Mittelalters: Wilhelm Wackenroder und Ludwig Tieck propagieren Nürnberg als die mittelalterliche Stadt und Dürer als den vorbildlichen mittelalterlichen Maler. • Bemühen um deutsches Volksgut: Man belebt alte Volkslieder neu, dichtet im Volkslied ton, knüpft an volkstümliche Formen an; deutsche Märchen und Sagen werden gesammelt und herausgegeben. Die bekannteste Sammlung stammt von den Brüdern Jakob und Wilhelm Grimm, die auch ein deutsches Wörterbuch schreiben. Neue Märchen, sogenannte Kunstmärchen (im Gegensatz zu den Volksmärchen), werden verfasst. • Neigung zu offenen Formen, zum Fragment, zur Improvisation: Freies Schöpfertum ist wichtiger als das Geschaffene. Das bedeutet, dass die Fantasie und der Einfallsreichtum wichtiger sind als ein perfektes Endprodukt. Andererseits ahmt man aber auch französische Gedichtformen nach, die ein strenges metrisches System haben. • Literarische Mischformen: Die Gattungen werden gemischt, was man in der Klassik streng abgelehnt hat5; Gedichte, Lieder, kleine Szenen werden in Romane eingeschaltet. • Streben nach Universalpoesie: Friedrich Schlegel spricht von „progressiver6 Universalpoesie", weil sie sich in einem dauernden Schöpfungsprozess befindet. Sie vereinigt die getrennten Gattungen der Poesie wieder; Dichtung, Malerei, Philosophie und Wissenscha f t werden verb unden. Als Symbol für die Macht der Poesie gilt die „bla ue Blume", die Novalis zum Zentralmotiv seines Romans Heinrich von Ofierdingen macht. • Interesse für fremde Länder und Sprachen: Aus dieser Zeit stammen die berühmten, noch heute gültigen Übersetzungen der Werke Shakespeares und Calderöns von Schlegel und Tieck. • Die romantische Ironie: Obwohl sie immer als ein Merkmal der Romantik bezeichnet wird, gibt es keine verbindliche Erklärung, was romantische Ironie eigentlich ist. Friedrich Autonomie: Eigengesetzlichkeit, Selbstständigkeit^ Kompensation: Ausgleich Philister: in den Augen der Romantiker ein Bürger, für den Existenzsicherung, Gewinnstreben und Anpassung im Mittelpunkt stehen Goethe hat es im Wilhelm Meister dennoch praktiziert. progressiv; hier: im Werden begriffen 148 romantik Schlegel, der als Erfinder der Bezeichnung gilt, gibt auch nur Kennzeichen und keine Definition. Er spricht von stetem Wechsel zwischen Selbstschöpfung und Selbstvernichtung, von „klarem Bewusstsein der ewigen Agilität", von „unendlich vollem Chaos". Wesentlich für die Dichtungen ist, dass sich ein Dichter über sein Werk hinwegsetzen kann, er kann spielerisch mit ihm umgehen, er kann Welten schildern und sie dann wieder zerstören. Ein Beispiel für romantische Ironie ist Ludwig Tiecks VergebtiefelteKnter,bei dem auf der Bühne ein Theaterstück mit Publikum gespielt wird. Bei E. T. A. Hoffmann kann man romantische Ironie besonders in Dergoldne Top/erkennen: Der Leser wird durch einen ständigen Wechsel von Fantasiewelt und Bürgerwelt abrupt aus dem Bereich des Märchenhaften in die öde Welt des Philisters versetzt. Was der Dichter aufgebaut hat, zerstört er bewusst, er ist Herr über sein Werk und spielt sein Spiel mit den Leserinnen. Friedrich Schlegel Die theoretischen Grundlagen der Romantik Friedrich Schlegel (1772-1829) ist weniger wegen seiner literarischen Werke wichtig, sondern weil er die theoretischen Grundlagen für die Strömung liefert. Gemeinsam mit seinem Bruder A. W. Schlegel gibt er die Zeitschrift Athenäum heraus, die für die Romantik denselben programmatischen Wert hat wie die Hören für die Klassik. Friedrich Schlegels Romanfragment Lucinde entfesselt einen Literaturskandal. Schiller verurteilt es als „Gipfel moderner Unform und Unnatur". Der Roman enthält eine Abfolge von Lie-beserlebnissen mit verschiedenen Frauentypen, es wird direkt und deutlich über Sexualität reflektiert. Die einen machen Schlegel den Vorwurf der Unsittlichkeit, die anderen feiern Lucinde als ein Plädoyer für die freie Liebe. romantik 10 15 Hymne an die Nacht Muß immer der Morgen wiederkommen? Endet nie des Irdischen Gewalt? Unselige Geschäftigkeit verzehrt Den himmlischen Anflug der Nacht? Wird nie der Liebe geheimes Opfer Ewig brennen? Zugemessen ward Dem Lichte seine Zeit Und dem Wachen - Aber zeitlos ist der Nacht Herrschaft, Ewig die Dauer des Schlafs. Heiliger Schlaf! Beglücke zu selten nicht Der Nacht Geweihte - In diesem irdischen Tagwerk. Nur die Toren verkennen dich Und wissen von keinem Schlafe Aus dem Schatten, Den du mitleidig auf uns wirfst 20 In jener Dämmerung Der wahrhaften Nacht. Sie fühlen dich nicht In der goldenen Flut der Trauben, In des Mandelbaums 25 Wunderöl Und dem braunen Safte des Mohns. Sie wissen nicht. Daß du es bist, Der des zarten Mädchens 30 Busen umschwebt Und zum Himmel den Schoß macht - Ahnden nicht, Daß aus alten Geschichten Du himmelöffnend entgegentrittst 35 Und den Schlüssel trägst Zu den Wohnungen der Seligen, Unendlicher Geheimnisse Schweigender Bote. Friedrich Schlegel • Informieren Sie sich, was eine Hymne ist, welche Stilmittel sie verwendet! Können Sie die Merkmale an Novalis' Gedicht feststellen? • Welche Eigenschaften ordnet der Dichter der Nacht zu? Wie stuft er Licht und Tag ein? • Die Nacht bedeutet Schlaf und Tod. Warum ist sie dennoch nicht schreckenerregend und beängstigend? Novalis, ein Verehrer der Nacht Ein Gegentypus Einen Gegentypus zu den anderen lebenslustigen und sinnenfrohen Romantikern stellt Novalis (1772-1801) dar. Er ist Außenseiter und Einzelgänger, ein Adeliger, geht aber einem bürgerlichen Beruf nach. Sein Interesse gilt der Dichtung, der Philosophie und der Naturwissenschaft (besonders der Mathematik) in gleichen Maßen. 1795 Verlobter sich mit der 13-jährigen Sophie von Kühn, deren früher Tod ihn tief erschüttert. Trotz einer zweiten Verlobung kommt er über den Tod der ersten Braut nie hinweg. Mit 29 Jahren stirbt er an Schwindsucht, bestimmt von dem Wunsch, Sophie nachzusterben. An seinem dichterischen Werk fällt eine dunkle, geheimnisvolle, mythische Sprache auf. Die Nacht ist für ihn schöpferisches Geheimnis des Lebens und des Todes, thematisiert in den Hymnen an die Nacht, die es in Prosafassung und freien Rhythmen gibt. Novalis (Porträt nach einem Stich von Eduard Eichens) E. T. A. Haffmann: Der Bilderbuchromantiker E. T. A. Hoffmanns (1776-1822) Werke werden schon zu Lebzeiten eifrig gelesen und sind europaweit bekannt. In Frankreich hält man ihn neben Goethe für den wichtigsten Dichter Deutschlands. Er beeinflusst Nicolai Gogol, Charles Baudelaire und Edgar Allan Poe. Betrachtet man Hoffmanns Biografie, so könnte der Dichter selbst einem seiner Werke entsprungen sein. Am Tag geht er seinem Beruf als Kammergerichtsrat nach - dies entspringt wohl dem Wunsch nach Verankerung im Bürgerlichen, der trotz allen Freiheitsstrebens bei den Romantikern vorhanden ist -, in der Nacht beginnt er zu „leben". Er ist Zeichner, Maler, Karikaturist, Musiker, Komponist und Dichter. Durch diese Mehrfachbegabung entsteht auch eine Mehrfachbelastung, er treibt Raubbau an seiner Gesundheit. In seinen Fantasie- und Nachtstücken stehen Dämonisches, Wahnsinn und Verbrechen im Mittelpunkt. Hoffmann interessiert sich für die Nachtseiten des Menschen: Persönlichkeitsspaltung, Dop- E.T.A. Hoffmann (Selbstbildnis) 150 151 romantik pelgängertum, Identitätsverlust, Realitätsverlust Wahnsinn und Verfolgungswahn deuten an, dass die Integration in die Gesellschaft nicht gelungen ist. Das wichtigste Thema in seinen Werken, die Diskrepanz zwischen Künsticr und Bürger, die Konfrontation von persönlichen Wünschen und den Ansprüchen, die die Gesellschaft stellt, wird märchenhaft gelöst (Der goldnc Topf) oder endet in Mord (Das Fräulein von Scuderi). Bürger und/oder Künstler?-Dergoldne Topf Kunstmärchen Im Mittelpunkt der Erzählung steht der Student Anselm us, dessen Beziehungen zur Umwelt immer wieder durch seine Ungeschicklichkeit gestört werden. Wenn er mit jemandem Kontakt aufnehmen will, so missglückt dies meist. Allerdings merkt der Leser schon bald, dass die Ungeschicklichkeit nur die eine Seite seines Wesens ist: Es ist die Kehrseite seines poetischen Gemüts. Anseimus steht im Bann seinerFantasien, die seinen bürgerlichen Zeitgenossen unverständlich sind. Sie führen sein seltsames Verhalten meist fälschlich auf zu heftigen Alkoholkonsum zurück. Der Student Ansehnus verliebt sich unter einem Holunderbaum in eine grüne Schlange mit herrlichen blauen Augen. Sie ist in Wirklichkeit Serpentina, die Tochter des Archivarius Lindhorst. Vergebens versucht die Vielt der Philister ihn zurückzugewinnen, allen voran Veronika, die Tochter des Konrektors Paulmann, die aus Anseimus unbedingt einen Hofrat machen will. Anseimus tritt als Schreiber in den Dienst von Archivarius Lindhorst, der in Wahrheit ein Geisterfürst ist. In dessen Haus gewinnt Anseimus nach einigen Abenteuern Serpentina und wird mit ihr in das land Atlantis versetzt, wo er nun selig lebt. Um sein Werk beenden zu können, wendet sich der Dichter an den Archivarius Lindhorst: Ich fühlte mich befangen in den Armseligkeitendes kleinlichen Alltagslebens, ich erkrankte in quälendem Mißbehagen, ich schlich umher wie ein Träumender, kurz, ich geriet in jenen Zustand des Studenten Anseimus, den ich dir, günstiger Leser, in der vierten Vigilie7 beschrieben. Ich härmte mich recht ab, wenn ich die elf Vigilien, die ich glücklich zustandegebracht, durch-5 lief und nun dachte, daß es mir wohl niemals vergönnt sein werde, die zwölfte als Schlußstein hinzuzufügen; denn sooft ich mich zur Nachtzeit hinsetzte, umdas Werk zu vollenden, war es, als hielten mir recht tückische Geister [...] ein glänzend poliertes Metall vor, in dem ich mein Ich erblickte, blaß, übernächtig und melancholisch wie der Registrator Heerbrand nach dem Punschrausch. - Da warf ich denn die Feder hin und eilte ins Bett, um wenigstens von dem 10 glücklichen Anseimus und der holden Serpentina zu träumen. So hatte das schon mehrere Tage und Nächte gedauert, als ich endlich ganz unerwartet von dem Archivarius Lindhorst ein Billett erhielt, worin er mir folgendes schrieb: ... Wollen Sie daher die zwölfte Vigilie schreiben, so steigen Sie ihre verdammten fünf Treppen hinunter, verlassen Sie Ihr Stübchen und kommen Sie zu mir! Im blauen Palmbaumzimmer, 15 das Ihnen schon bekannt, finden Sie die gehörigen Schreibmaterialien und Sie können dann mit wenigen Worten den Lesern kundtun, was Sie geschaut, das wird Ihnen besser sein als Der goldneTopf (Illustration von Theodor Hosemann, 1844) romantik eine weitläufige Beschreibung eines Lebens, das Sie ja doch nur vom Hörensagen kennen. Mit Achtung Ew. Wohlgeboren ergebenster 20 der Salamander Lindhorst, p. t. Königl. Geh. Archivarius • Hoffmann verwendet in diesem Textausschnitt romantische Ironie. Wo können Sie sie entdecken? • Was halten Sie davon, wenn ein Dichter zunächst eine Stimmung aufbaut, sie dann aber wieder brutal zerstört? Sind Sie enttäuscht, gelangweilt oder belustigt? Der Sandmann* Der Student Nathanael erleidet ein Kindheitstrauma durch die brutale Geschichte vom Sandmann, der den Kindern Sand in die Augen streut, „dass sie blutig zum Kopf herausspringen". Er identifiziert den Sandmann zunächst mit dem Advokaten Coppelius und später als junger Mann mit dem Brillenmacher Coppola. Es gibt in der ganzen Erzählung ein dichtes Gewebe tfon Motiven um das „Auge": bedeutungsvolle Blicke, drohender Augenverlust, Ferngläser. Die Namen Coppelius und Der Sandmann (E.T.A. Hoffmann) Coppola stehen im Zusammenhang mit dem italienischen Wort „coppa", das Augenhöhle heißt umu.i««».^^-------<~r*~ '---------o —• Nathanael schwankt zwischen Normalität und Fantasiewelt, die durch die beiden Mädchen Clara, seine Verlobte, und Olimpia, die eigentlich ein Automat ist, verkörpert werden. Clara wehrt sich gegen die dämonischen Mächte, sie meint: „Gerade heraus will ich es dir nur gestehen, dass, wie ich meine, alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon du sprichst, nur in deinem Innern vorging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig teilhatte." Am Anfang der Erzählung schreibt Nathanael an seinen Freund über das Kindheitserlebnis. Schon das Aussehen des Advokaten Coppelius versetzt ihn in Entsetzen. Nathanael schildert das eigentliche Geschehen, das für sein Trauma verantwortlich ist: Ich war festgezaubert. Auf die Gefahr entdeckt, und, wie ich deutlich dachte, hart gestraft zu werden, blieb ich stehen, den Kopf lauschend durch die Gardine hervorgestreckt. Mein Vater empfing den Coppelius feierlich. „Auf! - zum Werk", rief dieser mit heiserer, schnarrender Stimme und warf den Rock ab. Der Vater zog still und finster seinen Schlafrock aus und beide 5 kleideten sich in lange schwarze Kittel. Wo sie die hernahmen, hatte ich übersehen. Der Vater öffnete die Flügeltür eines Wandschranks; aber ich sah, daß das, was ich so lange dafür gehalten, kein Wandschrank, sondern vielmehr eine schwarze Höhlung war, in der ein kleiner Herd stand. Coppelius trat hinzu und eine blaue Flamme knisterte auf dem Herde empor. Allerlei Vigilie: Nachtwache Jacques Offenbach verarbeitet diese Novelle u. a. in seiner Oper Hoffmanns Erzählungen. 152 153 romantik seltsames Geräte stand umher. Ach Gott! - wie sich nun mein alter Vater zum Feuer herab-10 bückte, da sah er ganz anders aus. Ein gräßlicher krampfhafter Schmerz schien seine sanften ehrlichen Züge zum häßlichen widerwärtigen Teufelsbilde verzogen zu haben. Er sah dem Coppelius ähnlich. Dieser schwang die glutrote Zange und holte damit hell blinkende Massen aus dem dicken Qualm, die er dann emsig hämmerte. Mir war es als würden Menschengesichter ringsumher sichtbar, aber ohne Augen - Scheußliche, tiefe schwarze Höhlen statt ihrer. 15 „Augen her, Augen her!" rief Coppelius mit dumpfer dröhnender Stimme. Ich kreischte auf von wildem Entsetzen gewaltig erfaßt und stürzte aus meinem Versteck heraus auf den Boden. Da ergriff mich Coppelius, „Kleine Bestie!-Kleine Bestie!" meckerte er zähnefletschend! -riß mich auf und warf mich auf den Herd, daß die Flamme mein Haar zu sengen begann: „Nun haben wir Augen-Augen-ein schön Paar Kinderaugen." So flüsterte Coppelius, und griff mit 20 den Fäusten glutrote Körner aus der Flamme, die er mir in die Augen streuen wollte. Da hob mein Vater flehend die Hände empor und rief: „Meister! Meister! Laß meinem Nathanael die Augen-laß sie ihm!" c • Wofür sind die Augen Symbol? Wie empfinden Sie die Szene? Können Sie verstehen, warum Nathanael so geschockt ist? Als junger Mann lernt 'Nathanael Olimpia, die Tochter eines Professors, kennen. Er verliebt sich in sie, ohne zu merken, dass sie ein Automat, eine Puppe ist. Sie fasziniert ihn wegen ihrer Schweigsamkeit - sie kann nur einige stereotype Phrasen sprechen - und Seelenlosigkeit, denn er sucht die Kommunikationslosigkeit. Diefolgenden Ausschnitte zeigen Clara bzw. Olimpia: Für schön konnte Clara keinesweges gelten; das meinten alle, die sich von Amts wegen auf Schönheit verstehen. Doch lobten die Architekten die reinen Verhältnisse ihres Wuchses, die Malerfanden Nacken, Schultern und Brust beinahe zu keusch geformt, verliebten sich dagegen sämtlich in das wunderbare Magdalenenhaar. [...] Einer von ihnen, ein wirklicher Phan-5 tast, verglich aber höchst seltsamerweise Claras Augen mit einem See von Ruisdael9, in dem sich des wolkenlosen Himmels reines Azur, Wald- und Blumenflur, der reichen Landschaft ganzes buntes, heitres Leben spiegelt. Clara hatte die lebenskräftige Fantasie des heitern unbefangenen kindischen Kindes, ein tiefes weiblich zartes Gemüt, einen gar hellen scharf sichtenden Verstand. Die Nebler und Schwebler hatten bei ihr böses Spiel; denn ohne zu viel 10 zu reden, was überhaupt in Claras schweigsamer Natur nicht lag, sagte ihnen der helle Blick, und jenes feine ironische Lächeln: „Lieben Freunde! wie möget ihr mir denn zumuten, daß ich eure verfließende Schattengebilde für wahre Gestalten ansehen soll, mit Leben und Regung?" - Clara wurde deshalb von vielen kalt, gefühllos, prosaisch gescholten; aber andere, die das Leben in klarer Tiefe aufgefaßt, liebten ungemein das gemütvolle, verständige, kindliche 15 Mädchen, doch keiner so sehr, als Nathanael, der sich in Wissenschaft und Kunst kräftig und heiter bewegte. Aber auch noch nie hatte er eine solche herrliche Zuhörerin gehabt. Sie10 stickte und strickte nicht, sie sah nicht durchs Fenster, sie fütterte keinen Vogel, sie spielte mit keinem Schoßhündchen, mit keiner Lieblingskatze, sie drehte kein Papierschnitzchen oder sonst etwas in 20 der Hand, sie durfte kein.Gähnen durch einen leisen erzwungenen Husten bezwingen-kurz! - stundenlang sah sie mit starrem Blick unverwandt dem Geliebten ins Auge, ohne sich zu romantik rücken und zu bewegen und immer glühender, immer lebendiger wurde dieser Blick. Nur wenn Nathanael endlich aufstand und ihr die Hand, auch wohl den Mund küßte, sagte sie: „Ach, Ach!" - dann aber: „Gute Nacht, mein Lieber!" - „O du herrliches, du tiefes Gemüt", rief 25 Nathanael auf seiner Stube: „nur von dir, von dir allein werd ich ganz verstanden." Er erbebte vor innerm Entzücken, wenn er bedachte, welch wunderbarer Zusammenklang sich in seinem und Olimpias Gemüt täglich mehr offenbare; denn es schien ihm, als habe Olimpia über seine Werke, über seine Dichtergabe überhaupt rechttief aus seinem Innern gesprochen, ja als habe die Stimme aus seinem Innern selbst herausgetönt. Das mußte denn wohl auch sein; denn 30 mehr Worte als vorhin erwähnt, sprach Olimpia niemals. Erinnerte sich aber auch Nathanael in hellen nüchternen Augenblicken, z. B. morgens gleich nach dem Erwachen, wirklich an Olimpias gänzliche Passivität und Wortkargheit, so sprach er doch: „Was sind Worte - Worte! - Der Blick ihres himmlischen Auges sagt mehr als jede Sprache hienieden." • Vergleichen Sie die beiden Frauen! Was stört Nathanael wohl an Clara? Als Erwachsener sieht Nathanael Coppelius wieder, das löst eine neue Lebenskrise aus, denn Coppelius zerstört Olimpia. Nach diesem Vorfall verfällt Natlianael in Wahnsinn. Er lebt aber ruhig wieder mit Clara zusammen, bis er eines Tages einen Turm besteigt, durch ein Fernrohr blickt und Coppelius entdeckt. Diese dritte Begegnung mit ihm verkraftet er nicht mehr: Er versucht Clara zu ermorden und begeht, schließlich Selbstmord. • Was ist schuld an Nathanaels Tod? Wie empfinden Sie es, wenn er sich in eine Puppe verliebt und es gar nicht merkt? Was muss mit ihm vorgegangen sein? Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte Adelbert von Chamisso (1781-1838) wird in Frankreich geboren. Auf der Flueht vor der Revolution kommt er mit seinen Eltern nach Berl in; 1798 tritt er als Fähnrich in ein preußisches Infanterieregiment ein. Während seine Verwandten nach Frankreich zurückkehren,bleibt er in Deutschland. 1815-1818 fährt er mit einer russischen Expedition um die Welt. Peter Schlemihls wundersame Geschichte ist eine Mischung aus romantischem Märchen und realistischer Novelle. Adelbert von Chamisso Ruisdael: holländischer Maler des 17. Jh J Olimpia 154 155 romantik Bin Mann verliert seinen Schaffen Peter hat einem geheimnisvollen grauen Mann für ein Glückssäcklein, das dauernden Reichtum bedeutet, seinen Schatten gegeben. Trotz seines Reichtums wird er von der Gesellschaft gemieden, weil ihm der Schatten fehlt: „Ordentliche Leute pflegten ihren Schatten mit sich zu nehmen, wenn sie in die Senne gingen." Bald schon merkt er, dass er einen Fehler gemacht hat: Sobald ich mich in der rollenden Kutsche allein fand, fing ich bitterlich an zu weinen. Es mußte schon die Ahnung in mir aufsteigen, daß, um soviel das Gold auf Erden Verdienst und Tugend überwiegt, um so viel der Schatten höher als selbst das Gold geschätzt werde; und wie ich früher den Reichtum meinem Gewissen aufgeopfert, hatte ich jetzt den Schatten für bloßes Gold hingegeben: Was konnte, was sollte auf Erden aus mir werden! Der Mann erscheint wieder und bietet ihm die Rückgabe des Schattens für seine Seele an. Peter schlägt das Angebot aus, wirft das Gliickssäcklein weg und findet Siebenrneilenstiefel, mit denen er die Welt durcheilt, bis er zur Ruhe kommt. Ich fiel in stummer Andacht auf meine Knie und vergoß Tranen des Dankes - denn klar stand plötzlich meine Zukunft vor meiner Seele. Durch frühe Schuld von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen, ward ich zum Ersatz an die Natur, die ich stets geliebt, gewiesen, die Erde mir zu einem reichen Garten gegeben, das Studium zur Richtung und Kraft meines Le-5 bens, zu ihrem Ziel die Wissenschaft. Es war nicht ein Entschluß, den ich faßte. Ich habe nur seitdem, was da hell und vollendet im Urbild vor mein inneres Auge trat, getreu mit stillem, gestrengem, unausgesetztem Fleiß darzustellen gesucht, und meine Selbstzufriedenheit hat von dem Zusammenfallen des Dargestellten mit dem Urbild abgehangen. • Was ward Schlemihl zum Trost? Man hat viel über den verlorenen Schatten gerätselt, die häufigste Interpretation ist die, dass der Schatten die Heimat symbolisiere. Man versucht damit Peter Schlemihl autobiografische Züge zu geben, denn Chamisso steht zwischen zwei Vaterländern und ist in keinem heimisch. Auch er findet Ruhe im Studium der Natur auf seiner Reise um die Welt. Der Schatten könnte aber auch das symbolisieren, was Schlemihl von den anderen unterscheidet; Andersartige werden von der Gesellschaft oft verstoßen. Schlemihl tauscht seinen Schatten gegen Geld, weil er glaubt, dass es ihm bei der Integration in die Gesellschaft hilft. Das Gegenteil ist der Fall: Er wird einsam, er wird isoliert, mitleidige und höhnische Reaktionen verfolgen ihn, seine gesellschaftliche Integration wird verhindert. Erst als er den GoldsHckel fortwirft, gewinnt er gewissermaßen seine Identität zurück. Seine Seele verkauft er dem Grauen nicht mehr, er „steigt aus". Dieses Aussteigen, bedeutet für ihn einen Ausweg aus gesellschaftlichen Zwängen. Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts Joseph von Eichendorff (1788-1857), auf Schloss Lubowitz in Oberschlesien geboren studiert m Halle und Heidelberg Philosophie und Jus. Von 1813-1815 nimmt er an den Befrei- ungskriegen teil und verdient später seinen Lebensunterhalt als Beamter in Breslau, Berlin und Künigsburg. Ein Taugenichts Ein Müllerssohn zieht in die Welt hinaus, um sie kennenzulernen, wird Gärtnergehilfe auf einem Schloss und verhebt sich in die vermeintliche Tochter des Grafen. Wegen der Aussichtslosigkeit dieser Verbindung geht er wieder auf Wanderschaft, diesmal nach Italien. Nach verwirrenden Abenteuern in Rom kehrt er zurück in die Heimat, wo sich im Schloss des Grafen alles löst: Die vermein t-liche Grafen-Tochter ist ein Waisenkind, der glücklichen Liebe der beiden steht nichts mehr im Weg. Die Reise des Taugenichts ist eine Suche nach der geliebten, von der Ferne angebeteten Frau. Die Erzählung ist durch Tageszeitenbilder gerahmt: Morgens bricht der Taugenichts auf, am Abend oder in der Nacht kommt er an. 10 15 Joseph von Eichendorff Die kühle Morgenluft weckte mich endlich aus meinen Träumereien. Ich erstaunte ordentlich, wie ich so auf einmal um mich herblickte. Musik und Tanz war lange vorbei, im Schlosse und rings um das Schloß herum auf dem Rasenplatze und den steinernen Stufen und Säulen sah alles so still, kühl und feierlich aus: nur der Springbrunnen vor dem Eingange plätscherte einsam in einem fort. Hin und her in den Zweigen neben mir erwachten schon die Vögel, schüttelten ihre bunten Federn und sahen, die kleinen Flügel dehnend, neugierig und verwundert ihren seltsamen Schlafkameraden an. Fröhlich schweifende Morgenstrahlen funkelten über den Garten weg auf meine Brust. Da richtete ich mich in meinem Baume auf und sah seit langer Zeit zum ersten Male wiedereinmal so recht weit in das Land hinaus, wie da schon einzelne Schiffe auf der Donau zwischen den Weinbergen herabfuhren und die noch leeren Landstraßen wie Brücken über das schimmernde Land sich fern über die Berge und Täler hinausschwangen. Ich weiß nicht, wie es kam-aber mich packte da auf einmal wieder meine ehemalige Reiselust: alle die alte Wehmut und Freude und große Erwartung. Mir fiel dabei zugleich ein, wie nun die schöne Frau droben,auf dem Schlosse zwischen Blumen und unter seidnen Decken schlummerte und ein Enget bei ihr auf dem Bette säße in der Morgenstille. - Nein, rief ich aus, fort muß ich von hier, und immerfort, so weit als der Himmel blau ist! Wie so oft in romantischen Werken werden zwei Arten von Existenzen gegenübergestellt: ein bürgerlich-sesshaftes, beschränktes Leben und ein freiheitlich-abenteuerliches Künstlerdasein. Die Vertreter der „Philister", alle bürgerlichen Leute, nennen den Taugenichts einen Faulenzer. Sie empfinden die Wanderlust als sinnlosen Zeitvertreib. Der Philister überlegt seine Situation nicht; der Zweck seiner Arbeit, sein Ziel sind Erwerb von Besitz und Ansehen, dem dient auch seine äußere Geschäftigkeit. Gleichzeitig ist er aber im geistigen und kreativen Bereich träge und dumpf: Schlafrock und Schla fmütze sind Kennzeichen für Bequemlichkeit und mangelnde Weltoffenheit. Die Philister haben kein Verständnis für ein poetisches Lebensgefühl, in dessen Mittelpunkt die Schönheiten von Kunst und Natur stehen. In ihrem Streben, es zu etwas Rechtem zu bringen, sind sie dauernd unzufrieden. Eine konträre Vorstellung vom Leben hat der Taugenichts und damit der Romantiker. Glück, romantik romantik Freundschaft, Liebe, Erlebnis der Schönheit und Harmonie der Natur sind für ihn wichtig er hat eine positive Einstellung zum Dasein, zur Geselligkeit und zur Musik. Er braucht Freiheit, das Naturerlebnis, sonst verkümmert er innerlich. Natur und Musik spielen eine große Rolle. Immer wieder wird die Erzählung durch Lieder unterbrochen, die volksliedhaft sind und zum kindlichen Gemüt des Taugenichts passen. Ein Volkslied 10 Wohin ich geh und schaue. In Feld und Wald und Tal, Vom Berg hinab in die Aue: Vielschöne, hohe Fraue, Grüß ich dich tausendmal. 15 In meinem Garten find ich Viel Blumen, schön und fein, Viel Kränze wohl draus wind ich, Und tausend Gedanken bind ich Und Grüße mit darein. 20 thrdarf ich keinen reichen, Sie ist zu hoch und schön, Die müssen alle verbleichen. Die Liebe nur ohnegleichen Bleibt ewig im Herzen stehn. Ich schein wohl froher Dinge> Und schaffe auf und ab, -' Und, ob das Herz zerspringe, _.: Ich grabe fort und singe Und grab mir bald mein Grab. • Beschreiben Sie Inhalt und Form des Liedes! Welche romantischen Motive finden Sie? Ein prägendes Motiv der Erzählung ist auch das Reisen, es wird ambivalent gesehen: Der Wunsch, dem langweiligen bürgerlichen Leben zu entrinnen, ist die Triebfeder für die Wanderschaft. Die Ferne wird allerdings bald problematisch, eine Sehnsucht nach Geborgenheit kommt auf, Schwermut und Furcht befallen den Reisenden. Die Freude über die Unabhängigkeit weicht bald einem Gefühl der Einsamkeit, des Verlorenseins. Die Tatsache, dass er gleich nach der Hochzeit nach Rom aufbrechen will, zeigt, dass der Taugenichts auch in der Ehe nicht vorhat, ein Philister zu werden. Schreibende Frauen in der Romantik Die Romantik schafft einen Freiraum, der es den Frauen ermöglicht, am literarischen Leben teilzunehmen. Das is t zwar bereits in der Zeit der Aufklärung möglich, allerdings müssen die Frauen ihren emanzipatorischen und ästhetischen Anspruch aufgeben. Sie müssen unanstößige Ware liefern, sie müssen schreiben wie Männer und reprod uzieren somit das traditionelle Frauenbild der männlichen Autoren. Als wichtig für die Emanzipation der schreibenden Frauen erweist sich der Jenaer Kreis, der sich zwar kurz nach der Jahrhundertwende auflöst, dessen Wirkung aber bestehen bleibt. Er tritt für eine Lebensform ein, die sich von dem moralisch konventionellen, politisch angepassten und auf ökonomische Sicherheit bedachten Bürgertum abhebt Caroline Schlegel-Schelling Am Lebenslauf Caroline Schlegel-Schellings (1767-1809) lässt sich die Emanzipation der Frau verfolgen. Sie ist eihe Göttinger Professorentochter, lebt als junge Witwe in Mainz und wird während der Mainzer Republik die Geliebte eines französischen Soldaten. Als Braut und schließlich Gattin A. W. Schlegels, der der Frau mit dem zweifelhaften Ruf Schutz gewährt, kommt sie dann nach Jena. Dort wird sie die Freundin Friedrich Schlegels, geistreiche Anre- 158 Caroline Schiegel-Schelling gcrin von Diskussionen und arbeitet an der Jenaer Literaturzeitung und am Athenäum mit. Schließlich wird sie Geliebte und Frau des wesentlich jüngeren Friedrich Wilhelm Josef Schelling. Caroline Schlegel-Schelling ist eine intelligente und leidenschaftliche Briefschreiberin; ihre brillant geschriebenen Briefe geben Einblick in eine kunstbegeisterte Zeit: Oh, mein Freund, wiederhole es Dir unaufhörlich, wie kurz das Leben ist, und daß nichts so wahrhaft existiert als ein Kunstwerk. Kritik geht unter, leibliche Geschlechter verlöschen, Systeme wechseln, aber wenn die Welt einmal ausbrennt wie ein Papierschnitzel, so S werden die Kunstwerke die letzten lebendigen Funken sein, die in das Haus Gottes gehen - dann erst kommt Finsternis. (Brief an August Wilhelm Schlegel vom 1. März 1801) Die „gelehrten Gesellschaften" des 18. Jahrhunderts werden im 19. Jahrhundert zu halböffentlichen Salons, in deren Mittelpunkt Frauen stehen. Sie sind geistvoll, gebildet, erotisch anziehend, witzig, spöttisch. Gastgeberinnen und Autorinnen sind: Dorothea Veith-Schlegel (sie wird Vorbild für Friedrich Schlegels Lucinde), Henriette Herz, Rahel Levin, Sophie Tieck, Sophie Mereau-Brentano. In Tagebüchern und Briefen sind die Diskussionen von damals festgehalten. Ein Prozess der Liberalisierung setzt in der Literatur ein und zunächst nur dort: Frauen werden akzeptiert, „Tugend" als Hauptcharakteristikum der Frau verliert ihren Einfluss, ihre Wichtigkeit. Zum ersten Mai spielen Frauen eine aktive und anerkannte Rolle im geistigen, öffentlichen und literarischen Leben, Sie versuchen die Grenzenzu sprengen, opfern sich und ihre Kreativität aber letztlich doch dem Werk ihrer Männer. Ihre eigenen Produkte erscheinen anonym oder gar unter dem Namen ihrer Männer. Sophie Mereau gibt sogar eine Zeitschrift für Frauen heraus, bevor Brentano sie zwingt, auf ihre Selbstständigkeit zu verzichten. Sie stirbt dann bei der Geburt ihres fünften Kindes. Karoline von Günderode Ein tragisches Schicksal erleidet auch Karoline von Günderode. Zunächst lebt sie zurückgezogen in einem evangelischen Stift. Sie verliebt sich unglücklich in Friedrich Carl von Savigny, der zwar Bettina Brentanos Schwester heiratet, aber trotzdem mit Karoline von Günderode in Briefwechsel bleibt. Audi die Beziehung zu dem verheirateten Sprachwissenschaftler Friedrich Creuzer bleibt unerfüllt. Karoline von Günderode macht ihrem von allen Seiten eingeschränkten Leben selbst ein Ende. Bettina Brentano verarbeitet das Schicksal ihrer Jugendfreundin in dem Briefroman Die Günderode und setzt ihr damit ein Denkmal. In der Literaturwissenschaft wird Karoline von Günderode lange abwertend beurteilt. Erst in neuerer Zeit lernt man vor allem ihre Lyrik schätzen und ist fasziniert von einer Frau, die sich von ihren Gefühlen leiten lässt.11 Karoline von Günderode 11 Eine erfundene Begegnung der Günderode mit Kleist beschreibt Christa Wolf in Kein Ort. Nirgends. Darmstadt, Neuwied 1977. 159 10 Die eine Klage Wer die tiefste aller Wunden Hat in Geist und Sinn empfunden Bittrer Trennung Schmerz; Wer geliebt was er verlohren. Lassen muß was er erkohren. Das geliebte Herz, _ _ Der versteht in Lust die Thränen Und der Liebe ewig Sehnen Eins in Zwei zu sein, Eins im Andern sich zu finden. Daß derZweiheit Gränzen schwinden Und des Daseins Pein. romantik Wer so ganz in Herz und Sinnen Könnt' ein Wesen liebgewinnen 15 O! den tröstet's nicht Daß für Freuden, die verlohren. Neue werden neu gebohren: Jene sind's doch nicht. Das geliebte, süße Leben, 20 Dieses Nehmen und dies Geben Wort und Sinn und Blick, Dieses Suchen und dies Finden, Dieses Denken und Empfinden Giebt kein Gott zurück. ;' • Welche Situation beschreibt das Gedicht? Wer ist in der ersten Strophe gemeint? Handelt es sich um eine subjektive Erfahrung? • Erfährt man etwas über die Person, die geliebt und deren Liebe verloren wurde? • In der dritten Strophe wird ein möglicher Trost angeboten. Wird er angenommen? • Welche Art von Beziehung wird in der letzten Strophe als erstrebenswert beschrieben? Unter welchen Voraussetzungen kann eine solche Beziehung nur verwirklicht werden? Romantik ZUSAMMENFASSUNG Romantik (1795-1830) Begriffsbestimmung „Romantisch" bedeutet „im Roman vorkommend, erfunden, wunderbar, fantastisch, irreal, unwahr, lebensfern". Die Strömung „Romantik" hat wechselnde Zentren. Philosophische Grundlagen liefert der Jenaer Kreis um die Brüder Schlegel. Weitere Zentren sind Berlin (Ludwig Tieck) und Heidelberg (Achim von Arnim, Clemens Brentano). Als eigentliche Romantiker gelten die Vertreter der Spätroinantik: Adelbert von Chamisso, Joseph von Eichendorff und E.T.A.Hoffmann. Die Romantiker fühlen sich als zusammengehörige Gruppe. Die Romantik ist als Ergänzung zur Klassik zu verstehen, sie vereinigt rationale und irratio-naleKräfte, es überwiegtaber das Gefühl als Beurteilungskriterium. Philosophie Die Dichter wählen aus philosophischen Erkenntnissen, was in ihr literarisches Konzept passt. Größten Einfluss hat Johann Gottlieb Fichte mit seiner Wissenschaftslehre: Das Ich steht im Zentrum der Weltbetrachtung. Es fühlt sich als Schöpfer der Welt, der sie sich durch die Macht des Willens unterwirft. Auf die Dichtung übertragen verkörpert der Dichter das Ich, seine Welt, die Dichtung, ist ihm unterworf en, mit ihr kann er schalten und walten. Von dieser schöpferischen Allmacht des Dichters leitet auch die romantische Ironie ihre Berechtigung ab: Der Dichter kann jederzeit seine Illusion zerstören und mit dem Leser spielen. Romantik ZUSAMMENFASSUNG Merkmale der romantischen Dichtung • Entdeckung des Unbewussten und Irrationalen • Wiederbelebung des deutschen Mittelalters • Bemühen um deutsches Volksgut (Märchen, Sagen) • Neigung zu offenen Formen, zum Fragment, zur Improvisation • Literarische Mischformen • Streben nach Universalpoesie • Interesse für fremde Länder und Sprachen • Romantische Ironie Die Romantiker leimen die Französische Revolution ab und wehren sich überhaupt gegen die Verwendung der Literatur als politisches Instrument. Den Dichtern wird im realen Leben die Freiheit versagt, sie finden sie in der Literatur. Leben und Kunst werden romantisiert. Aus dieser Grundeinstellung entwickelt sich auch ein Hauptthema der Romantiker: Der romantische Mensch gerät in Konflikt mit den Philistern, den Vertretern der bürgerlichen Wrelt. Schriftsteller der Romantik Friedrich Schlegel liefert die theoretischen Grundlagen für die Strömung. Gemeinsam mit seinem Bruder gibt er die Zeitschrift Athenäum heraus, in der das poetische Programm der Romantik veröffentlicht wird. Novalis entspricht nicht dem lebensfrohen, optimistischen Typ des Romantikers. Er interessiert sich für Philosophie und Naturwissenschaft. Auffallend an seinem Werk ist die geheimnisvolle, bilderreiche und mythische Sprache. Die Nacht ist für ihn das schöpferische Geheimnis des Leben und des Todes. Dieses Thema steht im Mittelpunkt seiner Hymnen an die Nacht. Die Werke von E.T.A. Hof f mann sind curopa weit bekannt. Hoffmann betätigt sich als Schriftstell er, Zeichner, Maler, Karikaturist/Musiker und Komponist. In seinen Fantasie- und Nachtstücken stehen Dämonisches, Wahnsinn und Verbrechen im Mittelpunkt. Er interessicrt'sich für die Nachtseiten des Menschen: Persönlichkeitsspaltung, Doppelgängertum, Identitätsverlust, Wahnsinn sind seine Themen. Als Grundprinzip seines Werkes kann der Konflikt zwischen Künstler und Bürger gesehen werden. Persönliche Wünsche stoßen mit den Ansprüchen der Gesellschaft zusammen. Das Problem wird märchenhaft gelöst {Der goldene Topf), endet in Mord (Das Fräulein von Scuderi) oder Selbstmord (Der Sandmann). Die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm sammeln Märchen und Sagen, beginnen das „Deutsche Wörterbuch" uricTverfassen eine „Deutsche Grammatik". Joseph von Eichendorff lehnt in seinem Werk Aus dem Leben eines Taugenichts bürgerliche W'erte ab. Für ihn zählen romantische Werte wie Natur, Musik, Ungebundenheit, Freundschaft und Reisen. Adelbert von Chamisso thematisiert in Peter Schlehmils wundersame Geschichte, einer Mischung aus romantischem Märchen und realistischer Novelle, die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zwängen. Schriftstellerinnen in der Romantik Frauen bekommen in der Romantik Freiraum, am literarischen Leben schöpferisch teilnehmen zu können, sie müssen allerdings wie Männer schreiben. Im Jenaer Kreis können sich Frauen emanzipieren. Sie führen literarische Salons. Die wichtigsten Vertreterinnen sind Caroline Schlegel-Schelling, Dorothea Veith, Rahel Levin, Sophie Tieck, Sophie Mereau-Brentano und Karoline von Günderode. Trotz aller Emanzipation erscheinen die Werke der Romantikerinnen anonym oder unter dem Namen ihrer Männer. 160