politische lyrik bürgerlicher realismus Dieser Text wendet sich gegen Auswüchse unserer technischen Zivilisation, gegen Umwelt-zerstörung und übersteigertes Profitdenken. Der Begriff „politisch" bzw. „sozial" ist in diesem Gedicht wie in vielen anderen Texten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in weitem Sinne umweltbezogen gemeint. • Welche Assozia tionen löst bei Ihnen der Vogelname Eule aus? Was repräsentiert er in Bezug auf die europäische Kultur? Was bedeutet dann die Überschrift? • Welche Bereiche der Natur und der Tierwelt werden in der 1. Strophe angesprochen? Diesen wird das Schlüsselwort „auswerten" gegenübergestellt. Was assozüeren Sie mit „auswerten"? Was zeigt diese Gegenüberstellung? • Welche Wörter und Wendungen beherrschen die 2. Strophe? • Welche Bedeutung haben Ihrer Meinung nach die Textelellen „schwebende feuer-glocken" und „im ticken des emstfalls"? '-, • Die Problematik, die in der 2. Strophe thematisiert wird, ist bewusst beschönigt. Was bewirkt der Autor damit? • Wie wird der Mensch („planer der spurlosen tat") gesehen? Welche Konsequenzen müsste er ziehen? » Versuchen Sie, selbst ein politisches Gedicht zu schreiben! Es kann Vergangenes oder Gegenwartiges behandeln, kann aber auch einen in Ihren Augen politisch zeitlosen Inhalt haben. Lassen Sie Ihren lyrischen Text von einem Mitschüler (einer Mitschülerin) interpretieren! (Anleitungen am Beginn des Kapitels!) ' Verfassen Sie eine Interpretation eines der vier „modernen" politischen Gedichte, die am Beginn des Kapitels abgedruckt sind! Der Geburtstag der Großmutter (Carl Schleicher, um 1870) 232 Bürgerlicher Realismus (1848-1885) Bild der Epoche Diese Literaturepoche beginnt mit dem Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848/49 und endet in den 80er-Jahren mit dem Vormarsch einer neuen Schriftstellergeneration von jungen Intellektuellen. Diese wenden sich gegen das literarische Establishment und zeigen mehr Interesse für die sozialen Probleme des Arbeiterstandes und der Not leidenden Menschen. Das gebildete Bürgertum, das vor 1848 gegen den feudalen Absolutismus auftritt, geht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den Ideen und Idealen der Vormärzzeit auf Distanz, verzichtet weitgehend auf politische Macht und Mitsprache, überlässt dem Adel und Militär die politische Führung und erkauft sich so Wohlstand, soziale Ruhe und Ordnung. Wirtschaftlicher Aufschwung Die Vereinigung Deutschlands im Jahre 1871, die mit militärischen Mitteln herbeigeführt wird, bringt dem Land einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung und macht aus Deutschland einen hoch entwickelten Industriestaat. Während am Beginn des 19. Jahrhunderts noch 80 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig sind, sind es um 1900 nur noch circa 30 Prozent. In Österreich-Ungarn, 1867 durch den sogenannten „Ausgleich" gegründet, verhindern hingegen vor allem die Angst der Regierungen vor sozialen Unruhen und hohe militärische Ausgaben das industrielle Wachstum. Am Ende des 19. Jahrhunderts leben hier noch zwei Drittel der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Polarisierung von Armen und Reichen Durch die sozialen Folgen der Industrialisierung (Anwachsen der Städte, finanzielle Not und unwürdige Lebensbedingungen der Industriearbeiter) kommt es zu einer immer stärkeren und bedrohlicheren Polarisierung von Industriekapitalismus und Proletariat. Infolge politischen und sozialen Drucks müssen in den Jahren nach der Revolution 1848 Hunderttausende von Arbeitslosen auswandern. Trotzdem verdreifacht sich die Bevölkerung von 1816 bis 1890, u. a. durch die Erfindung neuer antiseptischer Mittel und große Erfolge in der Behandlung des Kindbettfiebers. Der vierte Stand kann weder in politischen noch in literarischen Bereichen entscheidenden Einfluss nehmen; die 1878 in Deutschland erlassenen Sozialistengesetze führen zum Verbot von Gewerkschaften und zur Ausweisung namhafter Arbeiterführer. In den späten 80er-Jah-ren werden Kinderarbeit, Krankenfürsorge, Arbeitszeit und Arbeitslosenfürsorge gesetzlich geregelt. Trotz dieser Sozialgesetze verarmt die Arbeiterschaft immer mehr, während das Bürgertum zum Großteil in wirtschaftlichem Wohlstand leben kann. Marxismus Erst in den 90er-Jahren, zur Zeit des Naturalismus, kommt es zu einer Verbreitung der Theorien von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895), die ihr 1848 anonym veröffentlichtes Manifest der kommunistischen Partei mit den Worten schließen: 233 bürgerlicher realismus Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarierhaben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt Euch! Die Rolle des Kleinbürgertums Diesen radikalen Gedanken steht in der Zeit des Realismus das Klassenbewusstsein des kleinbürgerlichen Standes (Handwerker, Kaufleute, Landwirte und Beamte) gegenüber. Dieser Mittelstand fügt sich aus Angst vor dem Marxismus den Interessen der staatlichen Bürokratie, an deren Spitze Adel und Militär stehen, und den wirtschaftlichen Zielen der Industriepolitik. Das Bürgertum spaltet sich in einen wirtschaftlich orientierten besitzbürgerlichen und in einen intellektuell bestimmten bildungsbürgerlichen Flügel. Der dabei entstehende Konflikt zwischen dem durch die industrielle Revolution geförderten Pragmatismus1 und humanistischen, religiösen und philosophischen Wertvorstellungen schlägt sich in der Literatur nieder. Rückzug in die apolitische Innerlichkeit Für viele Dichter und Bildungsbürger bedeutet dieser Konflikt einen freiwilligen Rückzug in eine apolitische Innerlichkeit, ein Sich-Abgrenzen von der besitzbürgerlichen Welt und die resignierende Erkenntnis, dass wahre Menschlichkeit in dieser Welt nicht lebbar sei. So richten die Schriftsteller den Blick zurück in ihre Jugend, verweisen auf bestehende Traditionen und vermeiden radikale Darstellungen gesellschaftlicher und politischer Konflikte und Krisen. Die Dichtung soll Versöhnung darstellen und Vermittlung zwischen den individuellen Ansprüchen der einzelnen Menschen und der Gemeinschaft sein. Humor und Ironie haben dabei oft die Aufgabe, den Widerspruch zwischen persönlichen Wunschvorstellungen und objektiver Wirklichkeit zu überwinden oder aufzulösen. Literarisches Leben In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind die Voraussetzungen für ein breites Lesepublikum und damit für einen enormen Aufschwung der Literaturproduktion geschaffen: • starker Bevölkerungszuwachs • Entstehung industrieller Zentren und Großstädte • drucktechnische Fortschritte • Verbilligung und Vereinfachung des Literaturversandes durch die rasche Entwicklung des Postwesens • bessere Schulbildung und Verringerung des Analphabetentums • Reduzieren der Arbeitszeit und Erhöhung der Einkommen bürgerlicher Schichten • Lockerung der Zensur Bibliotheken, Zeitschriften Wichtig ist auch die wachsende Zahl der Leihbüchereien und der Volksbibliotheken, wo vor allem Romane ausgeliehen werden. Daneben wird billige Kolportagelileralur 2 an der Haustür verkauft und später an Kiosken angeboten. Sehr beliebt sind Wochen-Zeitschriften, 1853 bürgerlicher realismus erscheint die erste Ausgabe der Gartenlaube. Illustriertes Familien-blatl (bis 1890), die als Grundstein für die Massenpresse im deutschen Sprachraum angesehen werden kann. Die Zeitschriften haben einen klar geordneten Aufbau. Auf eine Erzählung, Novelle oder einen Roman in Fortsetzungen folgen länder- und völkerkundliche Aufsätze und Berichte. Den Abschluss bilden Beiträge aus Kunst und Kultur, später Beilagen mit Themen aus aller Welt. Das Ziel dieser sprachlich und inhaltlich allgemein verständlichen und überaus populären Familienblätter ist neben der Unterhaltung auch die Erziehung der Bürger zu „Sitte und Moral". Gegen Ende des Jahrhunderts entwickelt sich die Illustrierte, ein Zeitschriften typ mit aktueller Bildberichterstattung. Heute noch bekannte Zeitschriften wie Yfestermanns Monatshefte werden in dieser Zeit gegründet. Titelblatt der Gartenlaube (Randzeichnung von E, E. Kepler) Pragmatismus: Orientierung auf das Nützliche, Sinn für Tatsachen und praktischen Erfolg Colportage, frz.: Hausierhandel Massenproduktion Viele Autoren müssen sich, wenn sie von ihren literarischen Arbeiten leben wollen, den Zwängen der Massenproduktion und des literarischen Marktes anpassen und sich dem Geschmack eines breiten Leserpublikums unterwerfen. Namhafte Schriftstellerinnen, die in den auflagenstärksten Zeitschriften (neben der Gartenlaube noch Daheim oder Fliegende Blätter) schreiben, sind Karl Gutzkow, Eugenie Marlitt, Paul Heyse, Ludwig Ganghofer; auch Wilhelm Raabe, Theodor Fontane, Theodor Storm, Gottfried Keller, Peter Rosegger oder Marie von Ebner-Eschenbach lehnen die Mitarbeit an den neuen Publikumszeitschriften nicht ab, obwohl deren Redaktionen oftmals Eingriffe in ihre Texte vornehmen. Im Realismus herrscht grundsätzlich ein friedliches Nebeneinander von ästhetisch hochwertiger Literatur und Unterhaltungsliteratur, die vor gesellschaftspolitischen Zeitproblemen flüchtet, auch biedermeierliche Idyllen zeichnet oder exotische Abenteuer zum Thema hat (z. B. die Romane von Karl May, 1842-1912). Programm und Formen des poetischen Realismus ^ Der bürgerliche Realismus - der Literaturkritiker und Dichter Otto Ludwig (1813-1865) gibt ihm den Namen poetischer Realismus - wendet sich sowohl gegen die Romantik und Klassik, die die Fantasie bzw. das Typische un d Idealistische in den Vordergrund rücken, als auch gegen die tagespolitische Thematik und den Subjektivismus der Tendenzpoesie des Jungen Deutschland und Vormärz. Theodor Fontane (1819-1898) schreibt 1853 in Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 über den „echten" Realismus: Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten. Traurig genug, daß es nötig ist, derlei sich von selbst verstehende Dinge noch erst versichern zu müssen. Aber es ist noch nicht allzu lange her, daß man (namentlich in der Malerei) Misere mit Realismus verwechselte und bei 5 Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen, oder gar bei Produktionen jener sogenannten Tendenzbilder (schlesische Weber, das Jagdrecht u. dgl. m.) 234 235 bürgerlicher realismus bürgerlicher realismus sich einbildete, der Kunst eine glänzende Richtung vorgezeichnet zu haben. Diese Richtung verhält sich zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: die Läuterung fehlt. Wohl ist das Motto des Realismus der Goethe'sche Zuruf: 10 Greif nur hinein ins volle Menschenleben, Wo du es packst, da ist's interessant, aber freilich, die Hand, die diesen Griff tut, muß eine künstlerische sein. • Soll Kunst Ihrer Meinung nach auch die negativen, hässlichen Seiten der Wirklichkeit einbeziehen? Ist es Aufgabe der Kunst, die Wirklichkeit zu idealisieren? Diskutieren Sie diese Fragestellungen! Novelle (-' Priorität hat im poetischen Realismus die erzählende Dichtung, im Besonderen die Novelle und der Roman. Die Novelle soll ein bedeutungsvolles Ereignis aus dem Alltagsleben darstellen und durch das Aufzeigen einer Krisensituation vermitteln, „was Menschenleben überhaupt ist" (Friedrich Theodor Vischer). Das Wort Novelle kommt aus dem Italienischen (novella) und bedeutet „kleine Neuigkeit"3. Meist in Prosa geschrieben, gestaltet die Novelle eine tatsächliche oder vorstellbare Einzelbegebenheit mit einem zentralen Konflikt in einer geradlinig auf einen Zielpunkt hinführenden und geschlossenen Form. Das zeigt, dass sie dem Drama näher steht als dem Roman, dessen Handlung verzweigt und vielschichtig ist. Roman Der Gesellschaftsroman malt einen größeren Ausschnitt aus der Gesellschaft, wobei das gehobene Bürgertum, der niedere und mittlere Adel im Mittelpunkt stehen. Der Bildungsroman beschreibt die Entwicklung einer Einzelgestalt innerhalb der besitzbürgerlichen Welt. Diese zentrale Person muss lernen, sich in die Gesellschaft einzuordnen. Der historische Roman behandelt historisch-authentische Ereignisse und Personen und konfrontiert wichtige Abschnitte aus der Geschichte mit der Gegenwart. Drama Das Drama erreicht in der Zeit vor dem Naturalismus einen Tiefpunkt. Nur Friedrich Hebbel (1813-1863), der das literarische Programm des Realismus ablehnt und die klassisch-idealistische Tradition weiterführt, und der Österreicher Ludwig Anzengruber (1839-1889), der das Erbe des Wiener Volksstücks antritt und schon an der Schwelle zum Naturalismus steht, schreiben Dramen, die auch heute noch gespielt werden. Lyrik Die Lyrik der Epoche knüpft bei der Romantik und Klassik an. Besonders die Erlebnislyrik Goethes, liedhafte Texte Eichendorffs und Volkslieder sind Vorbilder für die Gedichte der Epoche. Diese haben die einfachen Gefühle (Liebe, Natur, Glück, Trauer, Sehnen, Erinnern, Suche nach Geborgenheit) zum Inhal t. Ballade Die Balladendichtung greift auf geschichtliche Begebenheiten und Heldenstoffe zurück oder setzt sich mit der modernen Technik auseinander. novus, novellus; tat: neu Zwei Beispiele epischer Dichtung Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe Diese Novelle von Gottfried Keller (1819-1890) erscheint 1856 in der berühmten Samml ung Die Leute von Seldwyla und beruht auf einer tatsächlichen Begebenheit: dem freiwilligen Tod zweier junger Menschen, deren Eltern in Feindschaft leben und in eine Verbindung ihrer Kinder nicht einwilligen. In einer Züricher Tageszeitung steht am 3. September 1847 zu lesen: Im Dorfe Altsellerhausen, bei Leipzig, liebten sich ein Jüngling von 19 Jahren und ein Mädchen von 17 Jahren, beide Kinder armer Leute, die aber in einer tödlichen Feindschaft lebten und nicht in eine Vereinigung des Paares willigen wollten. Am 15. August begaben Gottfried Keller 5 sich die Verliebten in eine Wirtschaft, wo sich arme Leute vergnügen, tanzten daselbst bis nachts 1 Uhr und entfernten sich hierauf. Am Morgen fand man die Leichen beider Liebenden auf dem Felde liegen; sie hatten sich durch den Kopf geschossen. Liebende als Verlorene Diesem Zeitungsbericht folgt der Inhalt von Kellers Novelle. Zwei Bauern, Manz und Marti, bringen einen Wandermusikanten, den schwarzen Geiger, um sein Erbe, zerstreiten sich wegen eines Ackerstücks and ruinieren sich gegenseitig durch langwierige Prozesse.. Die dadurch aussichtslose Liebe der Kinder (die erzählte Zeit umfasst ungefähr 12 Jahre, am Ende sind Sali und Vrenchen 19 und 17 Jahre alt) endet im Freitod. An dem schönen Flusse^der eine halbe Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht, erhebt sich eine weit gedehnte Erdwelle und verliert sich, selber wohlbebaut, in der fruchtbaren Ebene. Fern an ihrem Fuße liegt ein Dorf, welches manche große Bauernhöfe enthält, und über die sanfte Anhöhe lagen Vorjahren drei prächtige lange Äcker weithingestreckt gleich drei rie-5 sigen Bändern nebeneinander. An einem sonnigen Septembermorgen pflügten zwei Bauern auf zweien dieser Äcker, und zwar auf jedem der beiden äußersten; der mittlere schien seit langen Jahren brach und wüst zu liegen, denn er war mit Steinen und hohem Unkraut bedeckt und eine Welt von geflügelten Tierchen summte ungestört über ihm. Die Bauern aber, welche zu beiden Seiten hinter ihrem Pfluge gingen, waren lange knochige Männer von ungefähr 10 vierzig Jahren und verkündeten auf den ersten Blick den sichern, gut besorgten Bauersmann. Sie trugen kurze Kniehosen von starkem Zwillich, an dem jede Falte ihre unveränderliche Lage hatte und wie in Stein gemeißelt aussah. Wenn sie, auf ein Hindernis stoßend, den Pf lug fester faßten, so zitterten die groben Hemdärmel von der leichten Erschütterung, indessen die wohlrasierten Gesichter ruhig und aufmerksam, aber ein wenig blinzelnd in den Sonnenschein vor 15 sich hinschauten, die Furche bemaßen oder auch wohl zuweilen sich umsahen, wenn ein fernes Geräusch die Stille des Landes unterbrach. Langsam und mit einer gewissen natürlichen Zierlichkeit setzten sie einen Fuß um den andern vorwärts und keiner sprach ein Wort, außer wenn er etwa dem Knechte, der die stattlichen Pferde antrieb, eine Anweisung gab. So glichen sie einandervollkommen in einiger Entfernung; denn sie stellten die ursprüngliche Art dieser 20 Gegend dar, und man hätte sie auf den ersten Blick nur daran unterscheiden können, daß der eine den Zipfel seiner weißen Kappe nach vorn trug, der andere aber hinten im Nacken hängen hatte. Aber das wechselte zwischen ihnen ab, indem sie in der entgegengesetzten Rich- 236 bürgerlicher realismus tung pflügten; denn wenn sie oben auf der Höhe zusammentrafen und aneinander vorüberkamen, so schlug dem, welcher gegen den frischen Ostwind ging, die Zipfelkappe nach hinten 25 über, während sie bei dem andern, der den Wind im Rücken hatte, sich nach vorne sträubte. Es gab auch jedes Mal einen mittlem Augenblick, wo die schimmernden Mützen aufrecht in der Luft schwankten und wie zwei weiße Flammen gen Himmel züngelten. So pflügten beide ruhevoll, und es war schön anzusehen in der stillen goldenen Septembergegend, wenn sie so auf der Höhe aneinander vorbeizogen, still und langsam, und sich mählich voneinander ent- 30 fernten, immer-weiter auseinander, bis beide wie zwei untergehende Gestirne hinter die Wölbung des Hügels hinabgingen und verschwanden, um eine gute Weile darauf wieder zu erscheinen. Wenn sie einen Stein in ihren Furchen fanden, so warfen sie denselben auf den wüsten Acker in der Mitte mit lässig kräftigem Schwünge, was aber nur selten geschah, da derselbe schon fast mit allen Steinen belastet war, welche überhaupt auf den Nachbaräckern 35 zu finden gewesen. • Inwiefern drückt diese Eingangsszene Ruhe, Wohlanständigkeit, Sicherheit und Ordnung aus? • Und doch gibt es Hinweise auf eine mögliche Bedrohung dieser bäuerlichen Idylle, welche können Sie erkennen? Lesen Sie nun den Ganztext und arbeiten Sie in Gruppen oder schriftlich folgende Fragestellungen aus: 1. Wie werden die Kinder beim ersten Zusammentreffen beschrieben? Wie wirkt auf Sie das Spiel der beiden? Inwiefern prägt sich der tragische Konflikt schon deutlich aus? 2. Untersuchen Sie die Umstände, unter denen Sali und Vrenchen nach dem Streit der Väter aufwachsen! 3. Beschreiben Sie die Figur des „schwarzen Geigers"! Wie sprechen Manz und Marti in der Eingangsszene über ihn? Welche Stellung hat er in der Gesellschaft? Welche Funktion hat er für den Verlauf der Handlung? Welche symbolische Bedeutung verkörpert er? 4. Beschreiben Sie die Stationen des letzten Tages der beiden Liebenden! Welche Wünsche und Träume haben Sali und Vrenchen? Was bedeutet ihr Zusammentreffen mit den Dorfleuten? Welchen Symbolwert hat das „Paradiesgärtlein"? Vergleichen Sie diesen Ort mit den anderen Gasthäusern, die Sali und Vrenchen kennen! 5. Warum können die Liebenden den Vorschlag, ihr Leben außerhalb der Gesellschaft zu verbringen, nicht annehmen, warum sehen sie ihre Lage als aussichtslos an? 6. Was möchte Keller mit dem symbolischen Bild des Flusses am Ende der Novelle ausdrücken? Wie werden die geschlechtliche Vereinigung und der Tod des Paares beschrieben? 7. Hätte es Ihrer Meinung nach eine andere Möglichkeit für Sali und Vrenchen gegeben? Haben sie Schuld auf sich geladen? 8. Wie empfinden Sie die Reaktion der Zeitung? Hat der Tod des Liebespaares Auswirkungen auf die Gesellschaft? Suchen Sie entsprechende Berichte in österreichischen Boulevardzeituhgen! Was geht in Ihnen vor, wenn Sie diese lesen? bürgerlicher realismus Theodor Storm: Der Schimmelreiter Die Novelle Der Schimmelreüer (sie entsteht vom Juli 1886 bis zum Februar 1888) wird als die bedeutendste Dichtung der letzten Lebensperiode Theodor Storms (1817-1888) angesehen. Der Dichter, der im Laufe seines Schaffens nahezu 60 Novellen schreibt, sieht eine enge Verwandtschaft zwischen Novelle und Drama (Konzentration auf das Wesentliche, deutlich zugespitzter Konflikt) und bezeichnet diese Textsorte als strengste Form der Prosadichtung. Die Novelle Der Schimmelreiter besteht aus zwei Rahmen und aus einer mehrfach unterbrochenen Binnenerzählung. Im ersten Rahmen, der 1888 spielt, berichtet der Dichter, was er vor gut 50 Jahren im Haus seiner Urgroßmutter erfahren hat: Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kundgeworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe eingebundenen Zeit-schriftenheftes beschäftigte; ich vermag mich nicht mehr zu entsinnen, ob von den „Leip-5 ziger" oder von „Pappes Hamburger Lesefrüchten". Noch fühl ich es gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt. Sie selbst und jene Zeit sind längst begraben; vergebens auch habe ich seitdem jenen Blättern nachgeforscht, und ich kann daher um so weniger weder die Wahrheit der Tatsachen verbürgen, als, wenn jemand sie bestreiten wollte, dafür aufstehen; nur soviel kann 10 ich versichern, daß ich sie seit jener Zeit, obgleich sie durch keinen äußeren Anlaß in mir aufs neue belebt wurden, niemals aus dem Gedächtnis verloren habe. Als zweiten Rahmen führt Storm einen weiteren Erzähler, einen Reisenden, ein (Zeitebene um 1830). Er reitet bei starkem Unwetter einen Deich in Nordfriesland entlang, wobei ihm mehrmals eine auf hagerem Schimmel mit fliegendem Mantel unheimlich lautlos vorbeihuschende Männergestalt erscheint, die schließlich in einer Bucht verschwindet. Es war im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, an einem Oktobernachmittag -so begann der damalige Erzähler -, als ich bei starkem Unwetter auf einem nordfriesischen Deich entlangritt. Zur Linken hatte ich jetzt schon seit über einer Stunde die öde, bereits von allem Vieh geleerte Marsch, zur Rechten, und zwar in unbehaglichster Nähe, das Wattenmeer der Nordsee; zwar sollte man vom Deiche aus auf Halligen und Inseln sehen können; aber ich sah nichts als die gelbgrauen Wellen, die unaufhörlich wie mit Wutgebrüll an den Deich hinaufschlugen und mitunter mich und das Pferd mit schmutzigem Schaum bespritzten; dahinter wüste Dämmerung, die Himmel und Erde nicht unterscheiden ließ; denn auch der halbe Mond, der jetzt in der Höhe sta nd, war meist von treibendem Wolkendunkel überzogen. Es war eiskalt; meine verklommenen Hände konnten kaum den Zügel halten, und ich verdachte es nicht den Krähen und Möwen, die sich fortwährend krächzend und gackernd vom Sturm ins Land hineintreiben ließen. Die Nachtdämmerung hatte begonnen, und schon konnte ich nicht mehr mit Sicherheit die Hufen meines Pferdes erkennen; keine Menschenseele war mir begegnet, ich hörte nichts als das Geschrei der Vögel, wenn sie mich oder meine treue Stute fast mit den langen Flügeln streiften, und das Toben von Wind und Wasser. Ich leugne nicht, ich wünschte mich mitunter in sicheres Quartier. Das Wetter dauerte jetzt in den dritten Tag, und ich hatte mich schon über Gebühr von einem mir besonders lieben Verwandten auf seinem Hofe halten lassen, den er in einer der nördlicheren Harden1 besaß. Heute aber ging es nicht länger; ich hatte Geschäfte in der Stadt, die 10 15 Hauke Haien auf seinem Schimmel (Federzeichnung von Otto Ubbelohde) Harden: Verwaltungsbezirk in Dänemark und Schleswig 238 239 bürgerlicher realismus bürgerlicher realismus 20 auch jetzt wohl noch ein paar Stunden weit nach Süden vor mir lag, und trotz aller Überredungskünste des Vetters und seiner lieben Frau, trotz der schönen selbstgezogenen Perinette-und Grand-Richard-Äpfel, die noch zu probieren waren, am Nachmittag war ich davongerit-ten. „Wart nur, bis du ans Meer kommst", hatte er noch an seiner Haustür mir nachgerufen; „du kehrst noch wieder um; dein Zimmer wird dir vorbehalten!" 25 Und wirklich, einen Augenblick, als eine schwarze Wolkenschicht es pechfinster um mich machte und gleichzeitig die heulenden Böen mich samt meiner Stute vom Deich herabzudrängen suchten, fuhr es mir wohl durch den Kopf. >Sei kein Narr! Kehr um und setz dich zu deinen Freunden ins warme Nest.< Dann aber fiel's mir ein, der Weg zurück war wohl noch länger als der nach meinem Reiseziel; und so trabte ich weiter, den Kragen meines Mantels 30 um die Ohren ziehend. Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und imVorbeifliegen sa-35 hen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an. Wer war das? Was wollte der? -Und jetzt fiel mir bei, ich hatte keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen; und Roß und Reiterwaren doch hart an mir vorbeigefahren! In Gedanken darüber ritt ich weiter, aber ich hatte nicht lange Zeit zum Denken, schon fuhr es von rückwärts wieder an mir vorbei; mir war, als streifte mich der fliegende Mantel, und die 40 Erscheinung war, wie das erste Mal, lautlos an mir vorübergestoben. Dann sah ich sie fern und ferner vor mir; dann war's, als sah ich plötzlich ihren Schatten an der Binnenseite des Deiches hinuntergehen. Etwas zögernd ritt ich hintendrein. Als ich jene Stelle erreicht hatte, sah ich hart am Deich im Kooge2 unten das Wasser einer großen Wehle blinken - so nennen sie dort die Brüche, welche 45 von den Sturmfluten in das Land gerissen werden und die dann meist als kleine, abertiefgrün-dige Teiche stehen bleiben. Das Wasser war, trotz des schützenden Deiches, auffallend bewegt; der Reiter konnte es nicht getrübt haben; ich sah nichts weiter von ihm. Aber ein anderes sah ich, das ich mit Freuden jetzt begrüßte: vor mir, von unten aus dem Kooge, schimmerten eine Menge zerstreuter Licht- 50 scheine zu mir herauf, sie schienen aus jenen lang gestreckten friesischen Häusern zu kommen, die vereinzelt auf mehr oder minder hohen Werften lagen, dicht vor mir aber auf halber Höhe des Binnendeiches lag ein großes Haus derselben Art; an der Südseite, rechts von der Haustür, sah ich alle Fenster erleuchtet; dahinter gewahrte ich Menschen und glaubte trotz des Sturmes sie zu hören. Mein Pferd war schon von selbst auf den Weg am Deich hinabgeschritten, der 55 mich vor die Tür des Hauses führte. Ich sah wohl, daß es ein Wirtshaus war; denn vor den Fenstern gewahrte ich die sogenannten „Ricks", das heißt auf zwei Ständern ruhende Balken mit großen eisernen Ringen, zum Anbinden des Viehes und der Pferde, die hier haltmachten. (Fortsetzung und Beginn des zweiten Rahmens) • Untersuchen Sie genau, wie am Beginn des zweiten Rahmens das Wetter, die Natur und das Meer geschildert werden. Mit welchen Worten, Wendungen bzw. Sätzen beschwört Storni eine unheimliche Atmosphäre? ♦ Vergleichen Sie damit die Schilderung des Morgens, an dem der Erzähler dieses zweiten Rahmens „über den Hauke-Haien-Deich zur Stadt hinunterreitet" (letzte Seite der Novelle)! Kooge: flaches Marschland In einem nahe gelegenen Wirtshaus findet der Mann Schutz vor dem Unwetter; die anwesenden Männer von der Deichwache erklären ihm, die spukhafte Gestalt sei der Unheil verkündende „Schimmelreiter" gewesen. Der Schulmeister jedoch, der gegenüber dem Aberglauben der anderen eine Gegenposition einnimmt, beginnt die Geschichte zu erzählen, die nun das Zentrum der Novelle - die Binnenerzählung - bildet. Hier wird mehrfach vom Erzähler und vom Schulmeister kommentierend und wertend unterbrochen. Die Unterbrechungen gliedern das Geschehen in Sinnabschnitte oder, wie oben angedeutet, in Akte wie ein Drama. Hauke Haien, Sohn eines Laridvertnessers und Kleinbauern, setzt sich, anstatt sich mit Gleichaltrigen zu treffen, viel lieber mit der Arbeit seines Vaters auseinander. Er sieht dem Vater zu und hilft ihm beim Ausmessen und Berechnen von Landstücken. So lernt er extra Niederländisch, um ein in dieser Sprache erschienenes Werk Euklids lesen zu können. Fasziniert scheint er besonders von der See und von den Deichen zu sein. Oft sitzt er bis in die späte Nacht am Deich und beobachtet, wie die Wellen an den Damm schlagen. Er überlegt, wie man den Schutz vor Sturmfluten verbessern könnte, indem man die Deiche zur See hin länger anlegen würde. Manchmal nimmt er auch ein bisschen Kleierde mit nach Hause und knetet bei Kerzenschein Deichmodelle, die er dann in einem Wasserbecken testet, indem er künstliche Wellen erzeugt. Dem Vater ist diese Gelehrsamkeit bald zu viel. Wie sehr die Entwicklung des jungen, einsam in Gesellschaft des wortkargen Vaters, ganz sich selbst überlassen, ohne Mutter und etwas wild aufgewachsen, zum Schlechten geraten droht, zeigt sich, als er in plötzlich aufwallendem Zorn den Angorakater der alten Trin Jens erwürgt. Der Vater gibt ihn in den Dienst des altersmüden, geistig schwerfälligen Deichgrafen Jede Volkerls ah Kleinknecht. Damit ist vor allem dessen Tochter Elke einverstanden, denn die vielen Rechnungen von Amtsgeschäften bereiten dem Vater viele Kopfschmerzen; fortan kann dieser auf die Hilfe des Schulmeisters verzichten und alles dem geschickten Hauke überlassen, der auch bald unentbehrlich zoird. Ein Feind fürs Leben erwächst ihm freilich gleichzeitig in Ole Peters, dem Großknecht, als dieser Haukes geistige Überlegenheit verspürt und Elkes Zuneigung für den verhassten Knecht erkennt. Beim winterlichen Eisboselnbemüht er sich vergeblich, Hauke auszuschließen; er muss sogar erleben, wie dieser als gefeierter Sieger aus dem Turnier hervorgeht, und mehr noch, wie Elke beim abendlichen Tanzvergnügen nur mehr Augen für Hauke hat. Endlich kündigt Ole seinen Dienst und heiratet trotzig die grobe, dicke Vollina, Tochter des Deichbevollmächtigten Jeß Härders. Wachen Sinns überwacht Hauke den Deich und bringt frischen Schwung in die vernachlässigten Geschäfte des Deichgrafen. Zwischen ihm und Elke hat sich aus einer anfänglichen Wertschätzung wahre Liebe entwickelt. Der äußere Rahmen wird am Ende der Novelle nicht geschlossen, womit am Schluss die Spannung gewissermaßen erhalten bleibt. Storm lässt erst den Binnenerzähler und anschließend den Erzähler des inneren (zweiten) Rahmens verstummen. Lesen Sie den Gesamttext dieser Novelle, in der Theodor Storm Themen wie „Mensch und Natur", „der Einzelne und die Gemeinschaft", „Reales und Irreales" und „Schuld und Untergang" dichterisch reflektiert, und bearbeiten Sie in Kleingruppcn und/oder schriftlich folgende Arbeitsaufgaben bzw. Fragestellungen! Belegen Sie Ihre Aussagen mit passenden Textstellen! 1. Geben Sie einen Überblick über das Leben und Werk Theodor Storms und dessen Beitrag zur Novellentheorie! Welche anderen Dichter des 19. Jahrhunderts äußern sich noch zum Thema bzw. zur Textsorte „Novelle"? bürgerlicher realismus bürgerlicher realismus 2. Fassen Sic Inhalt und Aufbau der Novelle zusammen und charakterisieren Sie die einzelnen Erzähler, im Besonderen den „Schulmeister"! Wie wird dieser vom Erzähler des zweiten Rahmens beschrieben und charakterisiert? Inwiefern erweist er sich als allwissender (auktorialer) Erzähler? 3. Suchen Sie die Textstellen in der Binnenerzählung (beachten Sie dabei auch die zweite und dritte Unterbrechung), in denen die Natur (Sturm, Wolken, Meer, Sturmflut) geschildert wird! Wie sieht Storni bzw. zeigt sich das Verhältnis zwischen Mensch und Natur? Welche Beziehung hat Hauke Haien zur Natur, zu den Naturgewalten? Inwiefern unterscheidet sich seine Haltung von der seiner Dorfgemeinschaft? Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang der gewaltige neue Deichbau? 4. In welchen Handlungsteilen bzw. Textstellen tritt das Irrationale, Dämonische, Unheimliche und Unerklärliche besonders zutage? Welche Personen sind dem Irrationalen im großen Maße verbunden, welche denken eher rational? Welche Einstellung haben Sie persönlich zu dieser Thematik? 5. Untersuchen und beschreiben Sie Hauke Haiens Wesen, seine Entwicklung und sein Verhältais zu wichtigen Personen der Dorfgemeinschaft! Welche Schuld lädt er auf sich? Beschreiben Sie den Untergang des Deichgrafen und seiner Familie! 6. Wie sehen und beurteilen Sie Haukes Beziehimg zu seiner Frau und seiner Tochter? 7. Charakterisieren Sie die Männer der Dorfgesellschaft: Tede Haien, Tede Volkerts, Jewe Manners, Ole Peters! Worin unterscheiden sich diese von Hauke Haien? 8. Untersuchen Sie die Gestaltung der drei wichtigen Frauenfiguren der Novelle und ihre Stellung in der Dorfgemeinschaft: Vollina Härders, Trin Jans, Elke Volkerts. Welche Funktion haben diese jeweils für das Verständnis der Leserin/des Lesers für die Entwicklung Hauke Haiens? 9. Der Hauptkonflikt ist das unterschiedliche Verhalten Hauke Haiens und der Dorfgemeinschaft gegenüber der Gefährdung des Lebens und des Lebensraums durch das Meer und die Naturgewalten. Bereiten Sie einen durch passende Textstellen belegten Kurzvortrag zu dieser Hypothese vor! Beispiele realistischer Lyrik Im Vorwort der Gedichtanthologie Hausbuch aus deutschen Dichtern bekennt sich Theodor Storm programmatisch zur Erlebnis-und Stimmungsdichrung. Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden; am vollendetsten erscheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht. - Der bedeutendste Gedankengehalt aber, und sei er in den wohlgebautesten Versen eingeschlossen, hat in der Poesie keine Berechtigung und wird als toter Schatz am Wege liegen bleiben, wenn er nicht zuvor durch das Gemüt und die Phantasie des Dichters seinen Weg genommen 10 und dort Wärme und Farbe und womöglich körperliche Gestalt gewonnen hat.-An solchen toten Schätzen sind wir überreich. [...] Am ärmsten scheint mir unsre patriotische und sogenannte politische Lyrik. So unzweifelhaft es ist, daß das Leben in Staat und Gemeinde ein ebenso berechtigter Gegenstand für die menschliche Empfindung und daher für die Lyrik ist, als das Einzel- oder Familienleben, so ist 15 es hier, wie in der Natur dieser poesismilitans liegt, doch weit seltener gelungen, den Stoff von dem Boden der bloßen Wirklichkeit abzulösen und andrerseits sich nicht an rhetorischer Phrase und Bildermacherei genügen zu lassen. « Welche Aufgabe sieht für Storm die Kunst? Was fordert der Dichter von der Lyrik? Wogegen grenzt Storm seinen Lyrikbegriff ab? • Vergleichen Sie die Ausführungen Storms mit den sozialgeschichtlichen Aspekten des poetischen Realismus! In welchen Punkten entspricht das Programm Storms dem damaligen „Zeitgeist"? Das folgende Gedicht ist die lyrische Umsetzung von Storms Liebe zur Natur und zeigt ein Stimmungsbiid aus seiner Heimatstadt Husum. Die Stadt Am grauen Strand, am grauen Meer Und seitab liegt die Stadt; Der Nebel drückt die Dächer schwer, Und durch die Stille braust das Meer 5 eintönig um die Stadt. Es rauscht kein Wald, esjchlägt im Mai Kein Vogel ohn Unterlaß; Die Wandergans mit hartem Schrei Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei, 10 Am Strande weht das Gras. Der Text geht von einem konkreten Bild aus und endetmit einem Erinnern, mit einem Gefühl. Im Mittelpunkt der ersten zwei Strophen steht nich t die Stadt, wie es der Titel vermuten lässt, sondern das Meer und die Küstenlandschaft. (Beachten Sie die Häufigkeit des Wortes „Meer" als Reimwort!) • Wodurch wird der Eindruck der Monotonie (Eintönigkeit der Landschaft) in den Strophen 1 und 2 erweckt? Untersuchen Sie unter diesem Aspekt Reim, Wortwahl, Klang und Rhythmus! • Die dritte Strophe beginnt mit einem „doch". Inwiefern drückt sie etwas Gegensätzliches aus? • Diskutieren Sie, inwiefern das Gedicht dem oben zitierten Lyrikprogramm Storms entspricht! 15 Doch hängt mein ganzes Herz an dir, Du graue Stadt am Meer; Der Jugend Zauber für und für Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir. Du graue Stadt am Meer. Theodor Storm 242 243 bürgerlicher realismus bürgerlicher realismus • Vergleichen Sie den lyrischen Text Storms mit dem Gedicht Der Gott der Stadt von Georg Ileym im Kapitel Expressionismus, Seite 299! • Welche inhaltlichen und formalen Unterschiede können Sie feststellen? Die Religionskritik Ludwig Feuerbachs Gottfried Keller (1819-1890) setzt sich sehr wohl mit den Realitäten seiner Zeit auseinander und ist den neuen liberalen Ideen gegenüber durchaus aufgeschlossen. 1848 lernt er den Philosophen Ludwig Feuerbach (1804-1872) kennen, der ihm durch seine Theologie- und Religionskritik (Wesen der Religion, 1885) die Augen für die Schönhei ten der irdischen Welt öffnet. Feuerbach lehrt, dass die Religion eine Selbstanbetung des Menschen sei, der seine Wünsche und Sehnsüchte auf Gott projiziere. Der Einzelne habe aber die Pflicht, all seine Kräfte und Liebe zum Wohle der ganzen Gesellschaft einzusetzen. Keller, der die barocke Aufspaltung der Welt und des „Lebens" in Diesseits und Jenseits ablehnt, formuliert seine Verwurzelung im Diesseits so: 10 15 Die Welt ist mir unendlich schöner und tiefer geworden, das Leben ist intensiver und wertvoller, der Tod ernster, bedenklicher und fordert mich nun erst mit aller Machtauf, meine Aufgabe zu erfüllen und mein Bewußtsein zu reinigen und zu befriedigen, da ich keine Aussicht habe, das Versäumte in irgendeinem Winkel der Erde nachzuholen. Abendlied Augen, meine lieben Fensterlein, gebt mir schon so lange holden Schein, lasset freundlich Bild um Bild herein: einmal werdet ihrverdunkeltsein! Fallen einst die müden Lider zu, löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh; tastend streift sie ab die Wanderschuh, legt sich auch in ihre finstre Truh. Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn wie zwei Sternlein, innerlich zu sehn, bis sie schwanken und dann auch vergehn wie von eines Falters Flügelwehn. Doch noch wandl ich auf dem Abendfeld, nur dem sinkenden Gestirn gesellt; trinkt, o Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluss der Welt! ----« -aacy^^ Abendliedvon G. Keller in seiner eigenen Handschrift / Marie von Ebner-Eschen-bach • Das lyrische Ich, ein alter Mann, sieht den kommenden Tod und das Sterben aus der Sicht eines Menschen ohne Jensei tsglauben. Wel che Bilder und Ausdrücke weisen daraufhin, dass das lyrische Ich fortgeschrittenen Alters ist? • Wie empfindet Keller das völlige Auslöschen menschlichen Lebens? Mit welchen Bildern drückt er diese Empfindungen aus? • Welchen Zusammenhang können Sie zwischen dem friedvoll-harmonischen Tnhalt und der sprachlichen Gestaltung (Lautmalerei, Endreim, Alliteration5) sehen? • Diskutieren Sie die Meinung, die Feuerbach und Keller vertreten! • inwieweit ist dieses Gedicht noch zeitgemäß, kann es Ihnen persönlich etwas „sagen" Österreichische Autorinnen und Autoren der Epoche In Österreich kommt es bereits in der Zeit des Realismus zu einer Entwicklung hin zum europäischen Naturalismus. In Wien hatte der programmatische Naturalismus nicht Fuß gefaßt, vor allem deshalb nicht, weil die österreichischen Realisten, etwa Ludwig Anzengruber, Ferdinand von Saar und Marie von Ebner-Eschenbach-alle drei in den 1830er Jahren geboren, ein Jahrzehnt, das in Deutschland außer Wilhelm Raabe keinen bedeutenden Schriftsteller hervorbrachte - in ihrer Thematik und zum Teil in ihrem Sprachgebrauch ohne Programm das taten, was die deutschen Naturalisten programmatisch forderten. (Ehrhard Bahr) Kritik an der Aristokratie Marie von Ebner-Escltenbach (1830-1916) ist eine kritische Beobachterin ihrer aristokratischen Standesgenossen und deren geringen sozialen Verantwortungsgefühls. Ihre Erzählkunst ist von einem sozialen Mitgefühl und Verständnis für die Nöte der Armen und Hil flosen geprägt. („Es gäbe keine soziale Frage, wenn die Reichen von jeher Menschenfreunde gewesen wären.") Ihr Roman Das Gemeindekind und die Erzählungen Die Spitzin und Er lässt die Hand küssen beschreiben die Ohnmacht der sozial unterdrückten Landbevölkerung. Die Spitzin (Ausschnitt) Zigeuner waren gekommen und hatten ihr Lager beim Kirchhof außerhalb des Dorfes aufgeschlagen. Die Weiber und Kinder trieben sich bettelnd in der Umgebung herum, die Männer verrichteten allerlei Flickarbeit an Ketten und Kesseln und bekamen die Erlaubnis, so lange dazubleiben, als sie Beschäftigung finden konnten und einen kleinen Verdienst. 5 Diese Frist war noch nicht um, eines Sommermorgens aberfand man die Stätte, an der die Zigeuner gehaust hatten, leer. Sie waren fortgezogen in ihren mit zerfetzten Piachen überdeckten, von jämmerlichen Mähren geschleppten Leiterwagen. Von dem Aufbruch der Leute hatte niemand etwas gehört noch gesehen; er mußte des Nachts in aller Stille stattgefunden haben. Die Bäuerinnen zählten ihrGeflügel, die Bauern hielten Umschau in denScheunen und Alliteration: Stabreim; gleicher Anlaut der betonten Silben aufeinanderfolgender Wörter jMge^icherrealismus bürgerlicher realismus 10 15 20 25 30 35 40 Ställen. Jeder meinte, die Landstreicher hätten sich etwas von seinem Gute angeeignet und dann die Flucht ergriffen. Bald aber zeigte sich, daß die Verdächtigen nicht nur nichts entwendet, sondern sogar etwas dagelassen hatten. Im hohen Grase neben der Kirchhofmauer lag ein splitternacktes Knäblein und schlief. Es konnte kaum zwei Jahre alt sein und hatte eine sehr weiße Haut und spärliche hellblonde Haare. Die Witwe Wagner, die es entdeckte, als sie auf ihren Rübenacker ging, sagte gleich, das sei ein Kind, das die Zigeuner, Gott weiß wann, Gott weiß wo, gestohlen und jetzt weggelegt hatten, weil es elend und erbärmlich war und ihnen niemals nützlich werden konnte. Sie hob das Bübchen vom Boden auf, drehte und wendete es und erklärte, es müsse gewiß irgendwo ein Merkmal haben, an dem seine Eltern, die ohne Zweifel in Qual und Herzensangst nach ihm suchten, es erkennen würden, „wenn man das Merkmal in die Zeitung setze". Doch ließ sich kein besonderes Merkmal entdecken und auch später trotz aller Nachforschungen, Anzeigen und Kundmachungen weder von den Zigeunern noch von der Herkunft des Kindes eine Spur finden. S. Die alte Wagnerin hatte es zu sich genommen und ihre Armut mit ihm geteilt, nicht nur aus Gutmütigkeit, sondern auch in der stillen Hoffnung, daß seine Eltern einmal kommen würden in Glanz und Herrlichkeit, es abzuholen und ihr hundertfach zu ersetzen, was sie für das Kindlein getan hatte. Abersiestarb nach mehreren Jahren, ohne den erwarteten Lohn eingeheimst zu haben, und jetzt wußte niemand, wohin mit ihrer Hinterlassenschaft - dem Findling. Ein Armenhaus gab es im Dorf nicht, und die Barmherzigkeit war dort auch nicht zu Hause. Wen um Gottes willen ging das halb verhungerte Geschöpf etwas an, von dem man nicht einmal wußte, ob es getauft war? „Einen christlichen Namen darf man ihm durchaus nicht geben", hatte der Küster von Anfang an unter allgemeiner Zustimmung erklärt, aber auf die Frage der Wagnerin: „Was denn für einen?" keine Antwort gewußt. „Geben S' ihm halt einen provisorischen", war die Entscheidung gewesen, die endlich der Herr Lehrer getroffen, und die halb taube Alte hatte nur die zwei ersten Silben verstanden und den Jungen Provi und nach seinem Fundorte Kirchhofgenannt. Nach ihrem Tode waren alle darüber einig, daß dem Provi Kirchhof nichts Besseres zu wünschen sei als eine recht baldige Erlösung von seinem jämmerlichen Dasein. Der Armselige lebte vom Abhub, kleidete sich in Fetzen - abgelegtes Zeug, ob von kleinen Jungen, ob von kleinen Mädchen, galt gleich -, ging barhäuptig und barfüßig, wurde geprügelt, beschimpft, verachtet und gehaßt und prügelte, beschimpfte, verachtete und haßte wieder. Als für ihn die Zeit kam die Schule zu besuchen, erhielt er dort zu den zwei schönen Namen, die er schon hatte, einen dritten, „der Abschaum", und tat, was in seinen Kräften lag, um ihn zu rechtfertigen. • Welche Erzählperspektive verwendet die Erzählerin? • „Zigeuner" gilt heute als abwertende Bezeichnung für die Sinti und Roma und wird in politisch korrektem Sprachgebrauch nicht mehr verwendet, Was wissen Sie über diese Bevölkerungsgruppe? Welches Schicksal erfährt sie in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und Österreich? Wie urteilen im Text die Dorfbewohner über die „Zigeuner"? • Wie verhalten sich die Menschen im Dorf gegenüber dem Findelkind? • In Zeitungen liest man auch heute noch von weggelegten Säuglingen. Welche Gründe könnten damals bzw. heute für so eine Tat ausschlaggebend sein? Ferdinand von Saar Saars gesellschaftskritisclier Ansatz Ferdinand von Saar (1833-1906), ebenso wie Ebner-Eschenbach aus adeliger Familie, beschreibt in seinen Novellen aus Österreich (1876) sowohl Angehörige des Adels als auch Menschen der unteren sozialen Randgruppen. Saar sagt ausdrücklich: „Jede meiner Novellen ist ein Stück österreichischer Zeitgeschichte." In Die Steinklopfer macht Saar die proletarische Arbeitswelt (Bau der Semmeringbahn) zum Thema. Der ehemalige Soldat und Steinbrucharbeiter Georg erschlägt aus Notwehr einen brutalen und gefühllosen Aufseher. Nach Verbüßung einer müden Haftstrafe findet er mit dessen Ziehtochter Tertschka ein spätes Glück. Georg meldet sich beim A ufseher zur Arbeit. Der Aufseher - denn er war es - trat mit der ganzen Wucht seines vierschrötigen Wesens vor den Kleinen hin und musterte ihn von oben bis unten. „Zur Arbeit? Der Kerl kann ja kaum auf den Füßen stehen!" 5 „Ich hab' einen weiten Weg gemacht", sagte der andere schüchtern. „Vom Ottertal herüber." „Das ist auch was!" höhnte der Aufseher, indem er beim Schein des Zwielichtes in den Zettel sah, der ihm mit bebender Hand überreicht wurde. „Huber nennst 10 du dich?" fragte er nach einer Pause, aufblickend. „Ja; Georg Huber." „Wie kommst du zu dem Soldatengewand?" „Ich bin Urlauber." „Was? Du hast beim Militär gedient?" 15 „Sieben Jahre; im zwölften Regiment. Jetzt aber haben sie mich heimgeschickt, weil ich das böse Fieber nicht loskriegen kann, das ich mir bei der Belagerung von Venedig geholt." „So, das Fieber hast du auch? Was die in der Baukanzlei für Leute aufnehmen! Lauter Krüppel, die man nur zum Steineklopfen verwenden kann; und da wundern sie sich, daß es nicht vorwärts geht. Aber merk' dir's, du", fügte er mit einer drohenden Handbewegung bei, „wenn 20 du nicht täglich deine zwei Fuhren Schotter zuwege bringst, so jag' ich dich fort! Hier ist kein Spital." Und damit langte er wieder nach dem Korbe und ging, während die andern folgten, in die Hütte, wo er an der Hinterwand eine mit Eisen beschlagene Tür aufschloß. • "Wie macht der Aufseher Georg zum Außenseiter? • Spielen Sie die kurze Szene, achten Sie dabei auf Mimik und Gestik der Rollenträger! Der Schluss zeigt jedoch, dass Saar den gesellschaftskritischen Ansatz in eine biedermeterlich verklärte Idylle umkehrt. Der Dichter sieht die Ohnmacht und das Leiden der Arbeiter nicht gesellschaftsbedingt, sondern als Teil des tragischen Leidens, das die gesamte Menschheit erdulden muss. Er will zeigen, „wie Leid und Lust jedes Menschenherz bewegen und dass sich überall im Kleinen abspielt die große Tragödie der Welt". Bau der Semmeringbahn (zeitgenössische Lithografie, 1850) 246 247 BÜRGERLICHER Rj^AUSMlK 10 15 20 Dort, wo die schwärzlichen Schienen längs der rauschenden Mur, an grünen Wiesen und anmutigen Auen vorüber, sich hinziehen, im Umkreise des Schlosses Ehrenhausen, das von einem bewaldeten Hügel freundlich auf den Ort gleichen Namens hinabschaut, steht ein einsames Bahnwächterhaus. Ein winziges Stückchen Feld, mit Mais und Gemüse bepflanzt, liegt dahinter, und vor der Tür, umfriedet von einer dichten Bohnenhecke, blühen rötliche Malven und groß-häuptige Sonnenblumen. In diesem kleinen Anwesen, das den Vorüberfahrenden gar still und friedlich anmutet, leben, wie sie es einst kaum zu hoffen gewagt, Georg und Tertschka seit mehr als .fünfzehn Jahren als Mann und Frau, und es braucht wohl nicht eigens bemerkt zu werden, daß ihnen der Oberst dazu verholfen hatte. Man merkt kaum, daß sie älter geworden, und sie verrichten gemeinsam den Dienst, der ihnen bei Tag und Nacht schwere Verantwortlichkeit auferlegt. Aber sie finden dennoch nebenher Zeit und Gelegenheit, ihr Streifchen Feld zu bebauen, eine Ziege samt einigen gackernden Hühnern zu halten und zwei flachshaarige Kinder aufzuziehen, die sich als willkommene Spätlinge eingestellt haben und ganz munter hinter dem Bohnenzaune heranwachsen. Auch trauliche Abendstunden sind ihnen vergönnt, wo sie Hand in Hand vor der Türe sitzen, der untergehenden Sonne nachschauen und noch immer den Tag preisen, an welchem sie sich zum ersten Male auf der Höhe des Semmerings begegnet. Und dann zieht die Vergangenheit mit allen Leiden und Freuden an ihnen vorüber -bis zu jenem Augenblicke, wo das Verhängnis schwer und furchtbar über sie hereingebrochen war - und doch ihr Glück begründet hatte. Und wenn dann in die Helle ihrer Brust ein trüber, dunkler Schatten fallen will, dann rufen sie schnell die Kleinen heran, die sich liebkosend in die Arme der Eltern schmiegen und mit den großen Kinderaugen so harmlos in die Welt hineinblicken, als lebten sie nicht den wechselvollen Schicksalen entgegen, die sich forterben von Geschlecht zu Geschlecht, so lange noch Menschen atmen auf der alternden Erde. • Weisen Sie in diesem Schlussteil der Novelle die sentimental verklärte Idylle nach! Welche Wörter bzw. Sätze scheinen Ihnen besonders biedermeierlich? • Welche Textstelle ist eine Anspielung auf den von Ferdinand von Saar melancholisch erahnten Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie? bürgerucherreausmus^^ Bürgerlicher Realismus (1848-1885) Bild der Epoche Diese Epoche beginnt 1848 mit dem Scheitern der bürgerlichen Revolution und endet mit dem Aufkommendes Naturalismus, der das Leben und die sozialen Probleme des Arbeiterstandes und der notleidenden Menschen beschreibt. Nachder Einigung Deutschlands (1871) kommt es zum wirtschaftlichen Aufschwung und zui Industrialisierung, die im sozialen Bereich vor allem die Verschärfung der Gegensätze zwischen_Bürgertum (Industriekapitalismus) und Proletariat (4. Stand) zur Folge hat. Karl Marx und Friedrich Engels schreiben das Manifest der kommunistischen Partei.__ Viele Dichter ziehen sich in eine apolitische Innerlichkeit zurück und grenzen sich so auch von der radikalen Wirklichkeitab. Humor und Ironie in der Dichtung sollen den Widerspruch zwischen persönlicher Wunschyorstellung und objektiver Wirklichkeit auflösen. Die Literaturproduktion erlebt ejnenj^ufschwung: Leihbüchereien und Volksbibliotheken entstehen, Wochenzeitschriften (Gartenlaube, illustriertes Familienblatt) und Illustrierte werden _. verlegt. Viele Autorinnen unterwerfen sich den Zwängen der Massenproduktion und dem Ceschmackbrei ter Leserschichten. Programm und Formen des poetischen Realismus Der Name „poetischer Realismus" stemmt von_Ottq Ludwig^er wendeisicJxgegerLdieide- _ _alisierCT^rTTendenzen der Romantik undJKlassik und auch gegen die Tenrlpnypnpsip Hps_ _ Iur|gen Deutschland und Vormärz. Im Mittelpunkt der Dichtung steht der Bürger (Gelehrter, ^Kaufmann, Handwerker) in der Gemeinschaft; der Mensch wird ohne Beziehung zum Metaphysischen gesehen und.es werden eherjite. Sonaenseiteji des Lebens beschrieben. Bevorzugte Gattungen realistischer Dichtung sind neben der Lyrik (auch Balladen), die sich teilweise an klassischen und romantischen Lyrikformen orientiert, und_dem Drama (Friedrich Hebbel, Ludwig Anzengruber) die Novelle und der Roman (Gesellschaftsroman, Bildungsroman, historischer Roman). Autoren Gottfried Keller, einer der bekanntesten Schweizer Erzähler dieser Zeit, schreibt Die Leute von Seldwyla (darin enthalten ist Romeo und Julia auf dem Dorfe), Züricher Novellen, Der grüne Heinrich und Lyrik. Der in Norddcutschland geborene Jurist Theodor Storm schreibt vor allem von der Grundstimmung der Vergänglichkeit getragene Gedichte, Erzählungen und Novellen: Späte Rosen, Viola Tricolor, Aquis submersus, Pole Poppenspäler, Immensee, Der Schimmelreiter. Theodor Fontane ist der Schöpfer des deutschen realistischen Gesellschaftsromans, beliebt ~sind auch seine Balladen: ArchibaU Douglas, Die Brücke am Tay, lohn Maynard, Herr von Ribbeck. Seine bekanntesten epischen Texte sind Irrungen Wirrungen. Effie Briest. Der Stechlin, Grete Minde, Schach von Wuthenow und Unterm Birnbaum. Osterreichische Autorinnen und Autoren der Epoche In der österreichischen Literatur kommt es bereits in der Zeit des späten Realismus zu einer Hinwendung zu naturalistischen Inhalten. Die aus Mähren sJammende_Adelige Marie_yon Ebnjjr-Eschenbach beobachtet sehr kritisch JHräadeligen Standesgenossen und die Lebensverhältnisse der unterdrücktenländlichen Bevölkerung. Sie schreibt vor allem Romane (Bozena, Das Gerneindekind) und Erzählungen (Die ~SpttzBi7Kfmnbcmbuli, Er lässt die Hand küssen). Ferdinand von Saar, ein verarmter Adeliger, beschreibt in seinen Novellen aus Österreich (Die Steinklopfer) das Leben adeliger Menschen, aber auch das der Armen und Hilflosen. 248 249