Käthe Kollwitz (1867-1945), , Vom Friedhof der März- . 1915 Gustav Kirnt (1862-1918), Widmungsblatt für Rudolf von Alt, Ver Sacrum, 1900 210 Vom Naturalismus, dessen Prinzipien die erste der hier abgedruckten Abbildungen folgt, setzten sich bald eine Reihe von Gegenströmungen ab. Zu ihnen gehörte auch der Jugendstil, der durch unser zweites Bild repräsentiert wird. Welche unterschiedlichen Stilmerkmale der beiden Bewegungen fallen Ihnen anhand der beiden Bilder auf? Gegenströmungen zum Naturalismus: der Stilpluralismus des Fin de Siěcle Die Epoche um 1900 war die Zeit eines literarischen und künstlerischen Stilgemenges. Robert Musil (1880-1942) schrieb später in seinem Roman „DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN" (unvollendet): l Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; es wurden die Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; man begeisterte sich für das Heldenglaubensbekenntnis und für das soziale Alle-mannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust 5 und morbid; man träumte von alten Schloßalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft. Dies waren freilich Widersprüche und höchst verschiedene Schlachtrufe, aber sie hatten einen gemeinsamen Atem; würde man jene io Zeit zerlegt haben, so würde ein Unsinn herausgekommen sein wie ein eckiger Kreis, der aus hölzernem Eisen bestehen will, aber in Wirklichkeit war alles zu einem schimmernden Schein verschmolzen. Man kann die Widersprüche dieser Epoche nur verstehen, wenn man die ineinander wirkenden Tendenzen der Zeit im einzelnen zu betrachten sucht. Sie führten vielfach vor allem zu einer völlig neuen Sichtweise auf Mensch und Wirklichkeit. Das Zeitalter der Desillusionierungen Beispiel 1: Aus „DER ZAUBERBERG" (1924) von Thoraas Mann (1875- 1955) Manns Hauptfigur Hans Castorp wird in einem Schweizer Lungensanatorium zusammen mit anderen Patienten geröntgt. Hans Castorp sah Gliedmaßen: Hände, Füße, Kniescheiben, Ober- und Unterschenkel, Arme und Beckenteilc. Aber die rundliche Lebensform dieser Bruchstücke des Menschenleibes war schemenhaft und dunstig von Kontur; wie ein Nebel und bleicher Schein umgab sie ungewiß ihren klar, minutiös und entschieden hervortretenden Kern, das Skelett. [...] Und Hans Castorp sah, was zu sehen er hatte erwarten müssen, was aber eigentlich dem Menschen zu sehen nicht bestimmt ist, und wovon auch er niemals gedacht hatte, daß ihm bestimmt sein könne, es zu sehen: er sah in sein eigenes Grab. Das spätere Geschäft der Verwesung sah er vorweggenommen durch die Kraft des Lichtes, das Fleisch, worin er wandelte, zersetzt, vertilgt, zu nichtigem Nebel gelöst, und darin das kleinlich gedrechselte Skelett seiner rechten Hand, um deren oberes Ringfingerglied sein Siegelring, vom Großvater her ihm vermacht, schwarz und lose schwebte: ein hartes Ding dieser Erde, womit der Mensch seinen Leib schmückte, der bestimmt ist, darunter wegzuschmelzen, so daß es frei wird und weiter geht an ein Fleisch, das es eine Weile wieder tragen kann. Mit den Augen jener Tienappel-schen Vorfahrin1 erblickte er einen vertrauten Teil seines Körpers, durchschauenden, voraussehenden Augen, und zum erstenmal in seinem Leben verstand er, daß er sterben werde. 1 einer Verwandten, die todgeweihte Menschen als Gerippe gesehen Raben soll 211 Beispiel 2: Beispiel 4: Aus „ÜBER WAHRHEIT UND LÜGE IM AUSSERMORALISCHEN SINN" (1873) von Aus „ANTIMETAPHYSISCHE BEMERKUNGEN" (1885) von Ernst Mach Friedrich Nietzsche (1844 -1900) (1838 -1916) 1 eingebürgerte Wortersetzun-gen durch verwandten Begriff („Stahl" für „Dolch') 2 Übertragungen menschlicher Eigenschaften auf Nichtmenschliches 3 Beziehungen 4 Kanon: Richtschnur, Leitfaden Die Psychoanalyse Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien1, Anthropomor-phismen2, kurz eine Summe von menschlichen Relationen3, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch4 und unverbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen. Nur durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt, nur durch das Hart- und Starrwerden einer ursprünglichen, in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, daß der Mensch sich als Subjekt, und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt, vergißt, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Konsequenz: wenn er einen Augenblick nur aus den Gefängniswänden dieses Glaubens heraus könnte, so wäre es sofort mit seinem „Selbstbewußtsein" vorbei. Beispiel 3: Aus „DIE TRAUMDEUTUNG" (1899) von Sigmund Freud (1856- 1939) t Traumgedanken und Trauminhalt liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennen lernen sollen. Die 5 Traumgedanken sind uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben. Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind.[...] Die Rückkehr von der Überschätzung der Bewußtseinseigenschaft wird zur unerläßlichen Vorbedingung für jede richtige Einsicht in den Hergang des Psychischen. Das Unbewußte io muß [...] als allgemeine Basis des psychischen Lebens angenommen werden. Das Unbewußte ist der größere Kreis, der den kleineren des Bewußten in sich einschließt; alles Bewußte hat eine unbewußte Vorstufe, während das Unbewußte auf dieser Stufe stehen bleiben und doch den vollen Wert einer psychischen Leistung beanspruchen kann. Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der 15 Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane. Sigmund Freud war der Begründer der Ps3'choanalyse, eines Verfahrens zur Heilung von Neurosen und Hysterie. Die Psychoanalyse beruht auf der Annahme, daß gewisse Vorstellungen, besonders sexueller Art, aus dem Bewußtsein „verdrängt" werden und vom „Unbewußten" her die seelisch-geistige Einheit des Ichs bedrohen. Gemeinsam mit ebenfalls im Unterbewußtsein verkapselten Kindheitserlebnissen können sie Komplexe und Traumen (d.h. seelische Verletzungen, nervöse Störungen) erzeugen, die dann Versprechen, Träume, Fehlhandlungen und Neurosen verursachen, indem sie unter allerlei Masken und Verkleidungen in den Bereich des Bewußtseins drängen. Die Psychoanalyse versucht nun, mit Hilfe einer Aussprache des Patienten mit dem Arzt die verdrängten Erlebnisse ins Bewußtsein zu erheben, um dadurch eine Heilung herbeizuführen. i Farben, Töne, Wärmen, Drücke, Räume, Zeiten usw. sind in mannigfaltiger Weise miteinander verknüpft, und an dieselben sind Stimmungen, Gefühle und Willen gebunden. Aus diesem Gewebe tritt das relativ Festere und Beständigere hervor, es prägt sich dem Gedächtnisse ein, und drückt sich in der Sprache aus. Als relativ beständiger zeigen sich zunächst räumlich 5 und zeitlich verknüpfte Komplexe von Farben, Tönen, Drücken usw., die deshalb besondere Namen erhalten, und als Körper bezeichnet werden. Absolut beständig sind solche Komplexe keineswegs. [...] Als relativ beständig zeigt sich ferner der an einen besonderen Körper (den Leib) gebundene Komplex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeichnet wird. [...] io Das Ich ist so wenig absolut beständig als die Körper. Was wir am Tode so sehr fürchten, die Vernichtung der Beständigkeit, das tritt im Leben schon in reichlichem Maße ein. Vor allem durch den Autor Hermann Bahr (1863 -1934) wurde die Formel „Das Ich ist unrettbar", die Machs Philosophie des sogenannten „Empiriokritizismus" zusammenfaßt, zu einem zentralen Ausgangspunkt für die Literatur der Jahrhundertwende. 1 Schreiben Sie die jeweils passenden Überschriften in die Zeilen über den einzelnen Textbeispielen, und diskutieren Sie über die Konsequenzen dieser Entdeckungen für das moderne Weltbild! Die Analyse des Lebendigen Die Auflösung des Ichs Die Fragwürdigkeit von „Wahrheit" Die Macht des Irrationalen Gegenwelten Die Gesundheit des Landlebens Beispiel 5: Aus „ERDSEGEN" (1900) von Peter Rosegger (1843 -1918) Rosegger, ein steirischer Waldbauembub, der in der Stadt Graz als Journalist sein schriftstellerisches Talent entdeckte, bekämpfte in seinen Romanen die zum Verfall der bäuerlichen Heimat führende Landflucht und die Folgen der raschen Industrialisierung Europas. Der Briefroman „Erdsegen" schildert den einjährigen Aufenthalt eines städtischen Journalisten auf dem Land, der zu einer immer intensiveren Annäherung an die naturnahe Lebensform der bäuerlichen Bevölkerung führt. i Die Menschheit steht nirgends so fest gegründet als im Bauerntum, und dieses nirgends so lief als in den Bergen. Wenn dieser Grund bricht, was soll dann noch halten? Können im ■ Nomadcntum alle Keime des Adamsgeschlcchtes sich so reich und edel entwickeln als in der Bodenständigkeit? Nur unglückliche Völker wandern, Kain ist der erste Nomade gewesen. - 5 Woher stammt unsere Kultur? Wo hat sie ihren Sitz, an alten festen Stätten oder auf der Straße? Industrie und Handel bauen über Nacht Städte, die auch wieder über Nacht zerfallen. Sie bauen nur Zelte, Das Bauerntum, dieser Granit der Menschheit, baut Häuser, und aus diesen Häusern sind immer wieder, eine reiche, überschüssige Kraft, diejenigen hervorgegangen, die da Burgen, Schlösser und Kirchen gegründet haben, und solche Städte, die jahrhuh-. 212 Heimatkunst und Blut- und Boden-Literatur 10 dertelang wachsen, jahrhundertelang eine Blüte der Menschheit sind und jahrhundertelang brauchen, bis sie zerfallen. Und das Patrizicrtum, aus welchem sich Zucht, Gehorsam, Würde, Kraft, Treue, Vaterlandsliebe und gesellige Sitte organisch entwickelt hatte, wodurch soll es neu nachgefrischt und ersetzt werden? Es wird hinfällig sein, wenn die Bodenständigkeit aufhört, wenn der Bauer - sei es durch Unwetter und Bergwässer, sei es durch soziale 15 Mächte - fortgeschwemmt wird von seiner Scholle. [...] In diesem Stande, mein Alfred, ist neben finsteren Gewalten eine Opferwilligkeit und eine stillduldende Liebe, die ans Heldenhafte grenzt. Es ist in ihm eine Kraft und eine Gei-stesthätigkeit, von der die Hochmutspinsel im Frack keine Ahnung haben. Und wenn ich auf dieser Welt je ein Glück glauben könnte, ich würde es suchen und versuchen fern von der 20 rasenden Welt im Frieden eines ländlichen Hauses, inmitten der ewig herrschenden Nalur, die mich belebt, beschäftigt und ernährt, die man selbst in ihrem Grimme noch anbeten und lieben muß. 2 Welche Lebensbereiche (und welche damit verbundenen Eigenschaften) setzt Rosegger hier gegeneinander? Die Verherrlichung der „gesunden" bäuerlichen Welt wurde zu einer Zeit der absoluten Industrialisierung und der Zerstörung von traditionellen Lebensformen zu einem bis in die heutige Zeit hinein überaus erfolgreichen literarischen Thema. Um die Jahrhundertwende feierte die sogenannte „Heimatkunst" in vielen Erzählungen und Romanen die seelische Verbundenheit von Mensch und Heimat sowie das bäuerliche, dem Jahreskreis und Rhythmus der Jahreszeiten verhaftete Dasein. Bei einer Reihe von Autoren, denen Roseggers differenzierte Sichtweise fehlte, verkam die Schilderung des heilen ländlichen Lebens jedoch zunehmend zum unreflektiert weitergereichten Klischee. Die antizivilisatorische Ausrichtung der sogenannten „Blut- und Boden-Literatur" ermöglichte zuletzt sogar deren bruchlose Einfügung in die Gedankenwelt des Nationalsozialismus - eines politischen Systems, das trotz des verstärkt vorangetriebenen Ausbaus von Technik und Industrie seinen Anhängern die Restauration und Festigung einer alten, naturnahen und stabilen Wertewelt vorzugaukeln suchte. Die Freiheit der Wildnis Beispiel 6: Aus „UNTER GEIERN" (1887/88, Fassung von 1914) von Karl May (1842-1912) Der aus ärmsten Verhältnissen stammende ehemalige Sträfling Karl May wurde vor allem als Erfinder raffiniert erzählter exotischer Wildwest- und Orientabenteuer zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren überhaupt. l Das Anschleichen eines Westmanns an seine Feinde ist keine leichte Sache. Wenn man nicht in besonders gefährlichen Fällen Ursache hat, keine Spur zurückzulassen, so kann man ja auf Händen und Knien kriechen. Das gibt dann allerdings eine erkennbare Fährte, besonders im Gras. Ist man aber gezwungen, jede Spur zu vermeiden, so darf man sich nur auf den Finger- 5 spitzen und Zehen fortbewegen. Da man dabei die Arme und Beine lang ausstrecken muß, damit der Körper ganz nahe am Erdboden gehalten wird, den er aber nicht berühren darf, so ruht die ganze Last eben nur auf den Finger- und Zehenspitzen. Es gehört eine ungewöhnliche Körperkraft, Gewandtheit und langjährige Übung dazu, das auch nur für eine kurze Zeit auszuhalten. [...] io Während sich der Westmann auf diese Weise an den Feind schleicht, muß er den Boden genau berücksichtigen und darf weder Hand und Fußspitze eher niedersetzen, als bis er die betreffende Stelle gewissenhaft untersucht hat. Wenn zum Beispiel Hand oder Fuß auf einen kleinen Zweig treffen, der dürr ist und knickt, so kann dieses leise Knacken die schlimmsten Folgen nach sich ziehen. Es gibt geübte Jäger, die sofort unterscheiden können, ob das 15 Geräusch von einem Tier oder einem Menschen hervorgerufen wurde. Die Sinne des Westmanns werden mit der Zeit derartig scharf, daß er, an der Erde liegend, sogar das Rascheln vernimmt, das ein laufender Käfer verursacht. Ob ein dürres Blatt von selbst abgefallen oder von einem verborgenen Feind unachtsam abgestreift wurde, das hört er ganz gewiß. Ein im Anschleichen Geübter wird auch die Zehenspitzen ganz genau auf die Stelle setzen, 20 die er vorher mit den Fingerspitzen berührte, weil dadurch eine weniger sichtbare Spur entsteht, die sich dann auch leichter und schneller wieder verwischen läßt. Es ist nämlich häufig notwendig, die Fährte unkenntlich zu machen. Der Westmann bedient sich des Ausdrucks .auslöschen'. Hat man sich an ein Lager geschlichen, so beginnt auf dem Rückweg erst der anstrengendste und schwierigste Teil des Unternehmens. Niemand soll 25 erfahren, daß man hier war. Darum muß man sich auf allen Vieren, mit den Füßen voran, rückwärtsbewegen und dabei jeden Eindruck auslöschen, den man hinterlassen hat. Das geschieht mit der rechten Hand, indem man auf den beiden Fuß- und auf den Fingerspitzen der linken Hand das Gleichgewicht hält. Wer es einmal versucht, in dieser schwierigen Stellung auch nur eine Minute lang zu verharren, der wird bald einsehen, welche Anstrengungen 30 dem Jäger hierbei verursacht werden. 3 Worin liegt die Faszination der in Karl Mays Romanen unablässig in Szene gesetzten Bewährung des einzelnen im sogenannten „Wilden Westen"? Finden Sie auch die auffälligen Merkmale von Westem-Romanen und -Filmen und diskutieren Sie über ihre Funktion! Die künstlichen Paradiese Charles Baudelaire (1821-1867), der Autor der Gedichtsammlung „DIE BLUMEN DES BÖSEN", war einer der wichtigsten Impulsgeber der modernen Literatur. Baudelaire verstand die Poesie als autonome Sprachkunst, die sich von der umgebenden Realität abzulösen hat {Varl pour Varl). Natur und Kunst waren für ihn miteinander unversöhnba-re Bereiche. Jede künstlerische Leistung bedeutete einen Sieg der Vernunft, des Artifiziel-len über die Natur. Das berühmteste Beispiel für seine realitätsfernen Welten entwarf Baudelaire in seinem Gedicht „Ein Traum in Paris": Beispiel 7: Aus dem Gedicht „EIN TRAUM IN PARIS" (aus, von Charles Baudelaire DIE BLUMEN DES BÖSEN", 1857) Aus Treppenbogen wuchs ein Bau, Mein Babel, auf zu weitem Schloß, Wo Wasserkunst aus reichem Stau In Flut von mattem Golde schoß; Und Katarakte hingen schwer Wie Schleiertücher von Kristall In einem Funkelfeuermeer An Mauerzinnen aus Metall. Baumeister meiner Fabelwelt Führt ich, wie es mein Wunsch befahl, Gezähmten Ozean zum Bell Durch Bogengänge von Opal. Und alles, selbst das Schwarze, schien Vielfarbenflimmernd, hell, poliert; Das Flüssige fand seinen Sinn Im Strahl, der sich kristallisiert. Dort war kein Stern und keine Spur Von Sonnenschein am Firmament Als Leuchte dieser Zauberflur, Wo jedes aus sich selber brennt! Auf dieser Wunder Reigenchor Lag - Neuerung und Fruchtbarkeit: Den Augen alles, nichts dem Ohr! -Das Schweigen einer Ewigkeit. L'art pour Part (= Kunst um der Kunst willen) 4 Welche Eigenschaften hat Baudelaires literarische Kopfgeburt? 214 215 Schönheitskult als Religions-ersatz Die Decadence 1 1 unser inneres Universum gestalten 2 was vorgeschrieben ist Der Lyriker Stefan George (1868 -1933) vertrat einen strengen literarischen Schönheitskult. Gegen die industrialisierte Massengesellschaft setzte er eine eigene Druckform und eine abgehobene literarische Sprache. Seine elitär aufgefaßte Kunst sollte eine Art Religionsersatz bilden, der Dichter als Seher und Gesetzgeber für ein neues Reich des Geistes wirken - eine immer verstiegener werdende Fiihrerideologie, deren Mißdeutung durch die Nationalsozialisten George, der in die Schweiz emigrierte, zurückwies. Auch in Georges Werk findet sich die Faszination der künstlichen, einzig der Willkür des Dichters entsprungenen Phantasicwclten: Beispiel 8: Aus „ALGABAL" (1892) von Stefan George Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme • Der garten den ich mir selber erbaut Und seiner vögel leblose schwärme Haben noch nie einen frühling geschaut. Von kohle die stamme ■ von kohle die äste Und düstere felder am düsteren rain -Der fruchte nimmer gebrochene laste Glänzen wie lava im pinien-hain. Ein grauer schein aus verborgener höhle Verrät nicht warn morgen wann abend naht Und staubige dünste der mandel-öle Schweben auf beeten und anger und saat. Wie zeug ich dich aber im heiligtume so fragt ich wenn ich es sinnend durchmass In kühnen gespinsten der sorge vergass -Dunkle grosse schwarze blume? 5 Welche Eigenschaften des Gartens zeugen von seinem anti-natürlichen Charakter? Welche Defizite werden aber doch deutlich? Einer der Begriffe, mit denen man die künstlerische Produktion dieser und verwandter Autoren zu fassen suchte, lautet „Décadence". Aus den Kernsätzen eines Aufsatzes von Hermann Bahr (1863 -1934) läßt sich einiges über ihre Motivation ablesen: Beispiel 9: Aus „DIE DECADENCE" (1894) von Hermann Bahr Eines haben sie alle gemein: den starken Trieb aus dem flachen und rohen Naturalismus weg nach der Tiefe verfeinerter Ideale. Sie suchen die Kunst nicht draußen. Sie wollen keine Abschrift der äußeren Natur. Sie wollen modeler notre univers intérieur K Darin sind sie wie neue Romantiker, und auch in dem höhnischen Hochmut gegen den gemeinen Geschmack der lauten Menge, in der ehrlichen Verachtung des „Geschäftes", in dem zähen Trotze gegen alles ce qui est demandé 2, auch in dieser geraden Ritterlichkeit der reinen Künstlerschaft sind sie Romantiker. [...] Aber sie sind eine Romantik der Nerven. Das ist das Neue an ihnen. Das ist ihr erstes Merkmal. Nicht Gefühle, nur Stimmungen suchen sie auf. Sie verschmähen nicht bloß die äußere Welt, sondern am inneren Menschen selbst verschmähen sie allen Rest, der nicht Stimmung ist. [...J Ein anderes Merkmal ist der Hang nach dem Künstlichen. In der Entfernung vom Natürlichen sehen sie die eigentliche Würde des Menschen und um jeden Preis wollen sie die Natur vermeiden. [...] Angewidert von der platten, gemeinen und mißge-bornen Welt, jeder Hoffnung entschlagen und krank an der Seele und im Leibe, flieht [der Künstler] in ein durchaus künstliches Leben. [...] In einem Turm aus Elfenbein vor den Menschen versperrt, schläft er den Tag und wacht er die Nacht. [...] Hier horcht er einsam nach innen und lauscht allen Launen seiner Träume. 6 Welches Verhältnis haben diese Autoren demnach zur modernen Industriegesellschaft? Der Impressionismus Der naturalistische Autor Arno Holz strebte in seinem umfangreichen lyrischen Projekt „PHANTASUS" eine umfassende Wiedergabe aller Wahrnehmungen durch eine neuartige, von konventionellen Formen befreite Gedichtform an. Einziges regulierendes Schema sollte die Anordnung der Verse entlang einer Mittelachse sein: Beispiel 10: Aus „PHANTASUS" (1898/99) von Arno Holz Ja den Grunewald, seit fünf Öhr früh, spie ßerlin sein« •Cxtrazüge. öeber die JJrücke von rjalensee, über Spandau, Schmargendorf, über den. Pichelsberg, Yoq allen. Seiten., zwischen, trommelnden Curnerzügen, zwischen Bremsern mit /rfusik., entlang die schimmernde rjayel, kUometertsn sich Chausseeflöhe. „Pankow. Pankow, pankow, K'H«. Kil,e"»H>xdorfer"„Schünketwal«r"„rjoIzauldion" jetzt ist es J^cht. ^och immer aus der fjundequäle quietscht und empört sich der Xeterkasten.- fjinter den. J5ahndamin, zwischen die dunklen KuscMl' verschwindet eine brennende Cigarre, ein Pfingstweid. Xuna: lächelt. zwischen weggeworfneni Stullenpapier und €ierschalen suchen *i* d>* blaue Jjlume! 7 Worin zeigt sich auch inhaltlich die neue Zeit, in der das Gedicht entstanden ist? In welchem Zusammenhang steht die abschließend genannte „blaue Blume"? Holz' Gedichte markierten bereits den Übergang zu einer neuen Epoche. Immer noch vom Streben nach Wahrheit erfüllt, begann man daran zu zweifeln, ob man mit der naturalistischen Methode tatsächlich ein getreues Abbild der Wirklichkeit erreichen könne. Im Bewußtsein der Vergänglichkeit aller momentanen Wahrnehmung und des individuellen Anteils an ihr wandte man sich dem subjektiven Eindruck zu. Man wollte nicht mehr die körperliche Außenwelt naturgetreu schildern, sondern den subjektiven Eindruck, den die Wirklichkeit in einem bestimmten Augenblick an einem bestimmten Ort im Betrachter erzeugt, die Stimmung, die sie hervorruft. Das Außending wurde mehr und mehr zum bloßen Anreiz für sinnliche Empfindungen und seelische Erregungen. Ursprünglich ging diese Bewegung von der französischen Malerei aus (Claude Monet, Edouard Manet, Auguste Renoir). Auf sie bezog sich auch Hermann Bahr, als er die Haltung des Impressionismus in einem Aufsatz verteidigte: Originaldruck der Erstausgabe, Berlin, 1898 Die Abbildung des subjektiven Eindrucks 216 217 Das „Junge Wien" 218 l Menschen, welche glauben, daß wir erfahren können, wie die Welt „wirklich" ist, werden eine Malerei absurd finden müssen, die sich an den unmittelbaren Eindruck, an den Moment, an die Illusion hält. [,..J Menschen, welchen der Zweifel an der ewigen 5 Wahrheit ihrer Erscheinungen nicht geläufig geworden ist, werden eine Malerei nicht genießen können, deren stärkster Reiz es ist, das Bild unter unseren Augen erst aufflammen und wieder verrauchen zu lassen, Menschen, welche noch meinen, daß, was wir in Ccdanken, um die Welt unserer Erscheinungen zu ord- io neu, damit wir mit ihr operieren können, abtrennen und abgrenzen, „wirklich" getrennt und begrenzt sei, und welche nicht fühlen, daß alles ewig fließt, eines in das andere verrinnt und in unablässiger Verwandlung nur immer wird, niemals ist, werden eine Malerei verwünschen, die mit einem Behagen, das ihnen 15 teuflisch scheinen muß, alle Grenzen verwischt und alles nur in ein tanzendes Flirren und Flimmern auflöst. (Aus „DER IMPRESSIONISMUS", 1904) Der Sozialhistoriker Arnold Häuser sieht das impressionistische Lebensgefühl auch als Ausdruck des modernen Menschen, „der seine ganze Existenz als Kampf und Wettstreit auffaßt, der alles Sein in Bewegung und Veränderung umsetzt". „Die Herrschaft des Moments über Dauer und Bestand, das Gefühl, daß jede Erscheinung eine flüchtige und einmalige Konstellation ist", bedeute endgültig „die vollkommene Auflösung des statischen mittelalterlichen Weltbildes" 1. 8 Suchen Sie in unserem Farbteil die Bilder „Der Garten von Giverny" von Claude Monet und „Boulevard Montmartre bei Nacht" von Camille Pissaro und benennen Sie, was daran besonders der eben vorgetragenen Beschreibung entspricht! Beispiel 11: Aus „WIE ICH ES SEHE" (1896) von Peter Altenberg (1859-1919) HERBSTABEND. i Die Wellen des See's pritscheln leise an den Ufersteinen---. Das wunderschöne Hotel am See-Ufer schläft den langen Herbstschlaf, den Winterschlaf. Die weißen Fensterläden sind geschlossen. Der grüne Laubengang ist ein bißchen gelb geworden und durchsichtig---. 5 Wo ist das Fräulein?! Wo der liebende Jüngling?! Wo ist der „Grieche"?! Wo sind Marguerit-ta und Rositta und der Herr von Bergmann mit den krummen Beinchen?! Wo ist die braunblonde Fischcrin?! Wo der Amerikaner und die Russin?! Wo ist die Dame und ihr „Familienglück"?! Der Herbst hat sie verweht wie die gelben Blätter im Parke der Königin---! io Die Wellen des See's pritscheln leise an den Ufersteinen - - . Und die 38 Schwäne ruhen im Kreise nebeneinander auf der glattgeschliffenen schwarzen Onyxfläche---." Sic schreien hie und da in die Nacht hinaus: „irra irra----." Aber in den Sommernächten haben sie es sanft gesungen: „irra irra---," Sie wissen eben auch, daß die Saison zu Ende ist---irra! Altenbergs Text ist beispielhaft für die impressionistische Dichtung des „Jungen Wien", einer Gruppe von Dichtern, die sich um die Jahrhundertwende bewußt vom Naturalismus ablöste, Treffpunkte dieser jungen Wiener Literaten waren das Cafe Griensteidl und das Cafe Central, wo man in rasch hingeworfenen literarischen Kurzformen (Feuilleton, Skizze) die subjektive Wahrnehmung der Welt festzuhalten suchte - wobei man sich aus dieser Welt doch im Grunde zurückgezogen hatte: Der Autor Alfred Polgar meinte einmal, das Central sei eine Weltanschauung, die davon lebe, die Welt nicht anzuschauen. Die Dichter dieser Gruppe waren vom wehmütigen Bewußtsein des Untergangs der gesamten Kultur der k.u.k. Monarchie erfaßt. In einem labil gewordenen, überholten Staatsgebilde, das sich umso heftiger an den traditionellen Lebensformen festklammerte, nahm man deshalb das Leben in erster Linie als Maskenspiel wahr, als Weiterführung einer sinnentleerten Überlieferung um ihrer selbst willen: „Was ist nicht Spiel, das wir auf Erden treiben, Und schien es noch so groß und tief zu sein! ... Es fließen ineinander Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends. Wir wissen nichts von andern, nichts von uns; Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug." (aus: „PARACELSUS", 1899, von Arthur Schnitzler) Der Symbolismus Der Impressionismus hatte den Blick der Dichter von außen nach innen gelenkt. Man entdeckte das Schwer-Sagbare, das Unsagbare, das Halb- und Unbewußte und fand, daß es für viele innere Vorgänge, für die dunklen Ahnungen und unklaren Gefühle keine direkte, unmittelbare Ausdrucksmöglichkeit in der Sprache gibt. Daher griff man zu Symbolen, d.h. zu Bildern, die über ihre reale Erscheinung hinaus noch einen besonderen Sinn in sich tragen. Dahinter stand die Vorstellung eines ideellen Zusammenhangs zwischen den sichtbaren Dingen, wie er in dem berühmten Gedicht „CORRESPONDAN-CES" von Baudelaire ausgesprochen wird: Beispiel 12: Aus „BLUMEN DES BÖSEN" (1857) von Charles Baudelaire EINKLÄNGE Aus der natur belebten lempelbaun Oft unverständlich wirre worte weichen ■ Dort geht der mensch durch einen wald von zeichen die mit vertrauten blicken ihn beschaun. Wie lange echo fern zusammenrauschen In tiefer finsterer geselligkeit • Weit wie die nacht und wie die helligkeit Parfüme färben töne reden tauschen, Parfüme gibt es frisch wie kinderwangen Süss wie hoboen1 grün wie eine alm Und andre die verderbt und siegreich prangen Mit einem hauch von unbegrenzten dingen ■ Wie ambra moschus und geweihter qualm • Die die Verzückung unsrer seelen singen. (Übersetzung von Stefan George) / Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. München 1978, S. 929 f. Welche Form hat das Gedicht? Warum wurde es wohl gerade von Stefan George übersetzt? Das Leben als leeres Maskenspiel Symbole als Ausdruck des Unsagbaren 1 Oboen (veralteter Ausdruck) 219 Literarischer Ästhetizismus Autoren dieser Zeit Hugo von Hofniannsthal In der ersten Phase seines Schaffens verharrte der in Wien geborene Lyriker und Dramatiker (1874-1929) vorwiegend in der ästhetizistischcn Haltung eines unbeteiligten Zuschauers gegenüber dem Leben. Voll Sehnsucht nach Schönheit und Harmonie, aber im Wissen um die Vergänglichkeit alles Irdischen schrieb er perfekte lyrische Gebilde über die Rätselhaftigkeit des menschlichen Daseins: - Beispiel 13: „BALLADE DES ÄUSSEREN LEBENS" (1894 entst.) von Hugo von Hofniannsthal Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen, Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben Und alle Menschen gehen ihre Wege. Und süße Früchte werden aus den herben Und fallen nachts wie tote Vögel nieder Und liegen wenig Tage und verderben. Und immer weht der Wind, und immer wieder Vernehmen wir und reden viele Worte Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder. Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen, Und drohende, und totenhaft verdorrte ... Wozu sind diese aufgebaut? und gleichen Einander nie? und sind unzählig viele? Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen? Was frommt das alles uns und diese Spiele, Die wir doch groß und ewig einsam sind Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele? Was frommt's, dergleichen viel gesehen haben? Und dennoch sagt der viel, der „Abend" sagt, Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben. Hofmannsthal ging von der Auffassung der „Präexistenz" des Menschen aus, von der Idee einer Ureinheit zwischen Ich und Welt, die der Dichter wiederherstellen solle. JPÍ1 10 Wie wirkt die Stimmung des Gedichtes auf Sie? Es enthält sowohl Merkmale des Impressionismus als auch solche des Symbolismus. Versuchen Sie, sie zu benennen! - Was bedeutet die Metapher von Honig und den Waben? In seinem Drama „DER TOR UND DER TOD" distanzierte sich Hofniannsthal von die-' ser lebensfernen Haltung. Beispiel 14: Aus „DER TOR UND DER TOD" (1894) von Hugo von Hofmannsthal Der junge Edelmann Claudio beklagt angesichts des Todes seine stets geübte ästhetizistische Passivität: i Was weiß ich denn vom Menschenleben? Bin freilich scheinbar drin gestanden, Aber ich hab es höchstens verstanden, Konnte mich nie darein verweben. 5 Hab mich niemals daran verloren. Wo andre nehmen, andre geben, Blieb ich beiseit, im Innern stummgeboren. [...] Ich hab mich so an Künstliches verloren, 10 Daß ich die Sonne sah aus toten Augen Und nicht mehr hörte als durch tote Ohren: Stets schleppte ich den rätselhaften Fluch, Nie ganz bewußt, nie völlig unbewußt, Mit kleinem Leid und schaler Lust 15 Mein Leben zu erleben wie ein Buch, Das man zur Hälft noch nicht und halb nicht mehr begreift, Und hinter dem der Sinn erst nach Lebendgem schweift- Einen wesentlichen Einschnitt in Hofmannsthals Schaffen bildete der fiktive Brief des Lord Chandos an Francis Bacon (englischer Politiker und Philosoph, 1561-1626). Er ist zugleich eines der wichtigsten Dokumente moderner Sprachskepsis: Beispiel 15: Aus „EIN BRIEF" (1902) von Hugo von Hofmannsthal l Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne 5 Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte „Geist", „Seele" oder „Körper" nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament, oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeil gehenden Freimut: sondern die abstrakten 10 Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgend welches Urteil an den Tag zu legen, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. [...] Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost. Es wurden mir auch in familiären und hausbackenen Gesprächen alle die Urteile, die leichthin und mit schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, daß ich auf-15 hören mußte, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen. [...] Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld1 mit Furchen und Höhen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt. n 20 11 Welche „Sprach-Krankheit" beschreibt Lord Chandos in seinem durchaus sprachgewandt formulierten Brief? Die Fragwürdig-keit der Sprache ra 1 flaches Feld 220 221 Hofmannsthal versuchte in der Folge, mit traditionellen Kunstformen auf das Publikum zuzugehen, um seine Isolierung als Dichter zu überwinden. Er schrieb Opernlibretti für Richard Strauss (z.B. „ELEKTRA", „DER ROSENKAVALIER", „DIE FRAU OHNE SCHATTEN") und griff auf das barocke Welttheater und das mittelalterliche Mysterienspiel („JEDERMANN") zurück. Aber auch in seiner Konversationskomödie „DER SCHWIERIGE" ging es erneut um die Fragwürdigkeit sprachlicher Äußerungen: Beispiel 16: Aus „DER SCHWIERIGE" (1921) von Hugo von Hofmannsthal i HANS KARL: Ich soll aufstehen und eine Rede hallen, über Völkerversöhnung und über das Zusammenleben der Nationen - ich, ein Mensch,'der durchdrungen ist von einer Sache auf der Welt: daß es unmöglich ist, den Mund aufzumachen, ohne die heillosesten Konfusionen anzurichten! Aber lieber leg ich doch die erbliche Mitgliedschaft nieder und verkriech mich 5 zeitlebens in eine Uhuhütte. Ich sollte einen Schwall von Worten in den Mund nehmen, von denen mir jedes einzelne geradezu indezent erscheint! HECHINGEN: Das ist ein bisserl ein starker Ausdruck. HANS KARL (sehr heftig, ohne sehr laut zu sein): Aber alles, was man ausspricht, ist indezent. Das simple Faktum, daß man etwas ausspricht, ist indezent. Und wenn man es genau io nimmt, mein guter Ado, aber die Menschen nehmen eben nichts auf der Welt genau, liegt doch geradezu etwas Unverschämtes darin, daß man sich heranwagt, gewisse Dinge überhaupt zu erleben! Um gewisse Dinge zu erleben und sich dabei nicht indezent zu finden, dazu gehört ja eine so rasende Verliebtheit in sich selbst und ein Grad von Verblendung, den man vielleicht als erwachsener Mensch im innersten Winkel in sich tragen, aber nie- 15 mals sich eingestehen kann! Der im Krieg menschenscheu gewordene Hans Karl Graf Bühl lebt in einer Gesellschaft, die der deutsche Baron Neuhoff so charakterisiert: 20 NEUHOFF: Geist und diese Menschen! Das Leben - und diese Menschen! Alle diese Menschen, die Ihnen hier begegnen, existieren ja in Wirklichkeit gar nicht mehr. Das sind ja alles nur mehr Schatten. Niemand, der sieh in diesen Salons bewegt, gehört zu der wirklichen Welt, in der die geistigen Krisen des Jahrhunderts sich entscheiden. Beispiel 17: Aus „HOFMANNSTHAL UND SEINE ZEIT" (1951) von Hermann Broch (1886-1951) Brochs großer Hofmannsthal-Essay ist zugleich eine brillante Analyse der Habsburgermonarchie in ihrer Endphase. Tür den Autor war die äußerliche Glorie des Reiches zu diesem Zeitpunkt bereits „der Blütezustand eines abstrakten Gebildes. Je mehr die Nationalitäten [.,.] im Wege der von ihnen erzwungenen und immer weiter wachsenden Konzessionen zu Worte kamen, desto mehr verschwand Österreich." So wurde die Krone „als Institution ebenso abstrakt wie der Staat, den sie verkörperte". Inmitten einer fassadenhaft aufrechterhaltenen monarchischen Welt fehlte aber auch längst die Kraft zu verändernden Aktivitäten durch das Volk: l Es reichte gerade noch zur Travestierung oder richtiger Frivolisierung der vom Bürgertum übernommenen höfischen Werte und ihres ethisch-ästhetischen Gehaltes, es reicht gerade noch zur Walzcrhaftigkeit. Und eben weil die Werte, welche dieser Gesellschaft noch so etwas wie Festigkeit verliehen, jenseits der kaiserlichen Isolierschicht, also im Abstraktum der 5 Krone ihren Ursprung hatten, eben weil sie Hochschätzung und Geringschätzung, Schauem und Vertraulichkeit zugleich erregten, wurden sie nicht ernst genommen, und eben durch solch potenzierte Unernsthaftigkeit erhielt die Wiener Frivolität jene eigentümliche Note, die sie von der jeder andern Großstadt unterschied, die Note der Nicht-Aggressivität, die Note ihrer allesvermischenden Leichtsinns-Liebenswürdigkeit und ihrer „Gemütlichkeit". Gewiß, io auch Weisheit war in alldem enthalten - Gemütlichkeit und Weisheit blühen in naher Nachbarschaft - , die Weisheit einer Seele, die den Untergang ahnt und ihn hinnimmt. Trotzdem aber war es Operetten-Weisheit, und unter dem Schatten des nahenden Unterganges wurde sie geisterhaft, wurde sie zu Wiens fröhlicher Apokalypse. Das Werk Hofmannsthals ist für Broch der litcraturgewordene Ausdruck dieser Epoche: l ' Allzugenau war es ihm sichtbar, daß er allüberall auf verlorenem Posten stand: aussichtlos war der Weiterbestand der österreichischen Monarchie, die er geliebt hatte und nie zu lieben aufhörte; aussichtslos war die Hinneigung zu einein Adel, der nur noch ein karikaturhaftes Scheindasein führte; aussichtslos war die Einordnung in den Stil eines Theaters, dessen 5 Größe nur mehr auf den Schultern einiger überlebender Schauspieler ruhte; aussichtlos war es all das, diese schwindende Erbschaft aus det Fülle des maria-theresianischen 18. Jahrhunderts, nun im Wege einer barock-gefärbten großen Oper zur Wiedergeburt bringen zu wollen. Sein Leben war Symbol, edles Symbol eines verschwindenden Österreichs, eines verschwindenden Adels, eines verschwindenden Theaters - , Symbol im Vakuum, doch nicht des Vaku- SEITFNBLICKE Im Bereich der bildenden Kunst und der Architektur waren die üppige Malerei Hans Makarts (1840 - 1884) und der sogenannte Ringstraßenstil, die bürgerliche Größe repräsentierende Architektur des Historismus (Staatsoper, Burgtheater. Rathaus, Börse etc.), typische Ausdrucksformen dieser Epoche. Einen erbitterten Kampf gegen den fassadenhaften Prunkstil dieser Architektur und gegen das Ornament als Ausdrucksform einer inhaltsleer gewordenen Kultur führte der Architekt Adolf Loos (1870 - 1933). Seine Idee eines sachlich-modernen Rauens setzte er auch in die Tat um (Haus am Michaelerplatz, Wien). In der berühmtesten Operette des Wiener Walzerkönigs Johann Strauß (Sohn; 1825 - 1899), der „Fledermaus" (1874), fällt ein Satz, der den Geist (vielleicht nicht nur) seiner Zeit zusammenfaßt: „Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist." Arthur Schnitzler Der in Wien geborene Arzt Arthur Schnitzler (1862 - 1931) beschrieb in seinen Werken eben jene Gesellschaft, deren Gefühle und Neurosen sein Zeitgenosse Sigmund Freud auf wissenschaftliche Weise erforschte. In allen seinen Dramen geht es vor allem um die Vermischung von Spiel und Wirklichkeit, von Lüge und Wahrheit, sodaß auch zwischenmenschliche Beziehungen nur als Verstellung und Täuschung erlebt werden. Beispiel 18: Aus „ANATOL" (1893) von Arthur Schnitzler Schnitzler schrieb eine Serie von Einaktern über den müßiggängerischen Lebemann Anatol und seine vergeblichen Versuche, wirklich zu leben, ein authentisches Liebes-erlcbnis zu haben. In dem Einakter „EPISODE" erzählt Anatol seinem Freund Max von einer vergangenen Affäre: Architektur Operette Schnitzlers Dramen 223 ANATÜL: Das Episodenhafte der Geschichte kam mir so deutlich zum Bewußtsein. Während ich den warmen Hauch ihres Mundes auf meiner Hand fühlte, erlebte ich das Ganze schon in der Erinnerung. Es war eigentlich schon vorüber. Sie war wieder eine von denen gewesen, über die ich hinweg mußte. Das Wort selbst fiel mir ein, das dürre Wort: Episode. Und dabei war ich selber irgend etwas Ewiges... Ich wußte auch, daß das „arme Kind" nimmer diese Stunde aus ihrem Sinn schaffen könnte - gerade bei der wüßt' ich's. Oft fühlt man es ja: Morgen früh bin ich vergessen. Aber da war es etwas anderes. Für diese, die da zu meinen Füßen lag, bedeutete ich eine Welt; ich fühlte es, mit welch einer heiligen unvergänglk chen Liebe sie mich in diesem Momente umgab. Das empfindet man nämlich; ich lasse es mir nicht nehmen. Gewiß konnte sie in diesem Augenblick nichts anderes denken als mich - nur mich. Sie aber war für mich jetzt schon das Gewesene, Flüchtige, die Episode. 15 bisher gesucht und gefunden habe, dort, wo es keine großen Szenen, keine Gefahren, keine tragischen Verwicklungen gibt, wo der Beginn keine besonderen Schwierigkeiten und das Ende keine Qualen hat, wo man lächelnd den ersten Kuß empfängt und mit sehr sanfter Rührung scheidet. Am Ende wird Fritz vom Gatten seiner ehemaligen Geliebten erschossen, und Christine, der er nicht einmal von dem Duell erzählt hat, sucht freiwillig den Tod. Beispiel 20: Aus „DER EINSAME WEG" (1904) von Arthur Schnitzler Julian Fichtner, ein alternder Maler, hat einen inzwischen erwachsenen Sohn mit der späteren Frau eines Kunstprofessors, der von Julians Vaterschaft jedoch nichts ahnt. Auch der Sohn erführt sie erst jetzt, nähert sich Fichtner dadurch jedoch keineswegs an, wie dieser gehofft hat. Julian spricht darüber mit dem Rentier von Sala, der bereits todkrank ist und später, als er sein Schicksal erfährt, Selbstmord begeht. t MAX: Und worin löst sich für dich das Rätsel der Frau? ANATOL: In der Stimmung. MAX: Ah - du brauchst das Halbdunkel, deine grün-rote Ampel... dein Klavierspicl. ANATOL: Ja, das ist's. Und das macht mir das Leben so vielfältig und wandlungsreich, daß 5 mir eine Farbe die ganze Welt verändert. Was wäre für dich, für tausend andere dieses Mädchen gewesen mit den funkelnden Haaren; was.für euch diese Ampel, über die du spottest! Eine Zirkusreiterin und ein rot-grünes Glas mit einem Licht dahinter! Dann ist freilich der Zauber weg; dann kann man wohl leben, aber man wird nimmer was erleben. Ihr tappt hinein in irgendein Abenteuer, brutal, mit offenen Augen, aber mit verschlüsselt) nem Sinn, und es bleibt farblos für euch! Aus meiner Seele aber, ja, aus mir heraus blitzen tausend Lichter und Farben drüber hin, und ich kann empfinden, wo ihr nur - genießt! Beispiel 19: Aus „LIEBELEI" (1896) von Arthur Schnitzler Die bürgerliche Gesellschaft dieser Zeit verfolgte eine Doppelmoral: Während Frauen als Jungfrauen in die Ehe zu gehen hatten, sollten die Männer durchaus voreheliche sexuelle Erfahrungen machen. Diesen Zweck erfüllten Prostituierte oder Affären mit Mädchen niederen Standes, den sogenannten „süßen Mädeln" aus den Wiener Vorstädten, die freilich keine Chance auf eine vornehme Heirat hatten. Die Freunde Frilz und Theodor suchen die Freundschaft von Christine, einer Musikertochter, und Mizi, einer Modistin. Theodor will Fritz dadurch vor allem aus einer Beziehung mit einer verheirateten Frau loseisen: 1 THEODOR: Ich bitt dich, Fritz - tu mir den Gefallen, sei vernünftig. Gib diese ganze verdammte Geschichte auf - schon ««Herwegen. Ich hab ja auch Nerven ... Ich weiß ja, du bist nicht der Mensch, dich aus einem Abenteuer ins Freie zu retten, drum hab ich dirs ja so bequem gemacht und dir Gelegenheit gegeben, dich in ein anderes hineinzureiten ... 5 FRITZ: Du? THEODOR; Nun, hab ich dich nicht vor ein paar Wochen zu meinem Rendezvous mit Fräulein Mizi mitgenommen? Und hab ich nicht Fräulein Mizi gebeten, ihre schönste Freundin mitzubringen? Und kannst du es leugnen, daß dir die Kleine sehr gut gefällt? ... FRITZ: Gewiß ist die lieb! ... So lieb! Und du hast ja gar keine Ahnung, wie ich mich nach so io einer Zärtlichkeit ohne Pathos gesehnt habe, nach so was Süßem, Stillem, das mich umschmeichelt, an dem ich mich von den ewigen Aufregungen und Martern erholen kann. THEODOR: Das ist es, ganz richtig! Erholen! Das ist der tiefere Sinn. Zum Erholen sind sie da. Drum bin ich auch immer gegen die sogenannten interessanten Weiber. Die Weiber haben nicht interessant zu sein, sondern angenehm. Du mußt dein Glück suchen, wo ich es i SALA: Was soll das, Julian! Verlieren kann man doch nur, was man besessen hat. Und besitzen kann man nur, worauf man sich ein Recht erwarb. Das wissen Sie so gut wie ich. JULIAN: Verleiht es nicht schließlich auch ein gewisses Anrecht auf jemanden, wenn man seiner bedarf? - Verstehen Sie es denn nicht, Sala, daß er meine letzte Hoffnung ist? ... Daß 5 ich überhaupt niemand und nichts mehr habe außer ihm? ... Daß ich nach allen Seiten ins Leere greife? ... Daß mir vor der Einsamkeit graut, die mich erwartet? SALA: Und was hülfe es Ihnen, wenn er bliebe? Was hülfe es Ihnen selbst, wenn er irgend etwas wie kindliche Zärtlichkeit zu Ihnen empfände? ... Was hülfe er Ihnen oder irgendein anderer als er? ... Es graut Ihnen vor der Einsamkeit? ... Und wenn Sic eine Frau an Ihrer io Seite hätten, wären Sie heute nicht allein? ,,. Und wenn Kinder und Enkel um Sie lebten, wären Sie es nicht? ... Und wenn Sie sich Ihren Reichtum, Ihren Ruhm, Ihr Genie bewahrt hätten - wären Sie es nicht? ... Und wenn uns ein Zug von Bacchanten begleitet - den Weg hinab gehen wir alle allein ... wir, die selbst niemandem gehört haben. Das Altern ist nun einmal eine einsame Beschäftigung für unsercinen, und ein Narr, wer sich nicht beizeiten 15 darauf einrichtet, auf keinen Menschen angewiesen zu sein.f...] JULIAN: Sie haben nie ein Wesen auf Erden geliebt. SALA: Möglich. Und Sie? So wenig, Julian, als ich ... Lieben heißt, für jemand andern auf der Welt sein. Ich sage nicht, daß es ein wünschenswerter Zustand sei, aber jedenfalls, denke ich, wir waren beide sehr fern davon. Was hat das, was unsereiner in die Welt 20 bringt, mit Liebe zu tun? Es mag allerlei Lustiges, Verlogenes, Zärtliches, Gemeines, Leidenschaftliches sein, das sich als Liebe ausgibt - aber Liebe ist es doch nicht ... Haben wir jemals ein Opfer gebracht, von dem nicht unsere Sinnlichkeit oder unsere Eilelkeit ihren Vorteil gehabt hätte? ... [...] Wir können uns ruhig die Hände reichen, Julian. Ich bin etwas weniger wehleidig als Sie, das ist der ganze Unterschied. Beispiel 21: Aus „DAS WEITE LAND" (1911) von Arthur Schnitzler Der Arzt Dr. Aigner erzählt dem Fabrikanten Friedrich Hofreiter auf einer Bergtour von einer gewagten Bergbesteigung als einer „Art Gottesurteil" nach der Trennung von seiner Frau: i FRIEDRICH: Hören Sie, wenn alle Ehemänner in einem solchen Fall auf Felsen klettern wollten ... die Dolomiten würden einen possierlichen Anblick bieten. Sie haben doch schließlich nichts Schlimmeres getan als mancher andere auch. AIGNER; Es kommt immer nur darauf an, wie so etwas von dem andern Teil empfunden 5 wird ... Meine Gattin hatte mich sehr geliebt. FRIEDRICII; Das hätte ein Grund mehr für sie sein sollen, nicht unversöhnlich zu bleiben. AIGNER: Möglich. Aber auch ich hatte sie sehr geliebt. Hier liegt das Problem! - Unendlich ... Wie keine früher und keine ... na, lassen wir das. Sonst war' es ja zu reparieren gewesen. Aber gerade, daß ich sie so sehr liebte - und trotzdem fähig war, sie zu betrügen ... Schniulers Novellen i° sehen Sie, mein lieber Hofreiler, das machte sie irre an mir und an der ganzen Welt. Nun gab es überhaupt keine Sicherheit mehr auf Erden ... keine Möglichkeit des Vertrauens, verstellen Sie mich, Hofreiter - ? - Nicht, daß es geschehn, nein, daß es überhaupt möglich gewesen war, das war's, was sie von mir forltrieb. Und ich mußte es begreifen. Ich hätte es sogar vorhersehen können. !5 FRIEDRICH: Ja, da muß ich allerdings fragen, warum... AIGNER: Warum ich sie betrogen habe - ? ... Sie fragen mich? Sollt' es Ihnen noch nicht aufgefallen sein, was für komplizierte Subjekte wir Menschen im Grunde sind? So vieles hat zugleich Raum in uns - ! Liebe und Trug ... Treue und Treulosigkeit ... Anbetung für die eine und Verlangen nach einer andern oder nach mehreren. Wir versuchen wohl Ord- 20 nung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches ... Das Natürliche ... ist das Chaos. Ja - mein guter Hofreiter, die Seele ... ist ein weites Land, wie ein Dichter es einmal ausdrückte ... Es kann übrigens auch ein Iloteldirektor gewesen sein. Am Ende des Slücks erschießt Hofreiter, der es selbst mit der Treue nicht sehr genau nimmt, Aigners Sohn, den jüngeren Konkurrenten um die Gunst seiner Frau, in einem von ihm sinnlos provozierten Duell 12 Schreiben Sie über die einzelnen Ausschnitte jeweils das passende Schlagwort aus der folgenden Aufzählung charakteristischer Schnitzler-Themen: Die Einsamkeit des Lebens und des Sterbens Das Los der Frauen Die Ungewißheit im Bereich der Seele Die Vergänglichkeit des Erlebens Der Zauber der Stimmung In Schnitzlers Novellen werden die Hauptfiguren häufig in eine Grenzsituation versetzt, die ihr gesamtes Dasein in Frage stellt. Beispiel 22: Aus „LEUTNANT GUSTL" (1900) von Arthur Schnitzler Die Erzählung ist unter anderem auch eine böse Satte auf den Ehrenkodex der k.u.k. Offiziere: Der Leutnant Custl wird nach einem Konzert von einem „satisfaktionsunfähigen" Bäcker beleidigt. Die ganze Nacht reflektiert er über seine Situation, ehe er am Morgen erfährt, daß sein Beleidiger am Schlagfluß gestorben ist. l Was, ich bin schon auf der Straße? Wie bin ich denn da herausgekommen? - So kühl ist es... ah, der Wind, der ist gut ... Wer ist denn das da drüben? Warum schau'n denn die zu mir herüber? Am Ende haben die was gehört ... Nein, es kann niemand was gehört haben ... ich weiß ja, ich hab' mich gleich nachher umgeschaut! Keiner hat sich um mich gekümmert, nie- 5 mand hat was gehört... Aber gesagt hat cr's, wenn's auch niemand gehört hat; gesagt hat er's doch. Und ich bin dagestanden und hab' mir's gefallen lassen, wie wenn mich einer vor den Kopf geschlagen hätt'! ... Aber ich hab' ja nichts sagen können, nichts tun können; es war ja noch das einzige, was mir übrig geblieben ist: stad sein, stad sein! ... 's ist fürchterlich, es ist nicht zum Aushalten; ich muß ihn totschlagen, wo ich ihn treff! ... Mir sagt das einer! Mir 10 sagt das so ein Kerl, so ein Hund! Und er kennt mich ... Herrgott noch einmal, er kennt mich, er weiß, wer ich bin! ... Er kann jedem Menschen erzählen, daß er mir das g'sagt hat! ... Nein, nein, das wird er ja nicht tun, sonst hätt' er auch nicht so leise geredet ... er hat auch nur wollen, daß ich es allein hör! ... Aber wer garantiert mir, daß er's nicht doch erzählt, heut' oder morgen, seiner Frau, seiner Tochter, seinen Bekannten im Kaffeehaus. - Um Gottes 15 willen, morgen sch' ich ihn ja wieder! Wenn ich morgen ins Kaffeehaus komm', sitzt er wie- ■ der dort wie alle Tag' und spielt seinen Tapper mit dem Herrn Schlesinger und mit dem Kunstblumenhändler ... Nein, nein, das geht ja nicht, das geht ja nicht ... Wenn ich ihn seh', so hau' ich ihn zusammen ... Nein, das darf ich ja nicht ... gleich hätt' ich's tun müssen, gleich! [...] Dummer Bub - dummer Bub ... und ich bin dagestanden - heiliger Himmel, es 20 ist doch ganz egal, ob ein anderer was weiß! ... ich weiß es doch, und das ist die Hauptsache! Ich spür', daß ich jetzt wer anderer bin, als vor einer Stunde - Ich weiß, daß ich satisfaktions-unfähig bin, und darum muß ich mich totschießen ... Keine ruhige Minute hätt' ich mehr im Leben ... immer hätt' ich die Angst, daß es doch einer erfahren könnt', so oder so ... und daß mir's einer einmal ins Gesicht sagt, was heut' abend gescheh'n ist! - Was für ein glücklicher 25 Mensch bin ich vor einer Stund' gewesen ... Der ganze Text ist in dieser Erzähltechnik abgefaßt. Man nennt sie den „inneren Monolog". 13 Benennen Sie die Kennzeichen dieser Technik und ihre gedanklichen Voraussetzungen (Impressionismus, Ernst Mach)! Wie verhalten sich hier Erzählzcit und erzählte Zeit zueinander (vgl. Ferdinand von Saar)? Rainer Maria Rilke Der in Prag geborene Dichter (1875 -1926) wurde von seiner Mutter, die sich eine Tochter gewünscht hatte, als Mädchen erzogen. Schon früh flüchtete er vor der lauten Welt mit all ihrer Geschäftigkeit in eine völlig passive Hallung gegenüber den Dingen, Sternen, Steinen, Pflanzen, Tieren und Menschen. Mit Hilfe der Kunst wollte er jene Unmittelbarkeit im Umgang mit den Dingen wiedererlangen, die ihm im industriellen Zeitalter verlorenzugehen schien. Beispiel 23: „ICH FÜRCHTE MICH SO VOR DER MENSCHEN WORT ..." (1897) von Rainer Maria Rilke Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn, und das Ende ist dort. Sie sprechen alles so deutlich aus: Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott. Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör' ich so gern. Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm, Ihr bringt mir alle die Dinge um. Sein Urerlebnis war das Gefühl der Heimatlosigkeit, des Allein- und Einsamseins innerhalb der lärmenden Welt: „Ich habe kein Vaterhaus, / und habe auch keines verloren; / meine Mutter hat mich in die Welt hinaus geboren." So wurde Rilke ein lebenslang Reisender. Aul zwei Rußlandreisen erfuhr er den Osten als idealen naturnahen Lebensbereich und gelangte zu einem panlheistischen Daseinsgefühl des Einsseins mit Gott und Schöpfung. Beispiel 24: Aus dem „STUNDENBUCH" (1905) von Rainer Maria Rilke Die Städte aber wollen nur das Ihre Und reißen alles mit in ihrem Lauf. Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere Und brauchen viele Völker brennend auf. Der innere Monolog F «r.---^ 1 Rilkes Zivilisülionskritik 226 227 Und ihre Menschen dienen in Kulturen Und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß, Und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren Und fahren rascher, wo sie langsam fuhren, Und fühlen sich und funkeln wie die Huren Und lärmen lauter mit Metall und Glas. Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte, Sie können gar nicht mehr sie selber sein, Das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte Und ist wie Ostwind groß und sie sind klein Und ausgehöhlt und warten, daß der Wein Und alles Gift der Tier- und Menschensäfte Sie reize zu vergänglichem Geschäfte. 14 Wie sieht Rilke gegenüber der gesuchten kosmischen Natur die Folgen der modernen Zivilisation? - Beachten Sie die Form des Gedichts! Während eines längeren Aufenthalts (1900 - 1902) in der Worpsweder Künstlerkolonie (Norddeutschland), wo er die Bildhauerin Clara Westhoff heiratete, und als Privatsekretär des Bildhauers Auguste Rodin in Paris (ab 1902) wandte er sich einer plastischkonkreten literarischen Darstellungsweise zu. Nach dem Vorbild der Bildhauerei versuchte er, die Dinge in ihrem Wesen ohne alle zeitgebundenen Eigenschaften zu erfassen, das lyrische Ich wurde in diesen „Ding-Gedichten" (vgl. den Vorläufer C.F. Meyer!) weitgehend ausgeschaltet. Beispiel 25: Aus „NEUE GEDICHTE" (1907) von Rainer Maria Rilke DER PANTHER Im Jardin des Plantes, Paris Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille -und hört im Herzen auf zu sein. 15 Manche Interpreten haben die Figur des Panthers als Symbol für die menschliche Existenz aufgefaßt. Wie sieht Rilke nach dieser Interpretation das Leben des Menschen zu seiner Zeit? In der Endphase seines Lebens, die er zum Teil in Südeuropa verbrachte, gestaltete Rilke wiederum das Gefühl eines innerlichen Einsseins mit allem, was ihn umgab: „Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen, / aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!" Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinncnraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum. Ich sorge mich, und in mir steht das Haus. Ich hüte mich, und in mir ist die Hut. Geliebter, der ich wurde: an mir ruht der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus. Beispiel 26: Aus „DIE AUFZEICHNUNGEN DES MALTE LAURIDS BRIGGE" (1910) von Rainer Maria Rilke Rilkes „Malte" ist einer der wichtigsten modernen Romane. Der Autor verzichtet darin auf einen geschlossenen Handlungszusammenhang. Wiedergegeben sind die isolierten Erlebnisse eines jungen dänischen Adeligen in der Großstadt Paris, seine äußerst subjektiven Wahrnehmungen, die durch keine gedanklichen oder ideologischen Vor-Urteile gelenkt sind. l Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich ein dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. 5 Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus L Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein. tu Besonders fasziniert und schockiert zugleich ist Malte angesichts der vielen abgebrochenen Häuser: Man sah in den verschiedenen Stockwerken Zimmerwände, an denen noch die Tapeten kleb-15 ten, da und dort den Ansatz des Fußbodens oder der Decke. Neben den Zimmerwänden blieb die ganze Mauer entlang noch ein schmutzigweißer Raum, und durch diesen kroch in unsäglich widerlichen, wurmweichen, gleichsam verdauenden Bewegungen die offene, rostfleckige Rinne der Abortröhre. Von den Wegen, die das Leuchtgas gegangen war, waren graue, staubige Spuren am Rande der Decken geblieben, und sie bogen da und dort, ganz unerwartet, 20 rund um und kamen in die farbige Wand hineingelaufen und in ein Loch hinein, das schwarz und rücksichtslos ausgerissen war. Am unvergeßlichsten aber waren die Wände selbst. Das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln, die geblieben waren, es stand auf dem handbreiten Rest der Fußböden, es war unter den Ansätzen der Ecken, wo es noch ein klein wenig Innenraum gab, zusammengekro-25 chen. Man konnte sehen, daß es in der Farbe war, die es langsam, Jahr um Jahr, verwandelt hatte: Blau in schimmliches Grün, Grün in Grau und Gelb in ein altes, abgestandenes Weiß, das fault. [...-] Man wird sagen, ich hätte lange davorgestanden; aber ich will einen Eid geben dafür, daß ich zu laufen begann, sobald ich die Mauer erkannt hatte. Denn das ist das Schreckliche, daß ich >o sie erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir. 16 Vergleichen Sie diese Sichtweise mit Städtedarstellungen in touristischen Reiseführern, auf Ansichtskarten etc.! Der subjektive Roman 1 Sei ruhig, ich will nicht mehr! 229 Frank Wedekind Der Schriftsteller Frank Wedekind (1864 -1918) war stets ein Verteidiger der ungebundenen Hingabe ans Leben, an die natürlichen Triebe, die er in der bürgerlichen Gesellschaft auf verhängnisvolle Weise unterdrückt sah. Obwohl auch er damit an Gedanken des Philosophen Nietzsche anknüpfte, proklamierte er eine andere Literatur als die gesell-schaftsferne Kunst des Ästhetizismus: Beispiel 27: Aus „DIE BÜCHSE DER PANDORA" von Frank Wedekind (1902, zusammen mit „Der Erdgeist", 1895, Wcdckinds Lulu-Tragödie) 1 ALWA: Das ist der Fluch, der auf unserer jungen deutschen Literatur lastet, daß wir Dichter viel zu literarisch sind. Wir kennen keine anderen Fragen und Probleme als solche, die unter Schriftstellern und Gelehrten auftauchen. Unser Gesichtskreis reicht über die Grenzen unserer Zunftintcrcsscn nicht hinaus. Um wieder auf die Fährte einer großen gewalti- 5 gen Kunst zu gelangen, müßten wir uns möglichst viel unter Menschen bewegen, die nie in ihrem Leben ein Buch gelesen haben, denen die einfachsten animalischen Instinkte bei ihren Handlungen maßgebend sind. Der Schriftsteller Aiwa ist in dem Stück einer der Männer um Lulu, die „Urgeslalt des Weibes" ah unverfälschte Natur. Um ihren Besitz kommt ein tödliches Spiel innerhalb der Männerwelt in Gang, an dem am Ende auch Lulu selbst zugrunde geht. Beispiel 28: Aus „FRÜHLINGS ERWACHEN" (1891) von Frank Wedekind Wedekinds „Kindertragödic" wurde von der Zensur verboten: das Stück griff nicht nur die autoritären Erziehungsstrukturen seiner Zeit, sondern auch die sexuelle Unterdrückung der damaligen Jugendlichen an. Die vierzehnjährige Wendla fleht ihre Mutter an, ihr endlich zu erklären, „wie das alles zugeht". i FRAU BERGMANN: Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht die Schuld trage! Der Himmel kennt mich! - Komm in Gottes Namen! - Ich will dir erzählen, Mädchen, wie du in diese Welt hineingekommen. - So hör mich an, Wendla ... WENDLA (unter ihrer Schürze): Ich höre. 5 FRAU BERGMANN (ekstatisch): Aber es geht ja nicht, Kind! - Ich kann es ja nicht verantworten. - Ich verdiene ja, daß man mich ins Gefängnis setzt - daß man dich von mir nimmt... WENDLA (unter ihrer Schürze): Faß dir ein Herz, Mutter! [...] FRAU BERGMANN: Um ein Kind zu bekommen - muß man den Mann - mit dem man ver-io heiratet ist... lieben - lieben sag ich dir - wie man nur einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr von ganzem Herzen lieben, wie - wie sich's nicht sagen läßt! Man muß ihn lieben, Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst... Jetzt weißt du's. WENDLA (sich erhebend): Großer - Gott - im Himmel! FRAU BERGMANN: Jetzt weißt du, welche Prüfungen dir bevorstehen! 15 WENDLA: Und das ist alles? FRAU BERGMANN: So wahr mir Gott helfe! Wendla stirbt später an einer Abtreibung. Die männlichen Hauptfiguren sind die Gymnasiasten Moritz, der sich wegen Schulversagens und Angst vor dem Vater erschießt, und Melchior, der ihn sexuell aufgeklärt hat und deshalb von der Schule gewiesen wird. i MORITZ: Glaubst du nicht auch, Melchior, daß das Schamgefühl im Menschen nur ein Produkt seiner Erziehung ist? MELCHIOR: Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht. Es scheint mir immerhin tief eingewurzelt in der menschlichen Natur. Denke dir, du sollst dich vollständig entklei- 5 den vor deinem besten Freund. Du wirst es nicht tun, wenn er es nicht zugleich auch tut. -Es ist eben auch mehr oder weniger Modesache. MORITZ: Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder habe, Knaben und Mädchen, so lasse ich sie von früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich auf ein und demselben Lager, zusammcnschlafen, lasse ich sie morgens und abends beim An- und Auskleiden einander behilflich sein und in der heißen Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die Mädchen, tagsüber nichts als eine kurze, mit einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem Wollstoff tragen. - Mir ist, sie müßten, wenn sie so heranwachsen, später ruhiger sein, als wir es in der . Regel sind. Als Melchior am Grab Wendlas den Selbstmord-Verlockungen des toten Moritz nachgeben will, holt ihn ein „vermummter Herr", den damals Wedekind selbst spielte, in einer programmatischen Schlußszene „ins Leben" zurück: „Ich erschließe dir die Welt. Deine momentane Fassungslosigkeit entspringt deiner miserablen Lage. Mit einem warmen Abendessen im Leib spottest du ihrer." 17 Was hat sich seit Wedekinds Zeit an den Erziehungsstrukturen geändert? Was halten Sie heute noch für verändernswert? Völlig anders als die Lyrik des Ästhetizismus sehen auch Wedekinds Gedichte aus. Er ist einer der wichtigsten Autoren in der Geschichte der bänkelsangerischen Ballade. Bänkelsänger waren einst umherziehende Jahrmarktssänger, die vor allem Neuigkeiten und aufregende Schauergeschichten zum besten gaben. Wedekind, der selbst in dem berühmten kritischen Kabarett „Die vier Scharfrichter" auftrat, wurde zur Vorbildfigur für viele moderne Kabarettisten. Beispiel 29: „BRIGITTE B.' von Frank Wedekind Ein junges Mädchen kam nach Baden, Brigitte B. war sie genannt, Fand Stellung dort in einem Laden, Wo sie gut angeschrieben stand. Die Dame, schon ein wenig älter, War dem Geschäfte zugetan, Der Herr ein höherer Angestellter Der königlichen Eisenbahn. Die Dame sagt nun eines Tages, Wie man zur Nacht gegessen hat: „Nimm dies Paket, mein Kind, und trag es Zu der Baronin vor der Stadt," Auf diesem Wege traf Brigitte Jedoch ein Individium, Das hat an sie nur eine Bitte, Wenn nicht, dann bringe er sich um. Brigitte, völlig unerfahren, Gab sich ihm mehr aus Mitleid hin. Drauf ging er fort mit ihren Waren Und ließ sie in der Lage drin. Sie könnt es anfangs gar nicht fassen, Dann lief sie heulend und gestand, Daß sie sich hat verführen lassen, Was die Madam begreiflich fand. Daß aber dabei die Tournüre1 Für die Baronin vor der Stadt Gestohlen worden sei, das schnüre Das Herz ihr ab, sie hab sie satt. Brigitte warf sich vor ihr nieder, Sie sei gewiß nicht mehr so dumm; Den Abend aber schlief sie wieder Bei ihrem Individium. Und als die Herrschaft dann um Pfingsten Ausflog mit dem Gesangverein. Lud sie ihn ohne die geringsten Bedenken abends zu sich ein. Sofort ließ er sich alles zeigen, Den Schreibtisch und den Kassenschrank, Macht die Papiere sich zu eigen Und zollt ihr nicht mal mehr den Dank. Brigitte, als sie nun gesehen, Was ihr Geliebter angericht'. Entwich auf unhörbaren Zehen Dem Ehepaar aus dem Gesicht. Vorgestern hat man sie gefangen, Es läßt sich nicht erzählen, wo; Dem Jüngling, der die Tat begangen, Dem ging es gestern ebenso. 18 Wie wird Brigitte charakterisiert? An welchem gesellschaftlichen Problem der Zeit scheitert sie? Was ist an der Reaktion der Madam auffällig? - Vergleichen Sie die sprachliche Form des Textes mit Gedichten Georges, Hofmannsthals oder Rilkes! 1 Boheme: ' unbürgerliches Künstlermilieu Bilanz der Epoche: Thomas Manns „Buddenbrooks" Wir haben gesehen, wie in der Literatur des späten 19. Jahrhunderts Künstlertum und bürgerliche Lebenspraxis immer weniger vereinbar schienen (vgl. Ästhetizismus!). Besonders geprägt von dem Konflikt zwischen weltferner Kunst und bürgerlicher Alltagsexistenz ist das Werk des Romanautors, Erzählers und Nobelpreisträgers (1929) Thomas Mann (1875 - 1955). Im Fall der Hauptfigur der Novelle „TONIO KRÖGER" tritt dieses,Dilemma im Charakter einer einzelnen Person zutage: Beispiel 30: Aus „TONIO KRÖGER" (1903) von Thomas Mann i Mein Vater, wissen Sie, war ein nordisches Temperament: betrachtsam, gründlich, korrekt aus Purilanismus und zur Wehmut geneigt; meine Mutter von unbestimmt exotischem Blut, schön, sinnlich, naiv, zugleich fahrlässig und leidenschaftlich und von einer impulsiven Liederlichkeit. Ganz ohne Zweifel war dies eine Mischung, die außerordentliche Möglichkeiten - 5 und außerordentliche Gefahren in sich schloß. Was herauskam, war dies: ein Bürger, der sich in die Kunst verirrte, ein Bohemien1 mit Heimweh nach der guten Kinderstube, ein Künstler mit schlechtem Gewissen. Denn mein bürgerliches Gewissen ist es ja, was mich in allem Künstlertum, aller Außerordentlichkeit und allem Genie etwas tief Zweideutiges, tief Anrüchiges, tief Zweifelhaftes erblicken läßt, was mich mit dieser verliebten Schwäche für io das Simple, Treuherzige und Angenehm-Normale, das Ungeniale und Anständige erfüllt. Ich stehe zwischen zwei Welten, bin in keiner daheim und habe es infolgedessen ein wenig schwer. Ihr Künstler nennt mich einen Bürger, und die Bürger sind versucht, mich zu verhaften ... ich weiß nicht, was von beiden mich bitlerer kränkt. Die Bürger sind dumm: ihr Anbeter der Schönheit aber, die ihr mich phlegmatisch und ohne Sehnsucht heißt, solltet beden- 15 ken, daß es ein Künstlertum gibt, so tief, so von Anbeginn und Schicksals wegen, daß keine Sehnsucht ihm süßer und empfindenswerter erscheint als die nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit. Manns Roman „BUDDENBROOKS" (1901) schildert den Verfall und Niedergang einer Lübecker Großkaufmannsfamilie durch vier Generationen in der Zeit von 1835 bis 1878. Ihr materieller Wohlstand verringert sich in dem Ausmaß, als sich die ursprünglich lebenstüchtigen, praktischen, auf ihren Vorteil bedachten Familienmitglieder verfeinern und kultivieren. Die Zunahme an sensibler Geistigkeit und auftretende künstlerische Neigungen rauben ihnen die Lebenstüchtigkeit und bedingen den Zusammenbruch des Kaufmannshauses. Johannes Buddenbrook, der erfolgreiche Kornhändler aus der napuleonischen Zeit, ist noch ein weltoffener Mann. Seinem Sohn, dem niederländischen Konsul Johann Buddenbrook, fehlt bereits der Weitblick und die Persönlichkeit seines Vaters. Thomas, der schöngeistige Vertreter der nächsten Generation, ist im Innersten bereits ohne jede Sicherheit, und Hanno, der künstlerisch begabte Enkel des Konsuls, flächtet vollends aus der harten Wirklichkeit und stirbt in jungen Jahren. Beispiel 31: Aus „BUDDENBROOKS" (1901) von Thomas Mann Mit dem berühmten Selbstgespräch des Konsuls Johann Buddenbrook nach seiner Lektüre Schopenhauers gelangen wir abschließend noch einmal zu dem Philosophen eines resignierenden Bürgertums, der neben Nietzsche, Wagner, Goethe, Fontane und Tolstoi zu den prägenden Einflüssen Thomas Manns gehörte: l Eine ungekannte, große und dankbare Zufriedenheit erfüllte ihn. Er empfand die unvergleichliche Genugtuung, zu sehen, wie ein gewaltig überlegenes Gehirn sich des Lebens, dieses so starken, grausamen und höhnischen Lebens, bemächtigt, um es zu bezwingen und zu verurteilen ... die Genugtuung des Leidenden, der vor der Kälte und Härte des Lebens sein Leiden 5 beständig schamvoll und bösen Gewissens versteckt hielt und plötzlich aus der Hand eines Großen und Weisen die grundsätzliche und feierliche Berechtigung erhält, an der Welt zu leiden - dieser besten aller denkbaren Welten, von der mit spielendem Hohne bewiesen ward, daß sie die schlechteste aller denkbaren sei. [...] Was war der Tod? Die Antwort darauf erschien ihm nicht in armen und wichtigtuerischen 10 Worten: er fühlte sie, er besaß sie zuinnerst. Der Tod war ein Glück, so tief, daß es nur in begnadeten Augenblicken, wie dieser, ganz zu ermessen war. Er war die Rückkunft von einem unsäglich peinlichen Irrgang, die Korrektur eines schweren Fehlers, die Befreiung von den widrigsten Banden und Schranken - einen beklagenswerten Unglücksfall machte er wieder gut. 15 Ende und Auflösung? Dreimal erbarmungswürdig jeder, der diese nichtigen Begriffe als Schrecknisse empfand! Was würde enden und was sich auflösen? Dieser sein Leib ... Diese seine Persönlichkeit und Individualität, dieses schwerfällige, störrische, fehlerhafte und has-senswerte Hindernis, etwas Anderes und Besseres zu sein! War nicht jeder Mensch ein Mißgriff und Fehltritt? Geriet er nicht in eine peinvolle Haft, 20 sowie er geboren ward? Cefängnis! Gefängnis! Schranken und Bande überall! Durch die Gitterfenster seiner Individualität starrt der Mensch hoffnungslos auf die Ringmauern der äußeren Umstände, bis der Tod kommt und ihn zur Heimkehr und Freiheit ruft [...]. Ich trage den Keim, den Ansatz, die Möglichkeit zu allen Befähigungen und Betätigungen der Welt in mir ... Wo könnte ich sein, wenn ich nicht hier wäre! Wer, was, wie könnte ich sein, 25 wenn ich nicht ich wäre, wenn diese meine persönliche Erscheinung mich nicht abschlösse und mein Bewußtsein von dem aller derer trennte, die nicht ich sind! Organismus! Blinde, unbedachte, bedauerliche Eruption des drängenden Willens! Besser, wahrhaftig, dieser Wille webt frei in räum- und zeitloser Nacht, als daß er in einem Kerker schmachtet, der von dem zitternden und wankenden Flämmchen des Intellektes notdürftig erhellt wird! 19 Thomas Mann verwendet hier zum Teil eine moderne Erzähltechnik, die sich sowohl von der direkten als auch von der indirekten Rede unterscheidet: die sogenannte „erlebte Rede" (vgl. Z. 9 - 20). Versuchen Sie, aus dem Text die Merkmale der „erlebten Rede" abzuleiten! Die erlebte Rede 232 235 Seitenblicke Der Expressionismus Malerei Musik In der Malerei löste die Erfindung der Fotografie besonders weitreichende Konsequenzen aus: Durch die überlegene neue Technik wurde für den bildenden Künstler die möglichst naturgetreue Wiedergabe der Wirklichkeit als Ziel immer fragwürdiger. Neue Richtungen konzentrierten sich auf Darstellungsmöglichkeiten, die der Fotografie unzugänglich waren. Über den die Gesellschaft anklagenden Naturalismus einer Käthe Kollwitz (1867-1945) und den Impressionismus eines Edouard Manet (1852-1883), Claude Monet (1840-1926) und Auguste Renoir (1841-1919) führen Linien zur Malerei Vincent van Goghs (1853-1890) und Paul Gauguins (1848-1903). Als Vater der modernen Kunst gilt Paul Cezanne (1839-1906), der mit der Auflösung der Bilder in Farbflächen, mit Verzerrungen von Konturen etc. schon Verfahrensweisen der modernen Kunst vorwegnahm. In Wien blühte um die Jahrhundertwende der Jugendstil, den man in der Malerei mit Namen wie Gustav Klimt (1862-1918) und Koloman Moser (1868-1919) verbindet. (Druckgraphiken von Kollwitz und Klimt finden Sie auf S, 210, ein Ölbild von Monet im Farbteil.) In der Musik gab es eine dem Naturalismus ähnliche Bewegung: den Verismo. Er kündigte sich schon bei Georges Bizet (1838-1875) in der Oper „Carmen" an (eine Fabriksarbeiterin einer Tabakfabrik als Hauptfigur) und fand seinen Höhepunkt in dem Einakter „Cavalleria rusticana" (Sizilianische Bauernehre) von Pietro Mascagni (1863-1945). Allgemein hatte die italienische Oper in Giuseppe Verdi (1813-1901) ihren bedeutendsten Vertreter. In Österreich und Deutschland wirkten vor allem Gustav Mahler (1860-1911) und Richard Strauss (1864-1949). Mahler brachte in seinen Orchesterliedern, besonders aber in seinen teilweise riesenhaften Symphonien das gebrochene Wcltgcfühl seiner Zeit zum Ausdruck, die vergebliche Sehnsucht des modernen Menschen nach naturhafter Einfachheit und eine deutliche Vorahnung vom kommenden Zusammenbruch der traditionellen Lebens- und Wertordnungen. Das Werk von Strauss erlaubt zahlreiche Querbezüge zur Literatur. In vielen seiner „Symphonischen Dichtungen" vertonte er Werke der Weltliteratur, z. B. „Don Juan" (nach Lenau), „Till Eulenspiegel", „Also sprach Zarathustra" (nach Nietzsche) und „Don Quixote" (nach Cervantes), Seine enge Zusammenarbeit mit dem Opernlibrettisten Hugo von Hofmannsthal haben wir schon erwähnt. ZUSAMMENFASSENDE STICHWORTE ■ Paralleler Verlauf mehrerer Bewegungen (-ismen) in gemeinsamer Wendung gegen den Naturalismus: v.a. Impressionismus als Versuch einer Wiedergabe der subjektiven Wahrnehmung von Realität und der davon ausgelösten Gcfühlsreaktion (Stimmungen); Symbolismus als Versuch eines künstlerischen Vorstoßes zu schwer oder nicht Sagbarem durch vieldeutige literarische Zeichen. ■ Asthetizistische, elitäre Grundhaltung vieler Autoren, Schönheitskult als Protest gegen die Tendenzen der Zeit. ■ Gestaltung einer von der Realität abgehobenen, betont artifiziellen künstlerischen Welt. ■ Vorherrschaft einer bilderreichen, symbolbeladenen Lyrik. ■ Autoren: Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke; andere wichtige Autoren außerhalb dieser Bewegungen; Arthur Schnitzler, Frank Wedekind. Tips zum Weiterlesen Hermann Bahr: „Das Konzen" (Lustspiel) Hugo von Hofmannsthal: „Reitergeschichte", „Das Märchen der 672. Nacht" (Erzählungen); „Der Unbestechliche" (Lustspiel) Thomas Mann: „Der Tod in Venedig" (Novelle) Arthur Schnitzler; „Fräulein Else", „Traumnovelle", „Spiel im Morgengrauen" (Novellen); „Professor Bemhardi", „Reigen" (Dramen) Oscar Wilde: „Das Bildnis des Dorian Cray" (Roman) So wie den Begriff „Impressionismus" (Eindruckskunst) verbindet man auch „Expressionismus" (Ausdruckskunst) vorwiegend mit der bildenden Kunst. 1 Suchen Sie die Gemälde „Träumendes Pferd" von Franz Marc und „Brennende Stadt" von Ludwig Meidner im Farbteil und benennen Sie die charakteristischen Merkmale (beachten Sie vor allem die Art der Realitätsdarstellung, auch im Vergleich zum Impressionismus)! Vergleichen Sie dazu den folgenden Ausschnitt aus dem Aufsatz „Über den dichterischen Expressionismus" (1918) von Kasimir Edschraid (1890-1966): „Die Realität muß von uns geschaffen werden. Der Sinn des Gegenstands muß erwühlt sein. Begnügt darf sich nicht werden mit der geglaubten, gewähnten, notierten Tatsache, es muß das Bild der Welt rein und unverfälscht gespiegelt werden. Das ist aber nur in uns selbst." 234 Seitenblicke 1905 löste eine Ausstellung junger expressionistischer Maler in Paris Empörung aus. Nach einem Schimpfwort eines verärgerten Kunstkritikers nennt man sie (unter ihnen Henri Matissc und André Derain) heute noch Fauvisten (Les Fauves - die wilden Tiere). Der italienische Futurismus pries überschwenglich Technik und Fortschritt und forderte, „die Schönheit der Geschwindigkeit" und „die angriffslustige Bewegung" zu besingen: „Ein rasendes Automobil ist schöner als die Nike von Samothrake" („Futuristisches Manifest" von Filippo Tom-maso Marinetti, 1909). (Der deutsche Expressionismus teilte diese blinde Verherrlichung der Maschine und des Tempos allerdings nicht.) In Deutschland beriefen sich die bildenden Künstler vor allem auf den norwegischen Maler Edvard Münch (1863-1944), dem mit seinem Bild „Der Schrei" eine der berühmtesten Gestaltungen modemer Weltangst gelang. Die Malergruppen der „Brücke" in Dresden mit Emil Nolde (1867-1956), Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976) und Erich Heckel (1883-1970) und des „Blauen Reiters" in München mit Wassily Kandinsky (1866-1944), August Macke (1887-1914) und Franz Marc (1880-1916) brachten die neue expressionistische Kunstrichtung in Deutschland zum Durchbruch. Als Österreicher sind Oskar Kokoschka (1886-1980), der auch als Schriftsteller hervortrat, und Egon Schiele (1890 -1918) besonders zu nennen. Der Fauvismus Der Futurismus Expressionisti-sehe Malerei 235