Österreich: Kultur, Geschichte und Gesellschaft. Das Jahr 1918 in der österreichischen Literatur Lektüreliste 1. EHRENSTEIN, Albert: „Wien" In: Albert Ehrenstein: Werke. Hg. v. Hanni Mittelmann. Bd. 4/II. Gedichte. Erster Teilband. München: Boer Verlag 1997, S. 173f. 2. KRAUS, Karl: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Frankfurt/M: Suhrkamp 1986, S. 84-87 und 94-97 (= 1. Akt, Szene 2, 3 und 4 und Szene 7) 3. MUSIL, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und Zweites Buch. Hg. v. Adolf Frise. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1995, S. 9-11. (= Kapitel 1: „Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht") 4. RODE, Walther: „Circenses". In: Walter Rode: Werkausgabe Band 1. Hg. v. Gerd Baumgartner. Wien: Locker 2006, S. 271-273. 5. SCHNITZLER, Arthur: Lieutenant Gustl. Hg. v. Konstanze Fliedl. Mit Anmerkungen und Literaturhinweisen von Evelyne Polt-Heinzl. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2002. (obligatorisch: S. 7-19) 6. TORBERG, Friedrich: Die Tante Jolesch. München: Langen Müller 1980. S. 27-30. (= Beginn von „Exkurs über die vielfältige Bedeutung des Wörtchens ,was"') 7. WERFEL, Franz: Barbara oder die Frömmigkeit. Frankfurt/Main: S. Fischer. 3. Aufl. 2006, S. 288-299. 8. ZWEIG, Stefan: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Berlin: Aufbau 1981. S. 263-269 und S. 273-279. Die Gedichte 174 Die Gedichte Wien Wien weint hin im Ruin. Wien, du alte, kalte Hure, Ich kauerte an deines Grabes Mauer, Da du noch locktest Ein mürbes Goderl dieser Welt. Du hurtest hurtig mit Hurradämonen, Kriegsüber siegerischen Drohnen; Nun hungernd unkst du unter deiner Lasier Last: Du hast ein Reich verpraßt, Das nie den Armen nährte, Der nie sich gegen der Gewalt Galgen empörte! Stumpf stiehlt er Holz vom Friedhof, Zu heizen mit den Grabkreuzen. Wien - nieder brennt dein Feuer. Dein Tag verkohlt. Menschen zu Asche sinkt von Höhen weiland der Wald. Edler ist das ärmste Tier. Aufqualme roter Feuertag der Städtezerstörer! Ich rufe Wehe über die Stadt, Ich rufe Wehe über das Wesen, Das um Asche und Papier Den Wald vergessen hat! Ich sehe letztes Laub vom kahlen Berge sinken, Ich seh den letzten Baum des Wiener Waldes fallen, Sein blutendes Holz in Glutnacht ertrinken -Es wärmt euch nicht: Des Hauses Wände fallen In den Vorüberstrom! Ewig deine Wogen, o Donau, Ewig der Schimmer der Alpen, Sie überwintern gut Jenseits eures Abends und Morgens; Der Mensch fällt in dein Wasser, Notstrom, Der Stein erschlägt ihn des Berges Für den ermordeten Wald! Die Städte muß man zerstören, Ihre Häuser sind Sorgen aus Papier, Menschenfleisch fressen ihre Bewohner, Selbstsucht aus ihren Rachen riecht wie ein verwesendes Tier. Nirgends ist der Sterne Berghimmel, so fern wie hier. Im Sumpf des Wuchers: Handels Ahnet ihr nicht das Heilige Land! Brecht auf! Wollt ihr In den faden Eheebenen der graden Straßen Zugi-undestehn?! Ich bitte euch, zerstöret die Stadt, Ich bitte euch, zerstöret die Städte: Ich bitte euch, zerstört die Maschinen. Zerreißet alle Wahnschienen! Entheiligt ist euer Ort, Euer Wissen ist nördliche Wüste, Darin die Sonne verdorrt. Ich beschwöre euch, zerstampfet die Stadt, Ich beschwöre euch, zertrümmert die Städte, Ich beschwöre euch, zerstört die Maschine: Ich beschwöre euch, zerstöret den Staat! 1 ■ Last Kra^; Dive Uiitau Taj«- h«utciiket+ 2. SZENE Südtirol. Vor einer Brücke. Ein Automobil wird angehalten. Der Chauffeur weist den Fahrtausweis vor. Der Landsturmmann: Grüaß Good die Herrschaften! Derf ich bitten — Der Nörgler: Endlich einmal ein freundlicher Mann. Die andern sind alle so rabiat und legen gleich an — Der Landsturmmann: Jo 's is zwegn an ruassischen Auto-mobüll mit Gold, no und da — Der Nörgler: Aber ein Automobil, das halten will, kann doch nicht auf die Sekunde halten, sondern rollt noch ein paar Meter — da kann ja das größte Unglück passieren. Der Landsturmmann (in Rage): Jo — wonn eins net holten tuat — da schiaß ma alls zsamm — Schiaß ma alls zsamm — Schiaß ma alls — (Das Automobil fährt weiter.) (Perwandlung.) }. SZENE Hinter der Brücke. Ein Heerhaufen um das Automobil. Der Chauffeur weist den Fahrtausweis vor. Ein Soldat (mit angelegtem Gewehr): Halt! Der Nörgler: Der Wagen steht doch schon. Warum ist denn der Mann so rabiat? Der Hauptmann (in Raserei).- Er erfüllt seine Pflicht. Wenn er nur im Feld rabiat is mit'n Feind, so is scho recht! Der Nörgler: Ja, aber wir sind ja doch nicht — Der Hauptmann: Krieg is Krieg! Basta! (Das Automobil fährt weiter.) (Verwandlung.) 4. SZENE Der Optimist und der Nörgler im Gespräch. Der Optimist: Da können Sie von Glück sagen. In Steiermark ist eine Rote Kreuz-Schwester, deren Automobil nor ein paar Meter gerollt ist, erschossen worden. Der Nörgler: Dem Knecht ist Gewalt gegeben. Das wird seine Natur nicht vertragen. Der Optimist: Übergriffe untergeordneter Organe werden im Kriege leider nicht zu vermeiden sein. In solcher Zeit muß aber jede Rücksicht dem einen Gedanken untergeordnet werden: zu siegen. Der Nörgler: Die Gewalt, die dem Knecht gegeben ward, wird nicht ausreichen, um mit dem Feind, wohl aber um mit dem Staat fertig zu werden. Der Optimist: Militarismus bedeutet Vermehrung der Staatsordnung durch Gewalt, um — Der Nörgler: — durch das Mittel zur schließlichen Auflösung zu führen. Im Krieg wird jeder zum Vorgesetzten seines Nebenmenschen. Das Militär ist Vorgesetzter des Staates, dem kein anderer Ausweg aus dem widernatürlichen Zwang bleibt als die Korruption. Wenn der Staatsmann den Militärmann über sich schalten läßt, so ist er der Faszination durch ein Idol der Fibel erlegen, das seine Zeit überlebt hat und von der unsern nicht mehr ungestraft in Leben und Tod übersetzt wird. Militärische Verwaltung ist die Verwendung des Bocks als Obergärtner und die Verwandlung des Gärtners zum Bock. Der Optimist: Ich weiß nicht, was Sie zu dieser düsteren Prognose berechtigt. Sie schließen offenbar, wie schon immer im Frieden, von unvermeidlichen Begleiterscheinungen auf das Ganze, Sie gehen von zufälligen Ärgernissen aus, die Sie für Symptome nehmen. Die Zeit ist viel zu groß, als daß wir uns mit Kleinigkeiten abgeben könnten. Der Nörgler: Aber sie werden mit ihr wachsen! Der Optimist: Das Bewußtsein, in einer Epoche zu leben, in der so gewaltige Dinge geschehen, wird auch den Geringsten über sich selbst erheben. Der Nörgler: Die kleinen Diebe, die noch nicht gehängt wurden, werden große werden, und man wird sie laufen bissen. ■ tr Optimist: Was auch der Geringste durch den Krieg ge-inen wird, ist — 84 T Der Nörgler: — Provision. Wer die Hand aufhält, wir(j auf Narben zeigen, die er nicht hat. Der Optimist: Wie der Staat, der für sein Prestige den unvermeidlichen Verteidigungskampf auf sich nimmt, Ehre gewinnt, so auch jeder einzelne, und was durch das jetzt vergossene Blut in die Welt kommen wird, ist — Der Nörgler: Schmutz. Der Optimist: Ja, Sie, der Sie ihn überall gesehen haben, fühlen, daß Ihre Zeit um ist! Verharren Sie nur nörgelnd wie eh und je in Ihrem Winkel — wir anderen gehen einer Ära des Seelenaufschwunges entgegen! Merken Sie denn nicht, daß eine neue, eine große Zeit angebrochen ist? Der Nörgler: Ich habe sie noch gekannt, wie sie so klein war, und sie wird es wieder werden. Der Optimist: Können Sie jetzt noch negieren? Hören Sie nicht den Jubel? Sehen Sie nicht die Begeisterung? Kann ein fühlendes Herz sich ihr entziehen? Sie sind das einzige. Glauben Sie, daß die große Gemütsbewegung der Massen nicht ihre Früchte tragen, daß diese herrliche Ouvertüre ohne Fortsetzung bleiben wird? Die heute jauchzen — Der Nörgler: — werden morgen klagen. Der Optimist: Was gilt das einzelne Leid! So wenig wie das einzelne Leben. Der Blick des Menschen ist endlich wieder emporgerichtet. Man lebt nicht nur für materiellen Gewinn, sondern auch — Der Nörgler: — für Orden. Der Optimist: Der Mensch lebt nicht vom Brote allein. Der Nörgler: Sondern er muß auch Krieg führen, um es nicht zu haben. Der Optimist: Brot wirds immer geben! Wir leben aber von der Hoffnung auf den Endsieg, an dem nicht zu zweifeln ist und vor dem wir — Der Nörgler: Hungers sterben werden. Der Optimist: Welch ein Kleinmut! Wie beschämt werden Sie einst dastehn! Verschließen Sie sich nicht, wo Feste gefeiert werden! Die Pforten der Seele sind aufgetan. Das Gedächtnis der Tage, in denen das Hinterland wenn auch 86 nUr durch Empfang des täglichen Berichtes Anteil an den Taten und Leiden einer glorreichen Front nahm, wird der Seele — Per Nörgler: — keine Narbe zurücklassen. Per Optimist: Die Völker werden aus dem Kriege nur lernen — pER Nörgler: — daß sie ihn künftig nicht unterlassen sollen. Per Optimist: Die Kugel ist aus dem Lauf und wird der Menschheit — Per Nörgler: — bei einem Ohr hinein und beim andern hinausgegangen sein! (Verwandlung.) 5. SZENE Am Ballhausplatz. Graf Leopold Franz Rudolf Ernest Vinzenz Innocenz Maria: Das Ultimatum war prima! Endlich, endlich! Baron Eduard Alois Josef Ottokar Ignazius Eusebius Maria: Foudroyant! No aber auf ein Haar hätten sie's angenommen. Per Graf: Das hätt mich rasend agassiert. Zum Glück hab'n wir die zwei Punkterln drin ghabt, unsere Untersuchung auf serbischem Boden und so — na dadrauf sinds halt doch nicht geflogen. Haben 's sich selber zuzuschreiben jetzt, die Serben. / Per Baron: Wann mans recht bedenkt— wegen zwei Punkterln — und also wegen so einer^Bagatell is der Weltkrieg ausgebrochen! Rasend komisch eigentlich. Der Graf: Dadrauf hab'n wir doch nicht verzichten können, daß wir die zwei Punkterln verlangt hab'n. Warum hab'n sie sich kapriziert, die Serben, daß sie die zwei Punkterln nicht angnommep haben? Der Baron:,No das war ja von vornherein klar, daß sie das nicht^a-finehmert wern. Der Graf: Das hab'n wir eben vorher gewußt. Der Poldi bigten Tatsache, daß die Wiener Bevölkerung-dem schrillen Johlen eines billigen Hurrapatriotismus abgeneigt ist, angesichts dieses mit Recht erregten Gelgenhändlers in weiterem Bogen auszuweichen. Rufe aus der Menge: ^»Was wolln denn die zwa Juden do?« »Die schaun aa,.s6 aus wie zwa vom Balkan!« »Fehlt ihnen nur der^K'äftan!« »Serben sans!« »Zwa Serben!« »Hochverräter!« »Hauts es!« (Die^k^iden Historiker verschwinden in einem Durchhause.) r (Verwandlung.) 7. SZENE Kohlmarkt. Vor der Drehtür am Eingang zum Cafe Pucher. Der alte Biach (sehr erregt); Das einfachste war, man würde werfen fünf Armeekorps gegen Rußland, wäre die Sache schon erledigt. Der kaiserliche Rat: Selbstredend. Der Hieb ist die beste Parade. Man muß sich nur die Deitschen anschaun, wie sie geleistet haben. Ein Elaan! So etwas wie der Durchbruch durch Belgien war noch nicht da! So etwas braucheten wir. Der Kompagnon: Sagen Sie was is also mit Ihrem Sohn? Der kaiserliche Rat: Enthoben, eine Sorg weniger. Aber die Situation — die Situation — glauben Sie mir, es steht nicht gut oben. So etwas wie der Durchbruch durch Belgien — ich sag Ihnen, einen frischen Offensivgeist — Der Kompagnon: Verschaffen Sie uns Belgien her — wem mr auch durchbrechen. Der Doktor: Einen Bismarck brauchten wir — Der alte Biach: Was hilft jetzt die Kunst der Diplomaten, jetzt sprechen die Waffen! Können wir uns einem Escheck aussetzen? Wenn wir nicht jetzt durchbrechen — Der Nörgler (will in das Lokal): Pardon — Der Doktor: Das leuchtet mir ein. Aber das strategische Moment, das im Bewegungskrieg den Flankenangriff — Der Kurzwarenhändler: Also verlassen Sie sich darauf, sie sind umzingelt, die Soffi Pollak hat es selber gesagt. Der alte Biach: Lassen Sie mich aus, sie weiß! Woher, niöcht ich wissen! Der Kurzwarenhändler: Woher? Wo ihr Mann eingerückt is in der Gartenbau im Reservespital? Der kaiserliche Rat: Es hat doch geheißen, er is enthoben? Umzingelt, das war großartig, das is nämlich müßts ihr wissen dasselbe wie umklammert. Der alte Biach (mit Begierde): Umklammern solin sie sie, daß ihnen der Atem ausgeht! Wenn ich nur einmal bei so einer Umklammerung dabei sein könnt! Der Kurzwarenhändler: Klein kann das, der is im Kriegspressequartier. Gestern hat er geschrieben, daß sie bis zum Weißbluten kommen wern. Früher laßt er nicht locker. Der Kompagnon: Glück muß man haben, dabei zu sein, Sie Dokter wie is das eigentlich mit diesem Kriegspressequartier? Kommt da nur herein, wer untauglich is oder auch wer tauglich is? Der Nörgler: Pardon — (Sie machen Platz.) Der Kurzwarenhändler: Was heißt tauglich? Hereinkommt, wenn einer schreiben kann, aber wenn er nicht schießen will, aber wenn er will, daß die andern schießen. Der kaiserliche Rat: Wie verstehe ich das? Wieso will er nicht schießen, aus Mitleid? Der Kurzwarenhändler: Nein, aus Vorsicht. Mitleid darf man beim Militär nicht haben und wenn er im Kriegspressequartier is, is er doch so gut wie beim Militär. Der alte Biach: Dieses Kriegspressequartier muß eine großartige Einrichtung sein! Man kann alles sehn. Es ist ganz nah bei der Front und die Front is bei der Schlacht, also wird Klein beinah in der Schlacht sein, er kann alles sehn, ohne daß es gefährlich is. Der Kompagnon: Da heißt es immer, bei einem modernen Schlachtfeld sieht man gar nix. Also sieht man im Kriegspressequartier sogar noch mehr wie wenn man direkt in der Schlacht is. Der Doktor: Gewissermaßen ja, und man kann sogar über mehrere Fronten auf einmal berichten. .94 95 Der kaiserliche Rat: Von Klein war ja die packende Schilderung in der Presse, daß die meisten Verwundungen der Unsern an den Außenflächen der Hände und Füße vorkommen, woraus hervorgeht, daß die Russen den Flankenangriff bevorzugen — Der Kurzwarenhändler: No, ein Roda Roda is er nicht! Da wird noch viel Wasser in den Dnjepr fließen, bis er so schreiben wird wie Roda Roda! Der kaiserliche Rat: Was mir an Roda Roda gefällt is vor allem, daß er fesch is. Er sagt, er will sich morgen an der Drina die Schlacht ansehn und er sieht sie sich an. Fesch! Der alte Biach: Nutzt nix, man spürt eben den ehemaligen Offizier — den Korsgeist! Mein Sohn is zwar enthoben, intressiert sich aber doch sehr, er will sogar den Streffleer abonnieren. Der kaiserliche Rat: Ich kann mir nicht helfen — ich bin sehr pessimistisch. Der alte Biach: Was heißt pessimistisch? Was wolln Sie haben, noch is Lemberg in unserem Besitz! Der Kompagnon: No also! Der Doktor: Zu Pessimistisch ist gar kein Grund. Schlimmstenfalls, wenn jetzt die Entscheidung fällt, ist es eine Partie remis. Der Kurzwarenhändler: Und ich sag Ihnen, ich weiß sogar von einen Herrn vom Ministerium, die Sache is so gut wie gemacht. Wir kommen von rechts, die Deitschen von links und wir zwicken sie, daß ihnen der Atem ausgeht. Der kaiserliche Rat: Schön — aber Serbien? Der alte Biach (rabiat); Serbien? Was heißt Serbien? Serbien wern wir weg fegen! Der kaiserliche Rat: Ich weiß nicht — ich kann mir nicht helfen — der heutige Bericht — man muß zwischen den Zeilen lesen können und wenn man sich die Karte hernimmt — ein Blick auf die Karte zeigt — sogar der einfache Laie — ich kann Ihnen beweisen, Serbien — Der alte Biach (gereizt): Lassen Sie mich aus mit Serbien, Serbien is ein Nebenkriegsschauplatz. Ich ärger mich. Gehn mr hinein, neugierig bin ich, was heut die Minister sprechen wern — ich schlage vor, meine Herrn, daß wir uns direkt am Nebentisch setzen. (Sie treten ein.) (Verwandlung.) 8. SZENE / J Eine Straße in der Vorstadt. Man sieht den Laden einer Modistin, eine Pathephonfirma, das Cafe TVestminster und eine Filiale der Putzerei Söldner & Chini. Es treten auf vier junge Burschen, deren einer eine Leiter, Papierstreifen und Klebestoff- trägt. y Erster: Hammr schon wieder einen erwischt! -Was steht da? Salon Stern, Modes et Robes. Das überklebn mr als a ganzer! / Zweiter: No aber der Name könnt doch^bleiben und daß mr weiß, was es für ein Gschäft is. Gib/her, das mach mr a so (er klebt und liest vor) Salo Stern Mode. So ghört sichs. Das is deutsch. Gehmr weiter. / Erster: Patephon, da schauts her, was is denn dös? Ist dös franzesisch? J Zweiter: Nein, das is lateinisch, das darf bleiben, aber da — da les ich: »Musikstücke deutsch, französisch, englisch, italienisch, russisch und hebräisch«. Dritter: Wos tan mr do? Erster: Das muß weg als a ganzer! Zweiter: Das mach nfr a so (er klebt und liest vor) »Musikstücke deutsch — hebräisch«. So ghört sichs. Dritter: Ja, aber'was is denn dös? Ah, da schaurija! Da steht ja Cafe Westminster, mir scheint das is gar eine englische Bezeichnung! Erster: Du/das laßt sich aber nur im Einverständnis machen, das j« ein Kaffeehaus, der Kaffeesieder könnt eine Persönlichkeit sein, wir hätten am End Unannehmlichkeiten. Rufmrn außa, warts. (Er geht hinein und kehrt augenblicklich mit dem Cafetier zurück, der sichtlich sehr bestürzt ist.l/Sie werden das gewiß einsehn — es ist ein padriotisches Q£fer — 9? I Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wan-q derte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und (5— verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isomeren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und f- Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der £v Venus, des Saturnrmges und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die ^Trocadero< und an unsere gemeinsamen Erlebnisse dortselbst.. .« Klingelzeichen. - Warum diktiert er das in der Divisionskanzlei?. .. Warum schämt er sich nicht vor mir?... Oder glaubt er vielleicht, daß er mir mit seinem >Trocadero< und seinem Elemer imponiert?. .. Die kleinen Augen, die er hat, und diese geschwollenen Ränder... >Herr Major, ich danke dem Herrn Major gehorsamst für die gütige Strenge.. .< Wenn ich daran denk, wird 289 mir heut noch zum Brechen übel. . . Wozu sitz ich eigentlich hier?... Du Pfiffikus, du Pfiffikus »Dü kannst dir denken, wie ich dich darum beneide, daß du in Wien bist. . . Ich werde lange nicht abkommen. . . Wie die Dinge liegen, muß ich hier den ganzen Krempel allein machen... In meinen Jahren kann ich ja sehr stolz daraufsein, aber es hilft nichts, ich sehne mich nach Wien.. . Was gibt man jetzt im Wiedner Theater?... Singt die Mizzi Günther noch und der Treumann? Betreffs der gewissen Angelegenheit werd ich mich bei der zuständigen Stelle informieren. Was der Vicki unter Grenzen der Standesehre versteht, ist mir schleierhaft Bitte hab die Gnad und vergiß nicht, mich der Baronin Etelka zu Füßen zu legen... *< - Daß man so etwas diktieren kann.. . Er hat abscheuliche Hände, genau wie der Zechpreller im »Richtkreis«... Die Gewaltmenschen werden an ihren Händen erkannt. . . Der Bademeister hat überhaupt keine Nägel gehabt... Karl Schwee, Jaroslav Teinfalt, Franz Pacak heißen sie... Jetzt wachen sie auf. . . Ich hör den Teinfalt weinen... Franta Pacak.. . Franta.. Was würde die Babi dazu sagen, wenn sie davon wüßte... Verflucht, ich kann mich nicht konzentrieren... Dem Jozsi stehen die Ohren ab... Er ist das Verhältnis vom Steidler. .. Jetzt weiß ich, was die Lausbuben damals am Sonntag in unserem Schlafsaal getrieben haben. . . Was für ein Esel war ich... Esel, Esel, Esel... - Ein langer Klingcltriller. »In den nächsten Tagen haben wir etwas zu erwarten. Ich war niemals der Ansicht, daß uns die russische Revolution viel nützen wird. Sie entfesselt naturgemäß die subversiven Elemente auf der eigenen Seite, und der Feind macht neue Anstrengungen. Gestern hat uns ein Beobachtungsflieger bei Tisch erzählt, daß vor einigen Tagen in den russischen Gräben ein Zivilist aufgetaucht sei und unter Jubelgeschrei eine lange Rede geschwungen habe. Kerenski heißt er...« - Macht er das absichtlich, um mich zu zermürben?. . Oder hat er mich doch nicht erkannt!?.. . Warum soll er mich erken- 2t)0 nen... Er ist ein großes Tier, und ich bin ein schäbiger Rcser-veleutnant... Morgen, morgen... Fünf Uhr dreißig... Eigentlich zwinge ich mich, daran zu denken. .. Seitdem er im Zimmer ist, bin ich wie ausgewunden... - Mehrere scharfe Klingelzeichen hintereinander. »Bitte noch einen Augenblick«, entschuldigte sich Steidler, und Jozsi spannte ein neues Blatt ein. - ich spüre, daß mir die drei von Minute zu Minute gleichgültiger werden... Das darf nicht sein... Es hilft aber nichts... Für mich ist jetzt nur er da... Ich kaue die Luft. Das tue ich immer. Luftkauen, wenn ich jemanden umbringen möchte... - »Tuminel dich, Jozsi! Phonogramm an alle Abschnittskommanden. Operationsnummer 873. Datum. Zehn Uhr sieben Minuten nachmittags. Dringende Urgenz. Es ist sofort anher zu berichten, warum Meldung über durchgeführten Einschub der deutschen und bosnischen Kompagnien in Stellungen Jose-fowka und Ferdinandowka noch nicht eingelangt ist...« Klingelzeichen. -Ich glaube nicht, daß ich länger sitzenbleiben kann ... Gott, Gott, diese Wut ist ganz falsch... ganz schlecht... Sie wird niemanden retten ... - »Unterschrift: Der Gencralstabschef in Stellvertretung... Sofort durchzugeben . . . Der Brief kommt noch heut auf die Feldpost... Abfahren, Jozsi!« Der Leutnant fuhr kerzengrad auf. Steidler kramte noch eine Weile herum, ehe er sich zum Zuhören bereit machte: »Es ist zwar sehr spät geworden - aber ich bitte sehr!?« Ferdinand wühlte krampfhaft in einer plötzlichen Nebelleere nach Worten: »Ich bin morgen... zum Kommandanten bestimmt...« Steidler wandte seine Augen nicht ab und zeigte keine Spur von Ungeduld: »Ich selbst hab dich bestimmt.« Das Klägliche, das er nicht hatte sagen wollen, stieß Ferdinand jetzt hervor: 21J1 »Herr Hauptmann, ich bitte gehorsamst, mich davon zu entheben, ii Ohne weniger liebenswürdig zu werden, wechselte Steidler das Kameradschafts-Du mit dem Dienstes-Sie: »Warum, Herr Leutnant?* »Ich fühlte mich dieser Aufgabe nicht gewachsen.« »Sind Sie vielleicht krank, Herr Leutnant?« erkundigte sich der Generalstäbler ohne eine Spur von Spott. »Nein! Ich bin körperlich vollkommen gesund.« Die stets gleichbleibende ernsthafte Liebenswürdigkeit Stadlers steigerte die Infamie: »Ich hatte schon gefürchtet, Sie wären krank, Herr Leutnant. Seit gestern abend warte ich auf Ihre Krankmeldung. Sie tun aber sehr gut daran, gesund zu bleiben, da Sie unserm Herrn Stabsarzt damit diagnostische Zweifel ersparen. Aus welchen Gründen also fühlen Sie sich dem Befehl nicht gewachsen?« »Aus moralischen Gründen.« »Moralisch? Was heißt das?« »Die Verurteilten sind keiner Schuld überführt.. .« Der Generalstäbler lächelte nachsichtig: »Ich kann nicht annehmen, Herr Leutnant, daß so etwas Ihre ernste Meinung ist. Sie wissen gerade so gut wie ich, daß in diesem Fall eine Schuld oder Nichtschuld gar nicht in Frage steht! Es wird damit nichts als eine verdammt notwendige Kriegsmaßregel getroffen.« »Kann eine >Absicht< denn überhaupt >erwiescn< werden?« »Also, Sie scheinen ja ausgesprochen philosophisch gebildet zu sein. Sind S' vielleicht im Zivil ein Dokter?« Mit krampfhafter Verzweiflung stammelte es aus Ferdinand: »Müssen diese Leute denn getötet werden, Herr Hauptmann?! Gibt es keinen anderen Weg?« Steidlers Augen ruhten mit wohlwollendem Interesse auf Ferdinands Brust: »Sie haben hier die beiden silbernen Tapferkeksmedaillen. Gratuliere! Wofür bekommt man denn solche Dinger?« Ferdinand verstand die Anspielung: 202 »Das ist doch etwas ganz anderes.« »Im Gegenteil! Das Ziel jedes Krieges ist die Vertilgung des Feindes. Die Vertilgung des inneren Feindes ist zwar mit keinerlei Ehren verbunden, aber um nichts unwichtiger als die Vernichtung des erklärten Gegners. Und was das getötete Menschenmaterial anbelangt? Wenn eine Kompagnie überläuft, verdreifachen sich die eigenen Verluste! Es ist übrigens komisch, daß ich mit Ihnen über solche Sachen diskutier'.« Ferdinand senkte den Kopf. Die Sprache erstarb ihm. Die alte Kraft Steidlers, des Kadetten, der er schon in der Schule hilflos erlegen war, jetzt und hier machte sie sich wieder geltend. Sein eigener Verstand mußte dieser Logik recht geben. Da er keine Gegengründe fand, begann der bitterschmeckende Zorn sich zu regen. Der Hauptmann holte aus seiner Mappe ein Blatt hervor: »Ich hoffe mit folgender Relation Ihre Skrupel zu beruhigen. Es ist der Bericht eines Stationskommandos in einer großen böhmischen Stadt.« Und er las: »Da bei Abtransport des letzten Marschbaons des hiesigen Infanterieregiments der Widerstand der Mannschaft in mehreren Fällen zu offener Meuterei ausartete, wobei zwei Offiziere schwer verletzt wurden, mußten die Truppen in ihre Ubikatio-nen zurückgeführt und dort entwaffnet werden. Die über diese Kompagnie verhängte Dezimierung wurde am nächsten Tage von dem hier dislozierten Honvedregiment durchgeführt.« Steidler legte das Blatt mit Vorsicht zurück: »Nehmen wir an, daß ein kriegsstarkes Bataillon einen Stand von tausend Mann hat, so sind hundert von diesen tausend erschossen worden. Glauben Sie wirklich, Herr Leutnant, daß alle hundert schuldig waren? Es hat ganz sicher unter ihnen weiße Lämmer in der Mehrzahl gegeben. Und kennen Sie vielleicht ein anderes Mittel, das ein um sein Leben kämpfender Staat anwenden könnte, um sich vor dem Selbstmord zu retten? Wir treiben hier bei uns die Humanität eh' weiter als es gut ist. An anderen Frontabschnitten werden die Hochverräter vor den eigenen Gräben angenagelt und gekreuzigt! Haben Sie noch einen Wunsch?« ■293 »Ja, Herr Hauptmann!« »Also, bitte?« »Alles, was Herr Hauptmann sagen, scheint richtig zu sein. Aber man darf trotzdem wehrlose Menschen nicht außer Recht setzen. Dadurch wird unsere Kampfkraft hundertmal mehr geschädigt als gestärkt.« »Diese Sorge überlassen Sie gefalligst dem zuständigen Kommando! Haben Sie einen Wunsch für die Verurteilten?« »ja, Kriegsgericht und Aufschub!« »Ganz abgesehen davon, daß ein Erlaß vom A. O. K. jedes prozessuale Verfahren für derartige Fälle ausschaltet, würde das Kriegsgericht den Spruch nur bestätigen.« »Herr Hauptmann! Um Gottes willen! Sehen sich Herr Hauptmann die Leute doch zuerst an! Da ist einer, ein Wickelkind noch und kein Hochverräter. Teinfalt heißt er.« »Nehmen Sie ein besonderes Interesse an einem dieser Leute?« »Diese Frage verstehe ich nicht...« »Ich meine ein Interesse verwandtschaftlicher Art?« Ferdinand trat einen Schritt zurück: »Herr Hauptmann wissen ja ganz genau, daß ich der Sohn eines hohen Offiziers bin.« Steidler lachte betont gemütlich: »Ach so. .. du bist es.. . das hätt ich mir gleich denken können... eigentlich hab ich mir's auch gedacht... Schulfreundschaften vergißt man nie ganz...« In diesem Augenblick neigte sich die Waagschale des Kampfes zugunsten Ferdinands. Steidler hatte sich zwei Blößen gegeben. Erstens war er keinen Augenblick darüber im Zweifel gewesen, daß der Leutnant sein ehemaliger Kamerad war, der durch seine Schuld die Militärerziefuing verlassen mußte. Die schlechte Schauspielerei des Wiedererkennens hinterließ einen ärgerlichen Nachgeschmack. Zweitens hatte er eine Anspielung auf Verwandtschaftsverhältnisse gemacht, mit der er selbst nichts anzufangen wußte. Die grausame Geschichte mit Ferdinands »illegitimer« Mutter in der Küche war ihm zwar aus dem Gedächtnis geschwunden, aber nicht aus der Seele. Er wußte genau, daß er 294 damals eine große Schweinerei begangen habe. Aus diesen Gründen entstand eine Unsicherheit in seiner Haltung. >Wenii ich den Kerl nur schon los wär<, dachte er. Nicht viel fehlte, und er hätte sich zu einem Kompromiß bereit erklärt. Ferdinand aber war nicht so klug, den richtigen, den vertraulich bittstellerischen Ton zu finden. Er sagte nichts. So war denn Steidler gezwungen, selber eine matte Anknüpfung zu suchen: »Ja, die schönen Zeiten damals! Das «st auch schon eine Ewigkeit her. Erinnerst du dich noch an den Krispin? Ein ekelhafter Hund! Er ist übrigens schon im August vierzehn bei Lisnija in Serbien gefallen.« Ferdinand, in dem Krispins Name nichts hervorrief, schwieg. Dadurch erreichte Steidlers Ermattung den Tiefpunkt. »Wenn ich geahnt hätte, daß du ein alter Kamerad bist... Rauchst du?« Und er überlegte wirklich, ob er nicht im letzten Augenblick noch einen anderen Offizier zum Exekutionskommandanten bestimmen könne. Währenddessen hielt er Ferdinand seine silberne Dose hin: »Du kannst dich ruhig bedienen.. . Diese Zigaretten werden aus dem feinsten albanischen Tabak eigens für uns hergestellt.« Daß Ferdinand regungslos verblieb, die Zigaretten des hohen Generalstabs keines Blickes würdigte, und der Hauptmann demnach gezwungen war, etwas Verschmähtes nach einer Weile zurückzuziehen - dies und nichts anderes entschied die neue Wendung. Es war eine jener unheimlichen Winzigkeiten, die das Schicksal bestimmen. Wie sich der Wasserdunst an einer Glaswand durch Temperaturveränderung in Tropfen niederschlägt, so sammelte sich eine längst aufgelöste Abneigung in Steidlers Nerven wieder. Da aber ließ sich Ferdinands fördernde Stimme vernehmen: »Herr Hauptmann, jeder weiß, daß Herr Hauptmann hier eine unbeschränkte Macht sind. Kein Mensch wird Rechenschaft verlangen, wenn Herr Hauptmann mir jetzt einen Gegenbefehl erteilen.« Das Wort »Macht« erweckte Steidlers Selbstbewußtseinsrausch wieder, in welchem der junge Mensch, seitdem er 295 Stellvertreter des Gencralstabschcfs einer Division war, immerfort lebte. Er stemmte die rechte Hand in den Einschnitt seiner Taille, die er allabendlich vor dem Spiegel zu bewundern pflegte: »Macht? Was weißt du von meiner Macht? Ich bin hier nur der Kuli, das Mädchen für alles. Die Befehle erteilt der Divisio-när.« Ferdinand wußte plötzlich, daß die unleserliche Unterschrift auf dem verhängnisvollen Dienststück Steidlcrs Namenszug war. Aber diese blitzhafte Aufhellung verlor sich sogleich wieder im Dunkel: »Wenn Herr Hauptmann nur wollen, kann der Befehl widerrufen werden!« Steidlcrs Augen wurden ganz klein und verschwollen: »Aber ich will nicht!« Er machte einen raschen Gang durchs Zimmer, wobei er den Anfang einer Schlagermelodic unheilvoll leise zwischen den Zähnen pfiff. Dann blieb er hinter Ferdinand stehen: »So kommen wir nicht weiter, Herr Leutnant. Ich hab keine Lust, dieses sinnlose Gespräch fortzusetzen.« Ferdinands Gesicht war verzerrt und schweißübergossen: »Ich kann das nicht...« Steidler fuhr scharf herum: »Herr Leutnant, welche Muttersprache ist in Ihren Dokumenten angegeben?« Ferdinand, der diesen Hieb nicht gleich erfaßte, erwiderte der Wahrheit gemäß, er sei ein Deutscher. Steidler aber, der hinter dem Tisch Stellung nahm, erhob seine schneidende Dienststimme: »So? Ich werde das morgen ausheben lassen. Ihre Anteilnahme für Hochverräter legt den Verdacht nahe, daß Sie einer anderen Nation angehören. Sic werden ihre politische Zuverlässigkeit erst beweisen müssen, Herr Leutnant!« Ohne Überlegung stieg es in Ferdinand auf, eine dunkle Säule der Wut: »Seit drei Jahren bin ich ohne die geringste Unterbrechung im 296 Schützengraben. Das ist meine Zuverlässigkeit, die ich mit den Herren nicht teile, die in Kanzleien herumlungern, nie im Feuer gewesen sind, Champagner saufen, Todesurteile unterschreiben und eigens für den Generalstab fabrizierte Extrazigaretten rauchen. Klein ist er geworden, der Steidler, viel kleiner als ich, und er war doch der größte von uns. . . < Dann schrie er auf: »Herr Hauptmann, ich melde mich gehorsamst als Exeku-tionskominandant für morgen!« Steidler warf einen gelangwellten Blick auf den Tisch und machte Miene, den Revolver hinzulegen. Ferdinand aber schlug ihm die Waffe blitzschnell aus der Hand, faßte den schmalen Menschen, der sich vor lautlosem Schreck nicht wehrte, um den Leib, hob ihn mit ungekannten Riesenkräften hoch und schleuderte ihn auf den Fußboden der Kanzlei. Trotz des fürchterlichen Lärms öffnete sich keine Tür. Starr lauschend blieb Ferdinand einen Augenblick stehen. Als er das Zimmer verließ, sah er noch, wie Steidler sich langsam zusammenklaubte. Jetzt wird der Gezüchtigte aufschreien, ihm nachstürzen, schießen, das Haus zusammenjagen, dessen war Ferdinand sicher, und er blieb auf dem finsteren Gang stehen, um sein unabwendliches Schicksal zu erwarten. Nichts von alledem geschah. Da ging er auf Zehenspitzen leise die Trcppe hinunter. Barbusses „Le Feu" in einer österreichischen Zeitung ausfuhrlich berichten. Eine gewisse Technik mußten wir uns freilich zurechtlegen, während wir diese unsere unzeitgemäßen Anschauungen während einer Kriegszeit weiten Kreisen übermittelten. Um das Grauen des Krieges, die Gleichgültigkeit des Hinterlandes darzustellen, war es in Osterreich natürlich nötig, das Leiden eines „französischen" Infanteristen in einem Aufsatz über „Le Feu" hervorzuheben, aber Hunderte von Briefen von der österreichischen Front zeigten mir, wie deutlich die Unseren ihr eigenes Schicksal erkannt. Oder wir wählten, um unsere Uberzeugungen auszusprechen, das Mittel des scheinbaren gegenseitigen Angriffs. So polemisierte im „Mercure de France" einer meiner französischen7 Freunde gegen meinen Aufsatz „Den Freunden im Fr^mdland"; aber indem er ihn in der vorgeblichen Polemik bis auf das letzte Wort übersetzt abdruckte, hatte er ihn glücklich nach Frankreich hinübergeschmuggelt, und jeder konnte ihn (was die Absicht war) dort lesen/Auf solche Art gingen Blinklichter, die nichts als Erkennungszeichen waren, hinüber und herüber. Wie sehr'sie von denen, für die sie bestimmt waren, verstanden /wurden, zeigte mir später eine kleine Episode. Als Italien im Mai 1915 Österreich, seinem früheren Bundesgenossen, den Krieg erklärte, sprang bei uns eine Haßwelle auf. Alles Italienische wurde beschimpft. Zufällig waren nun die Erinnerungen eines jungen Italieners^aus der Zeit des Risorgimento namens Carl Poerio erschienen, der einen Besuch bei Goethe schilderte. Ich schrieb, um inmitten des Haßgeschreis darzutun, daß die Italiener mit unserer Kultur von je die besten Zusammenhänge gehabt hätten, demonstrativ einen Aufsatz „Ein Italiener bei Goethe", und da dieses Buch von Benedetto Groce eingeleitet war, nutzte ich den Anlaß, um Groce einige Worte höchsten Respekts zu widmen. Bewundernde Worte für einen Italiener bedeuteten in Osterreich zu einer Zeit, da man keinem Dichter oder Gelehrten eines Feindeslandes eine Anerkennung zollen sollte, selbstverständlich eine deutliche Demonstration, 262 und sie wurde bis über die Grenzen hinaus verstanden. Groce, der damals in Italien Miriister war, erzählte mir später einmal, wie ein Angestellter des Ministeriums, der selbst nicht Deutsch lesen''konnte, ihm etwas bestürzt mitteilte, in dem Hauptblätte des Kriegsgegners stehe etwas gegen ihn (deiurer konnte sich eine Erwähnung nicht anders als aa Sinne der Gegnerschaft erdenken). Groce ließ sich die „Neue Freie Presse" kommen und war zuerst erstaunt und dann im besten Sinne amüsiert, statt dessen eine/Keverenz zu finden. f Ich denke nun durchaus nicht daran, diese kleinen isolierten Versuche zu überschätzen. Sie haben selbstverständlich auf den Gang der Ereignisse nicht die geringste Wirkung geübt. Aber sie haben uns selbst — und manchen unbekannten Lesern — geholfen. Sie haben die gräßliche Isoliertheit, die seelische Verzweiflung gemildert, in der ein wirklich menschlich fühlender Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts sich befand — und heute nach fünfundzwanzig Jahren sich wieder befindet, ebenso machtlos gegen das Übermächtige und, ich fürchte es, sogar noch mehr. Ich war mir schon damals voll bewußt, daß ich mit diesen kleinen Protesten und Geschicklichkeiten nicht die eigentliche Last von mir abzuwälzen vermochte; langsam begann sich in mir der Plan eines Werks zu formen, in dem ich nicht nur einzelnes aussagen könnte, sondern meine ganze Einstellung zu Zeit und Volk, zu Katastrophe und Krieg. Um aber den Krieg in einer dichterischen Synthese darstellen zu können, fehlte mir eigentlich das Wichtigste: ich hatte ihn nicht gesehen. Ich saß jetzt fast ein Jahr festgeankert in diesem Büro, und in einer unsichtbaren Ferne ging das „Eigentliche", das Wirkliche, das Grausige des Krieges vor sich. Gelegenheit, an die Front zu fahren, war mir mehrmals geboten worden, dreimal hatten mich große Zeitungen ersucht, als ihr Berichterstatter zur Armee zu gehen. Aber jede Art Schilderung hätte die Verpflichtung mit sich gebracht, den Krieg in einem aus- 263 schließlich positiven und patriotischen Sinne darzustellen, und ich hatte mir geschworen — ein Eid, den ich auch 1940 gehalten habe —, niemals ein Wort zu schreiben, das den Krieg bejahte oder eine andere Nation herabsetzte. Nun ergab sich zufällig eine Gelegenheit. Die große österreichisch-deutsche Offensive hatte im Frühjahr 1915 bei Tarnow die russische Linie durchbrochen und Galizien und Polen in einem einzigen konzentrischen Vorstoß erobert. Das Kriegsarchiv wollte nun für seine Bibliothek die Originale all der russischen Proklamationen und Anschläge im besetzten österreichischen Gebiet sammeln, ehe sie heruntergerissen oder sonst vernichtet wurden. Der Oberst, der meine Sammlertechnik zufällig kannte, fragte mich an, ob ich das besorgen wollte; ich griff selbstverständlich sofort zu, und mir wurde ein Passepartout ausgestellt, so daß ich, ohne von einer besonderen Behörde abhängig zu sein und ohne irgendeinem Amt oder Vorgesetzten direkt zu unterstehen, mit jedem Militärzug reisen und mich frei bewegen konnte, wohin ich wollte, was dann zu den sonderbarsten Zwischenfällen führte: ich war nämlich nicht Offizier, sondern nur Titularfeldwebel, und trug eine Uniform ohne besondere Abzeichen. Wenn ich mein geheimnisvolles Dokument vorzeigte, erweckte dies einen besonderen Respekt, denn die Offiziere an der Front und die Beamten vermuteten, daß ich irgendein verkleideter Generalstabsoffizier sein müsse oder sonst einen mysteriösen Auftrag habe. Da ich auch die Offiziersmessen vermied und nur in Hotels abstieg, gewann ich überdies den Vor zug, außerhalb der großen Maschinerie zu stehen und ohne jede „Führung" sehen zu können, was ich sehen wollte. Der eigentliche Auftrag, die Proklamationen zu sammeln, beschwerte mich nicht sehr. Jedesmal, wenn ich in eine jener galizischen Städte kam, nach Tarnow, nach Drohobycz, nach Lemberg, standen dort am Bahnhof einige Juden, sogenannte „Faktoren", deren Beruf es war, alles zu besorgen, was immer man haben wollte; es ge- nügte, daß ich einem dieser Universalpraktiker sagte, ich wünschte die Proklamationen und Anschläge der russischen Okkupation, und der Faktor lief wie ein Wiesel und vermittelte den Auftrag auf geheimnisvollem Wege weiter an Dutzende von Unterfaktoren; nach drei Stunden hatte ich, ohne selbst einen Schritt gegangen zu sein, das Material in der denkbar schönsten Komplettheit beisammen. Dank dieser vorbildlichen Organisation blieb mir Zeit, viel zu sehen, und ich sah viel. Ich sah vor allem das furchtbare Elend der Zivilbevölkerung, über deren Augen das Grauen über das Erlebte noch wie ein Schatten lag. Ich sah das nie geahnte Elend der jüdischen Ghettobevölkerung, die zu acht, zu zwölft in ebenerdigen oder unterirdischen Zimmern wohnte. Und ich sah zum erstenmal den „Feind". In Tarnow stieß ich auf den ersten Gefangenentransport russischer Soldaten. Sie saßen eingezäunt in einem großen Viereck auf der Erde, rauchten und schwätzten, von zwei oder drei Dutzend älteren, meist bärtigen Tiroler Landsturmsoldaten bewacht, die ebenso abgerissen und verwahrlost waren wie die Gefangenen und sehr wenig den schmucken, wohlrasierten, blank uniformierten Soldaten glichen, wie sie bei uns zu Hause in den illustrierten Zeitungen abgebildet waren. Aber diese Bewachung hatte nicht den geringsten martialischen oder drakonischen Charakter. Die Gefangenen zeigten keine wie immer geartete Neigung zu entfliehen, die österreichischen Landsrurmleute keineswegs den Wunsch, die Bewachung strengzunehmen. Sie saßen kameradschaftlich mit den Gefangenen zusammen, und gefade daß sie sich in ihren Sprachen nicht verständigen konnten, machte beiden Seiten außerordentlichen Spaß. Man tauschte Zigaretten aus, lachte sich an. Ein Tiroler Landsturmmann holte gerade aus einer sehr alten und schmutzigen Brieftasche die Photographien seiner Frau und seiner Kinder und zeigte sie den „Feinden", die sie einer nach dem andern bewunderten und mit den Fingern fragten, ob dieses Kind drei Jahre alt sei oder vier. Unwiderstehlich hatte ich das Gefühl, daß diese primi- 264 265 tiven, einfachen Menschen den Krieg viel richtiger empfanden als unsere Universitätsprofessoren und Dichter: nämlich als ein Unglück, das über sie gekommen war und für das sie nichts konnten, und daß eben jeder, der in dieses Malheur geraten war, eine Art Bruder sei. Diese Erkenntnis begleitete mich tröstlich auf der ganzen Fahrt vorbei an den zerschossenen Städten und geplünderten Geschäften, deren Möbel wie gebrochene Glieder und herausgerissene Eingeweide mitten auf der Straße lagen. Auch gaben mir die wohlbestellten Felder zwischen den Kriegsgebieten die Hoffnung, daß in ein paar Jahren alle die Zerstörungen wieder verschwunden sein würden. Freilich konnte ich damals noch nicht ermessen, daß ebenso rasch wie die Spur des Krieges vom Antlitz der Erde auch die Erinnerung an sein Grauen aus dem Gedächtnis der Menschen entschwinden könnte. Dem eigentlich Grausigen des Krieges war ich in den ersten Tagen noch nicht begegnet; sein Antlitz übertraf dann meine schlimmsten Befürchtungen. Da soviel wie gar keine regelmäßigen Passagierzüge verkehrten, fuhr ich einmal auf offenen Artilleriewagen, auf der Protze einer Kanone sitzend, ein anderes Mal in einem jener Viehwagen, wo die Menschen im dicksten Gestank übereinander und durcheinander todmüde schliefen und, während man sie zur Schlachtbank führte, selbst schon ähnlich waren geschlachtetem Vieh. Aber das Furchtbarste waren die Lazarettzüge, die ich zwei- oder dreimal benutzen mußte. Ach, wie wenig glichen sie jenen gut erhellten, weißen, wohlgewaschenen Sanitätszügen, in denen sich die Erzherzoginnen und die vornehmen Damen der Wiener Gesellschaft zu Anfang des Krieges als Krankenpflegerinnen abbilden ließen! Was ich schauernd zu sehen bekam, waren gewöhnliche Transportwagen ohne richtige Fenster, nur mit einer schmalen Luftluke und innen von verrußten Öllampen erhellt. Eine primitive Tragbahre stand neben der andern, und alle waren sie belegt mit stöhnenden, schwitzenden, todfahlen Menschen, die nach Luft röchelten in dem dicken Geruch von Exkrementen und Jodoform. Die Sanitätssoldaten schwankten mehr, als sie gingen, so sehr waren sie übermüdet; nichts war zu sehen von dem weißleuchtenden Bettzeug der Photographien. Zugedeckt mit längst durchgebluteten Kotzen, lagen die Leute auf Stroh oder den harten Tragbahren und in jedem dieser Wagen schon zwei oder drei Tote inmitten der Sterbenden und Stöhnenden. Ich sprach mit dem Arzt, der, wie er mir gestand, eigentlich nur Zahnarzt in einem kleinen ungarischen Städtchen gewesen war und seit Jahren nicht mehr chirurgisch praktiziert hatte. Er war verzweifelt. Nach sieben Stationen, sagte er mir, habe er schon voraustelegraphiert um Morphium. Aber alles sei verbraucht, und er habe auch keine Watte mehr, kein frisches Verbandzeug für die zwanzig Stunden bis ins Budapester Spital. Er bat mich, ihm zu helfen, denn seine Leute könnten nicht mehr weiter vor Müdigkeit. Ich versuchte es, ungeschickt wie ich war, konnte mich aber wenigstens nützlich machen, indem ich bei jeder Station hinauslief und mithalf, ein paar Eimer Wasser zu tragen, schlechtes, schmutziges Wasser, eigentlich nur für die Lokomotive bestimmt, jetzt aber doch Labsal, um die Leute wenigstens ein wenig zu waschen und das ständig niedertropfende Blut vom Bo den wegzuscheuern. Dazu kam noch für die Soldaten, die aus allen denkbaren Nationalitäten in diesen rollenden Sarg zusammengeworfen worden waren, eine persönliche Erschwerung durch die babylonische Verwirrung der Sprachen. Weder der Arzt noch die Pfleger verstanden ruthenisch oder kroatisch; der einzige, der einigermaßen helfen konnte, war ein alter, weißhaariger Priester, der — so wie der Arzt verzweifelt war, kein Morphium zu haben — seinerseits erschüttert klagte, er könne seine heilige Pflicht nicht tun, es fehle ihm das Öl für die Letzte Ölung. In seinem ganzen langen Leben habe er nicht so viele Menschen „versehen" wie in diesem einen letzten Monat. Und von ihm hörte ich das Wort, das ich nie mehr vergessen habe, mit harter, zorniger Stimme ausgesprochen: „Ich bin siebenundsechzig Jahre alt und habe viel gese- 266 267 hen. Aber ich habe ein solches Verbrechen der Menschheit nicht für möglich gehalten." Jener Hospitalzug, mit dem ich zurückfuhr, kam in den frühen Morgenstunden in Budapest an. Ich fuhr sofort in ein Hotel, um zunächst einmal zu schlafen; der einzige Sitzplatz in jenem Zuge war mein Koffer gewesen. Ich schlief bis etwa elf Uhr, übermüdet, wie ich gewesen, und zog mich dann rasch an, ein Frühstück zu nehmen. Aber schon nach den ersten paar Schritten hatte ich ununterbrochen das Gefühl, ich müßte mir die Augen reiben, ob ich nicht träume. Es war einer jener strahlenden Tage, die am Morgen noch Frühling, zu Mittag schon Sommer sind, und Budapest war so schön und sorglos wie nie. Die Frauen in weißen Kleidern promenierten Arm in Arm mit Offizieren, die mir plötzlich wie Offiziere aus einer ganz anderen Armee erschienen als jene, die ich erst gestern, erst vorgestern gesehen. In den Kleidern, im Mund, in der Nase noch den Geruch von Jodoform aus dem Verwundetentransport von gestern, sah ich, wie sie Veilchensträußehen kauften und den Damen galant verehrten, wie tadellose Autos mit tadellos rasierten und gekleideten Herren durch die Straßen fuhren. Und all dies acht oder neun Schnellzugstunden von der Front! Aber hatte man ein Recht, diese Menschen anzuklagen? War es nicht eigentlich das natürlichste, daß sie lebten und versuchten, sich ihres Lebens zu freuen? Daß sie vielleicht gerade aus dem Gefühl heraus, daß alles bedroht war, noch alles zusammenrafften, was zusammenzuraffen war, die paar guten Kleider, die letzten guten Stunden! Gerade wenn man gesehen, ein wie gebrechliches, zerstörbares Wesen der Mensch ist, dem ein kleines Stück Blei in einer tausendstel Sekunde das Leben mit all seinen Erinnerungen und Erkenntnissen und Ekstasen herausfetzen kann, verstand man, daß ein solcher Korso-Vormittag an dem leuchtenden Flusse Tausende drängte, Sonne zu sehen, sich selbst zu fühlen, das eigene Blut, das eigene Leben mit vielleicht noch verstärkter Kraft. Schon war ich beinahe versöhnt mit dem, was mich zuerst erschreckt hatte. Aber da brachte unglückseligerweise der gefällige Kellner mir eine Wiener Zeitung. Ich versuchte sie zu lesen; nun erst überfiel mich der Ekel in der Form eines richtigen Zorns. Da standen alle die Phrasen von dem unbeugsamen Siegeswillen, von den geringen Verlusten unserer eigenen Truppen und den riesigen der Gegner, da sprang sie mich an, nackt, riesenhaft und schamlos, die Lüge des Krieges! Nein, nicht die Spaziergänger, die Lässigen, die Sorglosen waren die Schuldigen, sondern einzig die, die mit ihrem Wort zum Kriege hetzten. Aber schuldig auch wir, wenn wir das unsere nicht gegen sie wendeten^f Nun erst war mir der richtige Antrieb gegeben: man mußte kämpfen gegen den Krieg! Der Stoff lag in mir bereit, nur diese letzte anschauliche Bestätigung meines Instinkts hatte noch gefehlt, um zu beginnen. Ich hatte den Gegner erkannt, gegen den ich zu kämpfen hätte — das falsche Heldentum, das lieber die andern vorausschickt in Leiden und Tod, den billigen Optimismus der gewissenlosen Propheten, der politischen wieder militärischen, die, skrupellos den Sieg versprechend, die Schlächterei verlängern, und hinter ihnen den Chor, den sie sich mieteten, all diese „Wortemacher des Krieges", wie Werfel sie angeprangert in seinem schönen Gedicht. Wer ein Bedenken äußerte, der störte sie bei ihrem patriotischen Geschäft, wer warnte, den verhöhnten sie als Schwarzseher, wer den Krieg, in dem sie selber nicht mitlitten, bekämpfte, den brandrparkten sie als Verräter. Immer war es dieselbe, die ewige Rotte durch die Zeiten, die die Vorsichtigen feige nannte, die Menschlichen schwächlich, um dann selbst ratlos zu sein in der Stunde der Katastrophe, die sie leichtfertig beschworen. Immer war es dieselbe Rotte, dieselbe, die Kassandra verhöhnt in Troja, Jeremias in Jerusalem, und nie hatte ich Tragik und Größe dieser/Gestalten so verstanden wie in diesen allzu ähnlichen Stunden. Von Anfang an glaubte ich nicht an den 268 269 gehen!" Ein Wunder mußte ich es schon nennen, wenn das Buch gedruckt werden durfte, aber selbst in dem schlimmsten Falle, daß dies nicht gelingen sollte, hatte es wenigstens mir selbst geholfen über die schwerste Zeit. Ich hatte alles im dichterischen Dialog gesagt, was ich im Gespräch mit den Menschen um mich verschweigen mußte. Ich hatte die Last, die mir auf der Seele lag, weggeschleudert und war mir selbst zurückgegeben; in eben-der Stunde, da alles in mir ein „Nein" war gegen die Zeit, hatte ich das ,Ja" zu mir selbst gefunden. Im Herzen Europas Als zu Ostern 1917 meine Tragödie Jeremias" in Buchform erschien, erlebte ich eine Überraschung. Ich hatte sie innerlich in erbittertstem Widerstand gegen die Zeit geschrieben und mußte darum erbitterten Widerstand erwarten. Aber genau das Gegenteil ereignete sich. Von dem Buche wurden zwanzigtausend Exemplare sofort verkauft, eine für ein Buchdrama phantastische Zahl; nicht nur die Freunde wie Romain Rolland setzten sich öffentlich dafür ein, sondern auch jene, die vordem eher auf der anderen Seite gestanden, wie Rathenau und Richard Dehmel. Direktoren von Theatern, denen das Drama gar nicht eingereicht worden war — eine deutsche Aufführung während des Krieges blieb doch undenkbar —, schrieben mir und baten mich, ihnen die Uraufführung zu reservieren für die Friedenszeit; selbst die Opposition der Kriegerischen zeigte sich höflich und respektvoll. Alles hatte ich erwartet, nur nicht dies. Was war geschehen? Nichts anderes, als daß der Krieg eben schon zweieinhalb Jahre andauerte: die Zeit hat ihr Werk grausamer Ernüchterung getan. Nach dem furchtbaren Aderlaß auf den Schlachtfeldern begann das Fieber zu weichen. Die Menschen sahen mit kälteren, härteren Augen dem Krieg ins Gesicht als in den ersten Monaten der Begeisterung. Das Gefühl der Solidarität begann sich zu lockern, denn von der großen „sittlichen Reinigung", die von den Philosophen und Dichtern überschwenglich 273 verkündigt worden war, nahm man nicht mehr das geringste wahr. Ein tiefer Riß ging durch das ganze Volk; das Land war gleichsam in zwei verschiedene Welten zerfallen, vorne die der Soldaten, die kämpften und das Grauenhafteste an Entbehrung erlitten, rückwärts die der Zuhausegebliebenen, die sorglos weiterlebten, die Theater bevölkerten und an dem Elend der anderen noch verdienten. Front und Hinterland profilierten sich immer schärfer gegeneinander. Durch die Türen der Amter hatte sich in hundert Masken ein wüstes Protektionswesen eingeschlichen; man wußte, daß Leute durch Geld oder gute Konnexionen einträgliche Lieferungen bekamen, während schon halbzerschossene Bauern oder Arbeiter immer wieder in die Schützengräben getrieben wurden. Jeder begann darum, sich rücksichtslos zu helfen, soweit er nur konnte. Die notwendigen Gebrauchsgegenstände wurden dank eines schamlosen Zwischenhandels täglich teurer, die Lebensmittel kärglicher, und über dem grauen Sumpf des Massenelends phosphoreszierte wie ein Irrlicht der aufreizende Luxus der Kriegsgewinnler. Ein erbittertes Mißtrauen begann allmählich die Bevölkerung zu erfassen — Mißtrauen gegen das Geld, das immer mehr an Wert verlor, Mißtrauen gegen die Generäle, die Offiziere, die Diplomaten, Mißtrauen gegen jede Verlautbarung des Staats und Generalstabs, Mißtrauen gegen die Zeitungen und ihre Nachrichten, Mißtrauen gegen den Krieg selbst und seine Notwendigkeit. Es war also keineswegs die dichterische Leistung meines Buches, die ihm den überraschenden Erfolg gab; ich hatte nur ausgesprochen, was die andern offen nicht zu sagen wagten: den Haß gegen den Krieg, das Mißtrauen gegen den Sieg. Auf der Bühne allerdings im lebendigen gesprochenen Wort solche Stimmung auszudrücken war scheinbar unmöglich. Demonstrationen hätten unvermeidlich eingesetzt, und so meinte ich darauf verzichten zu müssen, während der Kriegszeit dies erste Drama gegen den Krieg gespielt zu sehen. Da erhielt ich plötzlich vom Di- 274 rektor des Züricher Stadttheaters ein Schreiben, er möchte meinen Jeremias" sofort auf die Bühne bringen und lade mich ein, der Uraufführung beizuwohnen. Daran hatte ich vergessen, daß es — so wie in diesem zweiten Kriege — noch ein kleines, aber kostbares Stück deutscher Erde gab, dem die Gnade gewährt war, sich abseits halten zu dürfen, ein demokratisches Land, wo das Wort noch frei, die Gesinnung ungetrübt geblieben. Selbstverständlich stimmte ich sofort zu. Meine Zustimmung konnte freilich zunächst nur eine prinzipielle sein; denn sie setzte die Erlaubnis voraus, Dienst und Land für einige Zeit verlassen zu dürfen. Nun traf es sich glücklich, daß in allen kriegführenden Ländern eine — in diesem zweiten Kriege gar nicht etablierte — Abteilung bestand, die sich „Kulturpropaganda" nannte. Immer ist man genötigt, um den Unterschied der geistigen Atmosphäre zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkriege zu verdeutlichen, darauf hinzuweisen, daß damals die Länder, die Führer, die Kaiser, die Könige, in der Tradition der Humanität aufgewachsen, sich im Unterbewußtsein des Krieges noch schämten. Ein Land nach dem andern wies den Vorwurf, „militaristisch" zu sein oder gewesen zu sein, als niederträchtige Verleumdung zurück; im Gegenteil, jedes wetteiferte, zu zeigen, zu beweisen, zu erklären, zur Schau zu stellen, daß es eine „Kulturnation" sei. Man warb 1914 vor einer Welt, die Kultur höher stellte als Gewalt und die Slogans wie „sacro egoismo" und „Lebensraum" als unmoralisch verabscheut hätte, um nichts dringlicher als um Anerkennung weltgültiger geistiger Leistung, Alle neutralen Länder wurden deshalb mit künstlerischen Darbietungen überflutet. Deutschland sandte seine Orchester unter weltberühmten Dirigenten in die Schweiz, nach Holland, nach Schweden, Wien seine Philharmoniker; sogar die Dichter, die Schriftsteller, die Gelehrten wurden hinausgeschickt, und zwar nicht, um militärische Taten zu rühmen oder annexionistische Tendenzen zu feiern, sondern einzig, um durch ihre Verse, ihre Werke zu beweisen, daß 275 die Deutschen keine „Barbaren" seien und nicht nur Flammenwerfer oder gute Giftgase produzierten, sondern auch absolute und für Europa gültige Werte. Noch war anno 1914-1918 — ich muß es immer wieder betonen — das Weltgewissen eine umworbene Macht, noch stellten die künstlerisch produktiven, die moralischen Elemente einer Nation im Kriege eine Kraft dar, die als einflußreich geachtet wurde, noch bemühten sich die Staaten um menschliche Sympathien, statt wie Deutschland 1939 mit ausschließlich unmenschlichem Terror sie zu Boden zu knüppeln. So hatte mein Ansuchen, zur Aufführung eines Dramas Urlaub in die Schweiz zu erhalten, an sich gute Chancen; Schwierigkeiten waren höchstens aus dem Grunde zu befürchten, weil es sich um ein antikriegerisches Drama handelte, in dem ein Österreicher — wenn auch in symbolischer Form — die Niederlage als denkbar antizipierte. Ich ließ mich im Ministerium beim Chef der Abteilung melden und trug ihm meinen Wunsch vor. Zu meinem großen Erstaunen versprach er mir sofort, alles zu veranlassen, und zwar mit der merkwürdigen Motivierung: „Sie haben ja, Gott sei Dank, nie zu den dummen Kriegsschreiern gehört Na — tun Sie draußen Ihr Bestes, daß diese Sache einmal zu einem Ende kommt." Vier Tage später hatte ich meinen Urlaub und einen Auslandspaß. Ich war einigermaßen verwundert gewesen, einen der höchsten Beamten eines österreichischen Ministeriums mitten im Kriege so frei sprechen zu hören. Aber unvertraut mit den Geheimgängen der Politik, ahnte ich nicht, daß 1917 unter dem neuen Kaiser Karl in den oberen Kreisen der Regierung schon leise eine Bewegung eingesetzt hatte, sich von der Diktatur des deutschen Militärs loszureißen, das Österreich im Schlepptau seines wilden Annexionismus gegen seinen inneren Willen rücksichtslos weiterschleifte. Man haßte in unserem Generalstab die brutale Herrischkeit Ludendorffs, man wehrte sich im Auswärtigen Amt verzweifelt gegen den unbeschränkten 276 Unterseebootkrieg, der Amerika uns zum Feinde machen mußte, selbst das Volk murrte über die „preußische Anmaßung". All das drückte sich vorläufig nur in vorsichtigen Untertönen und scheinbar absichtslosen Bemerkungen aus. Aber in den nächsten Tagen sollte ich noch mehr erfahren und kam, früher als die andern, einem der großen politischen Geheimnisse jener Zeit unvermutet nahe. Das geschah so: ich hielt mich auf der Reise in die Schweiz zwei Tage in Salzburg auf, wo ich mir ein Haus gekauft und nach dem Kriege zu wohnen vorgenommen hatte. In dieser Stadt bestand ein kleiner Kreis streng katholisch gesinnter Männer, von denen zwei in der Geschichte Österreichs nach dem Kriege als Kanzler eine entscheidende Rolle spielen sollten, Heinrich Lammasch und Ignaz SeipeL Der erstere war einer der hervorragendsten Rechtslehrer seiner Zeit und hatte auf Haager Konferenzen das Präsidium innegehabt, der andere, Ignaz Seipel, ein katholischer Priester von einer fast unheimlichen Intelligenz, war bestimmt, nach dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie die Führung des kleinen Österreich zu übernehmen, und hat bei dieser Gelegenheit sein politisches Genie hervorragend bewährt. Beide waren sie entschiedene Pazifisten, strenggläubige Katholiken, leidenschaftliche Altösterreicher und als solche in innerster Gegnerschaft gegen den deutschen, den preußischen, den protestantischen Militarismus, den sie als unvereinbar mit den traditionellen Ideen Österreichs und seiner katholischen Mission empfanden. Meine Dichtung ,Jeremias" hatte in diesen religiös-pazifistischen Kreisen stärkste Sympathie gefunden, und Hofrat Lammasch — Seipel war gerade verreist — bat mich in Salzburg zu sich. Der vornehme alte Gelehrte sprach sehr herzlich zu mir über mein Buch; es erfülle unsere österreichische Idee, konziliatorisch zu wirken, und er hoffe dringend, daß es über das Literarische hinaus seine Wirkung tun werde. Und zu meinem Erstaunen vertraute er mir, den er vordem nie gesehen, mit jener Offenheit, die seine innere Tapferkeit bewies, das Geheimnis an, 277 daß wir uns in Österreich vor einer entscheidenden Wende befanden. Seit der militärischen Ausschaltung Rußlands bestehe weder für Deutschland, sofern es sich seiner aggressiven Tendenzen entäußern wolle, noch für Osterreich mehr ein wirkliches Hindernis für den Frieden; dieser Augenblick dürfe nicht versäumt werden. Wenn der alldeutsche Klüngel in Deutschland sich weiter gegen Verhandlungen wehre, müsse Osterreich die Führung übernehmen und selbständig handeln. Er deutete mir an, daß der junge Kaiser Karl diesen Tendenzen seine Hilfe versprochen habe; man würde vielleicht schon in nächster Zeit die Auswirkung seiner persönlichen Politik sehen. Alles hänge jetzt davon ab, ob Osterreich genug Energie aufbringe, statt des „Sieg-Friedens", den die deutsche Miiitärpartei gleichgültig gegen weitere Opfer fordere, einen Verständigungsfrieden durchzusetzen. Im Notfall müsse aber das Äußerste geschehen: daß Österreich sich vom Bündnis rechtzeitig loslöse, ehe es von den deutschen Militaristen in eine Katastrophe gerissen werde. „Niemand kann uns einer Untreue beschuldigen", sagte er fest und entschieden. „Wir haben mehr als eine Million Tote. Wir haben genug geopfert und getan! Jetzt kein Menschenleben, kein einziges mehr für die deutsche Weltherrschaft!" Mir stand der Atem in der Kehle still. AU das hatten wir uns im stillen oft gedacht, nur hatte niemand den Mut gehabt, am hellen Tage auszusprechen: „Sagen wir uns von den Deutschen und ihrer Annexionspolitik rechtzeitig los", denn das hätte als „Verrat" am Waffenbruder gegolten. Und hier sagte dies ein Mann, der, wie ich vordem schon wußte, in Österreich das Vertrauen des Kaisers und im Auslande dank seiner Tätigkeit in Haag das höchste Ansehen genoß, mir, einem beinahe Fremden, mit solcher Ruhe und Entschiedenheit, daß ich sofort spürte, eine österreichisch-separatistische Aktion sei längst nicht mehr im Stadium der Vorbereitung, sondern schon im Gange. Die Idee war kühn, entweder Deutschland durch die Drohung mit einem Separatfrieden für Verhandlungen geneigter zu stimmen oder im Notfall die Drohung durchzuführen; sie war — die Geschichte bezeugt es — die einzige, die letzte Möglichkeit, die damals das Kaiserreich, die Monarchie und damit Europa hätte retten können. Leider entbehrte die Durchführung dann der Entschlossenheit des ursprünglichen Planes. Kaiser Karl sandte den Bruder seiner Frau, den Prinzen Parma, tatsächlich mit einem geheimen Brief an Glemenceau, um ohne vorherige Verständigung des Berliner Hofes die Friedensmöglichkeiten abzuhorchen und eventuell einzuleiten. Auf welche Weise diese geheime Mission zur Kenntnis Deutschlands gelangte, ist, glaube ich, noch nicht völlig aufgeklärt; verhängnisvollerweise hatte Kaiser Karl- dann nicht den Mut, öffentlich zu seiner Überzeugung zu stehen, sei es, daß — wie manche behaupten — Deutschland mit einem militärischen Einmarsch in Österreich drohte, sei es, daß er als Habsburger das Odium scheute, ein von Franz Joseph abgeschlossenes und mit so viel Blut besiegeltes Bündnis im entscheidenden Augenblick aufzukündigen. Jedenfalls berief er nicht Lammasch und Seipel, die einzigen, die als katholische Internationalisten aus innerer moralischer Uberzeugung die Kraft gehabt hätten, das Odium eines Abfalls von Deutschland auf sich zu nehmen, an den Posten des Ministerpräsidenten, und dies Zögern wurde sein Verderben. Beide sind sie erst in der verstümmelten österreichischen Republik statt im alten Habsburgerreiche Ministerpräsidenten geworden, und doch wäre niemand befähigter gewesen, das scheinbare Unrecht vor der Welt zu verteidigen, als diese bedeutenden und angesehenen Persönlichkeiten. Mit einer offenen Drohung des Abfalls oder dem Abfall hätte Lammasch nicht nur Österreichs Existenz gerettet, sondern auch Deutschland vor seiner innersten Gefahr, dem schrankenlosen Annexionsdrang. Es stünde besser um unser Europa, wäre die Aktion, die jener weise und tief religiöse Mann mir damals offen ankündigte, nicht durch Schwäche und Ungeschick verdorben worden. 278 279