Der Naturalismus und seine Ausläufer Dieter Borchmeyer Voraussetzungen und Tendenzen Im Jahre 1803, in der Vorrede zur Braut von Messina, erklärt Schiller, eines der Ziele dieses Trauerspiels sei es, »dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären«. Das Medium der Kriegserklärung ist der Chor, der als »lebendige Mauer« die Kunst von der »wirklichen Welt« abschließt. Siebzig Jahre später wird Nietzsche in der Geburt der Tragödie (1872) den Chor mit Berufung auf Schiller gegen den »Naturalismus« seiner Zeit, der zumal von Frankreich aus in diesen Jahren seinen ästhetischen Feldzug durch Europa beginnt, ausspielen – gegen die, wie er zynisch bemerkt, mehr und mehr sich ausbreitende »Region der Wachsfigurenkabinette«. Nach Schiller kann der Naturalismus – der »gemeine Begriff des Natürlichen [...], welcher alle Poesie und Kunst geradezu aufhebt und vernichtet« – nur »die zufälligen Erscheinungen, aber nie den Geist der Natur ergreifen. Nur den Stoff der Welt wird er uns wiederbringen; aber es wird ebendarum nicht unser Werk, nicht das freie Produkt unseres bildenden Geistes sein«. Dem Wort wie der Tendenz nach ist der Naturalismus also keine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts, sondern eine bereits zu dessen Beginn, ja schon vorher konstatierte und bekämpfte ästhetische Tendenz. Schiller nennt die »natürliche Wahrheit« einmal »das Gespenst der Zeit« – seiner Zeit. Die Kunst, gegen welche er sich wendet, ist vor allem das bürgerlich-häusliche Drama im Gefolge Diderots und Lessings, das die zeitgenössische Bühne weitgehend beherrscht (Iffland, Kotzebue u. a.). Das negative Vorzeichen, das Schiller dem Terminus »Naturalismus« gibt, hat dieser nie ganz verloren. Ursprünglich ein polemischer, pejorativer Begriff, ist er schließlich von der durch ihn disqualifizierten Kunstrichtung als positive Selbstbezeichnung übernommen worden. Die Polemik der Poeten des Fin de siecle gegen die naturalistische Reproduktion der Wirklichkeit verwendet zum Teil fast dieselben Argumente wie Schiller. Hier wie dort steht die Kritik an einer sich im Äußerlich-Partikulären erschöpfenden »Pseudokunst« im Vordergrund, welche die Subjektivität des dargestellten Menschen wie des Künstlers zum Verschwinden bringe. Schiller wie die Naturalismus-Kritiker der letzten Jahrhundertwende suchen im Kunstwerk nicht den ›Stoff‹, sondern den ›Geist‹ der Welt; dieser aber ist nur im auffassenden Bewußtsein (der Kantischen transzendentalen Apperzeption) zu finden. Das Kunstwerk soll ›unser‹ sein, so lautet die Forderung Schillers, das ›freie Produkt‹ der künstlerischen Subjektivität. Die ›konsequenten Naturalisten‹ des Jahrhundertendes sehen in ihr dagegen weithin nur das reine, sich nicht selbst thematisierende Medium, durch das eine naturwissenschaftlich-objektivistisch interpretierte, durch kausale und andere Gesetze erklärbare ›Natur‹ = Realität in das sogenannte Kunstwerk Eingang findet. Freies Produkt kann dieses ohnehin nicht sein, da die künstlerische Subjektivität nicht frei, sondern wie alles Menschliche, Persönliche naturgeschichtlich, durch Erbgesetze determiniert ist. Der Fehdehandschuh, den Schiller in der Braut von Messina dem Naturalismus hingeworfen hatte, ist gut ein Jahrhundert später von Gerhart Hauptmann in seiner »Berliner Tragikomödie« Die Ratten (1911) unmittelbar aufgegriffen worden. Im dritten Akt probt der Schauspieldirektor Hassenreuter mit seinen Schülern eben die Gesänge des Chors der Braut von Messina. Spitta als Apologet einer naturalistischen Dramaturgie spielt Diderot und Lessing gegen die »Schillerisch-Goethisch Weimarische Schule der Unnatur« aus, die sich für ihn namentlich im gestelzten Ton jener Chorverse ausdrückt. Vor dem imaginären Hintergrund der Säulenhalle des antikisierenden Chordramas entwickelt Spitta seine Theorie einer auf »Natur« und ästhetischer Gleichberechtigung aller menschlichen Bereiche basierenden Dichtung: »Vor der Kunst wie vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, Herr Direktor.« So lautet sein Wahlspruch – die stoffliche Maxime des Naturalismus. Daß vor der etablierten Kunst (verkörpert in Hassenreuter) wie vor dem herrschenden Gesetz jene Gleichheit aller Menschen freilich nicht gilt, das ist für den Naturalismus einer der Hauptangriffspunkte der maßgebenden, das zeitgenössische ästhetische Bewußtsein bestimmenden Literatur wie auch der bestehenden Gesellschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Im Naturalismus lassen sich zwei Grundtendenzen unterscheiden, eine formale und eine thematisch-inhaltliche, die freilich unmittelbar aufeinander bezogen sind: die Suche nach einem rigoros mimetischen Stil einerseits, die soeben erwähnte Egalisierung der dargestellten Personen und überhaupt der ästhetischen Gegenstände anderseits. Die Erörterung des Begriffs der Mimesis in der aristotelischen Poetik, der Diskurs über Formen und Grenzen der ›Nachahmung‹ zieht sich als roter Faden durch die Geschichte der Dichtungstheorie. In der naturalistischen Poetik wird die Mimesisforderung auf die Spitze getrieben, ja überspitzt. Die Nachahmung soll mit dem Nachgeahmten möglichst identisch, der Dualismus von Kunst und Natur aufgehoben werden. Nach neuen, sensibleren ästhetischen Medien und Mitteln wird gesucht, welche die dargestellten Gegenstände facettenreicher und minuziöser reproduzieren, in der Ganzheit ihrer physiologischen Realität. Feinste Strukturen und atmosphärische Reflexe der Dinge sollen sprachlich eingefangen werden, der physische Vorgang des Sprechens mit all seinen unartikulierten Lautäußerungen und mimischen Besonderheiten. Es ist bisweilen unmöglich, hier die Grenze zu ziehen zwischen Naturalismus und Impressionismus. Bisweilen finden sich naturalistische Mittel gerade bei Autoren, die gegen den Naturalismus polemisieren – aber eben doch mit dessen Erfahrung im Rücken und mit dessen Kunstmitteln in petto. Die Vergegenwärtigung des dekadenten Milieus etwa in Thomas Manns Wälsungenblut wäre ohne die Vertrautheit mit der naturalistischen »Methode« schwerlich so differenziert gelungen. Die naturalistische Mimesis sucht die konventionellen Tabus literarischer Darstellung aufzuheben, aus dem Gehege der herkömmlichen Stilschemata auszubrechen. Seit der Antike waren den literarischen Gattungen bestimmte Gegenstandsbereiche zugeordnet. Was ›nachzuahmen‹ war, wurde durch die in der Lehre von den genera dicendi (erhabene, mittlere, niedrige Stilart) systematisierte Regel des decorum, des Schicklichen, festgelegt – »so daß man nicht etwa von der Form, sondern vom Stoff ausging und gewisse Vorstellungen, Gedanken, Ausdrucksweisen, Worte aus der Tragödie, der Komödie« usw. »hinauswies und andre dafür, als besonders geeignet, in jeden besondern Kreis aufnahm und für ihn bestimmte«, schreibt Goethe in einer Anmerkung zum Dialog Rameaus Neffe von Diderot. »Man behandelte die verschiedenen Dichtungsarten wie verschiedene Sozietäten, in denen auch ein besonderes Betragen schicklich ist.« So war etwa aus dem genus sublime, der erhabenen Stilart, wie sie der Tragödie zukommt, alles ›Naturalistische‹, die konkrete Vergegenwärtigung des Menschen in seiner physiologischen Ganzheit, seine kreatürlichalltägliche Seite ausgeschlossen. Deren Darstellung blieb dem genus humile, der niedrigen Stilart und der ihr etwa zugeordneten Komödie vorbehalten – was bedeutete, daß sie nicht ›ernst‹ genommen werden durfte. Diese antik-humanistische Stiltrennung wurde bereits von der christlichen Literatur durchbrochen, die das antike Wertsystem umwertete, die Trennung des ›Hohen‹ und ›Niedrigen‹ aufgrund der humilitas Christi (seiner ›niedrigen‹ Geburt, Lebensweise und Todesart) aufhob und demgemäß eine nach dem antiken Stilkanon nicht legitimierbare Stilmischung durchsetzte. In Erich Auerbachs hervorragendem Buch Mimesis (1946) wird die Geschichte der Wirklichkeitsdarstellung in der abendländischen Literatur dergestalt als ein Prozeß kontrapunktischer Wechselwirkung zwischen antiker Stiltrennung und christlicher Stilmischung beschrieben. Die Tradition der Stil- und Gattungshierarchie ist bis ins späte 18. Jahrhundert als Pendant und Spiegel der gesellschaftlichen Hierarchie gültig geblieben. Erst die bürgerliche Gleichheitsideologie hat zu ihrer endgültigen Überwindung geführt. Die Tendenz sozialer Egalisierung zeigt sich auf dem Gebiet der Poetik zumal in der Überwindung der Ständeklausel und im Eindringen der Alltagssprache (Prosa) in die Tragödie. Die Mimesis soll von ihren sozialen Grenzen und Tabus weitgehend befreit und im Sinne größerer Gegenstandstreue präzisiert werden; das führt zu dem von Schiller kritisierten »Naturalismus in der Kunst«. Daß natürlich auch Diderot und Lessing noch in bestimmten Konventionen befangen blieben, die der ›natürlichen‹ Nachahmung Grenzen setzten, zeigt z.B. die weitgehende Ausschließung des Vierten Standes und seiner Sprachsphäre aus der Darstellung. Dieser Bereich – und mit ihm die spätere moderne Großstadt- und Industriewelt – ist die ästhetische terra incognita, welche der Naturalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts literarisch zu erkunden und zu bebauen strebt. Die moderne Literatur sei »die Muse des Vierten Standes, fast kann man sagen: des Arbeiterstandes«, schreibt Leo Berg in seiner Abhandlung [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2106 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 153 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] Der Naturalismus. Zur Psychologie der modernen Kunst (1892). Was in Hauptmanns Ratten der Theaterdirektor Hassenreuter dem Schauspielschüler Spitta vorhält: »Sie haben neulich behauptet, daß unter Umständen ein Barbier oder eine Reinmachefrau aus der Mulackstraße ebensogut ein Objekt der Tragödie sein könnte als Lady Macbeth und König Lear« – das ist in der Tat eine Grundüberzeugung des Naturalismus. Der Rechtsgrundsatz der Gleichheit aller Menschen, den Spitta auf die Kunst anwendet, wird von Conrad Alberti, einem der Wortführer namentlich des frühen Naturalismus, vom Standpunkt eines naturwissenschaftlichen Monismus aus auf alle Wesen übertragen: Wie »vor dem Naturgesetz« so seien auch »vor der Ästhetik alle Wesen und Dinge einander gleich, es gibt keine künstlerischen Stoffe zweiten und dritten Ranges, sondern als Stoff steht der Tod des größten Helden nicht höher als die Geburtswehen einer Kuh, denn dasselbe und einheitliche und allgewaltige Naturgesetz verkörpert sich in diesem wie in jenem.« Hier ist die Absage an jede Hierarchisierung der Gegenstände und Gattungen provozierend überspitzt. »Nicht dadurch adelt der Künstler sein Werk, daß er nur Könige und Fürsten zu Helden seiner Darstellungen macht, sondern durch die Tiefe seiner Gedanken, die Vollendung seiner Behandlung.« Albertis »literarisches Glaubensbekenntnis« Die zwölf Artikel des Realismus (»Die Gesellschaft«, 1889) aktualisiert hier einen Gedanken aus Lessings Hamburgischer Dramaturgie: »wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen«, heißt es im 14. Stück. Mit der egalisierenden Tendenz des Naturalismus hängt eine andere unmittelbar zusammen: man sucht sich nicht mehr vornehmlich an das bürgerliche Publikum zu wenden, sondern im Vierten Stand auch eine neue Leserschicht zu finden. Bereits in einem der frühesten Manifeste des europäischen Naturalismus, im Vorwort des Romans Germinie Lacerteux (1864) der Brüder Goncourt, werden die Lesererwartungen des Bourgeois in aggressiver Weise herabgesetzt und der Horizont der basses classes gegen sie ausgespielt. Emile Zola, dem unbestrittenen Haupt des europäischen Naturalismus, wird es in der Tat gelingen, das Massenpublikum für seine Romane zu interessieren, eine Wirkung, welche der deutsche Naturalismus freilich nur in seltenen Fällen erreicht hat. Ein eindrucksvolles Beispiel sind die Berliner Theatervereine »Freie Volksbühne« (1890-92) und »Neue Freie Volksbühne« (1893-95), denen es in der Tat gelang, durch niedrige Mitgliedsbeiträge ein Arbeiterpublikum zu schaffen. Daß die Einbeziehung des Vierten Standes in das Lese- und Theaterpublikum eine Änderung der sozialen Verhältnisse zur Folge haben sollte, ist wohl das ursprüngliche Fernziel der meisten Naturalisten gewesen. An der intellektuellen und ideologischen Beschränktheit ihrer politisch-sozialen Einsichten, ihrem vornehmlich ästhetischen Interesse sowie an den künstlerischen Vorurteilen der Sozialdemokratie lag es, daß eine folgenreiche Begegnung zwischen naturalistischer Kunst und sozialistischer Politik nicht zustande kam. Davon wird noch die Rede sein. Daß die tradierten Geschmacksgrenzen, ästhetischen Normen, Tabus, welche der Naturalismus bewußt verletzte, immer noch bestimmten politisch-sozialen Strukturen korrespondierten, die von Staat und Gesellschaft mit allen Mitteln verteidigt wurden, zeigen die zahllosen Strafverfolgungen naturalistischer Autoren, so der »Leipziger Realistenprozeß« gegen Alberti, Conradi und Walloth (1890), sowie die zum Schutz gegen polizeiliche Nachstellungen gebildeten Theatervereine, deren Aufführungen nur Mitgliedern zugänglich waren. Obwohl im deutschen Kaiserreich die Zensur, d. h. die Vorprüfung von Druckerzeugnissen und Bühnenmanuskripten, nach dem Reichspreßgesetz von 1874 prinzipiell ausgeschlossen war, mußten doch öffentliche Theateraufführungen polizeilich genehmigt werden. Das Genehmigungsverfahren kam einer regelrechten Zensur gleich. Da geschlossene Vorstellungen jedoch nicht in den Kompetenzbereich der Polizei fielen, wurde 1889 in Berlin (nach dem Vorbild des ebenfalls aus Zensurgründen ins Leben gerufenen Pariser »Théâtre libre«) der private Theaterverein »Freie Bühne« gegründet, der nebst der gleichnamigen Zeitschrift (»Freie Bühne für modernes Leben«) ein Forum des deutschen Naturalismus war. Die Unzahl von Literatenprozessen – die sich bezeichnenderweise auf einen Gesetzesparagraphen gegen Zuhälterei und Prostitution stützten (»Lex Heinze«) – zeigt, daß es im wilhelminischen Deutschland nicht nur eine Klassenjustiz, sondern ebenso eine Klassenmoral und Klassenästhetik gab. Paul Ernst wurde wegen seiner Erzählung Zum ersten Mal (1891), welche den ersten sexuellen Kontakt eines Theologiestudenten mit einer Prostituierten zum Inhalt hat, nur aufgrund der Tatsache zu einer Geldstrafe verurteilt, daß er sie in der sozialdemokratischen »Berliner Volkstribüne« veröffentlicht hatte; dort appellierte sie nach Meinung des Richters an »niedrige Instinkte«, während sie in einem bürgerlichen Blatt u. U. eine »sittliche Wirkung« hätte haben können. Hier zeigt sich deutlich die Identität der herrschenden ästhetischen mit sozialen Vorurteilen, ihre Verfilzung mit einer repressiven Moral und Gesetzesauslegung. Der Naturalismus im strengen Sinne ist in thematischer wie formaler Hinsicht eine ästhetische Grenzposition, die zwar fast alle bedeutenden Schriftsteller vor 1900 irgendwann einmal eingenommen oder gestreift haben, die jedoch keine eigentliche ›Epoche‹ gebildet hat. Der Naturalismus hält sich in Deutschland bei großzügiger Periodisierung höchstens fünfzehn Jahre, von der Mitte der achtziger bis zum Ende der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Als terminus post quem kommt allenfalls der erste Jahrgang der Zeitschrift »Kritische Waffengänge« (1882-84) von Heinrich und Julius Hart in Frage, wenn man in ihnen nicht eher die Vorkämpfer der Bewegung sehen will, die sich erst seit 1885 zu einer Literatengruppe mit einigermaßen konsistentem ästhetischem Programm formiert. 1885 ist das eigentliche Stichjahr des deutschen Naturalismus. In diesem Jahr erscheinen, von Wilhelm Arent herausgegeben, von Hermann Conradi und Karl Henckell eingeleitet, die Lyrik-Anthologie Moderne Dichter-Charaktere und Arno Holz' Gedichtsammlung Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Höchst bezeichnend für den deutschen Naturalismus, daß sich, anders als in Frankreich, seine frühesten Schlachtrufe (so darf man sie wegen ihres martialischen Tons wirklich nennen!) auf die Lyrik beziehen. Im gleichen Jahr eröffnet der Zola-Apostel Michael Georg Conrad in München, der zweiten Hauptstadt des deutschen Naturalismus neben Berlin, seine »Realistische Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben« mit dem beziehungsreichen Titel »Die Gesellschaft«. Obwohl diese Zeitschrift bis 1902 existiert – hier sind noch die frühen Arbeiten Heinrich und Thomas Manns erschienen –, fällt ihre große Zeit doch in die ersten Jahrgänge, als München sich gegenüber Berlin, das seit Ende des Jahrzehnts eindeutig das Zentrum der Bewegung wird, als Hauptstadt des Naturalismus wohl behaupten kann. Die durch die »Kritischen Waffengänge« der Brüder Hart, vor allem aber durch die »Gesellschaft« geprägte frühnaturalistische Phase (welche den Terminus »Naturalismus« noch keineswegs zu ihrem Leitbegriff macht) läßt sich gewissermaßen als Phase des Sturm und Drang charakterisieren. Der Affinität zu dieser vorklassischen Epoche waren sich die frühnaturalistischen Autoren durchaus bewußt, wie die häufige Berufung auf den jungen Goethe oder Lenz beweist. Schon die markige Sprache der ›Modernen‹ – die sie mit den martialischen Reden eines Wilhelm II. merkwürdig verbindet: Symptom tiefer Unsicherheit, welche durch parvenuhaftes Pathos übertönt wird – knüpft an die kraftgenialische Redeweise im Umkreis des jungen Goethe an; dabei kommt freilich nicht mehr heraus als ein großsprecherisch-schnoddriger Studentenjargon, von dem sich viele naturalistische Autoren (z. B. Arno Holz) auch als ältere Semester nicht haben lösen können. Wie die Sturm- und-Drang-Autoren sich gegen überalterte soziale wie ästhetische Traditionen und Normen auflehnen, im Namen der »Natur« die von der französischen absolutistischen Hofkultur geprägten Konventionen und poetologischen Regeln durchbrechen, so läuft der Naturalismus vor allem in seiner frühen Phase Sturm gegen das marktkonforme epigonale Literatentum und die verlogenen Konventionen seiner Zeit, gegen die gesellschaftlichen und künstlerischen Mißstände hinter der scheinbar glänzenden Fassade des neuen Kaiserreichs und der ›Siegernation‹. Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, daß auch radikale Naturalisten wiederholt versucht haben, ihre Kunst in den Dienst des Kaiserreichs zu stellen, als ästhetisches Pendant der Bismarckschen Reichsgründung zu definieren und angesichts ihres meist leeren Geldbeutels – fast alle Naturalisten stammen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen – staatliche Subventionen zu fordern: die Oppositionsliteratur drohte so nicht selten in Affirmation des herrschenden Systems umzuschlagen. In der Neujahrsausgabe der »Gesellschaft« ist gar zu lesen: »Der Naturalismus hat gesiegt, in der Staatskunst durch Bismarck, in der Dichtung durch Balzac und Zola, in der Malerei durch Menzel und auf dem Gebiete der Musik durch Wagner.« (Die Wirkung des letzteren zumal auf den Mün [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2113 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 156 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] chener Naturalismus ist in der Tat nicht zu unterschätzen!) Viele Naturalisten setzen nicht nur in sozialer (Conrads Aufsatz Das soziale Kaisertum, 1890!), sondern auch in ästhetischer Hinsicht größte (freilich bald enttäuschte) Hoffnungen auf den jungen Kaiser: Nach der politisch-militärischen solle nun endlich auch eine soziale und kulturell-literarische Blüte folgen. Die wichtigste Publikation in diesem Zusammenhang ist Conrad Albertis begreiflicherweise anonym veröffentlichte hochmütig-aggressive Schrift von 1888 Was erwartet die deutsche Kunst von Kaiser Wilhelm II. ? Im ersten Jahrgang der »Kritischen Waffengänge« vergleichen Heinrich und Julius Hart nach einem vernichtenden Pauschalurteil über die Literatur ihrer Zeit – »diese Verrohung des Stils, diese Sprache, welche bereits konventionell erstarrt, dieses Überwuchern eines eklektischen Dilettantismus, diese Flutwoge novellistischer Fabrikarbeit« – die Situation der deutschen Dichtung seit Ende der Goethezeit mit dem Ausklang eines glänzenden Gastmahls, dessen Gesellschaft »ein blühender Kranz edelster Geister« gewesen war. »Doch nun ist es spät geworden, von den Gästen ist einer nach dem andern heimgegangen, die Kerzen brennen trübe, und nur hier und da sitzt noch eine Gruppe beisammen, deren Unterhaltung an die verflossenen Stunden erinnert. Schon aber macht sich der Schwarm der Mägde und Bedienten, der Schmarotzer und Bettler im Saale breit, der Schwarm, welcher die Zeit nicht abwarten kann, um über die Reste des Mahles herzufallen.« Diese »schmarotzende Mittelmäßigkeit« gelte es nun im Namen eines »erdfrischen Realismus« aus dem Saal zu vertreiben – um »wieder anzuknüpfen [...] an den jungen Goethe und seine Zeit«. Ähnlich militant klingt Conrads Vorrede zum ersten Jahrgang der »Gesellschaft«. Die Wochenschrift bezwecke »die Emanzipation der periodischen schöngeistigen Literatur und Kritik von der Tyrannei der ›höheren Töchter‹ und der ›alten Weiber beiderlei Geschlechts‹« (eine Anspielung auf die Familienblätter und ihre meist weiblichen Leser); es gelte, »der herrschenden jammervollen Verflachung und Verwässerung des literarischen, künstlerischen und sozialen Geistes starke, mannhafte Leistungen entgegenzusetzen, um die entsittlichende Verlogenheit, die romantische Flunkerei und entnervende Phantasterei durch das positive Gegenteil wirksam zu bekämpfen«. Was alles sich hinter dem Fanal des ›Realismus‹ zusammenschart, läßt sich in der Frühphase des Naturalismus kaum auf einen Nenner bringen. Aufgeklärt- humanistisches Pathos, das vor allem die zahlreichen Streitschriften Conrads wider Intoleranz, Antisemitismus, Klerikalismus und gegen den militaristischen Obrigkeitsstaat prägt, verbindet sich mit romantisch- irrationalistischen und nationalkonservativen Elementen, die später – in den letzten Jahrgängen der »Gesellschaft« – zur Verteidigung der Heimatkunst, ja zur »Blutund-Boden«-Ideologie führen (die Formel wird schon 1901 von Conrad verwendet, der nicht zufällig von den süddeutschen Nationalsozialisten als einer ihrer Propheten verehrt worden ist!). Auch ein einheitliches ästhetisches Konzept wird man vermissen; zwischen Wagnerund Zolabegeisterung (z. B. bei Conrad) schwankt der ›Realismus‹ nach so vielen Richtungen, daß dieser Begriff seine Legitimität oft einbüßt. Das ästhetische Stimmenwirrwarr der Jahre um 1885 konsolidiert sich erst gegen Ende des Jahrzehnts, vor allem durch den Berliner Naturalismus, zu einer einigermaßen konsistenten Programmatik. Mit zunehmender Konsolidierung des Naturalismus tritt das Vorbild des Sturm und Drang hinter dem einer anderen Periode zurück: des Jungen Deutschland. Von Anhängern wie Gegnern der naturalistischen Richtung wird diese deshalb gern als Das jüngste Deutschland bezeichnet (so auch der Titel der ersten Gesamtdarstellung der Periode von Adalbert von Hanstein, 1900). Einen Höhepunkt der naturalistischen Bewegung bringt das Jahr 1889: in Berlin wird die »Freie Bühne« mit Aufführungen von Ibsens Gespenstern und Gerhart Hauptmanns Sonnenaufgang eröffnet, Arno Holz und Johannes Schlaf veröffentlichen unter dem Titel Papa Hamlet ihre Prosaexperimente. Im gleichen Jahr erscheint Hermann Conradis skandalumwobener, bald verbotener Roman Adam Mensch, und schließlich wird Hermann Sudermanns Erfolgsdrama Die Ehre uraufgeführt, das sich in seiner effektsicheren Übernahme naturalistischer Stilmittel von den Werken eines Hauptmann oder Holz ungefähr so unterscheidet wie die Stücke Ifflands von Lessings Miß Sara Sampson. Spätestens seit diesem großen Jahr des Naturalismus wird Berlin dessen eigentliches Zentrum; seine wichtigsten Foren sind neben der »Freien Bühne« (dem Theaterverein und der Zeitschrift, aus welcher später die »Neue Rundschau« hervorgeht) ihre Sezessionen: die »Freie Volksbühne« und »Neue Freie Volksbühne«, der 1886 von Leo Berg gegründete Verein Durch! und der Hinter der Weltstadt (so der Titel der »Friedrichshagener Gedanken zur ästhetischen Kultur« von Wilhelm Bölsche) gebildete »Friedrichshagener Dichterkreis«, der in seinem bewußten Gegensatz zur großstädtischen Lebensform die persönliche Distanz der Naturalisten (welche zumeist aus der Provinz stammten!) zu jenem programmatisch für die moderne Literatur in Anspruch genommenen Leben der großstädtisch-industriellen Welt dokumentiert. (Die Verklärung des Landes und der Provinz ist ein Motiv, dem wir bei vielen Naturalisten, etwa bei Arno Holz, immer wieder begegnen.) Schon im Jahre 1891 scheint sich anzudeuten, daß die naturalistische Bewegung über ihren Zenith hinaus ist. In diesem Jahr veröffentlicht Hermann Bahr seine Schrift Die Überwindung des Naturalismus, welche dessen Ablösung »durch eine nervöse Romantik, noch lieber möchte ich sagen: durch eine Mystik der Nerven« verkündet – die es zumindest in Frankreich freilich schon länger als den Naturalismus gegeben hat. Nach 1892, dem Erscheinungsjahr von Hauptmanns Webern sowie der Neuen Gleise, in denen Holz und Schlaf ihr »Gemeinsames« vorstellen und damit ihre experimentelle Gemeinschaftsproduktion abschließen, geht die naturalistische Bewegung allmählich ihrem Ende entgegen. Ein terminus ad quem läßt sich noch schwerer festlegen als ein solcher post quem. Werke naturalistischen Gepräges treten bis zum Ende des Jahrhunderts, ja darüber hinaus immer wieder ins Licht der literarischen Öffentlichkeit; das bedeutendste Beispiel sind Gerhart Hauptmanns Ratten (1911) – ein Nachkömmling der Periode zwar, aber ihr vielleicht doch bedeutendstes dramatisches Opus. Hier wie so oft zeigt sich die Problematik aller Periodisierung innerhalb der neueren Literaturgeschichte. Der Periodenbegriff erweckt immer wieder den Anschein eines Nacheinanders von Stilrichtungen, die oft als Antwort oder Gegenreaktion auf eine ›vorhergehende‹ Tendenz gedeutet werden, obwohl sie nicht selten synchron verlaufen. Dafür nur einige Beispiele: Die Höhepunkte des Poetischen Realismus liegen gerade erst zurück oder stehen noch aus, als die bahnbrechenden naturalistischen Theorien und Versuche publiziert werden. Die zweite Fassung von Kellers Grünem Heinrich erscheint 1879/80, Martin Salander erst 1886, ein Jahr nach dem naturalistischen ›Stichjahr‹, Conrad Ferdinand Meyers Versuchung des Pescara 1887, Raabes Stopfkuchen 1891, Die Akten des Vogelsangs 1895. Fontanes bedeutendste Romane erscheinen erst, als es mit dem Naturalismus schon bergab geht (Effi Briest 1894, Der Stechlin 1897). Es wird immer wieder teils wertneutral, teils tadelnd hervorgehoben, daß die Naturalisten so argumentieren, als hätte es bis dato keinen Realismus in der deutschen Literatur gegeben. Das hängt ohne Zweifel damit zusammen, daß die bedeutendsten Werke des Realismus eben zum Teil noch nicht ins allgemeine literarische Bewußtsein gelangt bzw. noch gar nicht geschrieben waren, daß also die Epoche eines deutschen Realismus erst eine wesentlich spätere literarhistorische Abstraktion war. Andererseits fallen auch die frühen Schöpfungen des literarischen Symbolismus zeitlich fast mit den Hauptwerken des Naturalismus zusammen. In das gleiche Jahr, 1890, wie Holz/Schlafs Familie Selicke fällt der Privatdruck von Stefan Georges Hymnen, 1892 erscheinen nicht nur die Neuen Gleise, sondern auch Hofmannsthals Tod des Tizian im 1. Heft der »Blätter für die Kunst«. Noch vor den bedeutenden Spätwerken Raabes und Fontanes ist schon die früheste Prosa von Heinrich und Thomas Mann zu lesen. Divergierende Stilrichtungen überlappen sich chronologisch so stark, daß eine Periodisierung, welche dieselben eindimensional als bloßes, gar kausal-reaktives Nacheinander sieht, eine unzulässige Simplifizierung darstellt. Die Anfänge der sogenannten Dekadenz- Dichtung liegen in Frankreich noch vor denen des Naturalismus (Gautier, Baudelaire u. a.), ein Beweis dafür, daß man sie keineswegs primär als Reaktion auf den letzteren bestimmen kann. Zudem hat sich kaum einer der Naturalisten, auch vorm Ende des Jahrhunderts, stilistisch konsequent verhalten. Man braucht hier nicht einmal an Hauptmann zu denken. Arno Holz' Phantasus (1898) steht im Gegensatz zu seiner eigenen Überzeugung dem Naturalismus ferner als Thomas Manns im gleichen Jahr erschienene Novellensammlung Der kleine Herr Friedemann oder gar seine Buddenbrooks (1901), die er selber nicht ganz zu Unrecht als »vielleicht ersten und einzigen [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2120 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 159 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] naturalistischen Roman« in Deutschland bezeichnet hat. Dieses Zitat zeigt zur Genüge, daß der Begriff »Naturalismus« sich kaum scharf abgrenzen läßt. »So viele Werte, so viel Begriffe das Wort enthält, eben so viele Verdeutschungen sind möglich«, stellt schon Leo Berg, einer der Begründer der »Freien Bühne«, fest. Der moderne literaturwissenschaftliche Terminus kollidiert mit dem Selbstverständnis der Naturalisten, die fast jeder ihren eigenen Naturalismus-Begriff hatten und diesen zudem oft nicht auf das eigene oder das Schaffen der Zeitgenossen beschränkten, sondern auch zur Charakterisierung von Werken der Vergangenheit verwendeten. »Ist doch der erste ›Naturalist‹ / schon der alte Vater Homer gewesen!« So lesen wir im Buch der Zeit von Arno Holz. »In dieser Literaturströmung, die man gewöhnlich so ganz oberflächlich unter den Gesamtbegriff Naturalismus zusammenfaßt, waren jedoch von Anfang an die heterogensten Richtungen vertreten, die nur ein Gemeinsames hatten, den gemeinsamen Feind, den hohl und lügnerisch gewordenen altersschwachen Idealismus«, so bemerkt Emil Reich in seinem Buch Die bürgerliche Kunst und die besitzlosen Volksklassen (1892). Erst seit etwa 1889 hat sich ›Naturalismus‹ als Etikette der Bewegung durchgesetzt. Vorher stand dieser Begriff vor allem hinter dem des ›Realismus‹ zurück, ja er wurde von Repräsentanten der Richtung immer wieder im ursprünglichen pejorativen Sinne verwendet. »Der Naturalismus ist also künstlerisch ebenso unmöglich«, verkündet 1885 Hermann Conradi, »wie die verhimmelnde abgeblaßte Schönrederei.« »Das Wort ist gefunden, welches in neun Buchstaben die Losung des Ganzen enthüllen soll«, heißt es in Wilhelm Bölsches epochemachender Schrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik (1887): »Dieses schicksalsschwere Wort heißt Realismus« – und ist, von den Pionieren der naturalistischen Bewegung wie den Brüdern Hart, Conrad, Alberti usw. in immer neuen Programmschriften definiert, zum Fanal der neuen Kunst gemacht worden. Die Versuche, den Realismus als Mitte zwischen subjektivistisch-willkürlicher und objektivistisch-mimetischer Kunst zu bestimmen, weisen, wie der Begriff ›Realismus‹ selbst, auf die Ästhetik zurück, von der die Naturalisten sich doch so entschieden abgewandt haben: auf die Stiltheorie Goethes und Schillers (vgl. Bd. I/1, S. 288 u. S. 329). Der »Stil« hebt nach Goethe und Schiller den Gegensatz von bloßer »Nachahmung« der beschränkten Wirklichkeit und subjektiver »Manier« in einer höheren Einheit auf. Die Trias Nachahmung-Manier-Stil kehrt, wenn auch mit anderen Termini, in den frühnaturalistischen Theorien immer wieder. Im ersten Jahrgang der »Gesellschaft« (1885) untersucht z. B. Erdmann Gottreich Christaller den »Grundunterschied zwischen Naturalismus, Realismus und Idealismus«. Er sieht denselben in den verschiedenen Mischungsgraden von »kritischem Verstand« und »Phantasie«, letztere verstanden als das Vermögen, sich über alle Erfahrungs- und Wahrscheinlichkeitsgesetze der Realität hinwegzusetzen, erstere als die streng an den verifizierbaren Gesetzen der Wirklichkeit orientierte Geistesverfassung. Herrscht im »idealistischen Geschmack« allein die Phantasie, so im »naturalistischen« der Verstand; zwischen beiden bildet die »realistische Geistesverfassung« die Mitte. Innerhalb ihrer Grenzen gestattet der Verstand der Phantasie, unter den Gegebenheiten der Realität »auszuwählen«, d. h. die oberhalb der »Durchschnittsware der Natur« liegenden, das Gemüt positiv stimulierenden Lebensmomente darzustellen. Der Verstand »ist nicht ungehalten, wenn ihm die Kunst eine bessere Gesellschaft und eine schönere Welt darbietet als die Wirklichkeit, nur muß er das alles bis zum letzten Pünktchen als wirklich denken können; absolut dieselben Gesetze, die in der wirklichen Welt herrschen, müssen auch in dem ersonnenen Weltstück herrschen«. Demgegenüber will der »naturalistische Geschmack« im Kunstwerk nicht nur die »Gesetze«, sondern die »Zustände« der wirklichen Welt, die Alltagsrealität unverkürzt und unverschönt wiederfinden. »Malt man dem Naturalisten die Welt nur einigermaßen im höheren Stil, so schreit er überlaut: ›Das ist nicht wahr; die Welt ist schlechter, die Welt ist fader, ich kenne sie wohl; ihr lügt, während ich nur die Wahrheit haben will.‹ Das ist's; seine Wünsche gehen nur speziell auf die Darstellung des Wirklichen, ja fast nur des Modernwirklichen.« Christallers Abgrenzung des Realismus und Naturalismus entspricht in der Tat einem Wesensunterschied zwischen dem mehr affirmativen, auch die Momente des Elends – durch die Erzählhaltung des Humors und andere epische Kompensationsmittel – harmonisierend abdämpfenden bürgerlich-poetischen Realismus und dem auf solche Versöhnung mit der Realität radikal verzichtenden Naturalismus. Daß der Begriff Naturalismus sich seit dem Ende der achtziger Jahre gegenüber dem anfänglich favorisierten Terminus Realismus durchgesetzt hat, hängt gewiß mit dem Bedürfnis seiner Befürworter zusammen, das eigene künstlerische Verfahren konsequenter und radikaler von einem allzu weitgespannten und vor allem von einem optimistischen Realismus abzugrenzen. Für Christaller sind Idealismus, Naturalismus und Realismus Idealtypen, die »sehr wohl in einem und demselben Geiste vorkommen« können, und die er verschiedenen psychischen Situationen zuordnet. Der naturalistisch-kritische Typus tut im »Kampf ums Dasein« not, der idealistisch-phantastische, »wenn wir vom Arbeitskarren losgespannt sind«. Damit hat er den soziologischen ›Ort‹ beider ästhetischer Tendenzen genau bezeichnet. Die Naturalisten wehren sich gegen die idealistische Epigonenpoesie eines Geibel, Heyse oder geringerer, aber marktbeherrschender Produzenten von romantisch-verschwärmter Konsumpoesie (wie Albert Träger und Paul Lindau) mit dem Argument, das sei Poesie für höhere Töchter, bloße Mußekunst – Literatur der ›leisure class‹. Der Naturalismus empfindet sich demgegenüber in der Tat als eine Kunst des Kampfes ums Dasein. Conrad Alberti hat diese darwinistische Formel sogar zum Titel einer sechsbändigen Romanreihe (1888-1895) gemacht. Daß Christallers triadische Stiltheorie kein Einzelfall ist, zeigt Julius Harts Aufsatz Phantasie und Wirklichkeit (»Kritisches Jahrbuch«, 1889). Auch er bestimmt den Realismus als Mitte zwischen der vom bloßen »Verstand« bestimmten Nachahmung und dem wirklichkeitsfremden Spiel der »Phantasie«. »Nicht die Natur nachahmen, sondern von der Natur lernen, das muß man vom Künstler verlangen.« (Die Orientierung an der natura naturans, nicht an der natura naturata; Nachahmung der Schöpferkraft, nicht der Werke der Natur – das war schon das Ziel der Poesie der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang.) »Dichtung ist Subjekt und Objekt, und der größte Dichter muß beides vereinigen, eine große und starke Individualität, große und reiche Kenntnis von Welt und Wirklichkeit.« Diese Vermittlung zwischen Subjektivität und Objektivität weist freilich um keine Nuance über Goethes Stil- und Realismusbegriff hinaus. Kein Wunder, daß sich die konsequenten Naturalisten mit diesem Realismus nicht zufrieden gaben, den Schwerpunkt der Dichtung von der Mitte zwischen Phantasie und Verstand ganz zu dem letzteren, zur objektiven Reproduktion der Wirklichkeit hin verlagerten. Das ist der Schritt vom Realismus zum Naturalismus. Gegen die »Pseudonaturalisten«, welche auf eine derart entsubjektivierte »Kopie der Wirklichkeit« zielen, hat Julius Hart ein Jahr nach dem Erscheinen des Papa Hamlet (im gleichen »Kritischen Jahrbuch«, 1890) heftig polemisiert und noch einmal seinen Standpunkt betont, daß die Poesie »keine Naturnachahmung, sondern eine Naturnachschaffung« ist. Die konsequent naturalistische Ästhetik erkennt Hart hier scharfsinnig als Selbsttäuschung ihrer Repräsentanten über das Wesen der eigenen Form. Die zunächst vielleicht verwirrende Tatsache, daß Christaller und Hart die subjektlose Naturnachahmung mit dem kritischen Verstand in Verbindung bringen, während Goethe und Schiller sie im Gegenteil als eine reflexionsfreie, naive Kunstrichtung auffaßten, zeigt, daß die Natur ihr Gesicht verwandelt hat. Sie wird nicht mehr als gestalthaft-sinnliche Wirklichkeit erfahren, sondern als eine abstrakt-gesetzlich bestimmte. Die Erscheinungen der Natur fallen zunächst nicht ins Auge, sondern in den Verstand, der sie nach den Gesetzen der Naturwissenschaft ordnet. Der Naturalismus will also weniger Nachahmung der Gegenstände als der Gesetze der Natur sein. Die Mauer zwischen Kunst und (Natur-) Wissenschaft wird bewußt eingerissen. »Da alle Naturgesetze, welche die mechanischen Vorgänge in der physischen Welt regeln, auch alle geistige Vorgänge und Erscheinungen bestimmen, so ist auch die Kunst genau denselben Gesetzen unterworfen wie die mechanische Welt«, schreibt Conrad Alberti. »Die Prinzipien des Kampfes ums Dasein, der natürlichen Auslese, der Vererbung und der Anpassung haben in Kunst und Kunstgeschichte ebenso unbedingte Geltung wie in der physiologischen Entwicklung der Organismen« (Die zwölf Artikel des Realismus). In diesem Zitat zeigt sich, an welchen naturwissenschaftlichen Disziplinen, Prämissen und Methoden die Naturalisten sich orientieren: es ist die mechanistische Physik und die biologische Evolutionslehre Darwins. Dessen Entstehung der Arten (1859) haben freilich nur die wenigsten Naturalisten gelesen: die in ihren Schriften immer wiederkehrenden Ideen der Art [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2127 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 162 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] bildung und Vererbung, der Selektion und des ständigen Wettbewerbs um die günstigsten Lebenschancen in Kampf und Anpassung haben sie meist aus zweiter Hand, vor allem aus den Schriften von Ernst Haeckel. Neben Darwin ist das Weltbild der Naturalisten durch eine Reihe von Systemen beeinflußt worden, welche alle Bereiche des Denkens und der Wirklichkeit in mathematischnaturwissenschaftliche Modelle zwingen. Zu nennen sind hier vor allem: John Stuart Mills System of Logic (1843), das der (für die naturalistische Poetik grundlegenden) experimentellinduktiven Methodik zum Durchbruch verholfen hat, Herbert Spencers System of Synthetic Philosophy (1862-1896), das die Entwicklung des Universums, des außermenschlichen Lebens wie der Zivilisation als einen einheitlichen naturgesetzlichen Prozeß begreift, Auguste Comtes Cours de philosophie positive (1830-1842), welche, für die naturalistische Auffassung und Darstellung sozialer Zustände höchst folgenreich, die Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge quasi als naturwissenschaftliche Disziplin betrachtet – Soziologie als »Sozialphysik«!-, schließlich Hippolyte Taines Philosophie de l'art (1865- 1867) und seine literaturkritischen Essays; ihnen kommt von all diesen Einflüssen die vielleicht größte Bedeutung zu, da hier bereits jene englischen Denkströmungen sowie der Positivismus Taines systematisch auf die Ästhetik angewandt werden. Die Schriften Taines haben zumal durch ihre Milieutheorie auf die deutschen Naturalisten gewirkt; das Milieu ist jedoch nur einer der drei Faktoren, »trois forces primordiales«, aus deren Wechselbeziehungen Taine alle geistigen Produkte, so auch die Dichtung, erklärt: »la race, le milieu et le moment« (Histoire de la littérature anglaise, 1863), Rasse, Milieu, Epoche – ethnische, soziale und historische Umstände präformieren und determinieren jedes Werk. Dem in all diesen französischen und englischen Denksystemen zum Ausdruck kommenden Totalitätsanspruch der Naturwissenschaft beugt sich auch die Literatur. Durch die Szientifizierung der Kunst, des Naturbegriffs und der Realitätsvorstellung unterscheidet sich der Naturalismus zumindest graduell vom deutschen und europäischen Realismus des 19. Jahrhunderts. Den Gebildeteren unter den Naturalisten ist allerdings nicht verborgen geblieben, daß es bezüglich der Annäherung der Kunst an die Naturwissenschaft sowie ihrer Ableitung von ethnischen und zivilisationsgeschichtlichen Faktoren auch in Deutschland respektable Wegbereiter gegeben hat. Conrad Alberti nennt in seiner Schrift Natur und Kunst (1890) Herders Ideen (1784-1791) in einem Atemzug mit Taines Philosophie de l'art und seiner Histoire de la littérature anglaise. Herder habe »das Prinzip des Milieu [...] glänzend durch die gesamte geschichtliche Entwicklung« durchgeführt, »indem er den Einfluß der äußeren Verhältnisse jedes Landes auf die Entwicklung des besonderen Volksgeistes schlagend nachwies. Zugleich ging er in der Erkenntnis noch einen Schritt weiter und wies den Einfluß der physiologischen Beschaffenheit des Menschen auf die Kulturentwicklung nach«. In der Tat hat Herder (vgl. Bd. I/1, S. 281 ff.) seinen Begriff des »Klimas« fast schon im Sinne des Taineschen Milieubegriffs verwendet, als Bezeichnung der materiellen, zivilisatorischen Lebensbedingungen jedes Volkes. Zugleich hat er Natur und menschliche Geschichte als gesetzmäßige Einheit erfaßt: »Die Regel, die Weltsysteme erhält und jeden Kristall, jedes Würmchen, jede Schneeflocke bildet, bildete und erhält auch mein Geschlecht.« Der Sache nach fast das gleiche lesen wir in den zahllosen Schriften von Wilhelm Bölsche, Karl Bleibtreu, Hans von Basedow u. a. über die Beziehungen zwischen Naturwissenschaft und Naturalismus. Aus der Einheit jener ›Regel‹ ziehen die Naturalisten, wie gesagt, die Konsequenz, daß »vor dem Naturgesetz« und daher auch »vor der Ästhetik alle Wesen und Dinge einander gleich« sind, weil sich in ihnen »dasselbe und einheitliche und allgewaltige Naturgesetz verkörpert« (Conrad Alberti). Auch der Naturwissenschaftler Goethe, dessen morphologische und osteologische Forschungen in unmittelbarem Zusammenhang mit Herders Ideen stehen, deutet den Menschen als Glied in der Kette der Naturerscheinungen, als »eine Schattierung einer großen Harmonie« (Brief an Knebel v. 17.11.1784). Nicht zu Unrecht haben Charles Darwin und Ernst Haeckel in Goethe einen Wegbereiter der Evolutionstheorie gesehen – so Haeckel in seinem für die Geschichte des Darwinismus in Deutschland wegbereitenden Vortrag Über die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck (1882) oder in seinem Hauptwerk Die Welträtsel (1899). Auf der Basis seiner Naturforschung hat schon Goethe Natur und Kunst unter ein sie gemeinsam prägendes Gesetz gestellt. Es ist kein Zufall, daß gerade Wilhelm Blöcke, der 1900 eine umfangreiche Monographie über Haeckel veröffentlicht hat, das naturwissenschaftliche Fundament der Goetheschen Poesie hervorgehoben und ihr von daher einen Vorbildcharakter für die naturalistische Dichtung zugeschrieben hat. In seinem Aufsatz Goethes Wahlverwandtschaften im Lichte moderner Naturwissenschaft (»Die Gesellschaft«, 1889) bezeichnet Bölsche diesen Roman als »einen vollkommenen Spiegel [...] für den von Zola so getauften ›Experimentalroman‹«; »alle Vorzüge und alle Gefahren dieser ins Gebiet der Naturwissenschaft hinübergreifenden exakt psychologischen Dichtungsart« seien in jenem Buch so nachzuweisen, »als gehöre es zeitlich zu den neuesten Erzeugnissen des Büchermarktes«. Ein angesichts der Goetheschen Skepsis gegenüber der experimentellen Naturwissenschaft gewiß problematischer Aktualisierungsversuch, obwohl nicht zu bestreiten ist, daß der Autor der Wahlverwandtschaften den Titel wie den Verlauf dieses Romans tatsächlich vom Modell einer chemischen Versuchsanordnung her konzipiert hat. Die Bedeutung der modernen Naturwissenschaft für den Naturalismus liegt einmal in den bereits angedeuteten Inhalten: evolutionistisches Naturbild, empirisch exakt nachweisbarer Determinismus, d. h. Präformierung des Menschen durch Erbanlage, Rasse, Milieu usw. – also das unermüdlich repetierte »Dogma vom unfreien Willen« (Wilhelm Scherer) –, Bestimmbarkeit aller Wirklichkeits- und Wissensbereiche nach mathematischphysikalischen Gesetzen, also ein Wissenschaftsmonismus, der allein die exakte Naturwissenschaft als Erkenntnisgrundlage anerkennt. Zum anderen stützt sich der Naturalismus auf die Überzeugung von einer gemeinsamen Methode der modernen Naturwissenschaft und Literatur: diese Methode ist die Induktion experimentellpositivistischer Herkunft. Das empirisch-induktive Verfahren ist für die Naturalisten absolut und allein gültig, sowohl in der Poetik als auch in der Poesie. In seinem Aufsatz Realismus und Naturwissenschaft (1888) verkündet Karl Bleibtreu: »Die realistische Poesie der Zukunft kennt keinerlei Metaphysik mehr, außer als Symbolik für jene scheinbar transzendentalen immanenten Ideen, welche wir heut induktiv aus dem Naturleben heraus analysieren können.« Alle »deduktiven Zwangsvoraussetzungen« werden mithin über Bord geworfen. »Für die neue Poesie werden weder Bösewichter noch Heilige, weder Kretins noch Genies geboren. Sie werden erst zu dem, was sie sind, durch die auf sie wirkenden Verhältnisse« – freilich auf der Grundlage der »vererbten Anlagen«. Dem entspricht ein induktives Vorgehen, das den ›guten‹ oder ›bösen‹ Charakter eines Menschen erst in der Darstellung entwickelt, also nicht voraussetzt. Vorbild in dieser Hinsicht ist für Bleibtreu Shakespeare. Im Gegensatz zu einem Dichter, der »deduktiv-hypothetisch bei Anlage seiner Konflikte und Charaktere vorgeht (wie etwa Schiller)« sei Shakespeare »der größte induktive Analytiker (Realist)«. Ebenso induktiv wie die Dichtung selber muß auch ihre Theorie vorgehen. In seinem schon erwähnten Buch Natur und Kunst verwirft Conrad Alberti die vom Begriff der »absoluten Schönheit« ausgehende »alte Ästhetik«, die eher den Namen »Kalogie« verdient habe. Ihr A und O sei das Dogma gewesen, »daß der Begriff der Schönheit etwas Unveränderliches, ewig Feststehendes, Absolutes sei«. Demgegenüber stellt Alberti apodiktisch fest: »Das Reich des Absolutismus ist in der Philosophie genauso zuende wie in der Politik. Alle absoluten Begriffe sind überwunden«. »Die Schönheitsideale sind grundverschieden bei den Menschen verschiedener Zeiten, Gesellschaftsklassen, Länder.« Die Methode der alten Ästhetik sei gescheitert. »Sie ging von den Begriffen aus statt von den Dingen, sie war deduktiv statt induktiv, statt praktisch, empirisch, historisch, vergleichend zu sein.« »Die alte Ästhetik kommt mit dem fertigen metaphysischen Ideal in die Welt der Kunst hinein und mißt darnach die reale Kunst. [...] Die neue entwickelt den Begriff, das Wesen, das Ideal des Kunstwerks aus den vorhandenen wirklichen und untersucht die Bedingungen seines Entstehens und seiner Wirkung. Die alte Ästhetik ist die Lehre vom Schönen, die neue die Lehre vom Künstlerischen. Die Begriffe schön und häßlich in ihrer leeren Unbestimmtheit existieren für die neue Ästhetik überhaupt nicht mehr.« Die philosophische Naivität dieser positivistischen Position ist evident: der Begriff der Kunst soll erst a posteriori zu finden sein, obwohl die Werke, von denen man ausgeht, a priori bereits als Kunst bestimmt sind. Das große Vorbild einer naturwissenschaftlich begründeten Ästhetik und Poetik ist für die deutschen Naturalisten Zolas literaturtheoretischer Sammelband [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2134 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 166 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] Le roman expérimental (1880). Hier wird auf der Basis der oben skizzierten naturwissenschaftlichen Theorien, vor allem in unmittelbarer poetologischer Applikation (um nicht zu sagen: kompilatorischer Ausschlachtung) von Claude Bernards Introduction a l'étude de la médicine experimentale (1865), in der die experimentelle Induktion im Sinne von John Stuart Mill auf die Medizin angewandt worden ist, eine materialistisch-deterministische Ästhetik entfaltet. »Tout ce qu'on peut dire, c'est qu'il y a un déterminisme absolu pour tous les phénomenes humains.« Diese Ästhetik setzt Kunst und Wissenschaft gleich und stellt sie unter gleiche Gesetze. Die experimentelle Methode hat nach Claude Bernard »die Aufgabe, eine Konzeption a priori [...] in eine auf die experimentelle Untersuchung aufgebaute Deutung a posteriori umzuwandeln«. Im gleichen Sinne ist der Romanautor für Zola ›Experimentator‹, der die menschliche Maschine ab- und aufbaut, um sie unter den Milieubedingungen funktionieren zu lassen. (»La haute morale de nos oeuvres naturalistes, qui expériment sur l'homme, qui démontent et remontent piece a piece la machine humaine, pour la faire fonctionner sous l'influence des milieux.«) Der Mensch als Maschine – das ist das Erbe der materialistischen Medizin der Aufklärung (La Mettrie), erweitert und modifiziert durch die positivistisch-deterministische Experimentalmedizin Claude Bernards. Ohne Zola hätte es die Epochenbezeichnung ›Naturalismus‹ wahrscheinlich niemals gegeben. Im Grunde ist sein Werk (sowie das einiger zweitrangiger Autoren in seinem unmittelbaren Umkreis) die einzige Ausprägung des Naturalismus in Europa, welche den Namen voll und ganz verdient. Der deutsche wie die anderen europäischen Naturalismen (etwa der Verismo in Italien), die man seit etwa 1870 datiert, lassen sich nur mit Vorbehalt auf diesen Nenner bringen. Der Ruf nach einer naturalistisch-veristischen Wirklichkeitserfassung, die vor den naturwissenschaftlich- empiristischen Erkenntnissen und Methoden bestehen kann, dringt zwar durch die ganze europäische Literatur des letzten Jahrhundertdrittels – nach Deutschland aufgrund der hier verspätet einsetzenden technischindustriellen Revolution mit einiger Verzögerung –, aber er hat sich nirgends derart umfassend ausgewirkt wie im Werk Zolas. Die Wirkung Zolas bildet zweifellos den wichtigsten europäischen Einfluß auf die naturalistische ›Moderne‹ in Deutschland. Hervorgehoben wurde stets auch der Einfluß der russischen Literatur: Tolstojs und Dostojevskis. Trotz der großen Wirkung einzelner Werke (etwa von Tolstojs Drama Macht der Finsternis, das 1890 von der »Freien Bühne« aufgeführt worden ist und Hauptmanns Vor Sonnenaufgang inspiriert hat) scheint aber der umgekehrte Einfluß des deutschen Naturalismus, zumindest Hauptmanns und eines Werks wie Der Büttnerbauer von Polenz, auf Tolstoj, Čechov, Gorki und die literarische Öffentlichkeit in Rußland eher intensiver gewesen zu sein. Unbestreitbar dagegen ist die außerordentliche Wirkung der skandinavischen Dramatik, vor allem Ibsens, der neben Zola das eigentliche Vorbild des deutschen Naturalismus geworden ist. Die naturalistische Rezeption Ibsens hat freilich – im Unterschied zu der Zolas – das Instrumentarium des bewunderten Autors auf wenige, wohl nicht einmal die wesentlichsten (eben die sozialanalytischen und -kritischen) Register reduziert. Das zeigt im Kontrast die ganz anders geartete Vorliebe des französischen Fin de siecle für Ibsens Spätwerk oder seine Wirkung auf George, Hofmannsthal und Thomas Mann. Der junge George hat den frühen Ibsen übersetzt; Hofmannsthals umfangreicher Essay Die Menschen in Ibsens Dramen stellt den norwegischen Dramatiker aufgrund seiner nervös-symbolisierenden Charakterisierungskunst als Wegbereiter der modernen psychologischen Dichtung dar, und Thomas Mann sieht in seinem Aufsatz Ibsen und Wagner (1928) die beiden großen »nordischen Magier« des 19. Jahrhunderts in ihrer »titanischen Morbidität«, mit ihren »alternd ins Magisch-Zeremonielle verbleichenden Theaterlebenswerken« (Parsifal – Wenn wir Toten erwachen) im gleichen Kunstgeist vereinigt. Ibsens dramatische Skala vereinigt – das manifestiert seine Rezeption – jene Tendenzen, die sich in der Literatur der Zeit ansonsten als Naturalismus und Dekadenz-Ästhetizismus bzw. Neuromantik verselbständigen. Ein deutscher Parallelfall in dieser Hinsicht ist allenfalls das Werk Gerhart Hauptmanns. Die naturalistische Generation hat die zunehmende psychologische und mythisch-symbolische Sublimierung der Dramen Ibsens in den achtziger Jahren zum Teil mit Mißfallen registriert, so der Sozialdemokrat und Naturalist Paul Ernst in seinem Briefwechsel mit Friedrich Engels (1890). Paul Ernst wird freilich später einen weit befremdlicheren politischen wie künstlerischen Wandel vollziehen als Ibsen: die Absage an Sozialismus wie Naturalismus, die Wendung zu einem restaurativen Klassizismus. Im Unterschied zu Zola und anderen Wegbereitern des deutschen Naturalismus verkörpert Ibsen unmittelbar ein Stück deutsche Literaturgeschichte. Er hat nicht nur viele Jahre in Dresden und München gelebt, in ständiger Wechselwirkung mit dem dortigen Literatur- und Theaterleben, seine Werke sind auch in Deutschland teilweise eher und intensiver rezipiert worden als in seiner Heimat. (So wurde Hedda Gabler 1891 in München uraufgeführt.) Die für den Naturalismus entscheidende Wende im dramatischen Schaffen Ibsens bedeutet Der Bund der Jugend, der 1868/69 in Dresden entstand, eine Satire auf die aktuellen Verhältnisse der norwegischen Politik, welche freilich erst nachdem Ibsen längst durch Stücke wie Die Stützen der Gesellschaft (1877), Ein Puppenheim (1879) und Gespenster (1881) als der große Zeit- und Gesellschaftsdramatiker im allgemeinen literarischen Bewußtsein präsent geworden war 1891 in der Berliner »Freien Volksbühne« ihre deutsche Erstaufführung erlebte. Otto Brahm, Mitbegründer der »Freien Bühne«, schreibt in seinem umfangreichen Ibsen-Essay über die mit diesem Drama beginnende »Periode neuer Kunstübung«: »Ibsen wird der große Naturalist des Dramas, wie Zola der Naturalist des Romans geworden ist.« Auf dem Höhepunkt des deutschen Naturalismus, der auch ein Höhepunkt der deutschen Ibsen-Rezeption ist (wir erinnern an die spektakuläre Aufführung der Gespenster durch die »Freie Bühne«), hat Ibsen sich freilich längst von der reinen Gesellschaftsdramatik entfernt. Wodurch Ibsen für die junge Generation zum Vorbild wird, das ist die zum erstenmal in den Stützen der Gesellschaft (Samfundets stotter) erprobte schonungslose Zustandsanalyse der Gesellschaft mittels der analytischen Technik, welche den gegenwärtigen Zustand als Schein und Lüge entlarvt, als Produkt einer nach und nach enthüllten Vergangenheit. Urmodell dieser Technik ist der König Ödipus von Sophokles, dessen »tragische Analysis« bereits von Schiller in einer Reihe von dramatischen Fragmenten variiert worden ist (Die Kinder des Hauses, Warbeck, Demetrius u. a.), die um die Gestalt des allmählich entlarvten Betrügers kreisen. Auch Ibsens Konsul Bernick, die Hauptgestalt von Samfundets stotter, ist ein solcher Betrüger, der schließlich von der Vergangenheit eingeholt wird, freilich am Ende die Kraft findet, seine Daseinslüge zu gestehen und ein neues Leben in »Freiheit und Wahrheit« zu beginnen. Diese Überlastigkeit der Vergangenheit, die analytische Herleitung aller gegenwärtigen Konflikte aus vergangenen Konstellationen und Ereignissen, hat die naturalistischen Autoren in ihrem deterministischen Weltbild bestärkt, vor allem wenn jene in den Gespenstern (Gengangere) auf das Vererbungsproblem, den Modellfall der Präformation des Individuums, angewendet wird. Die Aufführungen der Dramen Ibsens (Die Stützen der Gesellschaft, das gewiß nicht beste, aber erfolgreichste der ›naturalistischen‹ Stücke des Autors, wurde 1896 an drei Berliner Theatern gleichzeitig gespielt!) boten lange einen Ersatz für die noch fehlende moderne deutsche Dramatik von Rang, die einzige Möglichkeit der Sprechbühne, aus dem Schatten des durch Wagners Musikdramen in höchster Blüte stehenden Musiktheaters herauszutreten. Neben Ibsen haben auch Björnson und später August Strindberg den deutschen Naturalismus wesentlich beeinflußt. Strindberg hat mit dem Drama Der Vater (1887) eine Reihe von naturalistischen Bühnenwerken eingeleitet, unter denen wohl Fräulein Julie (mit ihrem programmatisch naturalistischen Vorwort) an erster Stelle steht. Ibsen wie Strindberg suchen auf der Bühne bei aller Divergenz ihrer ästhetisch-dramaturgischen Konzeption in gleicher Weise nach totaler Illusion. Die fiktive Realität soll nicht mehr distanziert als ›Theater‹, sondern als prolongierte Wirklichkeit des Zuschauers rezipiert werden, in ihm (wir zitieren aus Ibsens Aufzeichnungen zu den Gespenstern) den Eindruck erwecken, »als erlebe er bei der Lektüre ein Stück Wirklichkeit«. Im Dienste »unbedingter Naturwahrheit« hat der Autor sich konsequent aus dem Schauspiel herauszuhalten, »absolut abwesend« zu sein. Neben den Gesellschaftsstücken Ibsens stellt Zolas Rougon-Macquart-Zyklus (1871-1893) das wichtigste literarische ›Erlebnis‹ der deutschen Naturalisten dar. In diesem Zyklus von zwanzig Romanen, der durch die weitläufigen, alle Milieus umspannenden Verwandtschaftsbeziehungen einer einzigen Familie und den politischen Rahmen des Zweiten Kaiserreichs [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2141 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 169 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] zusammengehalten wird, soll die durch die industrielle Revolution radikal veränderte politische, soziale und ökonomische Lebenswelt in ihrer Totalität widergespiegelt werden – ein episches Kolossalgemälde, das in der engen strukturellen und thematischen Verflechtung seiner Teile weit über die nur lose zur Romanreihe verknüpfte Comédie humaine Balzacs hinausgeht. So wie Zola ein Bild der ganzen Gesellschaft von der Hof- und Finanzaristokratie (in Nana und L'argent) über Mittelstand und Kleinbürgertum (in Pot bouille oder Le ventre de Paris) zum Industrieproletariat (in L'Assommoir und Germinal) zu geben sucht, zielt er auch auf ein breit gestreutes Lesepublikum. Dem dient schon der Vorabdruck seiner Romane in Tageszeitungen. Durch diese Publikationsform, aber auch durch die Buchausgaben (mit Auflagen von über 100000 Exemplaren) hat Zola tatsächlich das Massenpublikum und einen beträchtlichen Teil der Arbeiterschaft erreicht. Zola hat seinem Zyklus den Untertitel »Histoire naturelle et sociale d'une famille sous le Second Empire« gegeben. Damit wird die Scheidemauer zwischen Literatur und Wissenschaft, zumindest der Absicht nach, eingerissen, mithin die Gleichgesetzlichkeit von Geschichte, Natur- und Gesellschaftsentwicklung konstatiert. Zugleich deutet der Titel an, daß es hier um eine vererbungsbiologische Untersuchung geht, in der ›experimentell‹ verifiziert wird – darum die Wahl einer einzigen Familie als Hauptpersonal –, wie sich bestimmte Erbanlagen unter verschiedenen Milieubedingungen auswirken (ein Erbschaden, »une premiere lésion organique«, hat über fünf Generationen hinweg fatale Folgen). Um dem Wissenschaftsanspruch seiner Roman- ›Arbeit‹ gerecht zu werden, recherchierte Zola sehr genau – in Anwendung seiner perfekten Metierkenntnisse als Journalist und Reporter –, er studierte nicht nur die entsprechende Fachliteratur, sondern führte auch Interviews, besichtigte Bergwerke, beobachtete Streiks. Sein Interesse an dokumentarischer Genauigkeit verrät sich auch in seinen künstlerisch beachtlichen Photographien, die neben gestellten Situationen auch unvorbereitete charakteristische Milieudetails festhalten. Durch das gesammelte dokumentarische Material soll die reine Fiktionalität des Romans zur ›Wirklichkeit‹ hin transzendiert werden, eine Tendenz und Methode, die weit in die Zukunft weist (es sei hier nur an die Montagetechnik Thomas Manns erinnert). An die Stelle des (schönen) ›Scheins‹ tritt die ›Wahrscheinlichkeit‹; daß auch diese Schein ist, hat Zola nicht erkennen wollen – ein Denkfehler, der in aller ›dokumentarischen‹ Literatur steckt. Die Einbettung des dokumentarischen Materials verwandelt ja nicht die Fiktion in Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit in Fiktion. Zola glaubt, daß man aus der empirischen Beobachtung des gesellschaftlichen Lebens im Sinne von Comtes »physique sociale« nicht nur induktiv zu Gesetzen des vergangenen und gegenwärtigen Zustands der Gesellschaft gelangen könne, sondern daß sich aus ihnen auch Prognosen ableiten lassen, die es ermöglichen, aktiv in den Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung einzugreifen und die notwendigen sozialen Veränderungen vorzunehmen: »Science, d'ou prévoyance; prévoyance, d'ou action« (Comte). Auf den Spuren Zolas hat Julius Röhr 1891 in der »Freien Bühne« einen Aufsatz Das Milieu in Kunst und Wissenschaft veröffentlicht, in dem es heißt: »Der naturalistische Roman hat sich zur Aufgabe gestellt, Gesetze und Kausalzusammenhänge, welche das Menschenleben beherrschen, wahrheitsgetreu darzustellen, um die richtige Einrichtung desselben durch Benutzung dieser Gesetze zu ermöglichen«. Von dieser Position her kann Röhr den »Naturalismus« als »das poetische Pendant des Sozialismus« bezeichnen, als die literarische Umsetzung der Ideen von Engels und Marx. Daß diese optimistische Feststellung keineswegs dem herrschenden Selbstverständnis der Naturalisten wie auch ihrer Einschätzung durch die Sozialisten entspricht, lehrt die weit mehr von Dissonanzen und wechselseitiger Ablehnung als von (zweifellos vorhandenen) Übereinstimmungen geprägte Geschichte der Beziehungen zwischen naturalistischen Schriftstellern und sozialdemokratischer Partei. An dem eher schlechten Verhältnis sind beide Seiten gleichermaßen schuld. So sehr die naturalistische Literatur von der Sympathie mit den »Erniedrigten und Beleidigten«, den unterprivilegierten, zumal proletarischen Schichten der Gründerzeit-Gesellschaft geprägt ist, obwohl ihre Autoren nicht selten zeitweilig in den Elendsquartieren der Großstadtarbeiterschaft lebten, um Milieustudien nach dem Vorbild Zolas zu treiben, haben sie sich doch fast niemals über eine bloße Sozialromantik hinaus zu wissenschaftlich fundierter Sozialkritik bereit gefunden. So hat Friedrich Engels in einem Brief an Conrad Schmidt vom 5. August 1890 nicht zu Unrecht kritisiert, »wie wenige von den jungen Literaten, die sich an die Partei hängen, sich die Mühe geben, Ökonomie, Geschichte der Ökonomie, Geschichte des Handels, der Industrie, des Ackerbaus, der Gesellschaftsformationen zu treiben«. Die Gesellschaftskritik der meisten Naturalisten bleibt auf Vordergrundphänomene beschränkt: Wohnelend, Alkoholismus, Prostitution, die Demimonde mit ihren tristen Begleiterscheinungen beherrschen die literarische Szene, während die illusionslose Deskription der proletarischen Arbeitswelt oder der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hintergründe jener Phänomene, damit aber auch die Bereitschaft zu revolutionärem Aufbegehren und Klassenkampf, nicht eben die Sache der Naturalisten sind. »Da sie vom Klassenkampf absehen«, so heißt es 1894 in einem Artikel der »Neuen Zeit«, dem theoretischen Organ der Sozialdemokratie, »erblicken diese Dichter die Arbeiterklasse nicht in ihrem Aufschwung, sondern in hilfloser Verkommenheit; sie erheben sich nicht mit ihr und durch sie, sondern sie lassen sich herab zur Niedrigkeit des Proletariats in überquellendem Mitleid, wie der Gott Mahadöh zur verachteten Bajadere« (in Goethes Ballade Der Gott und die Bajadere). In diesem Zitat werden scharfsinnig drei kritische Momente der naturalistischen Sozialhaltung artikuliert: kaum je haben die Naturalisten – fast sämtlich Kleinbürger mit deutlich ausgeprägtem Aufstiegswillen und sozialem Abgrenzungsbedürfnis nach unten – das höhere gesellschaftliche Niveau, von dem aus sie an sozialen Mißständen Kritik üben, verlassen wollen. Diese Kritik ist zweitens von einem buddhistisch- christlichen Mitleidspathos erfüllt, das sich an einer gefühlvoll-vagen Vorstellung von Armut und Leiden entzündet; Jesus mit einem sozial-romantischen Glorienschein ist eine Lieblingsgestalt der naturalistischen Dichtung. Ein Musterbeispiel für diese Haltung finden wir noch in der Gestalt Spittas – des ehemaligen Theologiestudenten – in Hauptmanns Ratten: seine rührenden, von Hassenreuter verspotteten Versuche, sogenannte »soziale Schäden« zu heilen, indem er z. B. eine Prostituierte vorm Volkszorn schützt, sein romantisches Jesusbild, seine ganz aufs Theater bezogenen und dem wirklichen Arbeitermilieu linkisch-fremd gegenüberstehende Sozialmoral. Drittens verwirft jener Artikel den Defätismus der Naturalisten, die eben überall nur Niedergang und Verfall registrieren (darin den Poeten des ›Fin de siecle‹ verwandt) und denen der Blick in eine andere Zukunft versperrt scheint. Der Naturalismus sieht nach Franz Mehring »in der herrschenden Misere nur das Elend von heute, aber nicht die Hoffnung auf morgen«. Das ist die Kehrseite der ›Sozialphysik‹, der naturgesetzlichen Bestimmung gesellschaftlicher Prozesse: der Determinismus schlägt in Fatalismus um. Hatte Zola – trotz der auch bei ihm vorwaltenden Untergangs- und Götterdämmerungsvisionen – grundsätzlich am Glauben an eine mit der Prognostizierbarkeit der Zukunft verbundene Änderbarkeit der gegenwärtigen Zustände festgehalten, so tritt bei den meisten deutschen Naturalisten doch die Hoffnung auf die mögliche Andersheit der zukünftigen hinter der resignativen Einsicht in die naturgesetzliche Unveränderbarkeit der gegenwärtigen Zustände zurück. Das Jahr 1890 bildet aufgrund der Aufhebung des Sozialistengesetzes eine entscheidende Wende in der Geschichte der Beziehungen zwischen Sozialdemokratie und Naturalismus. Vor diesem Datum fühlten sich die naturalistischen Autoren der sozialdemokratischen Partei infolge der gemeinsamen Opposition gegen die Gründerzeitgesellschaft, durch die gleiche Außenseiterrolle eng verbunden. Dieses Solidaritätsgefühl sollte in den neunziger Jahren zunehmend schwinden. Die Nichtverlängerung des Sozialistengesetzes machte die nunmehr ›etablierte‹ SPD für die Naturalisten immer weniger attraktiv; gleichzeitig wuchs die offizielle Parteikritik an den naturalistischen Autoren unter ihren Mitgliedern. Bereits 1890 kam es auf dem Parteitag in Halle zu einer ernsthaften Auseinandersetzung, die sich auf den nächsten Parteitagen fortsetzte und den Parteiausschluß bzw. -austritt sehr vieler Wortführer der naturalistischen Bewegung zur Folge hatte. 1890 spaltete sich von der ›bürgerlichen‹ Berliner »Freien Bühne« die sozialdemokratisch orientierte »Freie Volksbühne« unter dem Vorsitz von Bruno Wille ab, welche vor allem (durch einen erschwinglichen Mitgliedsbeitrag) der Arbeiterschaft den Theaterbesuch ermöglichen sollte. Den Arbeitermitgliedern wurde jedoch bezeichnenderweise das künstlerische Mitspracherecht bei den Planungen des Vereins abge [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2148 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 172 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] sprochen. Da zudem der »Friedrichshagener Kreis« um Wille wegen angeblicher anarchistischer Umtriebe die eben erst erlangte Legalität der Sozialdemokratie zu gefährden schien, wurde nicht nur eine Gruppe dieser linksoppositionellen »Jungen« aus der Partei ausgeschlossen, sondern Wille und seinen Freunden 1892 auch der Vorsitz des Theatervereins (den nun Franz Mehring übernahm) entzogen. Auf diese Weise kam es zu einer neuen Sezession, der »Neuen Freien Volksbühne«, wiederum unter der Führung Willes. Mehr noch als dieser Eklat dokumentieren die Auseinandersetzungen mit dem naturalistischen Literaturprogramm, welche namentlich in den »Neuen Zeit« ausgetragen wurden und ihren Höhepunkt auf dem Gothaer Parteitag von 1896 erreichten, die zunehmende Entfremdung zwischen naturalistischer und sozialdemokratischer Kunstauffassung. Hauptangriffspunkte für die Parteitheoretiker sind der schon erwähnte Pessimismus (Fatalismus) und der entweder zu wichtig genommene oder zu geringe Kunstcharakter der naturalistischen Produktionen. »Daß unser Jüngstes Deutschland nur die Verkommenheit sieht«, so schreibt Karl Kautsky 1891 in der »Neuen Zeit«, »daß es das Proletariat mit Vorliebe nur in der Branntweinkneipe und im Bordell aufsucht, daß es vom kämpfenden Proletariat keine Notiz nimmt, daß es nicht weiß, daß der Idealismus des kämpfenden Proletariats ebenso Wirklichkeit ist wie die sorgfältig registrierten Läuse des Bettlers oder das Rülpsen des Trunkenbolds, ja, daß jener Idealismus vielleicht noch wichtiger und bedeutsamer ist als jene unappetitlichen Dinge, beweist, daß es vom modernen Sozialismus keine Ahnung hat und daß es im besten Falle im Entrüstungssozialismus und der Utopisterei der Anfänge unseres Jahrhunderts steckt.« Einsichtige sozialdemokratische Kritiker wie Conrad Schmidt und Edgar Steiger vertraten differenziertere Auffassungen. Schmidt bemerkte in seinem Aufsatz Literatur und Sozialdemokratie (»Die Neue Welt«, 1892), die naturalistische Literatur müsse »so wie sie ist«, trotz ihres einseitigen Pessimismus vom Proletariat begrüßt werden, denn hier seien endlich die »unerträglichen Widersprüche, denen uns die heutige Gesellschaftsordnung unterwirft«, genannt und beschrieben und so »die ganze Haltlosigkeit unserer Zustände« verdeutlicht. Mit größtem Nachdruck wurde dieser Standpunkt von Steiger, der seit 1896 die »Neue Welt« redigierte, auf dem Gothaer Parteitag desselben Jahres vertreten, in dessen Verlauf sich die Naturalisten ansonsten heftigen Angriffen ausgesetzt sahen. Die moderne Literatur wische »der Welt die Schminke aus dem Gesicht« und zeige »überall die Todessymptome der bürgerlichen Gesellschaft«. Diese Auffassung Steigers steht in diametralem Gegensatz zu der von den meisten Rednern der Literaturdebatte vertretenen Ansicht, die permanente Elendsschilderung wirke auf den Arbeiter niederdrückend und handlungslähmend; er wolle nach einem angestrengten Arbeitstag nicht auch in der Kunst noch das täglich erlebte Elend wiederfinden, sondern ›erhoben‹ werden. Einer der wenigen Redner, die Steiger unterstützten, bemerkte nicht zu Unrecht, aus derartigen ästhetischen Harmonisierungsforderungen spreche »doch im Grunde dieselbe Auffassung, wie sie die Spießbürger von der Kunst haben«. In der Tat sind die abwertenden Äußerungen über die naturalistische Literatur aus dem Munde von Sozialdemokraten und konservativen Bildungsphilistern bis ins Vokabular hinein häufig nicht voneinander zu unterscheiden. Nicht zu Unrecht warnte Bebel auf dem Gothaer Parteitag die Genossen davor, zu verkennen, »daß wir uns auch auf dem Gebiete der Kunst und Literatur heute in einer großen umstürzlerischen Bewegung befinden [...] Eine Partei wie die unserige, die reformierend in alle Gebiete eingreift, kann doch nicht auf dem Gebiet der Kunst und Literatur einen Standpunkt vertreten, der nach und nach als ein veralteter angesehen wird«. Es wäre freilich verfehlt, allein den beschränkten ästhetischen Horizont der Sozialdemokratie für die Entfremdung fast aller Naturalisten von der sozialistischen Bewegung in den neunziger Jahren verantwortlich zu machen. Allzu deutlich ist, daß viele Naturalisten sich zunehmend einem verschwommenen Individualsozialismus mit nicht selten (John Henry Makkay!) anarchistischen Zügen verschrieben, der weit stärker von Max Stirner und Nietzsche inspiriert war als von den sozialistischen Klassikern. In seinem Aufsatz Kunst und Kapitalismus (1902) schreibt Leo Berg: »Mindestens in der Kunst denken die Sozialdemokraten genau wie alle anderen, nur noch kleinlicher und engherziger [...] Im Sozialismus liegt genau wie im Kapitalismus ein unkünstlerisches und sogar widerkünstlerisches Prinzip. Die Kunst, das vornehmste Mittel der Auswahl (!), ist ihrer Natur nach aristokratisch und widerstrebt aller Gleichmacherei.« Die Moderne vertrete die »Aristokratie des Geistes«, so ist schon 1891 in Conrads Aufsatz Die Sozialdemokratie und die Moderne zu lesen, »und die Geschlechter der Marx und Lassalle mit ihren Niederlassungen werden sich erst nach mannigfaltigen Reinigungen und Umbildungen ihre volle Ebenbürtigkeit mit dem führenden Geisterreigen in der Kulturgeschichte der Menschheit erkämpfen müssen«. Eine derart elitäre Arroganz macht es verständlich, daß Conrad die Verwirklichung der modernen sozialen Ideen eher von oben als von unten her erwartete. In seinem Aufsatz Das soziale Kaisertum (»Die Gesellschaft«, 1890), fand diese Erwartung ihren extremsten Ausdruck. (Die Idee eines Sozialismus von oben findet sich übrigens mit ähnlichen Einschlägen eines Stirnerschen Anarchismus schon in den Schriften Richard Wagners.) Das ideologiegeschichtlich verhängnisvolle Gemisch aus Sozialdarwinismus, radikal-individualistischem Elitedenken, Sozialismus und Volksgeistideologie, dem sich viele Naturalisten (zumal der Friedrichshagener Literatenkreis) verschrieben, wurde seit den neunziger Jahren mit wechselnden inhaltlichen Akzenten durch das Schlagwort Sozialaristokratie bezeichnet. Bruno Wille hat 1893 unter diesem Titel einen Aufsatz veröffentlicht, auf den Arno Holz' Komödie Socialaristokraten (1896) satirisch anspielt. Die Komödie handelt von der Gründung einer Zeitschrift mit dem genannten Titel, deren Programm von ihrem Chefredakteur Dr. Gehrke in der lapidaren Formulierung »Der Instinkt des Einzelnen als Wille zur Elite« zusammengefaßt wird. Das Modell für die Gestalt Gehrkes, der sich aufgrund seiner elitär-aristokratischen Tendenzen von der Sozialdemokratie getrennt hat, ist Bruno Wille, der als einer der Ideologen des Friedrichshagener Dichterkreises 1891 auf dem Erfurter Parteitag aus der Partei ausgeschlossen wurde. Nach dem Scheitern der Zeitschrift wird der Karrierist Gehrke Kandidat der »antisemitischen Volkspartei« und verkündet im grotesk übersteigerten Schluß des Dramas unter den Klängen des Deutschlandliedes seine Parolen »gegen Mammonismus und Überkultur für germanisches Volkstum und die antikratische, sozialitäre Gesellschaftsform der Zukunft«. So hämisch und diffamierend Holz' Satire in Bezug auf Wille und die Friedrichshagener sein mag, dokumentiert sie doch hellsichtig die ideologische Inflation des Jahrhundertendes, die vulgärschlagworthafte Ausbeutung Nietzsches, Darwins und anderer philosophischwissenschaftlicher Systeme, die seichte Selbstberauschung am »Weltuntergang« (ein Epos des Salonliteraten Fiebig im Stück) sowie die auf die allgemeine Orientierungslosigkeit und Dekadenz – »Wir sind alle kranke Sumpfblumen am Jahrhundertende« – folgende Anfälligkeit für einen völkisch-elitären Radikalismus. Poetische Praxis Versuche naturalistischer Lyrik Das Beispiel des Sozialaristokratismus zeigt, daß der Naturalismus die Grenze des »kleinbürgerlichen Liberalismus« und Subjektivismus nie hat überschreiten können, wie schon Samuel Lublinski in seiner Bilanz der Moderne (1904) bemerkte. Es ist kein Zufall, daß der Naturalismus sich zunächst vor allem auf dem Gebiet der subjektivsten poetischen Gattung: in der Lyrik durchzusetzen sucht – wenn man überhaupt bei den Modernen Dichtercharakteren (1885) oder dem frühen Arno Holz schon von Naturalismus reden kann. Im Gegensatz zum revolutionären Triumphalismus der Einleitungen jener von Wilhelm Arent herausgegebenen Anthologie – Unser Credo von Hermann Conradi (1862-1890) und Die neue Lyrik von Karl Henckell (1864-1929) – bleiben die dort abgedruckten Gedichte nach Inhalt und Form im allgemeinen durchaus konventionell-rhetorisch, wie schon (prinzipiell wohlwollende) zeitgenössische Kritiker erkannt haben. Conradi und Henckell setzen in ihren einleitenden Proklamationen die Polemik der Brüder Hart gegen den »Flutschwall lyrischer Dichtung, der sich Jahr für [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2155 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 175 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] Jahr über uns ergießt« (Ein Lyriker a la mode, »Kritische Waffengänge«, 1882) mit ähnlichen Formulierungen fort; sie haben sich sogar den gleichen Buhmann wie jene ausgewählt: den sentimental-epigonalen Erfolgslyriker Albert Träger, der mit seinen nicht einmal mediokren Versen diese Aufmerksamkeit kaum verdient hat. Seine zahlreichen Gedichtbände dokumentieren für die Frühnaturalisten eine marktkonforme, nach bewährten, eben gut verkäuflichen »Schablonen« verfahrende lyrische »Fabrikarbeit« (Conradi), wie sie vor allem durch die »Familienblätter« und »poetischen Zeitschriften« begünstigt werde. Die Kritiker der zeitgenössischen Konsumpoesie (Conrad, Holz, Bierbaum u. a.) reden immer wieder von einer Literatur für »höhere Töchter«. Das darf man durchaus wörtlich nehmen, setzte sich doch das Zielpublikum der Lyrik-Anthologien und poetischen Zeitschriften vor allem aus Frauen zusammen; in den höheren Töchterschulen stand – im Gegensatz zum humanistischen Knabengymnasium – die seichte Stimmungs- und Erlebnislyrik im Mittelpunkt des Unterrichts. »Uns jüngeren Stürmern und Drängern« schwebt nach den Worten Conradis eine Lyrik der »großen Seelen und tiefen Gefühle« vor, die »aus germanischem Wesen herausgeboren«, dem »Geist wiedererwachter Nationalität« angemessen ist. »Wir, das heißt die junge Generation des erneuten, geeinten und großen Vaterlandes«, so schreibt Henckell, »wollen, daß die Poesie wiederum ein Heiligtum werde, zu dessen geweihter Stätte das Volk wallfahrtet, um mit tiefster Seele aus dem Born des Ewigen zu schlürfen« – und in diesem nationalkonservativen Reichsgründungspathos weiter. Angesichts solcher Tiraden verwundert es nicht, daß in der Anthologie auch ein patriotisch-euphorisches Gedicht des Hohenzollerndramatikers Ernst von Wildenbruch (Der Gott der Deutschen) zu finden ist. Dessen Empörung über den Abdruck seiner Hymne zeigt allerdings, daß er sich in den Kreisen der ›Modernen‹ nicht wohl fühlte. Immerhin enthält ja die Sammlung auch Gedichte wie Das Lied vom Eisenarbeiter von Henckell, die lebhafte zeit- und sozialkritische Wellen schlagen, wenn sie auch immer wieder in die seichten Gewässer der Sozialsentimentalität geraten. Eine Strophe wie die folgende aus dem genannten Gedicht Henckells zeigt mit ihrem metrisch dürftigen Auf und Ab von Hebung und Senkung, ihren trivialen Bildern und Reimen den Niveauabstand zu Soziallyrikern des Vormärz wie Freiligrath, Herwegh oder Weerth. »Frühmorgens, wenn der Schlemmer träg / Auf weichem Pfühl sich reckt, / Macht sich der Lohnsklav auf den Weg, / Vom Dampfpfiff aufgeweckt.« Da dem ausgebeuteten Eisenarbeiter nicht einmal ein Dichter das Tor »zu einer schönern Welt öffnet« (angesichts solcher Verse kein Wunder) und auch Gott sich um den »Schrei der Not« nicht schert, bleibt dem Lohnsklaven nichts übrig, als, wie Wagners Fliegender Holländer, das »Weltgericht« herbeizurufen, »wo alles untergeht«. Über derart wohlfeile, im entscheidenden Moment in poetische Unverbindlichkeit abschwenkende Sozialkritik geht Henckell in den Modernen Dichtercharakteren kaum hinaus. In der Folgezeit hat sich seine Kritik freilich aggressiver zugespitzt (etwa in der Lyriksammlung Trutznachtigall, 1891), so daß er mit dem Sozialistengesetz in Konflikt kam und Deutschland zeitweilig verlassen mußte. Später hat er sich zum immer versatileren Erfolgslyriker gemausert. Er wie auch der zwischen dionysischer Lebensfeier und anarchistischem Sozialismus taumelnde schottisch-deutsche Lyriker und Prosaist John Henry Mackay (1864-1933) wären heute vergessen, hätten ihnen nicht die Vertonungen einiger Gedichte in den populären Liederzyklen op. 27 und op. 32 von Richard Strauss (1893-1896) ein Scheinleben gerettet. Mackay ist der eigentliche Wiederentdecker von Max Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum. Von diesem ist auch sein halb fiktionales, halb dokumentarisches »Kulturgemälde« Die Anarchisten (1891) inspiriert, das anschaulichste Dokument für die individualsozialistischen Tendenzen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Mackay ist der erste unter den naturalistischen Lyrikern gewesen, der Opfer des Sozialistengesetzes wurde. Sein Arma parata fero (1886) ist gleich bei seinem Erscheinen verboten worden. Mackays politisch-sozialkritische Gedichte sind freilich nicht in den Modernen Dichtercharakteren vertreten, wie dort überhaupt die inhaltlich beachtlichsten Beispiele der zeitgenössischen Soziallyrik, etwa die Proletarierlieder (1885) von Maurice von Stern, fehlen. Fast alle Beiträger sind heute nicht einmal mehr dem Namen nach bekannt. Einer von ihnen, Henckells enger Freund Alfred Hugenberg (noch der Gymnasiast in Wedekinds Lulu-Dramen trägt nicht ohne Absicht seinen Namen!), wird später zum Wirtschaftsimperator, deutschnationalen Parteiführer und (wenn auch unfreiwilligen) Wegbereiter Hitlers avancieren – eine im Umkreis des Naturalismus tendenziell nicht ganz untypische Aufsteigerbiographie. Ein einziger Autor der Arentschen Anthologie hat in der Tat einen neuen Ton in der Lyrik der Zeit gebracht: Arno Holz (1863-1929). Die dort abgedruckten Gedichte nahm der Autor in seine eigene Sammlung Das Buch der Zeit auf, die 1885 (datiert 1886) in Zürich erschien, im Verlags-Magazin des Verlegers J. Schabelitz, bei dem zahlreiche Veröffentlichungen der Naturalisten herauskamen. Holz ist von den formalen Kühnheiten seines Phantasus-Zyklus hier noch weit entfernt. Die Glätte seiner Verse und Strophen zeigt ihn immer noch als Erben des hoch verehrten Geibel, dem er seinen lyrischen Erstling Klinginsherz! (1883) und nach dem Tode des »Schwans von Lübeck« ein Gedenkbuch (1884) gewidmet hat. Mehr freilich wird ihm nun Heine zum ausdrücklich angerufenen »Schutzpatron«. Was er ihm verdankt, ist das ironische Spiel mit abgenutzten Gefühlen und verbrauchten Stimmungen, mit den lyrischen Klischees der Gründerzeit-»Papageien«. Durch Neologismen, das virtuose Jonglieren mit Fremdwörtern und dem von ihnen durchsetzten Alltagsjargon, durch gewollte Anachronismen und Stilbrüche wird die Seichtheit zeitgenössischer Anempfindungspoesie, der »Eiertanz der Konvenienz« zynisch-spritzig decouvriert. Den Frühling etwa besingt Holz, verschiedene Stil- und Wortschatzebenen parodistisch ineinanderschiebend, in folgenden Versen: »Schon blökt ins Feld die erste Hammelherde, / Der Hof hielt seine letzte Soiree, / Und grasgrün überdeckt die alte Erde / Kokett ihr weißes Winternegligee.« Als ersten Großstadtlyriker der deutschen Literatur hat Holz sich bezeichnet. Moderne Technik, Industriearbeit, die soziale Misere mit ihren, wie man zynisch konstatieren muß, pittoresken Zügen (krasses Elend, Prostitution, Demimonde, die klägliche Existenz des Poeten unterm Mietskasernendach – ein verzerrtes Spitzweg-Idyll, und doch mit dessen poetischem Effekt), all das wird zum bisher unausgeschöpften, von den Aasgeiern des »Epigonentums« und des literarischen Marktes noch nicht erspähten poetischen Terrain. »Schau her, auch dies ist Poesie!« Das Gedicht Ecce homo! umgibt den Sozialisten mit der Gloriole des Märtyrers. Als der Sozialdemokrat nach 1890 in den Reichstag einzieht, wird ihm der poetische Nimbus wieder abgenommen. Legalität verhindert, so scheint es, Poetizität. Die »soziale Frage«, die »gespenstisch [...] aus Nacht und Not ihr rotes Drachenhaupt« reckt (Buch der Zeit), scheint Holz, nachdem der Drache im Reichstag rasiert und frisiert worden ist, nicht mehr recht interessiert zu haben. Sie ist ihm im Buch der Zeit vor allem das Arsenal für eine Ästhetik des Häßlichen, die er »einer längst verlotterten, / abgetakelten Ästhetik« entgegensetzt: »Unsre Welt ist nicht mehr klassisch, / unsre Welt ist nicht romantisch, / unsre Welt ist nur modern!« Modern aber ist nur die freilich nicht mehr in die ästhetischen Kategorien der Klassik und Romantik passende soziale und industrielle Wirklichkeit. »O Mainacht, Mond und Mandoline! / Wer schwärmte früher für Lassalle? / Heut gellt der Pfiff der Dampfmaschine / ins Hohelied der Nachtigall!« Mag Holz sich freilich noch so sehr als »des Zeitgeists Straßenkehrer« empfinden (ein plastisches Bild für das soziale Niveau, zu dem er sich herabläßt, um von dort aus zur Beletage der »fettigen Spießbürger« aufzublicken) und noch so emphatisch fordern: »Modern sei der Poet, / Modern vom Scheitel bis zur Sohle« – im Grunde gilt gerade für ihn das ironische Wort von Leo Berg (Zwischen zwei Jahrhunderten, 1896), daß auch auf dem Mistbeet des Naturalismus die blaue Blume des Romantizismus gewachsen sei. Denn neben der Sozialpoesie gibt es bei ihm durchaus auch Stimmungslyrik mit einem guten Schuß Sentimentalität: Berge »in bläulichem Duft«, Lindenbäume und Landluft, die idyllisch verklärte Kleinstadtatmosphäre seiner ostpreußischen Heimat, in der er seine Kindheit verbracht hat. Ihr Erinnerungszauber, merkwürdig wenig von Ratio und Ironie kontrolliert, wird fast das ganze Werk von Arno Holz durchziehen. Im Grunde bleibt seine Dichtung, wie die Lyrik anderer Naturalisten, nach Inhalt, Bildlichkeit und Wertung an die Perspektive des Außenstehenden gebunden. Das trennt sie von der expressionistischen Lyrik, die das Bild der Großstadt aus deren gleichsam magischem Zentrum entstehen läßt, während sie bei den Naturalisten nicht viel mehr ist als das für den provinziellen Außenseiter, aufgrund seiner Fremdheit, faszinierende und abstoßende Netzwerk des Lasters und Elends, eine anonyme Wüste aus Steinen, Technik [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2162 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 178 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] und Unmenschlichkeit. Arno Holz ist gleichsam ein Orpheus der Moderne, der nichts als vorwärts schreiten will und doch den verbotenen Blick zurück nicht lassen kann. »Zwar hat mein Kopf sich schon längst radikal emanzipiert; / doch in meinem Herzen blühn noch / alle Blumen der Romantik«, heißt es in einem Gedicht mit dem bezeichnenden Titel Zwischen Alt und Neu. Den »allerletzten« Epigonen nennt er sich selbstironisch Zum Eingang seiner Gedichtsammlung. In der eigentümlichen Mischung von formaler Konventionalität, inhaltlich-sprachlicher Modernität, sozialkritischer Angriffslust und Sentimentalität, in dem von unterdrückten Schluchzern retardierten ironischen Parlando liegt der auch den heutigen Leser noch erreichende Reiz des Buchs der Zeit. Kein Zweifel jedoch, daß die meisten lyrischen Anstrengungen der jungen Generation bescheidene Versuche sind im Vergleich mit dem gleichzeitigen poetischen Werk zweier Autoren des Geburtsjahrgangs 1844. Im Erscheinungsjahr der Modernen Dichtercharaktere schließt Nietzsche den Zarathustra ab, 1888 entstehen seine DionysosDithyramben. Sein lyrisches Vermächtnis bleibt freilich den Zeitgenossen noch unbekannt. Ein Jahr vor der Arentschen Anthologie hat Detlev von Liliencron (1844-1909) seine erste Lyrik-Sammlung Adjudantenritte publiziert, die, weitab von der konventionellen Klassizität des Münchener Kreises (Geibel, Heyse) wie von dem »erkünstelten Löwenton« (Adalbert von Hanstein: Das jüngste Deutschland) der ›Modernen‹ zeigt, was Naturalismus im Gedicht sein könnte: sprachliche Spontaneität verbunden mit einem sensiblen, fast pointilistischen Registrieren der verschiedensten Sinneseindrücke (auch des Geruchs- und Tastsinns). Dafür nur ein Beispiel: Kehraus und Ende, der Braus ist vorüber Und es entleert sich allmählich der Saal, Letzte Gutnacht, Durcheinander, Trinkgeld, Schon in Kapuzen und Mänteln und Schal, Schläfrige Kutscher, die gähnend sich recken, Rasch von den Pferden gezogene Decken, Licht und Laternen und Räumen und Rufen, Niederwärts steigen auf marmornen Stufen. Die mit knapper Zartheit hingetupfte Skizze eines Festausklangs. Ein Asyndeton mit polysyndetischer Einlage, ein paar sich überlagernde, im Bruchteil einer Sekunde registrierte visuelle und akustische Eindrücke, einige delikat verwischte Konturen und Klänge – und doch ein ebenso nuanciertes wie komplettes Momentbild. Solche vom Subjekt kaum reflektierte und deshalb oft additive Rezeption von Realitätspartikeln bei Liliencron ist nicht zu Unrecht als Impressionismus bezeichnet worden; dessen formale Grenze zum Naturalismus ist, wie schon angedeutet, kaum scharf zu ziehen. Liliencron hat sich den Stiltendenzen des Naturalismus eng verbunden gefühlt. Holz' Buch der Zeit ist von ihm enthusiastisch begrüßt worden, einige seiner Erzählungen, vor allem Der Narr (1888), gehören zu den besten Beispielen der naturalistischen Prosaskizze und entwickeln, zumindest die genannte Novelette, unabhängig von Holz und Schlaf den noch zu erörternden »Sekundenstil«. Trotzdem wird man den »Dichter-Baron« nicht einfach dem Naturalismus zuzählen können. Er steht ihm nach seiner eigenen Überzeugung aufgrund seines sozialen Standes, seiner politischen Haltung und Lebensanschauung fern. Der verarmte Freiherr, der als preußischer Offizier an den Kriegen 1866 und 1870/71 teilgenommen hatte, dann aber wegen seiner Schulden den Abschied vom Dienst nehmen mußte, hat sich zeitlebens zur soldatischen Existenz bekannt (daher auch seine Vorliebe für »militärische Erzählungen« und Kriegsballaden, welch letztere seinen Ruhm begründet haben); an seiner unbedingten Treue zu »meinem Kaiser« und »meinem Vaterland« als »zwei heiligen, unverrückbaren Sternen« hat er keinen Zweifel gelassen. Mit aggressiver Entschiedenheit distanziert er sich von der Sozialdemokratie und der zeitweiligen Sympathie der Naturalisten für den Sozialismus. Und doch steht er aufgrund seiner standesbedingten antibourgeoisen Haltung, seiner tatsächlichen materiellen Lebenslage und seinem Hang zur Boheme den sozialen Wertvorstellungen der Naturalisten weit näher, als er sich selbst hat eingestehen wollen. Er und die Naturalisten wollen nur eines nicht sein: Bürger. In einem psychologisch höchst aufschlußreichen Traum will er einmal als kaiserlicher Offizier eine Barrikade gestürmt haben, auf welcher der »rote« Arno Holz kämpfte: »Er liegt in meinen Armen; ich küsse seine bleiche Dichterstirn: das rote Tuch, die schwarzen kurzen Locken und das blasse Antlitz – dann kämpfen wir« (aus einem Brief an Hermann Friedrichs). Kampf – aber in dessen Verlauf eine Art erotische Identifizierung mit dem Feind! Die unbewußte Einigkeit hinter vorgespiegelter Fremdheit tritt hier klar zutage. Naturalistische Erzählkunst Ist um 1885 der Primat der Lyrik innerhalb der naturalistischen Bewegung unbestreitbar, so wird diese schon bald danach durch die Prosa aus ihrer Vorherrschaft verdrängt werden, ehe mit dem Beginn des neuen Jahrzehnts das Drama eindeutig ›die‹ Gattung des deutschen Naturalismus wird – seine Besonderheit gegenüber dem französischen naturalisme! Bereits 1886 schreibt Karl Bleibtreu, einer der (freilich unfreiwilligen) Beiträger der Modernen Dichtercharaktere, in seiner Revolution der Literatur, die zu den wichtigsten naturalistischen Programmschriften gehört: »Die Lyrik für sich als Dichterberuf sollte doch endlich überlebt sein.« (Ein Jahr zuvor hatte er in der »Gesellschaft« noch die Lyrik Liliencrons als Vorbild einer »realistischen Lyrik« gepriesen.) Im Hinblick auf Bleibtreus Verdikt redet Hanstein in der genannten Epochendarstellung von einer »Ächtung der Lyrik« und von dem mit ihr verquickten »Ringen nach dem neuen Roman«. Gegen die Lyriker gewendet, bemerkt Bleibtreu nämlich: »Sobald sie Prosa schreiben, also etwas zu sagen haben, werden wir uns wieder sprechen.« Apodiktisch stellt er fest: »Die höchste Gattung des Realismus ist der soziale Roman.« Unter dieser Gattungsbezeichnung hat bereits seit 1880 Bleibtreus Vorbild, der später als »deutscher Zola« gerühmte Max Kretzer (1854-1941) eine Serie von Romanen, insgesamt über 30, publiziert (Die beiden Genossen, 1880; Die Verkommenen, 1883; Meister Timpe, 1888, u. a.). Michael Georg Conrad verfaßt unter dem unmittelbaren Einfluß Zolas einen vielbändigen »Münchener Romanzyklus«. Dessen erster Teil Was die Isar rauscht (1888) versucht kaleidoskopisch, unter Verzicht auf geschlossene Handlung ein durch den überall ertönenden Wellenschlag der Isar symbolisch zusammengehaltenes Totalbild der Münchener Gesellschaft zur Zeit Ludwigs II. zu geben, dessen skizzenhaft berichteter Tod im Starnberger See den Roman beschließt. Im gleichen Jahr erscheinen in ähnlich zerfahrenem Stil und mit noch größerem Umfang Bleibtreus Berliner Roman Größenwahn sowie der erste Teil von Conrad Albertis sechsbändiger Romanreihe Der Kampf ums Dasein. Ein Jahr später folgt, um noch ein Beispiel aus der unübersehbaren naturalistischen Romanflut zu erwähnen, Hermann Conradis Adam Mensch. Dieser Roman kreist im Unterschied zu den genannten Zyklen nach Zolas Muster um einen einzelnen Charakter, der einen demoralisierten, sich allen Einflüssen hingebenden, zynisch-dekadenten »Übergangsmenschen« repräsentieren soll, wie er, als eine Art Vorstufe des nervösen Typus der Dekadenz-Literatur, in der naturalistischen Prosa häufig wiederkehrt. Adam Mensch hat wie Die Alten und die Jungen aus Albertis Romanserie und Wilhelm Walloths Dämon des Neids durch den Prozeß des Reichsgerichts 1890, der ihre Verbreitung verbot, zu seiner Zeit unverdiente Berühmtheit erlangt. Von der Unzahl naturalistischer Romane sind nur zwei bis heute immer wieder aufgelegt worden: Max Kretzers schon erwähnter Meister Timpe (1888) und Der Büttnerbauer (1895) von Wilhelm von Polenz (1861-1903). Beide Romanciers sind aufgrund ihres sozialen Standes Außenseiter der naturalistischen Bewegung. Kretzer ist der einzige ihrer Autoren, den man als Arbeiterdichter bezeichnen kann, hat er doch nicht nur wie viele von ihnen eine Zeitlang mit dem proletarischen Milieu kokettiert, sondern über ein Jahrzehnt als Fabrikarbeiter seinen Lebensunterhalt verdient. Seine unmittelbare Vertrautheit mit der Arbeiterbewegung kommt den diesbezüglichen Schilderungen in seinen Romanen spürbar entgegen. Der Rittergutsbesitzer Wilhelm von Polenz, der den ›Sozialaristokraten‹ des Friedrichshagener Kreises nahegestanden hat, gehört wie Liliencron zu den wenigen Adligen im Umkreis des Naturalismus. Kretzers Berliner Stadtroman und Polenz' in der Lausitz angesiedelter Landroman stellen ein verwandtes Schicksal dar: der Drechslermeister Timpe wie der Großbauer Büttner gehen an den präzise dargestellten sozialen und ökonomischen Umwälzungen ihrer Zeit zugrunde, denen sie sich mit eisenhartem, von anachronistischem Klassenbewußtsein geprägtem Trotz entgegenstellen. Beide finden am Ende keinen anderen Ausweg als den Selbstmord. Während Kretzer die Vermittlung zwischen sozialen und individuellen Lebensverhältnissen nur unvollkommen gelingt – bei allen Figuren mit Ausnahme der Titelgestalt stört die schablonenhafte Charakterisierung und typisierende [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2169 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 181 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] Schwarz-weiß-Malerei –, stellt Polenz' Roman nicht zuletzt aufgrund der differenzierten sozialpsychologischen Charakterisierung der Personen, vor allem der Hauptgestalt, die einzige überragende Leistung des deutschen Naturalismus neben dem Werk Hauptmanns dar. Das bis in jüngste Literaturgeschichten hinein zu verfolgende Mißverständnis dieses Romans im Sinne der Heimatkunstideologie, ja der ›Blut-und- Boden‹Literatur geht auf seine Deutung durch Adolf Bartels und die Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus zurück. Seine ganz andersartige lebhafte Rezeption in Rußland – Tolstoj hat für die russische Ausgabe (1902) ein rühmendes Vorwort geschrieben, Lenin zählte das Werk zu seinen Lieblingsbüchern – sollte den Leser eines besseren belehren. Meister Timpe und Der Büttnerbauer fordern den Vergleich mit zwei Romanen Zolas heraus: mit dem Kaufhausroman Au bonheur des dames (1883) der erstere, mit dem Bauernroman La terre (1887) der letztere. Was Zola von seinen deutschen Jüngern unterscheidet, ist die objektivistisch-sezierende Unsentimentalität, mit der er untergehende Wirtschaftsformen darstellt und sich auf den Standpunkt des zivilisatorischen wie ökonomischen Fortschritts stellt. Auch Kretzer und Polenz zweifeln nicht an dessen Unentrinnbarkeit, aber sie sehen ihre eigentliche poetische Aufgabe darin, den Preis des Fortschritts: die schwindende humane und ästhetische Substanz des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens zu verdeutlichen. In Au bonheur des dames und Meister Timpe wird die Ohnmacht des aufgrund seines geringen Geschäftskapitals von der (auftragsgebundenen) Kundenproduktion abhängigen Kleingewerbes gegenüber den Kolossen der Warenhäuser und Fabriken in einem individuellen Fall vergegenwärtigt: wie bei Zola das sich riesig vergrößernde Kaufhaus von Octave Mouret das Häuschen des Handwerkers Bourras erdrückt, so nimmt bei Kretzer die wachsende Fabrik des skrupellosen Unternehmers und Immobilienspekulanten Urban das Haus Timpes förmlich in die Zange. Hier wie dort werden die originalen Modelle des Handwerkers industriell nachgeahmt und ihm damit die Existenzgrundlage entzogen. »Stirb du, damit ich lebe«: das ist das Motto im »großen sozialen Kampf des Jahrhunderts«, heißt es bei Kretzer. Bourras wie Timpe lassen sich aus anachronistischem Stolz ihr Geschäft und ihren Besitz um keinen Preis abkaufen. Zola hat betont, daß er den Untergang der Kleingewerbe nicht bedauert, im Gegenteil, er will den berechtigten Triumph der modernen Aktivität über das nicht mehr Zeitgemäße zeigen. Das Humane glaubt er in diesem Roman zu retten, indem er am Ende den Herrn des »Paradieses der Damen« die von der »Macht des neuen Handels« hingerissene Verkäuferin Denise Bandu heiraten und aus Liebe sein rein profitorientiertes Unternehmen im Sinne sozialer Sicherung der Angestellten reformieren läßt. So wird eine ›heile Welt‹ beschworen, die ideologisch gewiß fataler ist als Kretzers trauernder Abschied von der Poesie der Vergangenheit. Zu den überzeugendsten Teilen des Meister Timpe gehören die Schilderungen des sich rapide verändernden Berliner Stadtbildes. Timpes Häuschen, ursprünglich an der Peripherie der Stadt gelegen, wird seit dem Bau einer Straße immer mehr eingeengt, bis es sich inmitten der aufgetürmten Bauten der Nachbarschaft – nicht weniger als sein Besitzer – »wie ein alter Sonderling« ausnimmt, »der der Neuerung trotzt«. Von der idyllischen Warte seines Hauses aus beobachtet Timpe mit wundem Herzen die fortschreitende Zerstörung des »alten Berlin«: »Es war gerade, als hätte eine Riesenfaust vom Himmel sich herniedergesenkt und mit gewaltigem Hammerstreich eine Bresche durch die Häuser geschlagen. Und je weiter die Steinmassen sich rechts und links ausdehnten, um zu einem riesigen Ringe zu werden, je beengter fühlte sich der Meister [...] je mehr überkam ihn das Gefühl einer gewaltsamen Erdrückung – gleich einem Menschen, der nach und nach in immer kleinere Räume geführt wird, bis er sich im letzten befindet, in dem er nicht mehr zu atmen vermag.« Das Bild wird am Ende fast zur Wirklichkeit, als Timpe im Keller seines Hauses Selbstmord verübt. Daß er sein Haus bis zuletzt »als seine Burg« verteidigt, gründet in der altbürgerlichen Idee des ›ganzen Hauses‹, das Handwerksbetrieb und Familie, zu der auch die Gesellen gehören, umschließt – eine Gesellschaft im Kleinen und daher, so denkt Timpe, deren Stütze im Großen. Das Haus ist für Timpe das Symbol der Tradition und Integrität der Familie, welche mit ihrer Wirtschaftseinheit steht und fällt. Timpe ist noch weitgehend in zunftbürgerlichen Vorstellungen befangen. Die von der Proletarisierung und »Vertierung« (ein naturalistisches Lieblingswort) bedrohten Handwerker protestieren im Meister Timpe gegen die »Gewerbefreiheit« und »freie Konkurrenz«, welche »die kleinen Leute, die nicht das nötige Betriebskapital besitzen, um günstige Einkäufe zu machen und daher auch billiger zu produzieren«, ruinieren. In diesem Sinne fordern sie »obligatorische Innungen« als »Wall [...] gegen die Schundkonkurrenz«. (Zwar werden ja »durch Massenproduktion die Fabrikate billiger« – aber auch minderwertiger, wie die industriell nachgeahmten Timpeschen Modelle zeigen.) Ohne Innungsschutz werde es bald »keine Handwerker mehr geben, nur noch Arbeiter«. Mit dem Ende des Mittelstandes sei aber auch der »Untergang des Staates« besiegelt, gebe es dann doch nur noch »das ungeheure Heer der Proletarier«, das nichts kennt als den »Kampf ums Dasein« und den »Haß gegen die Reichen«. Die Darwinsche Formel vom Kampf ums Dasein fehlt in kaum einem größeren Werk des Naturalismus – ein deutliches Symptom dafür, daß sie nicht die Anwendung eines Naturgesetzes auf die Gesellschaft, sondern umgekehrt die Anwendung des liberalen Konkurrenzprinzips auf die Natur ist. (Darwins Evolutionslehre weist deutliche Züge einer ideologischen Rechtfertigung des Frühkapitalismus auf.) Kretzers Roman enthält überraschend viele scharfsinnige Einsichten in den Mechanismus des Markts. Dafür nur einige Beispiele: die Qualitätsminderung der Waren durch Massenfertigung und Herstellung kurzlebiger »nouveautés«, dann das Verfahren des großen »Machers« Urban, Waren unter den Herstellungskosten zu verkaufen, um den »Verlust an dem einen Fabrikat durch den dreifachen Gewinn am anderen« auszugleichen und auf diese Weise »die Abnehmer an sich zu fesseln, seine Fabrik zum Monopol für den ganzen Bedarf zu machen«, schließlich die sehr zukunftsträchtige Unternehmerideologie, die Expansion des Betriebs sei das Werk eines »Menschenfreundes«, habe nur das Ziel, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Kretzer stellt in seinem Roman »drei Generationen« von Kaufleuten dar: in Timpes Vater den vormärzlichen »Typus«, in der Titelgestalt, wie gesagt, den Kaufmann der Nachmärzzeit, in seinem Sohn Franz »die neue Generation der beginnenden Gründerjahre«, welche immer wieder als eine Zeit der »Überproduktion«, der »großen Lüge«, des »Scheins« charakterisiert wird, hinter dem ständig die Schatten des »großen industriellen Krachs« lauern. Franz ist der typische »Parvenu« der Zeit, der im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht, um in die Familie Urban einzuheiraten und dessen Kompagnon zu werden. Der Versuch, die sozialen und ökonomischen Prozesse in eine Individualhandlung zu übersetzen, ist Kretzer freilich weithin mißlungen. Ein Musterbeispiel für die verfehlte Personalisierung eines anonymen ökonomischen Prozesses ist der Diebstahl der handwerklichen Modelle des Vaters durch Franz, der die industrielle Verwertung derselben und eine Umsatzsteigerung des Urbanschen Unternehmens bewirkt, während Timpe seine Liquidität einbüßt. Ökonomische Probleme werden so vordergründig als moralische ausgegeben. Sucht man nach Kretzers eigenem sozialen Standpunkt, so wird man ihn am ehesten bei dem Altgesellen Beyer finden, der (wie Kretzer selbst) Mitglied der sozialdemokratischen Partei ist. Beyers Sozialismus hat freilich, von einigen Maximen wie »Jeder Mensch ist das Produkt seiner Verhältnisse« abgesehen, mit Marx oder Engels, ja selbst mit Lassalle wenig gemeinsam, vielmehr trägt er Züge des vom Urchristentum inspirierten Handwerkerkommunismus, wie ihn einst Wilhelm Weitling in seinem Evangelium des armen Sünders (1845) verkündet hat. Noch Friedrich Engels hat in seinem Traktat Zur Geschichte des Urchristentums (»Die Neue Zeit«, 1894/95) die Beziehungen zwischen Urchristentum und Arbeiterbewegung eingehend analysiert. Daß Kretzer – wie sehr viele Naturalisten – einem derart urchristlich geprägten Sozialismus zuneigte, zeigen seine Romane Die Bergpredigt (1889) und Das Gesicht Christi (1897). Die Tragik Times besteht darin, daß er, obschon er weiß, daß die Monarchie ihm keinen »Schutz« mehr gewährt, trotz einer einmaligen aufrührerischen ›Entgleisung‹ von der Gesinnung des »königstreuen Handwerkers« nicht loskommt, den Anschluß an die Arbeiterbewegung nicht findet. In die Kalkwand des Kellers, in dem er sich umbringt, ritzt er noch die Worte »Es lebe der Kaiser ... hoch lebe der Kaiser«. Der Anachronismus seiner Haltung wird symbolisch verdeutlicht durch die von tausendfachem Hurrarufen begleitete Jungfernfahrt der Stadtbahn am Hause des soeben verstorbenen Timpe vorbei, mit welcher der Roman eindrucksvoll schließt. Ebenso wie im Falle des Meister Timpe wird der [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2176 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 185 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] Untergang des Büttnerbauern mit dem Generationenkonflikt in Verbindung gebracht. Polenz hat freilich die Familiengeschichte des Bauern in sozialgeschichtlicher Hinsicht weit tiefer ausgelotet. Vier Generationen ziehen an uns vorüber. Der Großvater Traugott Büttners erlebte die Bauernbefreiung, die von Polenz mit erstaunlicher historischer Einsicht kritisiert wird. Sie war ein viel zu spät einsezender »mächtiger Ruck nach vorwärts«, der nicht mehr imstande war, »das Bauernvolk aus der Jahrhunderte alten Gewöhnung an Unselbständigkeit und Knechtseligkeit herauszureißen«, wie die Lebensgeschichte des Großvaters lehrt. Polenz geht in seinem geschichtlich-kritischen Rückblick noch weiter zurück, wenn er gar den »Romanismus«, die Rezeption des Römischen Rechts, das an die Stelle des »deutschen Rechts« trat, für die Fehlentwicklungen des Bauernstandes verantwortlich macht. Dieser sei im Gegensatz zu allen anderen Ständen durch jene Rezeption nur geschädigt worden. Das gemahnt an die Erfahrungen des Goetheschen Götz von Berlichingen, der sich ebenfalls nicht mit dem Römischen Recht und dem durch seine Rezeption bedingten Bürokratisierungsprozeß abfinden kann. So ist auch das Schicksal Traugott Büttners dem Götzens nicht unverwandt: beide gehen an einem über sie hinwegrollenden abstrakten System zugrunde, dem sie sich mit tragisch-anachronistischem Trotz entgegenstellen. Der Untergang des Bauern ist primär nicht durch individuelle Faktoren bedingt, sondern durch eine jahrhundertelange sozialgeschichtliche Entwicklung determiniert. Die Destruktion der Einheit der Familie ist im Büttnerbauer wie im Meister Timpe die unmittelbare Ursache für den ökonomischen Ruin der Titelgestalt. Traugotts Vater hat kein Testament gemacht, im festen Vertrauen darauf, daß seine Kinder aus »Gemeinsinn«, um der »Einheitlichkeit des Familienbesitzes« willen Hof und Gut im Sinne der fideikommissarischen Tradition ungeteilt dem ältesten Sohn überlassen. Die Kinder bestehen jedoch auf der Gleichheit des Erbanteils und zwingen Traugott, sein Gut durch Hypotheken zu belasten. Das ist der Anfang seines Ruins, in den er vollends durch die Manipulationen ausbeuterischer Bodenspekulanten hineingetrieben wird. Sie manifestieren die Praktiken des Kapitalismus (als den letzten Ausläufer des abstrakten römisch-rechtlichen Systems), der das einfache, traditionsverhaftete, sinnlich-unmittelbare wirtschaftliche Bezugssystem des Büttnerbauern untergräbt. Traugott klammert sich bis zuletzt an die »Scholle«, an das Gut als Symbol der Familieneinheit. Diese ist freilich längst in die Brüche gegangen. Sein ältester Sohn Karl verfällt – ein Hauptthema des Naturalismus – dem Alkoholismus, seine Tochter Toni ist auf dem besten Wege, eine Prostituierte zu werden, einzig von seinem jüngeren Sohn Gustav her eröffnet sich eine hoffnungsvolle Aussicht in die Zukunft: in der Großstadt gerät er in Berührung mit der sozialistischen Arbeiterbewegung, die seine schmerzliche Herauslösung aus der naiven Identifikation mit den anerzogenen Standestraditionen zur Folge hat. »So wie er gewesen war, konnte er nie wieder werden; er hatte in geistigem Sinne seine Unschuld verloren.« Daß seine politische Bewußtwerdung ihn doch keine neue Heimat im Sozialismus finden, sondern den Aufstieg ins Kleinbürgertum ersehnen läßt, ist nicht nur symptomatisch für das naturalistische Gesellschaftsbild, man mag dann auch ein Zeichen sehen, daß der adlige Autor nicht mit letzter Konsequenz über den Schatten seines Standes hat springen können. Freilich ist zugleich die berechtigte Skepsis zu berücksichtigen, mit der Polenz den bürgerlichen Etablierungstendenzen der Sozialdemokratie seit 1890 gegenüberstand, wie er sie in seiner humoristischen Erzählung Die Zielbewußten (1892) mit subtiler Ironie entlarvt hat. Hier schließen die Sozialdemokraten mit einem Großbauern aus beiderseitigem Opportunismus ein Bündnis, dessen wahre Motive durch den wirklich »sozialschen« Knecht Dudel-Karle bloßgelegt werden, der den Bauern durch seine Gewitztheit so in die Enge treibt, daß er sein wahres Gesicht in einem Wutausbruch zeigen muß. Polenz entspricht aufgrund der strengen Objektivität der Erzählhaltung, der im allgemeinen sachlich- knappen Sprache und der Verwendung des Dialekts dem naturalistischen Gattungsideal des Romans – als einer »unpersönlichen objektiven Einheit«, hinter welcher der Verfasser vollständig »verschwindet« (Conrad: Zola und Daudet, »Die Gesellschaft«, 1885), im Sinne einer entpersönlichten »Zurückspiegelung des Seienden« (Julius Hillebrand, Naturalismus schlechtweg!, »Die Gesellschaft«, 1886) – weit mehr als Meister Timpe, dessen Personen meist ein papierenes Hochdeutsch reden und dessen Erzähler sich ständig moralisierend in den Vordergrund schiebt. ›Experimentelle Romane‹ sind freilich beide Werke nicht; Zolas medizinisch-sezierendes Verfahren hat bei den deutschen Naturalisten überhaupt mehr Gegner als Befürworter gefunden, wie die zahllosen ZolaDiskussionen in den naturalistischen Zeitschriften zeigen. Auch Kretzer lehnt »das kalte Seziermesser« des Franzosen ab. Seine eigene Romanproduktion bleibt der auktorialen, deutliche Wertungsakzente setzenden Erzähltradition verhaftet. Der deutsche Naturalismus konnte weder in der Gattung der Lyrik – nicht zuletzt aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit seiner radikal mimetischen Tendenz – noch generell auf dem Gebiet des Romans, wo er aus dem Schatten Zolas nicht herauszutreten vermochte, sein spezifisches Profil gewinnen. Das sollte ihm nur im Bereich der Kurzprosa und des Dramas möglich sein. In beiden Gattungen stammen die epochemachenden Pionierleistungen von Gerhart Hauptmann und Arno Holz (in Verbindung mit Johannes Schlaf, 1862-1941) aus den Jahren 1888-1890. Hauptmanns »novellistische Studie« Bahnwärter Thiel, 1888 in der »Gesellschaft« erschienen, hat den deutschen Naturalismus aus der Phase theoretischer Turbulenz herausgeführt und der Erzählkunst auf dem Niveau der großen deutschen Novellistik zumindest inhaltlich neue Wege gewiesen. Formal steht das Werk noch in enger Verbindung zum ›Poetischen Realismus‹, der ja in den späten Werken Kellers, Raabes und Fontanes gleichzeitig zu letzter Blüte gelangt. Einen nahezu vollständigen Bruch mit der realistischen Erzähltradition stellt freilich der im folgenden Jahr bezeichnenderweise ohne Gattungsbezeichnung veröffentlichte Papa Hamlet von Holz und Schlaf dar, der weniger durch seinen künstlerischen Rang als durch seine revolutionäre, experimentelle Erprobung neuer Darstellungsmittel weit in die Zukunft weist. Der erste, der das deutlich erkannt und die »entscheidende Anregung«, die unmittelbare Anwendung dieser Darstellungsmittel nunmehr auf das Schauspiel dankbar zugegeben hat, ist Gerhart Hauptmann in der Widmung des »sozialen Dramas« Vor Sonnenaufgang an den »konsequentesten Realisten«: den pseudonymen Verfasser des Papa Hamlet. Die tumultuarische, skandalumwobene Uraufführung jenes sozialen Dramas in der Berliner »Freien Bühne« (1889) bedeutet den entscheidenden Durchbruch des Naturalismus im Theater. Holz und Schlaf haben ihrerseits ein Jahr später in der Familie Selicke, die am gleichen Ort wie Hauptmanns bahnbrechendes Schauspiel (freilich mit wesentlich geringerem Erfolg) uraufgeführt worden ist, das dramatische Pendant zu ihrem epischen Experiment geschaffen – zweifellos authentischer, mit größerer künstlerischer Konsequenz als Hauptmann. Gerhart Hauptmann (1862-1946), Sohn eines niederschlesischen Gastwirts, hat sich nach einer nicht unverschuldet schweren Jugend als gescheiterter Gymnasiast, Landwirt und Bildhauer erst mit Bahnwärter Thiel und Vor Sonnenaufgang als Schriftsteller durchsetzen können. Fast gleichzeitig mit dem Thiel ist die »Studie« Fasching entstanden (1887), drei Jahre später Der Apostel (1890). Auch diese »Novelle« ist im Grunde eine ›Studie‹, wie die beiden Vorgänger ausdrücklich genannt werden. Dieser Terminus signalisiert (abgesehen von der Abwehr der Forderung ästhetischer Vollendung) die Grenzüberschreitung des fiktionalen Erzählens zum quasi-wissenschaftlichen Analysieren hin. Bereits Adalbert Stifter hat den größten Teil seiner Erzählungen unter dem Sammeltitel »Studien« veröffentlicht, und auch bei ihm verbindet sich schon das Erzählen mit einem naturwissenschaftlichen Anspruch. Die ausgedehnte Deskription der Landschaft und Umwelt in den Einleitungen seiner Erzählungen ist von der Absicht bestimmt, die Personen und Handlungsabläufe wie in einem Koordinatensystem zu orten. Schon Friedrich Gundolf und Georg Lukács haben nicht zu Unrecht, wenngleich abwertend, Stifter in formaler Hinsicht als »Vorläufer« (so Lukács) des Naturalismus gesehen. So fundamental Stifter sich stofflich vom »ästhetischen Naturalismus« unterscheide, so nahe stehe er ihm durch seine Beschreibungsmethode, durch die »perspektivelose Vordergründlichkeit«, die das »Gemeinsame aller in Ursprung und Richtung noch so verschiedenen Naturalismen« sei, bemerkt Gundolf (Adalbert Stifter, 1931). Diesen Vorwurf greift Lukács auf, wenn er z. B. in seinem Essay Erzählen oder beschreiben? (1936) der Deskriptionsmanier Stifterscher wie naturalistischer Herkunft vorwirft, daß sich die beschreibenden Teile den handelnden Personen nicht funktional unterordnen, sondern verselbständigen und so nur noch die Darstellung einer parzellierten Wirklichkeit zulassen, während jede [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2183 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 188 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] große realistische Kunst (z. B. der Roman Balzacs oder Tolstojs) die Totalität eines historischen Zustandes widerspiegle. Bahnwärter Thiel weist in der ersten Hälfte einige merkwürdige Übereinstimmungen gerade mit Stifter auf, was die Erzählstrategie (das Zurücktreten des Erzählers, die ›Sicht von außen‹ bei der Personendarstellung, das präzise deskriptive Abstecken des Handlungsraumes) und z. T. sogar die Naturschilderung betrifft. Daß es sich hier freilich nur um vordergründige Gemeinsamkeiten handelt, zeigt das vom 2. Kapitel an zunehmende, den Stifterschen Objektivismus immer mehr hinter sich lassende Ineinanderschieben der Außen- und Innenwelt Thiels durch den Erzähler. Die Studie ist streng tektonisch aufgebaut, nähert sich der eigentlichen Handlung in konzentrischen Kreisen. Kapitel I enthält die Vorgeschichte, exponiert Raum, Zeit, Personen der Handlung, es präpariert gewissermaßen die Gründe für die Bluttat Thiels heraus. Erst mit Kapitel II beginnt die eigentliche Erzählung: es enthält den ersten der drei Tage, auf welche sich das epische Geschehen verteilt, und entwickelt die unmittelbaren Ursachen der Haupthandlung. Kapitel III ist gewissermaßen in zwei Akte unterteilt: die Erzählung der Nacht, die das entsetzliche Geschehen des letzten Teils psychologisch exakt vorbereitet, durch eine Traumhandlung antizipiert und ihm nicht zuletzt durch seine symbolische Spiegelung das Gepräge der Zwangsläufigkeit gibt- sodann die eingehend dargestellte Haupthandlung. Diese konzentrische Annäherung an den Höhepunkt – von der Exposition der Gründe über die Erzählung der Ursachen zur unmittelbaren Vergegenwärtigung der Gemütsverfassung, der Zwangsvorstellungen, des ausbrechenden Wahnsinns der Titelgestalt – korrespondiert erzählstrategisch dem in Thiel ablaufenden, durch die Metapher des sich zuziehenden Netzes verdeutlichten, mit deterministischer Notwendigkeit eintretenden Prozeß. Die vom menschlichen Willen nicht zu durchkreuzende Determination wird chiffriert in der Eisenbahnstrecke, dem zentralen Dingsymbol der Erzählung, in dem nahezu alle Chiffren derselben zusammenlaufen. Diese Strecke, die zu warten Thiels Beruf und Leben ist, wird durch das tödliche Unglück im wahrsten Sinne zur Bahn des allen ›Willen‹ überrollenden Schicksals. Thiels Sohn Tobias gerät durch die Schuld seiner zweiten Frau unter die Räder der Lokomotive. Diese nimmt im Geiste des Bahnwärters, der, abgeschnitten von aller Kommunikation, noch in primitiven, prälogisch-bildhaften Vorstellungen und einer magisch-mystischen Religiosität befangen ist, die Züge eines archaisch-mythischen Ungetüms an. Die Unabwendbarkeit des Schicksals wird durch das Motiv des vergeblichen Versuchs, den Zug aufzuhalten, symbolisiert. Bezeichnend ist, daß die sexuelle Abhängigkeit Thiels von seiner zweiten Frau durch Chiffren angedeutet wird, die in der Beschreibung der Bahnstrecke wiederkehren. Hier wie dort bezeichnen sie das Zwanghafte der Handlungen Thiels. »Eine Kraft schien von dem Weibe auszugehen, unbezwingbar, unentrinnbar, der Thiel sich nicht gewachsen fühlte. – Leicht gleich einem feinen Spinngewebe und doch fest wie ein Netz von Eisen legte es sich um ihn, fesselnd, überwindend, erschlaffend.« Zwei Seiten später kehren die Bilder der »eisernen Netzmasche« und des »Gewebes einer Riesenspinne« in der Schilderung der Geleise und Telegraphenstangen wieder. Technische und vitale Welt werden wechselseitig symbolisch gespiegelt. Die Vitalisierung der Technik, welche durch die Dynamik der Bilder aus dem organisch-kreatürlichen Bereich zum modernen Mythos wird, zur Versinnlichung von Visionen, die aus den Schächten der tiefsten Angst aufsteigen, und auf der anderen Seite die bildliche Technisierung der natürlichen Vorgänge korrespondieren der primitiven Fixiertheit Thiels an seinen Berufsbereich. In seinen Shakespeare-Visionen hat Hauptmann später einmal von dem »Urdrama« gesprochen, das wie die Goethesche »Urpflanze« in allen Erscheinungsformen der Gattung anzutreffen sei. Die Bühne dieses Urdramas aber sei der »Kopf des Menschen«. »Ursprung alles Dramatischen ist jedenfalls das gespaltene oder doppelte Ich.« In diesem Sinne kehrt das Urdrama auch im Bahnwärter Thiel wieder. »Er, der mit seinem ersten Weibe durch eine mehr vergeistigte Liebe verbunden gewesen war, geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau.« Den Konflikt zwischen seiner bis zu mystischen Halluzinationen sich steigernden Spiritualität und der erniedrigenden Tatsache seiner sexuellen Hörigkeit vermag er nur auszuhalten, da er den gespaltenen Hälften seines Ichs jeweils einen separaten Bezirk vorbehält, der triebhaften die Wohnung, der spirituellen das »geheiligte Land« der Umgebung des Wärterhäuschens. Die Katastrophe bricht erst herein, als Thiel seiner zweiten Frau den Zutritt zu dem bislang streng vor ihr gehüteten Bezirk gestattet. Das äußere Unglück fällt zusammen mit dem lange vorbereiteten inneren Zusammenbruch: die bisher säuberlich getrennten Seiten des gespaltenen Ichs geraten in einen mörderischen Zwiespalt bis hin zum Ausbruch des Wahnsinns. Dessen Genese wird mit großer Eindringlichkeit gestaltet; Traum und Wirklichkeit, Innenwelt und Außenwelt verschwimmen im Geiste Thiels, Natur und Bahnstrecke verfremden sich zum Pandämonium des ins Chaos zusammenstürzenden Ichs. Das große Vorbild Büchner, den Hauptmann während der Entstehungszeit des Thiel wiederentdeckt und dessen Werke er im Berliner Verein »Durch!« immer wieder vorgetragen hat, der Einfluß des Lenz zumal und des Woyzeck, macht sich hier unverkennbar geltend. »Büchners Geist«, so berichtet Hauptmann in seiner Autobiographie Das Abenteuer meiner Jugend (1937), »lebte nun mit uns, in uns, unter uns. Und wer ihn kennt [...], der darf sich vorstellen, daß er, bei allem Abstand seiner Einmaligkeit, ein Verwandter von uns gewesen ist. Er ward zum Heros unseres Heroons erhoben.« Nicht zu Unrecht – darf man Büchner doch fast als Protonaturalisten, jedenfalls als denjenigen deutschen Autor bezeichnen, dessen Werk und Kunstanschauung am entschiedensten auf den Naturalismus vorausweist. Büchners Lenz-Novelle hat auch Hauptmanns nächste Erzählung Der Apostel stark beeinflußt. Wiederum geht es um einen psychopathologischen Fall, hier auf der Grenzlinie zwischen Erlösermystik und Wahnsinn. Hauptmanns Studie ist ein Gegenstück zu Thomas Manns knapper Erzählung Beim Propheten (1904), die ebenfalls den religiösen Wahn, hier als Krisenphänomen der Dekadenz, zum Gegenstand hat. Der Apostel wird gemeinhin als Vorstufe des Romans Der Narr in Christo Emanuel Quint (1910) angesehen, der um die Entstehungszeit der früheren Studie in Schlesien spielt. Obwohl Quints Imitatio Christi, die sich schließlich zur mystischen Wahnvorstellung der Identität mit Christus steigert, ebenfalls ein pathologischer Fall ist, geht sie doch über dessen Dimensionen hinaus. In der Gestalt des heiligen Narren (nicht zu Unrecht ist auch auf die Beziehung zu Dostojevskis Idiot hingewiesen worden) leuchtet zugleich ein religiös-soziales Idealbild auf, das von pietistischen Einflüssen aus Hauptmanns Jugend und von der Mystik Jakob Böhmes geprägt ist – Eindrücke, die sich schon in den »mystischen Neigungen« Thiels geltend machten und in Hauptmanns Werk immer wiederkehren. Sie verbinden sich mit den gerade in Schlesien nie erloschenen chiliastischen Hoffnungen der Mühseligen und Beladenen, der sozial Benachteiligten und Unterdrückten, die sich um den Tischlersohn Quint scharen. Quint ist freilich kein Thomas Münzer, er verwirft die revolutionäre Veränderung der Welt, verkündet die Wiedergeburt aus dem Geist, eine Religion der Gewalt- und Besitzlosigkeit, die keiner Institutionen bedarf. Gerade das aber macht ihn inmitten der wirtschaftlich und technisch prosperierenden Zivilisation der wilhelminischen Ära, angesichts jedoch auch erbitterter Klassenkämpfe, zu einer unerhörten Herausforderung für die Herrschenden: für die orthodoxe Staatskirche, das kapitalistische System und für die von ihnen gestützte politische Macht – von denen sich der des »Sozialismus« verdächtigte Sektierer Quint immer neuen Verfolgungen ausgesetzt sieht; diese nimmt er mit der Leidensbereitschaft Christi auf sich. Quints Paranoia ermöglicht und relativiert zugleich die in ihm figurierte Utopie, welche im Roman den herrschenden Verhältnissen entgegengehalten wird: der Welt des Adels, der verarmten Landbevölkerung, der Großstadtzivilisation mit ihren Fabriken, dem Geldadel, der Boheme, dem Proletariat, den wissenschaftlichen und ideologischen (darunter auch sozialistischen) Wirrungen. Hauptmanns Roman ist die bedeutendste Gestaltung der in der Literatur des Naturalismus immer wiederkehrenden Christusthematik. Schon erwähnt wurde in diesem Zusammenhang Kretzers Gesicht Christi, wo Jesus im Milieu der Mietskasernen, Parteiversammlungen und Kneipen wiederkehrt; zu erwähnen sind ferner Felix Hollaenders Roman Jesus und Judas (1891), Hans Lands Der neue Gott (1890) und die noch zu würdigenden Prosastücke von Holz/Schlaf und Panizza. Emanuel Quint ist das einzige der zahlreichen Prosawerke Hauptmanns, das in Teilen den Rang des Bahnwärter Thiel erreicht, wenn auch in diesem Roman deutlich wird, daß Hauptmann im Grunde ein Genie des Details ist, daß seine Größe in der Gestaltung einzelner Situationen, Zustände und Szenen liegt, während sich in seinen umfangreicheren Werken immer wieder kon [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2190 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 191 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] zeptionelle und kompositionelle Unklarheiten und Mängel einstellen. In keiner seiner epischen Dichtungen hat er jedenfalls eine ähnliche narrativ-symbolische Geschlossenheit erreicht wie im Thiel. Aufschlußreich und typisch für die Rezeption des Naturalismus ist eine Rezension des Thiel und des Apostel in der auch von Hauptman abonnierten sozialdemokratischen »Neuen Zeit« (1893). Nach einer sehr verständnisvollen Analyse werden die beiden »Skizzen« als »psychopathische Studien« charakterisiert. Hier setzt die Kritik des Rezensenten ein: wie komme es, daß ein sozial fortschrittlicher Autor wie Hauptmann sich immer wieder auf die »Schilderung kranker Seelen«, von Schwächlingen und Paranoikern verlege. »Bietet unser Zeitalter wirklich nichts, was der Aufgabe eines Dichters würdiger wäre – zumal eines Dichters, der in dem größten Kampf der Epoche auf der Seite der Kämpfer für eine neue Gesellschaft steht? Dieser große Kampf, der täglich sich hoffnungsvoller gestaltet, und dieser pessimistische Zug – in welch krassem Gegensatz stehen sie zueinander. Wenn die ›modernen‹ Dichter der alten Gesellschaft Pessimisten sind [...], so ist das [...] der Situation ihrer Klasse angemessen.« Der »Dichter der neuen Zeit« jedoch sollte »mehr als ein bloßer Kliniker« sein. Das typische Argument der sozialistischen Naturalismus-Kritiker! Mehr noch als auf Hauptmanns Novellistik könnte es auf Papa Hamlet gemünzt sein, wo das »klinische« Verfahren sich nicht nur inhaltlich durchsetzt, sondern auch die traditionelle Erzählform mit ihren affirmativ-harmonistischen Implikationen radikal aufbricht. Theorie und Praxis des »konsequenten Naturalismus« Arno Holz und Johannes Schlaf gaben ihre ein Jahr nach dem Bahnwärter Thiel erschienene Prosasammlung Papa Hamlet als Übersetzung aus dem Norwegischen aus – in der nicht unberechtigten Annahme, einem Landsmann Ibsens werde man diese epischen Experimente eher ›abnehmen‹. Die Titelerzählung Papa Hamlet (zu der noch die novellistischen Studien Der erste Schultag und Ein Tod kommen – weitere Stücke folgen in den nächsten Jahren und werden 1892 in den Neuen Gleisen zusammengefaßt) ist zweifellos der radikalste und bedeutendste Prosaversuch von Holz und Schlaf. Seine Radikalität liegt vor allem in dem Verzicht auf eine klar umgrenzte Fabel, auf geschlossene Handlung – wie sie im Bahnwärter Thiel durchaus noch zu finden ist. Eine solche Handlung läßt sich durch die Ganzheitskriterien der Poetik des Aristoteles bestimmen: »Ganz ist, was Anfang, Mitte und Ende besitzt. Anfang ist, was selbst nicht notwendig auf ein anderes folgt, aus dem aber ein anderes natürlicherweise wird oder entsteht. Ende umgekehrt ist, was selbst natürlicherweise aus anderem wird oder entsteht, [...] ohne daß aus ihm etwas weiteres mehr entsteht. Mitte endlich, was nach anderem und vor anderem ist. Es dürfen also Handlungen, die gut aufgebaut sein sollen, weder an einem beliebigen Punkte beginnen noch an einem beliebigen Punkte aufhören, sondern müssen sich an die angegebenen Prinzipien halten.« Im Sinne dieser Kriterien läßt sich die ›Handlung‹ des Papa Hamlet und anderer Prosastudien von Holz und Schlaf keineswegs als Ganzes bestimmen. »Der lange Wüstenhäuser gähnte. ›Verfluchte Sonne!‹ Dann wälzte er sich verdrießlich wieder der Wand zu.« So lauten z. B. die ersten Sätze der Erzählung Krumme Windgasse 20. Die Handlung beginnt in der Tat an einem beliebigen Punkt – und in vielen Fällen hört sie auch an einem solchen Punkt auf. Die Beliebigkeit des Anfangs, der unvermittelte Beginn wird zu einem Strukturmerkmal der Erzählkunst seit der Jahrhundertwende. (Das berühmteste Beispiel ist der Anfang von Thomas Manns Buddenbrooks.) Dem herkömmlichen epischen Eingang haftet seitdem etwas geradezu Anachronistisches an. Die Zurückweisung der festen Fabel hat einen ästhetischen Grund, der sich ebenfalls von Aristoteles her erhellen läßt. Für ihn sind die eben erwähnten Ganzheitskriterien zugleich solche der Schönheit. Letztere besteht darin, »daß das Ganze eine bestimmte, nicht beliebige Größe besitzt«. Wie also die Körper dadurch schön sind, daß sie eine übersichtliche Größe haben, »so muß auch die Fabel eine bestimmte Länge haben; diese muß erinnerlich bleiben können«. Die Durchbrechung, Aufsplitterung der geschlossenen Handlungsfabel bei Holz und Schlaf signalisiert demnach die von den Naturalisten unermüdlich propagierte Vertreibung der Idee des Schönen aus Ästhetik und Dichtung. Die vornehmlich von Arno Holz herrührenden innovatorischen Formelemente der Erzählung Papa Hamlet manifestieren sich besonders deutlich bei einem Vergleich mit Johannes Schlafs Dachstubenidyll (»Die Gesellschaft«, 1890), das ihre stoffliche Grundlage bildet. Schlafs »novellistische Skizze« ist ›Poetischer Realismus‹ in Reinkultur, mit einem auktorialen Erzähler, der sich sogar humoristisch an den »geehrten Leser« wendet. Dieser wird über die Position des Erzählers und die pragmatischen Zusammenhänge nirgends im unklaren gelassen. Wie es demgegenüber im Papa Hamlet mit der Information des Lesers aussieht, läßt schon der typische abrupte Beginn ahnen: »Was? Das war Niels Thienwiebel? Niels Thienwiebel, der große, unübertroffene Hamlet aus Trondhjem? Ich esse Luft und werde mit Versprechungen gestopft? Man kann Kapaunen nicht besser mästen? ...« Es folgt ein fast unverständlicher Dialog mit vorher nicht eingeführten Personen; sie zu identifizieren, bleibt dem Leser überlassen. Der zitierte Eingang könnte ein innerer Monolog: eine Selbstanrede des heruntergekommenen Shakespearedarstellers Thienwiebel, eine Äußerung des Erzählers oder – und das ist die plausibelste Erklärung – die fingierte Reaktion des Lesers sein, die als solche am Anfang der Erzählung bewußt deplaziert ist, setzt eine Reaktion doch erst einmal eine Aktion voraus. Die Irritation des Lesers, die Provokation durch die Nichterfüllung seiner literarischen Erwartung wird zum integrierenden Bestandteil der Erzählung. Ein entscheidendes Gestaltungselement ist die immer wieder eingesetzte Erlebte Rede. (»Ihr großer Gatte verachtete sie nur noch ... Geschrieben – e... hatte man ihm zwar unterdessen bereits, aber – e ... wie kam's, daß sie umherstreiften?«) Die Erlebte Rede – Papa Hamlet gehört zu den frühesten Zeugnissen deutscher Prosa, welche dieses für die moderne Erzählkunst grundlegende epische Medium verwenden – setzt aber das ›erzählerlose‹ Erzählen voraus. Sie ist die Konsequenz der Verlegung des point of view von einem über dem Ganzen schwebenden ›Geist der Erzählung‹ ins Bewußtsein der fiktiven Gestalten; das epische Geschehen wird ausschließlich in den personalen Medien gespiegelt. Holz und Schlaf setzten sich diese Medialisierung des Erzählens ausdrücklich zum Ziel. So hat Holz in seinem theoretischen Hauptwerk, Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze (1891/92), den berühmten Grundsatz Zolas: »Une oeuvre d'art est un coin de la nature vu a travers un tempérament« kritisiert und für sich selbst behauptet, er habe das »Temperament«, das »arrangierende Ich« auf das »möglichste Minimum« beschränkt. »Das Kunstwerk ist ein Stück Leben«, so referiert Schlaf die neue Definition des Freundes, »angesehen nicht durch das Temperament des Künstlers, sondern aller der Personen, die er geben will.« Daran hat Holz sich im Papa Hamlet freilich nicht konsequent gehalten. Hier wechseln Passagen Erlebter Rede, d. h. medialer Spiegelung des Geschehens, unvermittelt mit solchen auktorialer Kommentierung oder einer Außensicht der Personen, die den point of view wieder aus ihnen hinausverlegt, ihre Innenwelt vor dem Leser verschließt – bis hin zu dem radikalen Schweigen, das sich in den nur noch mit Punkten gefüllten Zeilen ausdrückt. Die – wenn auch nicht konsequent durchgehaltene – Medialisierung der Erzählung erklärt z. T. das Informationsdefizit des Lesers, was den pragmatischen Nexus des Geschehens betrifft. Auf erzählerische Vollständigkeit wird verzichtet. Auch dies ist ein Mittel der Irritation des Lesers. Manche Situationen sind erst nach einem Blick in Schlafs Dachstubenidyll inhaltlich verstehbar. Das zeigt die Indifferenz der Autoren gegenüber dem Stofflich-Inhaltlichen, der reinen Handlung. »Man revolutioniert eine Kunst nur, indem man ihre Mittel revolutioniert«, hat Holz in seiner Revolution der Lyrik (1899) geschrieben. Der »Naturalismus« sei »eine Methode«, »eine Darstellungsart und nicht etwa ›Stoffwahl‹«, heißt es in einer seiner unerquicklichen späteren Streitschriften (1900). In seinem theoretischen Hauptwerk hat er den »konsequenten Naturalismus« auf eine Formel gebracht, die den (nach seiner Überzeugung allein gültigen) mathematisch-physikalischen Gesetzen analog sein soll: »Kunst = Natur – x«. Die Variable x umfaßt die Faktoren, welche der Tendenz der Kunst, »wieder Natur zu sein«, entgegenstehen: die Kunstmittel und ihre notgedrungen subjektive Handhabung. Der Idealfall ist die Reduzierung dieser Faktoren bis zur Identität von Kunst und Natur. Dieses Ziel aber liegt natürlich im Unendlichen, ist nur, mathematisch zu reden, asymptotisch erreichbar. Die angestrebte Auflösung des Dualismus von Kunst und Natur ist freilich schon [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2197 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 194 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] von Zeitgenossen wie Julius Hart (Der Kampf um die Form in der zeitgenössischen Dichtung, Krit. Jb. 1890) als »ästhetischer Irrtum« der radikalen Mimetiker erkannt worden: »Als Ästhetiker täuschen sie sich über das Wesen der eigenen Form.« Ist doch die künstlerische Selektion und Komposition der Realitätselemente ein keineswegs progressiv zu reduzierender Akt der Subjektivität! Holz leugnet mit seiner Naturalismusformel die vermeintlich höhere Wahrheit der Kunst gegenüber der Natur, die Autonomie der Form gegenüber dem Gegenstand. »Jeder Wortkünstler bisher fand zwischen sich und dem, was er ausdrücken wollte, bereits immer etwas vor.« Eine vorgeprägte Form, in die er seinen Inhalt hineinzupressen hatte, statt umgekehrt die Form unwillkürlich aus dem Inhalt »wachsen zu lassen« (Die befreite deutsche Wortkunst, 1918/19). Der Holzsche Naturalismus ist der Versuch, die von allen normierenden und schematisierenden Zwängen befreite innere und äußere Wirklichkeit zu exakter Selbstdarstellung zu bringen. Das ist die Grundlage des von Adalbert von Hanstein (Das jüngste Deutschland, 1900) so benannten »Sekundenstils«: Zeit und Raum werden »Sekunde für Sekunde« geschildert; »kein kühner Sprung darf mehr über die Wüsten hinwegsetzen, um die Oasen einander näher zu bringen. Nein, ein Sandkorn wird nach dem andern sorgfältig aufgelesen, hin und her gewendet und sorgsam beobachtet«. Heinrich Hart berichtet in seinen Literarischen Erinnerungen (1907), Holz habe im Gespräch seine Kunstauffassung einmal am Beispiel eines vom Baum fallenden Blattes entwickelt: »Die alte Kunst hat von dem fallenden Blatt weiter nichts zu melden gewußt, als daß es im Wirbel sich drehend zu Boden sinkt. Die neue Kunst schildert diesen Vorgang von Sekunde zu Sekunde; sie schildert, wie das Blatt jetzt auf dieser Seite vom Licht beglänzt, rötlich aufleuchtet, auf der anderen Seite schattengrau erscheint, in der nächsten Sekunde ist die Sache umgekehrt; sie schildert, wie das Blatt erst senkrecht fällt, dann zur Seite getrieben wird, dann wieder lotrecht sinkt. [...] Eine Kette von einzelnen, ausgeführten, minuziösen Zustandsschilderungen, geschildert in einer Prosasprache, die unter Verzicht auf jede rhythmische und stilistische Wirkung der Wirklichkeit sich fest anzuschmiegen sucht, in treuer Wiedergabe jeden Lauts, jeden Hauchs, jeder Pause – das war es, worauf die neue Technik abzielte.« Der Sekundenstil ist die Kunst des facettierten Augenblicks. Ihn suchen Holz und Schlaf in der Vielstimmigkeit der sich kreuzenden Motive, mit all seinen inneren und äußeren Ingredienzien festzuhalten. Kaum ein deutscher Autor vor Holz hat in der Tat in einem einzigen Moment eine solche Fülle von physiologischen Nuancen: Duft-, Farb-, Licht- und Geräuschwahrnehmungen konzentriert. Das Einerlei der Realität wird durch seine Brechung im Prisma des Augenblicks in seine einzelnen Bestandteile zerlegt. So ist z. B. am Schluß der Erzählung Der erste Schultag der Moment, da der Blick des kleinen Jonathan auf den toten Großvater fällt, auf fast vier Seiten entfaltet und seziert. Dieses Verfahren (denken wir an das Holzsche Beispiel des fallenden Blatts!) läßt unwillkürlich an die Zeitlupentechnik denken oder an die im Film mögliche Perpetuation eines bedeutungsvollen Moments. Der Sekundenstil kehrt die traditionelle Diskrepanz von Erzählzeit und erzählter Zeit geradezu um; der ausdrückliche Versuch, beide ›Zeiten‹ zur Deckung zu bringen, führt nicht selten zu einem Überhang der ersteren über die letztere. Darin liegt übrigens der Grund, warum sich der Sekundenstil nur in der Erzählung – oder eben im Film –, nicht aber auf der Bühne realisieren läßt. Lief im traditionellen Drama die fiktive Uhr fast immer schneller als die reale (daher die Unmöglichkeit, die ›Einheit der Zeit‹ als Deckungsgleichheit von dargestellter Zeit und Zeit der Darstellung zu erreichen), so ist es bei Holz eher umgekehrt. Auf der Bühne aber, welche die fiktive unter die Gesetze der realen Zeit stellt, kann der Augenblick nicht wie in der Erzählung angehalten werden. Die in den minuziösen Regieanweisungen des ›konsequent naturalistischen‹ Dramas artikulierten Facetten jedes Augenblicks gehen dort notwendig unter. Im Theater läuft dem Dichter die Zeit davon! Obwohl der »konsequente Naturalismus« eine ausgeprägt sensualistische Richtung ist, vornehmlich die physiologische Realität registriert, erhebt er sich doch weit über das von seinen Gegnern ihm vorgeworfene bloße Konterfei der zufälligen äußeren Wirklichkeit. Wenn Hermann Bahr 1891 zur Überwindung des Naturalismus aufruft, weil man die »états de choses, die ewigen Sachenstände« satt habe und wieder nach den »états d'âme, nach Seelenständen« verlange, so ist das eigentlich nur in bezug auf den deskriptivobjektivistischen Naturalismus französischer Provenienz, für Zola und seine Jünger berechtigt – gegen die der Ästhetizismus eine subjektivistische Opposition gebildet hat. Arno Holz dagegen hat die »Seelenstände« nie den »Sachenständen« geopfert. Zumindest im Papa Hamlet sind die états de choses durch ihre – das ›normale‹ Aussehen und Größenverhältnis der Dinge oft verzerrende und verfremdende – Beschreibung aus der Perspektive der beteiligten Personen im Grunde stets états d'âme, dämmerhaft Signale des Halb- und Unbewußten, wenn sie sich auch nirgends wie im Bahnwärter Thiel zu einer wirklichen Symbolsprache, zu mythischen Projektionen des Unterbewußtseins steigern. Dessen Demonstration wird mehr als bei Hauptmann durch die von Holz so genannte »phonographische Methode« geleistet (1887 ist das Geburtsjahr der Schallplatte!); durch die phonetisch-graphisch genau fixierten lautlichen und rhythmischen Mittel des subliterarischen, immer wieder ins Untersprachliche absinkenden Alltagsidioms. Dieses spontane Idiom wird sarkastisch kontrastiert mit der ›aufgesetzten‹ Hochsprache, den permanenten Shakespeare-Zitaten und Bildungs-Leerformen des verkrachten Schauspielers, dessen drastisch geschilderte Lebensmisere jenes Kulturpathos Lügen straft. Auch dies dient der Provokation des ›gebildeten‹ Lesers. Die Entlarvung einer hohl gewordenen Bildungswelt durch die Kontrastierung verschiedener Sprachebenen (einer literarisch-aufgesetzten und einer kreatürlich-spontanen) weist sowohl auf Büchner zurück (in Dantons Tod z. B. sucht der Souffleur Simon ebenfalls durch ständige Schauspielzitate seine Misere zu kaschieren) wie auf Gerhart Hauptmanns Ratten voraus. Die brutale Triebnatur Thienwiebels, seine Unfähigkeit zu zwischenmenschlichen Beziehungen tritt am Ende – bevor er sein eigenes Kind erwürgt – um so erschreckender hervor, als er nun die Stilmaske abwirft, hinter der sich seine autistische Natur bisher verborgen hielt. Der ›konsequente Naturalismus‹ zielt auf die Illusion der Unmittelbarkeit, sucht das Geschehen mit den Augen der dargestellten Personen selbst zu sehen. Dem steht ein ›vermittelnder‹, auktorialer Erzähler im Wege. Holz und Schlaf haben diesen aus ihren Prosastudien verbannt. Am radikalsten geschieht das in der »Berliner Studie« Die papierne Passion (1890), die bezeichnenderweise die Grenze zum Drama hin überschreitet. Der Erzähltext wird zur kleingedruckten Regieanweisung; die wörtlichen Reden sind im normalen Schriftgrad wiedergegeben, die Erzählung, wenn man von einer solchen bei diesem epischdramatischen Zwitter überhaupt noch reden kann, beschränkt sich auf die Vergegenwärtigung eines einzigen Schauplatzes: »eine kleine Berliner Küche« in einer Mietskaserne. Was außerhalb dieses Schauplatzes, gleichsam ›hinter der Szene‹ passiert, wird dem Leser ausschließlich als etwas aus der Ferne Vernommenes präsentiert: er hört es gewissermaßen mit den Ohren der in der Küche anwesenden Personen, aus der gleichen räumlichen Distanz wie sie. Was auf der ›verdeckten Szene‹ sich abspielt, erscheint ebenfalls kleingedruckt, die wörtlichen Reden sind allerdings kursiv gesetzt. Durch diese typographische Anordnung, um nicht zu sagen Hierarchie der drei Schriftgrade werden eindeutige poetische Prioritäten gesetzt. Die eigentliche Handlung – eine Familienkatastrophe in den Weihnachtstagen – wird in den Hintergrund verdrängt, der epische Schwerpunkt liegt im rein zuständlichen Vordergrundgeschehen. Der Erzähler wird zum Experimentator, der gleichsam mit der Uhr in der Hand (Kongruenz von Erzählzeit und erzählter Zeit) ein Versuchsfeld absteckt – die Küche –, in dem nun ohne jede Raffung buchstäblich alles Vorfallende und sinnlich (d. h. akustisch, visuell, haptisch – ja selbst durch Geschmack und Geruch) Wahrnehmbare, jeder Laut, Seufzer, mimische Sprechansatz, also die physiologischen Begleiterscheinungen des Redens registriert werden, ohne daß dies alles auf einen pragmatischen oder symbolischen Gesichtspunkt hin geordnet scheint. Das Unvermittelte des Anfangs wie des Endes der »Studie« zeigt, daß der Experimentator scheinbar ein beliebiges Stück aus der Wirklichkeit herausgeschnitten hat. Lediglich der Titel gibt der belanglosen Situation einen ›Gehalt‹, einen intellektuellen Schwerpunkt. Die aus Papierschnitzeln zusammengelegte Kreuzigungsgruppe dokumentiert ein ›papieren‹ gewordenes Christentum, dessen Grundwahrheiten und tatsachen nicht mehr existentiell erfahren, auf die eigene Misere bezogen, sondern als sinnentleerte kulturelle Versatzstücke indifferent hin- und [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2204 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 198 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] hergeschoben werden. Die papierne Passion stellt einen Gattungsgrenzfall, eine Vorstudie zur Familie Selicke dar, nicht nur inhaltlich, sondern auch formal; sie ist der Schritt von der Erzählung zum Drama. Mit der Verdrängung des Erzählers öffnet sich zugleich die Bühne, auf welcher der Autor im Sinne Ibsens »absolut abwesend« ist. Im Drama ist der Subjektivitätsfaktor x für Holz fast gleich Null. Aufgrund der hier gegebenen »Reproduktionsbedingungen« ist der naturalistische Idealfall Kunst = Natur am nächsten gerückt, während der epische ›Erzähler‹ ein nie zu liquidierender Subtrahend vom Minuenden Natur bleibt. »Die Sprache des Theaters ist die Sprache des Lebens. Nur des Lebens!« hat Holz später im Vorwort seiner Komödie Sozialaristokraten apodiktisch konstatiert. Es gelte, an die Stelle des »posierten Lebens« das »wirkliche« zu setzen und »aus dem Theater allmählich das ›Theater‹ zu drängen«. In dieser sprachlichen Hinsicht sei auch Ibsen noch nicht radikal genug gewesen. An die Stelle der artikulierten dramatischen »Diktion« tritt bei Holz und Schlaf der physische Akt des Sprechens, an die der fertigen Rede das ansetzende und wieder verstummende, gehemmte, stammelnde, abbrechende, in bloßen Lauten erstickende Sprechen. Die Überlagerung der fertigen Rede durch ihre Mimik verschiebt die traditionellen Proportionen zwischen Dialog und Regieanweisung, welch letzere das gesprochene Wort oft in den Hintergrund drängt. Dadurch wird eine psychologische Personen- und Dialogführung von bisher kaum erreichter Subtilität ermöglicht. Die grammatisch und ästhetisch beschädigte Sprache ist weniger Medium der Kommunikation als unwillkürlich-einsamer Ausdruck, dokumentiert mehr die Entfremdung der Menschen voneinander, ihr wechselseitiges Mißverstehen (»Ach nein! So meinte ich's nicht! . . . Ach!«), als daß sie eine Brücke der Verständigung schlägt. Wie Die papierne Passion beschränkt sich Die Familie Selicke auf das ›Beobachtungsfeld‹ eines einzigen Schauplatzes: »Das Wohnzimmer der Familie Selicke«. Die Einheit der Zeit ist wie die des Ortes gewahrt: das Stück spielt – und diese Tatsache wird als symbolischer Kontrast zu der Misere der gestörten und entfremdeten familiären Beziehungen noch deutlicher thematisiert als in jener dialogischen Vorstudie – in der Heiligen Nacht (vom frühen Abend bis zum nächsten Morgen). Innerhalb der einzelnen Aufzüge herrscht eine Kongruenz zwischen Spielzeit und gespielter Zeit, die buchstäblich mit der Uhr überwacht wird: an der Wand tickt und schlägt ein Regulator. Die Personen der Handlung reden in regelmäßigen Abständen von der Uhrzeit. Daß innerhalb des beschränkten räumlichzeitlichen Rahmens auch die Einheit der Handlung gewahrt ist, versteht sich von von selbst. Von ›Handlung‹ im eigentlichen Sinne kann freilich kaum die Rede sein – nur der Tod des jüngsten Kindes stellt ein ›dramatisches‹ Moment dar; die Zustandsschilderung steht auch hier im Vordergrund. Die Wahrung der drei Einheiten verbindet das naturalistische mit seinem ästhetischen Gegenpol: dem klassizistischen Drama. Es ist bemerkenswert, daß Schiller in der eingangs zitierten Vorrede zur Braut von Messina der tragédie classique die Raum-ZeitEinheit als ›naturalistische‹ Inkonsequenz vorgeworfen hat. Während alle sonstigen Elemente des Theaters »symbolisch« und »ideal« seien (z. B. die metrische Sprache!), verlange man in bezug auf Raum und Zeit die »Ilusion« der Realität. »So haben die Franzosen [. . .] eine Einheit des Orts und der Zeit nach dem gemeinsten empirischen Sinn« – nach der Uhrzeit – »auf der Schaubühne eingeführt, als ob hier ein anderer Ort wäre als der bloß ideale Raum und eine andere Zeit als bloß die stetige Folge der Handlung.« Von den ästhetischen Prämissen des naturalistischen Dramas her ist die Wahrung der ›Einheiten‹ freilich konsequent – der ›empirische Sinn‹ hat ja hier das letzte Wort. Wie in allen naturalistischen Dramen ist der Schauplatz des Geschehens detailliert beschrieben, um das Milieu zu kennzeichnen, das die Personen, ihre Gesinnungen und Aktionen determiniert. Die Einheit des Schauplatzes signalisiert die Milieubefangenheit der Personen. Frau Selickes Seufzer »Ach Gott ja!«, mit dem das Drama – ebenso unvermittelt wie die Prosastudien – beginnt, drückt die resignative Stimmung des Stücks aus. Frau Selicke ist wie Frau Thienwiebel alles »egal«. Die Menschen sind Gefangene ihrer selbst (Redensarten wie »Ich kann mich nicht überwinden« und »Der wird nie anders!« wiederholen sich). Ihre Entfremdung voneinander, in deren Dunkel die immer wieder ausgesendeten Signale der Zuwendung, der Liebe, des Leidens an der Vereinsamung ungesehen verlöschen, ist trotz der Fixierung des Milieus im Grunde rein psychologisch-existentiell motiviert. Ihre soziale Genese wird nur am Rande angedeutet, in der Gestalt etwa des Quacksalbers und verkrachten Handwerkers Kopelke, dem durch die Fabriken die Existenzmöglichkeit genommen ist (das Meister Timpe-Schicksal), oder in der Tatsache, daß die Familie vom Land in die Großstadt gezogen ist: erst mit diesem Umzug in die städtische Welt des ›Kampfes ums Dasein‹, in dem die Menschen wie Tiere »gegeneinander kämpfen, sich blindlings zur Geltung bringen bis zu gegenseitigen Vernichtung«, ist die Integrität der Familie, das wechselseitige Vertrauen zerstört worden. Es ist bemerkenswert, daß bei Holz hier wie oft die ›frühkapitalistische‹ Darwinsche Selektionstheorie, ja die moderne, für die Zolasche Doktrin so wesentliche Auffassung des Menschen als »Maschine« (in den Äußerungen Wendts im 1. Aufzug) durchaus negativ besetzt sind, daß ihnen ein idealistischsentimentales humanes Ideal positiv entgegengesetzt wird. Heimweh und Sehnsucht nach dem Lande – mit letzterer aber die Hoffnung »Es wird und muß jetzt alles besser werden!« – durchziehen leitmotivisch das ganze Stück, ohne daß doch die wiederholt beschriebene ländliche Idylle, »abgeschlossen von der Welt«, zur realen Lebensmöglichkeit wird. Diese wehmütig-entschlossene Abwehr des Eskapismus verbürgt die ästhetische Glaubwürdigkeit dieses zweifellos unterschätzten Dramas. Jene Abwehr kommt im »Opfer« Toni Selickes zu bewegendem Ausdruck, in dem Entschluß, bei ihrer Familie zu bleiben und die in der Gestalt Wendts namenssymbolisch verkörperte Möglichkeit einer ›Wendung‹ ihres Lebens (Frau eines Landpfarrers zu werden) auszuschlagen – wenn auch im Schlußwort des Stücks, in Wendts »Ich komme wieder« angedeutet wird, daß diese Möglichkeit sich später doch noch einmal ergeben könnte. Dieses leise Hoffnungszeichen hebt in Verbindung mit Tonis altruistischer Entscheidung, welche den Kampf-ums-Dasein-Egoismus überwindet, das Drama über den naturalistischen Defätismus hinaus, legt über die Trauer des Schlusses einen leichten utopischen Schimmer. »Die Familie Selicke schuf die Sprache des deutschen Theaters für die nächsten fünfzehn Jahre«, schrieb Hermann Bahr; »von Holz stammt das Schema des naturalistischen Dramas in in Deutschland«. Daß hier »eigentlichstes Neuland« betreten worden war, erkannte Fontane in seiner Rezension der Uraufführung in der »Freien Bühne« sofort. Er vergleicht das Gemeinschaftswerk von Holz und Schlaf mit dem ein Jahr zuvor uraufgeführten Stück Vor Sonnenaufgang von Hauptmann, das seine stilistischen Innovationen zugegebenermaßen ja ebenfalls Arno Holz verdankt, und stellt völlig zurecht fest, daß dort nur in stofflicher Hinsicht, nicht aber nach »Kunstart, Richtung und Technik« (Fontane hebt zumal die bisher noch nie erreichte atmosphärische Präzision des Dialektgebrauchs hervor) ein »neues Stück« vorliegt. Davon könne erst bei Holz und Schlaf die Rede sein, und Fontane äußert die Vermutung, daß »diesen Stücken, ›die keine Stücke sind‹«, d. h. mit ihren epischzuständlichen Zügen aus der traditionellen Dramaturgie herausfallen, »doch die Zukunft gehören« werde. Fontane hat freilich auch die künstlerischen Grenzen dieses Dramas hervorgehoben, zumal das allzu Partikuläre, die fehlende Notwendigkeit der geschilderten Zustände. Ironisch macht er darauf aufmerksam, daß wesentliche Bestandteile der geschilderten Misere, die Mucken und Malaisen der Personen sich relativ leicht kurieren ließen, so daß sich das Stück optimistisch fortschreiben ließe. Hier legt er den Finger auf die fehlende soziale Motivation des geschilderten Verfalls der Familie. Durch diesen Mangel scheint sich Die Familie Selicke nachteilig von Hauptmanns frühen sozialen Dramen zu unterscheiden, die Fontane ebenfalls rezensiert hat. Im gleichen Jahr wie die Neuen Gleise und Hauptmanns Weber (1892) ist ein selbständiges Drama von Johannes Schlaf erschienen, in dem er sich die zweifellos von Arno Holz stammenden dramaturgischen Innovationen mit einer künstlerischen Sicherheit zu eigen macht, welche die späteren gehässigen Ausfälle von Holz gegen den angeblich subalternen Stofflieferanten Schlaf (wie er ihn in der Gestalt Musmanns in seinem Drama Sonnenfinsternis bösartig karikiert hat) Lügen straft: Meister Oelze. Noch der zum Klassizisten ›geläuterte‹ Paul Ernst hat eine Generation später dieses Werk, das sich auf keiner Bühne gehalten hat und vollständig in den Schatten der Hauptmannschen Dramatik geraten ist, die »wertvollste Dichtung des ganzen naturalistischen Kreises« genannt. Man wird heute dieses Urteil nicht mehr als ganz abwegig verwerfen können. Das stofflich und dramaturgisch von Zolas Thérese Raquin (1878) und der analytischen Gesellschaftsdramatik Ibsens inspirierte Schauspiel kreist um einen zwanzig Jahre zu [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2211 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 201 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] rückliegenden Mord. Der Tischlermeister Oelze hat zusammen mit seiner Mutter seinen Stiefvater vergiftet, um dessen Tochter Pauline um ihr Erbe zu bringen. Diese kommt ins Haus des sterbenden Oelze, um ihn zum Geständnis des geahnten Mords zu veranlassen. Es geht hier freilich kaum um eine ›tragische Analysis‹ nach altem oder neuem (sozialdramatischem) Muster, sondern um einen psychologischen Prozeß von großer Subtilität. Pauline, gänzlich verelendet, sucht ihrem verlorenen Leben nachträglich einen metaphysischen Sinn zu geben; das Geständnis des Bruders soll die göttliche Gerechtigkeit, das heißt aber nur: sie selber als deren Vollstreckerin und ›Rächerin‹ triumphieren lassen. Das ganze Drama stellt, nahezu handlungslos, nichts anderes dar als den seelischen Agon der Geschwister um das Mordgeheimnis, um dessen Wahrung (das wäre Oelzes Sieg) oder Preisgabe (das wäre der Triumph und die Selbstbestätigung Paulines). Um diesen Agon gruppieren sich die anderen psychologisch scharf gezeichneten Gestalten des Dramas, die magisch symbolisierte Natur und Dingwelt sowie die aus dem Aberglauben der Personen genährten mythischen Elemente und Anspielungen auf die antike Tragödie. Die Seelenquälerei Paulines und der Sterbenskampf des Tischlermeisters, die trotz seiner Angst und seines Hasses aus Schuldgefühl gesuchte Nähe der Schwester, ferner die abstoßend exakte Schilderung der Agonie Oelzes, der sich im Angesicht des Todes immer wieder bis an den Rand des Geständnisses gedrängt fühlt, sein endlicher ›Sieg‹ und der nur noch mimisch vergegenwärtigte innere Zusammenbruch Paulines: das Zerschellen der von ihr egozentrischkrampfhaft umklammerten Idee einer ›Theodizee‹ – alles das ist von faszinierender thematischer Neuheit, die alles bloß ›Naturalistische‹ weit hinter sich läßt. Die Konzeption eines Schauspiels mit gewissermaßen ›stehender‹ Handlung weist zudem weit in die Zukunft des Dramas, ja ist wohl nur von dieser Zukunft her angemessen zu würdigen. Arno Holz hat im Gegensatz zu seiner immer maßloser werdenden Selbsteinschätzung kein einziges Drama vom Rang des Meister Oelze geschaffen, wenn es ihm auch gelungen ist, mit seiner Schultragödie Traumulus (1905) ein echtes Erfolgsstück zu schreiben (in Zusammenarbeit mit Oskar Jerschke). Aus seiner späteren Dramenproduktion ragen die Komödie Sozialaristokraten (1896), von der schon die Rede war, sowie die Tragödien Sonnenfinsternis (1908) und Ignorabimus (1913) heraus- die einzigen abgeschlossenen Stücke eines geplanten Zyklus mit dem Titel Berlin. Das Ende einer Zeit in Dramen. Der Versuch einer dramatischen Universalansicht seiner Zeit hat Holz' künstlerische Möglichkeiten bei weitem überstiegen. Höchstens einige Szenen seiner Sozialaristokraten weisen über psychologisch-milieukritische Partikularitäten hinaus in die Nähe des versprochenen Totalbildes einer Zeitenwende. Holz konnte seine eigentliche Kunst – die Kunst des facettierten Augenblicks – nur in den Grenzen der kleinen Form entfalten: in der Prosastudie, in der dramatischen Einzelszene – und vor allem im Gedicht. Als Lyriker hat Holz angefangen, und Lyriker ist er in erster Linie geblieben. Darin liegt die Besonderheit seines ›Naturalismus‹ im Vergleich mit dem Zolas. Es war bereits davon die Rede, daß Hermann Bahrs Aufruf zur »Überwindung des Naturalismus« – da man die ewigen états de choses satt habe und nun nach états d'âme verlange – den Holzschen Naturalismus schwerlich trifft. Holz hat niemals die ›Seelenstände‹ den ›Sachenständen‹ aufgeopfert! Bereits sein Buch der Zeit enthält einen lyrischen Zyklus mit der Titelgestalt des Phantasus, der später seinem immer wieder erweiterten lyrischen Hauptwerk (Erstfassung 1898/99) den Namen geben wird. Holz selber hat jenen Zyklus charakterisiert als »die états d'âme eines jungen Poeten in Liedern, der an der Trivialität seines Milieus zugrunde geht, hoch oben in Berlin N. in irgendeiner Dachstube«. Phantasus wird in Ovids Metamorphosen als Sohn des Schlafdämons Morpheus beschrieben, der durch das Vermögen, sich in alle Dinge zu verwandeln, das nächtliche Gaukelspiel der Träume schafft. Holz hat in dieser mythischen Gestalt zeitlebens sein Existenzsymbol gesehen. Im Buch der Zeit ist Phantasus der hungrige Poet in der Dachstube einer Mietskaserne, der sich aus Elend und Enge einer trostlosen Realität in eine phantastische Traumwelt flüchtet, welche ihn in einer Klimax von Metamorphosen endlich zum Gott werden läßt – bis ihn die aufgehende Sonne aus seinem Traumflug jäh in die tödliche Misere zurückstürzt. Daß Holz in der Zeit der Zusammenarbeit mit Johannes Schlaf ›konsequenter Naturalist‹ gewesen sei und sich dann auf das Feld lyrischer Subjektivität zurückgezogen habe, ist eine unzulässige Vereinfachung. 1891 schon hat Holz das Gedicht Nacht veröffentlicht, das im Jahr der Neuen Gleise in die zweite Auflage des Buchs der Zeit aufgenommen und später den Phantasus eröffnen wird. In diesem Gedicht steigt die ihrer Flügel – des Symbols der freischwebenden Phantasie – beraubte Poesie aus dem Grab auf, in das eine prosaische Zeit sie gestoßen hat. Nur noch des Nachts darf sie wagen, den Sarg zu verlassen – zu heimlichem Zwiegespräch mit Phantasus. Die Situation des mittelalterlichen Tagelieds – das Morgengrauen zwingt zur Trennung nach unerlaubter Liebesnacht – wird zur Chiffre der nach den Wertmaßstäben der beruflichen Tageswelt illegitimen Liebe zur Poesie. Schon der Romantiker Ludwig Tieck hat in seinem Gedicht Die Phantasie die Antinomie zwischen der poetischen Nacht- und Traumwelt und dem prosaischen »Tagesgeschäft« an der Gestalt des Phantasus verdeutlicht. (Dessen Namen hat auch Tieck einer Sammlung eigener Dichtungen vorangestellt.) In den hundert Gedichten des Ur-Phantasus von Holz ist der Titelheld immer noch der Herr über ein mythisch-kosmisches Traumreich, der sich – ein weit verbreitetes Motiv in der Literatur der Jahrhundertwende – proteisch in heterogenste Existenzformen verwandelt. Das reale gesellschaftliche Dasein dieses Demiurgen einer Welt des Verwandlungszaubers, die Alltagsmisere, gegen die sich der Autor des Buchs der Zeit noch mit dem Pathos sozialer Anklage gewandt hatte, sie scheinen nun freilich magisch aufgelöst durch die Macht der Phantasie. Im Phantasus hat Holz ein neues – visuelles – Ordnungsprinzip der Lyrik eingeführt: die Formierung der Gedichtzeilen um die Mittelachse. Sie soll an die Stelle der alten Ordnungsprinzipien Metrum, Strophe und Reim treten, die als »geheimer Leierkasten« die Aussagevielfalt beschränken, wie Holz in seiner Revolution der Lyrik (1899) schreibt. Der generelle ›Fortschritt‹ des Naturalismus gilt auch auf dem Gebiet der Lyrik: »Die alte Form nagelte die Welt an einer bestimmten Stelle mit Brettern zu, die neue reißt den Zaun nieder und zeigt, daß die Welt auch noch hinter diese Bretter reicht.« Wie der Reim sind auch Strophe und festes Metrum bloße Akzessorien der Lyrik, abgewirtschaftete »Systeme«, die zu reduzieren sind auf das ewige Urelement des Lyrischen: den Rhythmus. Dieser ist in jenen konventionellen Systemen verabsolutiert worden zu »einer gewissen Musik durch Worte als Selbstzweck«. Diese Autonomie des Rhythmus gibt Holz zugunsten seiner Semantisierung preis: die Lyrik soll von einem Rhythmus getragen werden, »der nur noch durch das lebt, was durch ihn zum Ausdruck ringt«. In dieser Hinsicht hat Holz einen bedeutenden Vorläufer: Richard Wagner, der in seinen theoretischen Schriften ebenfalls den semantisierten poetischmusikalischen Rhythmus gegen seine automatisierten und autonomisierten Schemata (in diesem Zusammenhang steht auch seine Polemik gegen den Endreim!) ausgespielt hat. Einmal hat Holz diese Schemata freilich selbst – und zwar mit einer artistischen Virtuosität, die ihresgleichen sucht – verwendet, in Des berühmbten Schäffers Dafnis [. . .] Freß-Sauffund Venus-Liedern (1904), in denen er – auch dies ein Zeugnis seiner proteischen Verwandlungsgabe – ins Kostüm des barocken Lyrikers schlüpft und paradoxerweise in der historischen Rückverwandlung Reim, Strophe wie Metrum ihre einstige, erst durch die epigonale Repetition verlorene Spontaneität zurückerobert. Holz' Rhythmustheorie folgt konsequent aus seiner naturalistischen Kunstformel. Auch hier geht es um die Aufhebung des Dualismus von Kunst und Natur, um die Identität von Aussageform und Aussageinhalt, um die von allen schematisierten Zwängen befreite Selbstdarstellung der ›Natur‹ durch das Urelement des Rhythmus, der »jedesmal neu aus dem Inhalt« hervorgeht. Das Bestreben, alle Vorstellungsnuancen eine Phänomens mit minuziöser Genauigkeit zu artikulieren, erklärt die monströse Ausdehnung des Phantasus von Fassung zu Fassung (1916, 1925, 1961/62). In den Kaskaden aus abenteuerlich überfrachteten Wortzusammensetzungen, wie sie das in der Nachlaßfassung schließlich zu drei Bänden mit 1585 Seiten angewachsene, von den Zeitgenossen als »Elephantasus« verspottete »RiesenPhantasus-Nonplusultra- Poem« (so ohne Ironie Holz selber) zunehmend prägen, entartet die Suche nach phänomenologischer Präzision zu manischer Obsession und schlägt endlich um in jene Autonomie des Worts, welche durch diese Präzision doch eigentlich liquidiert werden sollte. Von »abenteuerlich gestopften Wortwürsten« hat Holz in der Revolution der Lyrik in bezug auf George gesprochen. Weit eher trifft diese Metapher auf seine eigene Sprache in den letzten Fassungen seines Hauptwerks zu. Nicht nur ästhetisch-formal, sondern auch von [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2218 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 204 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] ihren ›naturwissenschaftlichen‹ Prämissen her steht die Phantasus-Dichtung mit dem Naturalismus in Verbindung, sucht sie doch poetisch das biogenetische Grundgesetz Ernst Haeckels zu beglaubigen, demzufolge in der Entwicklung des Individuums von der Eizelle zum geschlechtsreifen Zustand (Ontogenese) die gesamte Menschheitsgeschichte (Phylogenese) wiederholt wird. »Sieben Billionen vor meiner Geburt / war ich eine Schwertlilie.« So lauten die ersten Zeilen des zweiten Phantasus-Hefts, 1899. Und: »Wie ich vor meiner Geburt die ganze physische Entwicklung meiner Spezies durchgemacht habe [. . .] so seit meiner Geburt ihre psychische. Ich war ›alles‹ und die Relikte davon liegen ebenso zahlreich wie kunterbunt in mir aufgespeichert.« Das sei das »Geheimnis« der »Phantasuskomposition«, schreibt Holz in seinem Brief an K. H. Strobl vom 25. Juni 1900. Da ›alles‹ in ihm liegt, glaubt er, im Phantasus werde das Ich zum Spiegel des Universums. Mit seinem lyrischen Zyklus wähnt er das moderne »Weltgedicht« geschaffen zu haben, die Ilias oder Divina Commedia des »naturwissenschaftlichen Zeitalters« (auch dem literarischen Rang nach). Ein solches Totalbild der Welt ist nach seiner Überzeugung eben nur noch in der lyrischen Gattung möglich. Die anonym und unüberschaubar gewordenen großen Zusammenhänge des Lebens lassen sich nicht mehr in den »Rahmen irgendeiner ›Fabel‹ oder ›Handlung‹ spannen [. . .] Was zu einem Weltbilde heute ›gehört‹, ist in seinen einzelnen Bestandteilen zu weit auseinanderliegend, in seinen Elementen zu buntwimmelnd kaleidoskopisch, als daß auch die komplizierteste, raffinierteste ›Legende‹ imstande wäre, für einen solchen ›Inhalt‹ den dazu nötigen Untergrund zu schaffen!« (Die für Holz typische Gänsefüßchenmanier dokumentiert seine Sprachskepsis, das verlorene Vertrauen auf die Wörter, deren Sinn er durch Anführungsstriche also relativiert oder gänzlich in Frage stellt.) Die »Welt« läßt sich nur noch gestalten, so argumentiert Holz mit einem neuplatonisch-mystischen Bild, »wenn es mir gelingt, den Abglanz zu spiegeln, den sie mir in die ›Seele‹ geworfen!« Es ist ihm freilich nicht bewußt geworden, daß das Ich des Phantasus immer weniger Spiegel einer Welt, die Welt vielmehr bloßer Spiegel des Ich wird, der eben nur das reflektiert, was dieses Ich betrifft. Nicht einmal der Weltkrieg hat Eingang in dieses ›Weltgedicht‹ gefunden! Die Phantasus-Welt wird zum Ausdruck einer immer maßloser werdenden Ichbesessenheit. Holz hat in seinem Hauptwerk, alle kritischen Maßstäbe verlierend, schließlich die Krönung der gesamten Literaturgeschichte gesehen. Über sie hält er virtuos und mit teilweise grandiosem satirischem Witz Gericht in dem (wie der Phantasus seit der Erstauflage von 1902 immer mehr anschwellenden) lyrisch-dramatischen Monumentalwerk Die Blechschmiede (Neufassungen 1924 und, post., 1963/64), das enzyklopädisch-parodistisch das ganze Stilrepertoire der Zeit zu erfassen strebt und auch die politische Satire streift. Daß Holz hier wie im Phantasus wesentliche Strukturelemente der modernen Lyrik vorweggenommen hat (Collage- Technik, poeme trouvé, visuelles Arrangement der Wörter u. a.), ja, daß er einer der entscheidenden Wegbereiter der Literatur des 20. Jahrhunderts geworden ist, das ist von Alfred Döblin bis Helmut Heißenbüttel (der ihn »Vater Arno Holz« genannt hat) immer wieder nachgewiesen worden. Den Ruhm seiner Experimente und Neuerungen haben freilich andere geerntet – als erster Hauptmann, der später gern verschleiert hat, wie viel er Holz verdankt. Das naturalistische Drama. Hauptmann und Wedekind Die Rolle Hauptmanns innerhalb der Geschichte des Naturalismus ist bis heute umstritten. Für die Majorität der Literarhistoriker ist er schon in seinem Frühwerk mehr der Überwinder des Naturalismus als dessen Repräsentant. Man folgt gern der Bekundung des späten Hauptmann, er habe niemals daran geglaubt, ein Naturalist zu sein. Eine Minderheit von Wissenschaftlern oder Holz-Apologeten anderseits läßt keinen Zweifel daran, daß Hauptmann seine Mittel als Dramatiker weitgehend Arno Holz verdankt. Diese Position, welche sich nicht selten mit dem Ressentiment des letzteren gegenüber dem erfolgreichen ›Schüler‹ deckt, ist freilich ebenso einseitig wie die zuvor skizzierte herrschende Meinung. Hauptmann hat der Idee radikaler Mimesis von Anfang an mit Skepsis gegenübergestanden – wie freilich manch anderer ›Naturalist‹ auch. Von Holz' berühmtem Kunstgesetz hat er gesagt, damit könne man allenfalls Schuhmacher ausbilden. In den – allerdings noch kurz vor seinen ersten naturalistischen Versuchen entstandenen – Gedanken über das Bemalen von Statuen (1887) bemerkt er, nicht die »bloße Nachahmung« sei der »Zweck der Kunst« – sie bleibe bloßes »Produkt der Kunstfertigkeit«, zum ästhetischen Grundsatz verabsolutiert, werde sie zur »Lüge«, da die Wirklichkeit durch Nachahmung doch nie erreichbar sei –, sondern jener Zweck liege im »Ausdruck der innersten, zum Typus erhobenen Wesenheit des dargestellten Gegenstandes«. Auf der anderen Seite ist nicht zu verkennen, daß Hauptmann erst durch die Begegnung mit dem ›konsequenten Naturalismus‹ als Dramatiker die Zunge gelöst worden ist. In Papa Hamlet ist er nun einer radikal anderen Möglichkeit der Epik und – in ihr verankert und automatisch aus ihr herauswachsend – einer neuen Gestalt der Dramatik begegnet: einer nicht mehr nur episch-deskriptiven, sondern mimisch-dialogischen Spielart konsequenter Wirklichkeitserfassung. Wie unvertraut Hauptmann diese Spielart anfänglich gewesen ist, zeigt sich an der im Vergleich mit den Versuchen von Holz und Schlaf noch recht unsicheren Verwendung sprachmimischer Mittel in den ersten naturalistischen Dramen Vor Sonnenaufgang (1889) und Das Friedensfest (1890). In letzterem Drama wird das stammelnd-stotternde Sprechen – typographisch ausgedrückt in den zahllosen Gedankenstrichen und Pünktchen – und der rein mimische, durch bloße Regieanweisungen bezeichnete ›Dialog‹ bis zur Grenze der Lesbarkeit überspitzt. Der bloß experimentelle Charakter einer solchen Dialog- und Szenenführung, den man im allgemeinen nur Hauptmanns ›Vorläufern‹ Holz und Schlaf zum Vorwurf macht, drängt sich hier weit mehr als bei ihnen auf. Erst seit dem Drama Die Weber (1892) hat Hauptmann jene Sicherheit in der atmosphärisch-psychologischen Erfassung der Sprachgestik gewonnen, die seine bedeutendsten Werke auszeichnet. Der Epiker Hauptmann, der in Bahnwärter Thiel schon als Meister hervorgetreten ist, zeigt sich in seinem Drama von 1889/90 noch als purer Anfänger. Seine genuin epische Begabung offenbart sich hier noch in den zu selbständigen Erzähltexten anwachsenden Bühnenanweisungen, die mit ihren detaillierten Charakteristiken weit über die dramaturgische Funktion hinausgehen. Das Friedensfest, knapp zwei Monate nach der Familie Selicke und wie diese in der »Freien Bühne« uraufgeführt, ist Holz/Schlafs Musterdrama auch stofflich nahe verwandt. In beiden Fällen geht es um »Eine Familienkatastrophe« – so der Untertitel des Hauptmannschen Dramas – am Heiligen Abend. Die desolaten Zustände in einer bürgerlichen Familie werden noch offener als bei Holz und Schlaf mit dem »Friedensfest« kontrastiert. Hauptmanns Familiendramen, deren bedeutendstes Rose Bernd(1903) sein wird, weisen zurück auf die Entlarvung der – zumal durch das bürgerliche Rührstück bis weit ins 19. Jahrhundert verbreiteten – empfindsamen Familienideologie in Hebbels Maria Magdalena (vgl. Bd. I/1, S. 124). Im 2. Akt des Friedensfests ereignet sich eine Vergebungs- und Versöhnungsszene, die naturalistisch anverwandelter Kotzebue sein könnte und auf die Rührung des Publikums angesichts solcher Vergebungsszenen zielt (es sei nur auf die Schlußszenen in Kotzebues Menschenhaß und Reue oder noch in Wilhelm Kienzls sentimentaler Erfolgsoper Der Evangelimann, 1895, verwiesen), um dann aber die erreichte Harmonie gänzlich zu desillusionieren, in ihr Gegenteil umschlagen zu lassen: ein aggressiver Verstoß gegen die sentimentale Publikumserwartung und die Situationsklischees der Erfolgsdramatik. Neben der Familie Selicke haben vor allem die analytischen Dramen Ibsens die Konzeption des Friedensfests beeinflußt. Auch hier geht es um eine der Handlung vorausliegende Tat – sechs Jahre zuvor hat Wilhelm seinen Vater ins Gesicht geschlagen –, die das gegenwärtige Geschehen als »Fluch« überschattet. »Ein Drama, das nicht vom ersten bis zum letzten Wort Exposition ist«, so hat Hauptmann einmal notiert, »besitzt nicht die letzte Lebendigkeit.« In diesem Sinne wird die Hypothek der Vergangenheit im ganzen Stück analytisch aufgearbeitet, als unausweichliche Lage der Familie, als Gefangenschaft ihrer Mitglieder in Zeit und Herkunft verdeutlicht. Das ›Fatum‹ der antiken Tragödie, das im Urmodell des analytischen Dramas, dem Sophokleischen König Ödipus, die Handlung präformiert, wird durch den »heimlichen Fluch oder Segen« abgelöst, welcher nach Hauptmann in jeder Familie liegt: »Die Familie ist das moderne Schicksal.« Anders als bei Holz und Schlaf werden auch geschichtlich-soziale Determinanten benannt, die der familiären Situation über die singulären psychologisch-existenziellen Hintergründe hinaus gesellschaftliche Repräsentanz verleihen. »Vater und du«, so sagt Robert zu seinem gehaßten Bruder Wilhelm, »ihr seid diesselben Idealisten. Anno 1848 hat Vater auf den Barrikaden angefangen, [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2225 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 207 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] und als einsamer Hypochonder macht er den Schluß.« Der Rückzug des Bürgers vom – enttäuschten – politischen Idealismus in eine häusliche Privatsphäre, welche freilich nicht mehr, wie einst die ›heilige Familie‹ des empfindsamen bürgerlichen Dramas und der Dichtung des Biedermeier, mit der depravierten ›großen Welt‹ kontrastiert wird, sondern sich als Hölle offenbart! Dem Friedensfest wäre die Widmung an die Autoren des Papa Hamlet stofflich und dramaturgisch angemessener gewesen als dem »sozialen Drama« Vor Sonnenaufgang, das als solches die Dimensionen des Holz/Schlafschen Experiments stofflich sprengt. Hier wird die durch den Kohlebergbau zu plötzlichem Reichtum gelangte, aber völlig demoralisierte und durch Alkoholismus ruinierte bäuerliche Familie Krause mit dem sozialdemokratischen Journalisten Loth konfrontiert, der die sozialen Verhältnisse in den Bergwerken studieren will und eine Tochter des Bauerngutsbesitzers zu heiraten gedenkt. Die familiären und gesellschaftlichen Verhältnisse werden von Hauptmann hier noch recht klischeehaft geschildert. Nicht ganz zu Unrecht spricht Conrad Alberti, der 1890 in seiner »naturalistischen Spitalkatastrophe« Im Suff! die von der »Freien Bühne« aufgeführten Dramen parodiert hat, vom »Sekundaner-Standpunkt« des Hauptmannschen Sozialdramas (Die Freie Bühne, in: »Die Gesellschaft«, 1890). Im Gegensatz zur naturalistischen Forderung, Charaktere erst im Verlauf der Handlung ›induktiv‹ zu entwickeln, wird meist schon in der ersten Regieanweisung an der moralischen Haltung der handelnden Personen kein Zweifel gelassen. Die Sozialkritik des Stücks wird durch die charakterliche Fragwürdigkeit des sozialistischen Weltverbesseres und »Abstinenzfanatikers« (Fontane) weitgehend neutralisiert. Loth ist ein kümmerlicher Epigone von Büchners Robespierre, der in seinem ideologisch fixierten »Kampf um das Glück aller« den leidenden Einzelmenschen aus dem Auge verliert; aufgrund der ›idée fixe‹ genetischer Hygiene läßt er die geliebte Helene fallen und treibt diese so in den Selbstmord. Seine vor dem empörenden gesellschaftlichen Hintergrund anscheinend so berechtigten sozialen Forderungen geraten vom Schluß des Dramas her und auch in Verbindung mit seinen (für die Sozialdemokratie nicht untypischen!) ästhetischen Ideen – Zola und Ibsen sind für ihn keine »Dichter«, sondern eine notwendige »Medizin«, welcher er als gesunder Mensch freilich den »erfrischenden Trunk« eines Buchs wie Der Kampf um Rom von Felix Dahn vorzieht – in ein merkwürdiges Zwielicht, das nicht mehr erkennen läßt, welche der politischen und sozialen Vorstellungen Loths vom Autor geteilt und welche ad absurdum geführt werden sollen. In ein ähnliches Zwielicht gerät der Aufstand der Weber am Ende des zweiten echten Sozialdramas von Hauptmann. Der alte Hilse, dem der Schlußakt gehört, vertritt mit seiner religiös motivierten Ablehnung der Rebellion gewiß ebensowenig die eigene Position Hauptmanns wie dieser Hilses Glaubensvorstellungen (welche ein geradezu klassisches Dokument für die im Marxschen Sinne als »Opium des Volkes« wirkende Religion sind) tatsächlich als ›falsches Bewußtsein‹ entlarven will. Vielmehr liegt Hauptmann offenbar daran, daß sich die Bereitschaft zum Aufruhr wie dessen Verwerfung als perspektivisch bedingte Positionen gegenseitig neutralisieren. Es war daher keine bloße Schutzbehauptung, wenn Hauptmann beim ersten der Strafprozesse, in denen es darum ging, ob das immer wieder verbotene Stück sozialrevolutionäre Tendenzen vertrete, bestritt, eine sozialdemokratische Parteischrift verfaßt zu haben; ein reines »Kunstwerk« habe er schaffen wollen, freilich auf der Grundlage der »christlichen und allgemein menschlichen Empfindung, die man Mitleid nennt«. Im Mittelpunkt der Sozialdramatik Hauptmanns steht der mitleidend gestaltete leidende Mensch – als Einzelner wie Helene Krause in Vor Sonnenaufgang oder als Kollektiv wie die Weber. Diesem Leiden ist im Grunde keine Ideologie angemessen, weder der sozialistische Biologismus Alfred Loths noch die Revolutionsparolen Moritz Jägers u. a. in den Webern. Das Leiden ist für Hauptmann von seinem ersten sozialen Drama bis zu seiner Atridentetralogie unausweichliche Gegebenheit, der das Mitleid als absolute kontemplative Haltung korrespondiert – die sich ebensowenig wie das Leid in einer dessen Ursachen beseitigenden sozialen Aktivität aufheben läßt. Das unterscheidet Hauptmann Weber von den durchaus in revolutionärem Sinne interpretierbaren Webergedichten von Heine oder Freiligrath. Zu Recht ist oft bemerkt worden, daß in den Webern die Kräfte der Revolte gänzlich zurückstehen hinter den Gestalten des Leidens und den Zügen passiven Duldertums. In dieser Hinsicht sind die großartigen Radierungen, die Käthe Kollwitz im Anschluß an Hauptmanns Drama geschaffen hat (Ein Weberaufstand, 1897/98), diesem Werk nahe verwandt. Trotz seines primär ästhetischen Mitleids – das auf die Mitleidsdramaturgie des bürgerlichen Trauerspiels zurückweist – hat Hauptmann die sozialen Hintergründe und die Entstehung des schlesischen Weberaufstandes von 1844 mit größter Prägnanz und aufgrund genauer Recherchen an Ort und Stelle vergegenwärtigt. Die Verwendung des Dialekts in der rein schlesischen Urfassung (De Waber), aber auch noch in der dem Hochdeutschen angenäherten Buchausgabe hat die Anschaulichkeit der dramatischen Darstellung bedeutend gefördert. Im Vergleich mit Hauptmanns erstem Sozialdrama ist die Genauigkeit der Darstellung sozialer Verhältnisse hier unvergleichlich größer. Dort bleiben die Unterdrückten (die ausgebeuteten Bergarbeiter) noch hinter der Szene, und das Leiden (Helene Krause!) stellt sich innerhalb der dramatischen Handlung nur peripher als soziales Problem. Hier dagegen entsteht in epischer Szenenreihung ein Bild allgemeinen Elends, dem die notwendig verfälschenden Akzente des isolierten tragischen Einzelfalls fehlen. Eben dieses Fehlen des ›Helden‹, der Konzentration auf den Einzelfall ist Hauptmann anfänglich von manchen Kritikern verübelt worden. Ein Drama, dessen eigentlicher Held die Masse ist, war für sie immer noch ein zu großer Schritt über die traditionelle Dramaturgie hinaus. Diesen Schritt hat Hauptmann in einem anderen Drama, das auf ein geschichtlich noch weiter zurückliegendes Ereignis zurückgriff (in Opposition zur herrschenden naturalistischen Dramaturgie, welche die Bearbeitung von Gegenwartsstoffen verlangte!), bedauerlicherweise wieder zurückgemacht, obwohl die Darstellung eines kollektiven Prozesses hier fast noch näher gelegen hätte: in Florian Geyer (1896), der »Tragödie des Bauernkriegs«. Dadurch daß Hauptmann diesen Krieg zur Tragödie eines Einzelnen personalisierte, verfiel er nichtsahnend in den gleichen Fehler, den einst Marx und Engels der Lassalleschen Tragödie Franz von Sickingen (1859) zum Vorwurf gemacht haben: daß hier das historische Problem durch die Verwechslung der im Grunde reaktionären Rebellion des »Repräsentanten einer untergehenden Klasse« (des Rittertums) gegen das Bestehende mit den echten revolutionären Tendenzen der Bauernbewegung verfälscht wird. In seinen späteren historisierenden Dramen (Der arme Heinrich, 1902; Kaiser Karls Geisel, 1908) verlagerte der Autor den Schwerpunkt der Handlung gänzlich vom Gebiet der historischen Volksbewegung zur privat-erotischen Sphäre hin. Nach den Webern versuchte Hauptmann die Dimensionen des naturalistischen Dramas zu erweitern. Man hat voneiner Wendung zur Neuromantik gesprochen, die sich zum erstenmal in der »Traumdichtung« Hanneles Himmelfahrt (1893) dokumentiere. Hier stehen sich in den streng naturalistsichen Armenhausszenen und den Fiebervisionen Hannele Matterns, für die Hauptmann z. T. gereimte lyrische Verse verwendet, zwei Stilebenen gegenüber. Freilich entstammen Hanneles Visionen der ihr durch Schule und Kirche vermittelten mythisch-religiösen Vorstellungswelt, doch gehen sie über die pathographische Nachzeichnung von Fieberphantasien hinaus und verselbständigen sich zu einer opernhaften Lyrik, die peinlich in die Nähe des Kitsches gerät. Bilden die mythischen Elemente in Hanneles Himmelfahrt eine bloße Traumwirklichkeit, so hat Hauptmann mit dem »deutschen Märchendrama« Die versunkene Glocke (1896) den Boden des mythischen Dramas betreten. Dieses bildet das symbolische Gewand der Existenzproblematik des modernen Künstlers. Das Schauspiel von dem Glockengießer, der an dem Widerstreit zwischen bürgerlicher Bindung und künstlerischer Werkleidenschaft, die durch die Hingabe an die magischen Elementarmächte symbolisiert wird, zerbricht, ist gleichsam das mythische Pendant zu der Künstlerkomödie College Crampton (1892) und der Künstlertragödie Michael Kramer (1900). Die märchenhafte, komische und tragische Spielart des Künstlerdramas kreisen um das gleiche Thema der Fremdheit der Kunst in der bürgerlichen Welt, um den im Grunde stets scheiternden Versuch, Kunst und Bürgerlichkeit zu versöhnen. Auch Michael Kramer, der als Künstler den Kompromiß mit der Welt gesellschaftlicher Normalität, Ordnung und Pflicht akzeptiert zu haben scheint, fühlt sich seinem Sohn, der aus diesem Kompromiß ausgebrochen und von einer höhnisch-verständnislosen Umwelt in den Tod getrieben worden ist, schließlich in der Verwandtschaft, ja Identität des wahren Künstlertums verbunden, das aufgrund tiefster Leidensfähigkeit und Einsamkeit von [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2232 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 211 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] der Welt bürgerlicher Normalität unversöhnlich geschieden bleibt. Der Versuch, in der Versunkenen Glocke die moderne Künstlerproblematik in ein Märchengewand zu kleiden, ist trotz fesselnder Einzelzüge des Dramas, die von Hauptmanns bedeutender mythischer Phantasie zeugen, im Ganzen mißglückt. Schwer erträglich ist vor allem die epigonale Verssprache, die von Hauptmanns eigentlicher Fähigkeit, nämlich der instinktsicheren Erfassung der Sprachgestik und der poetischen Spannung des Dialekts, kaum etwas spüren läßt. Das Mythische gelangt bei ihm stets nur da zu vollgültiger poetischer Gestalt, wo es gewissermaßen aus einem naturalistischen Untergrund hervorwächst, zur Projektion psychischer Vorgänge wird. Die bedeutendsten Momente der Hauptmannschen Dichtung sind die Situationen, welche – wie schon im Bahnwärter Thiel – trotz oder gerade aufgrund ihrer minuziösen naturalistischen Wiedergabe eine mythische Tiefenschicht durchscheinen lassen, die dem Detail symbolische Signifikanz verleiht. Auch Und Pippa tanzt, ein Jahrzehnt nach der Versunkenen Glocke entstanden (1906), ist eine Art Märchendrama. »Ein Glashüttenmärchen« lautet der Untertitel. Was aber diesem Stück einen unendlich höheren künstlerischen Rang verleiht, obwohl auch hier bisweilen eine schwül-epigonale Bildlichkeit befremdet, ist die Einbettung des Mythischen in einen durchaus realistisch deutbaren Handlungszusammenhang, eine gewissermaßen entmythologisierende Verwendung von Märchen- und Sagenmotiven aus dem Vorstellungsbereich der handelnden Personen, die an der Irrealität des ›Wunderbaren‹ keinen Zweifel läßt. Das Märchenhafte ist der aus einer bestimmten Perspektive sich einstellende Schein und läßt sich immer als subjektive Vorstellung, Traum, Hypnose (Hellriegels Reise nach Venedig) oder als bewußt mystifizierter Zufall (das plötzliche Auftauchen Pippas in Wanns Baude) deuten. Das aber entfernt Pippa vom echten Märchendrama in der Art der Versunkenen Glocke. Das ganze Geschehen ist von einer doppelten Optik geprägt, läßt sich sowohl ›naturalistisch‹ als auch mythisch-symbolisch sehen. In dieser Hinsicht ist Hauptmanns Schauspiel dem wenige Jahre später entstandenen Tod in Venedig von Thomas Mann verwandt. Auch rein inhaltlich gibt es manche Affinität zwischen beiden Dichtungen: das Venedig-Motiv etwa oder die erotische Mythisierung des an der Schwelle zum Erwachsensein stehenden Kindes, der ›femme- enfant‹ Pippa (ein von der Poesie der Jahrhundertwende bevorzugter Typus) und der Eros-Gestalt Tadzios. Das vermeintliche »Märchen« beginnt in einer Schenke im Rotwassergrund, im schlesischen Gebirge. Dort war bisher eine Glashütte in Betrieb, die nun als unrentabel stillgelegt und durch eine moderne Glasfabrik abgelöst worden ist. Das Drama kontrastiert die industrielle Welt, repräsentiert durch den Glashüttendirektor, mit den noch in mythischen Vorstellungen lebenden Bewohnern jener Gebirgsgegend. Seit dem Bahnwärter Thiel haben Menschen, denen inmitten der technisch-industriellen Welt noch eine archaisch-mythische Sehweise natürlich ist, eine unerhörte Faszination auf Hauptmann ausgeübt. In Pippa ist es vor allem der alte Huhn, der von jener Sehweise geprägt ist – eine Gestalt wie aus der Frühzeit der Menschheit. »Wenn man den Alten ansieht und denkt an Paris«, so sagt der Glashüttendirektor über ihn, »da glaubt man nich an Paris«. Ihm tritt als eine moderne mythische Figur der romantische Wanderer, Träumer und ›Taugenichts‹ Michael Hellriegel gegenüber. Er wie der alte Huhn, der Glashüttendirektor, ja selbst noch der aufgeklärte, apollinische Magier Wann, der als eine Prospero-Gestalt das Figurenspiel zu lenken scheint – ein entmythologisierter Zauberer in entzauberter Welt: »das Überlegene, Hohe, Gestalthafte des Dichters selbst« (G. Hauptmann, 1937) – werden durch die Mignon-Figur der kleinen Italienerin Pippa in erotischen Bann gezogen. Für sie alle ist sie das ersehnte höhere Leben; für den chthonischen Halbmenschen Huhn (der an Caliban in Shakespeares Sturm gemahnt) bedeutet sie Befreiung von Dumpfheit und Erdenschwere, für den Romantiker Hellriegel den gesuchten Lebenstraum, die Wirklichkeit des Märchens, für den Direktor die der Geschäftswelt und ökonomisch-technischen Rationalität aufgeopferte Poesie des Daseins, für den asketischen Weisen Wann das ›Leben‹, dem er entsagt, von dem er sich hinter der »Weisheit Eiswall« zurückgezogen hat. Pippas Tod – symbolisch parallelisiert mit dem Zerbrechen eines venetianischen Glases in den Händen Huhns – im kaum zu enträtselnden Schlußakt bedeutet den Sieg des »Korybanten« Huhn, der dunklen dionysischen Leidens- und Freudengewalt über die apollinische Geist- und Lichtwelt (ebenfalls eine Parallele zum Tod in Venedig). In Pippa offenbart sich mehr als in jedem anderen Drama Hauptmanns dessen archaischer Blick, die Erfahrung einer mythischen Verwandlung der Realität vor dem Auge der Phantasie, die ihn kurz nach der Entstehung des »Glashüttenmärchens« auf seiner Griechenlandreise 1907 immer wieder überwältigte, wie sein Reisetagebuch Griechischer Frühling (1908) eindrucksvoll dokumentiert. Es ist die gleiche Erfahrung einer mythischen Entfremdung, ›heiligen Entstellung‹ der Welt, die den Dichter Aschenbach im Tod in Venedig prägt. Hauptmann hat sich – darin liegt so viel Großartiges wie Bedenkliches – in seinem dramatischen Werk alle großen Formen des Theaters zueigen zu machen versucht. Nur in seltenen Fällen ist ihm das kongenial gelungen. So sehr er sich gegen das Etikett des Naturalisten gesträubt hat, sind seine bleibenden Werke – sieht man von dem mythischrealistischen Sonderfall der Pippa ab – die in der naturalistischen Tradition stehenden Schauspiele zwischen Vor Sonnenaufgang (1889) und Vor Sonnenuntergang (1932). Die Anspielung auf den naturalistischen Erstling im Titel des letztgenannten Stücks bedeutet den Abschied von einer dramatischen Gattung, zu der Hauptmann zwischen all seinen eklektischen Experimenten immer wieder zurückkehrte, da er wohl spürte, daß sie das eigentliche Fundament seiner dramatischen Begabung sei. Als die drei bedeutendsten Werke dieser naturalistischen Reihe werden heute allgemein die »Diebskomödie« Der Biberpelz (1893), das »Schauspiel« – wohl eher Tragödie – Rose Bernd (1903) und die anfänglich als stilistisch verspätet geringgeschätzte, aber schon von Thomas Mann als Hauptmanns »vielleicht bestes Stück« empfundene »Tragikomödie« Die Ratten (1911) angesehen. Den von übermächtigen gesellschaftlichen und schicksalhaften Kräften gehetzten Leidensgestalten seiner tragischen Sozialdramen setzt Hauptmann mit der Mutter Wolffen im Biberpelz eine weibliche Schelmenfigur gegenüber, die das Geschick der Mühseligen und Beladenen in beengten sozialen Verhältnissen mit eulenspiegelhafter List durchbricht, sich angesichts der ungerechten Besitzverhältnisse durch fintenreiche Diebereien schadlos hält und durch Witz und Tücke über die ›Großen‹ triumphiert. Die humoristische Schilderung ihres ›Kampfs ums Dasein‹ wird zur Folie einer der köstlichsten Satiren auf das wilhelminische Kaiserreich, auf die blasierte Amtsautorität und die Sozialistenverfolgung, die hier komödiantisch ad absurdum geführt wird. In einer weniger gelungenen galligen Fortsetzung des Biberpelz: der »Tragikomödie« Der rote Hahn (1901) hat Hauptmann freilich das wahre Gesicht des Kampfes ums Dasein gezeigt, der Mutter ›Wolffen‹ (man beachte Hauptmanns Vorliebe für sprechende Namen!) den humoristischen Schafspelz ausgezogen und sie zur skrupellosen Erfolgsstreberin werden lassen. Konnte man im Biberpelz ihre kriminellen Winkelzüge noch als ausgleichende Gerechtigkeit und humoristisch-passiven Widerstand gegen den parasitären Wohlstand des Bürgertums – verkörpert im Rentier (!) Krüger – wie gegen die reaktionäre Staatsmacht belachen, so bleibt dem Leser und Zuschauer angesichts der wahrhaft ›wölfischen‹ Methoden der nun zur Bourgeoise avancierten Frau Wolff (jetzt Frau Fielitz) das Lachen im Halse stecken. Der Biberpelz wurde anfänglich vielfach als formlos-zerfahren kritisiert. Man vermißte die komische Spielhandlung und die Aktionstypen der Lustspieltradition. An den herkömmlichen Komödienelementen war Hauptmann indessen nicht gelegen; er suchte die komischen ›Rollen‹ zu psychologisch glaubwürdigen Charakteren zu individualisieren und ganz im Sinne der naturalistischen Dramaturgie die Lustspielintrige durch die symmetrische Konstellation charakteristischer Situationen zu ersetzen, in denen sich der »mimische Volkshumor« (Hauptmann) im Gegensatz zum lebensfremden Ernst der Mächtigen manifestieren sollte. Die Sprachgestik, in der Komödie von jeher zu Hause, wird im Biberpelz naturalistisch präzisiert und psychologisch sublimiert. Hauptmanns Rose Bernd weist schon rein stofflich zurück auf das bürgerliche Mitleidsdrama des 18. Jahrhunderts. Das Kindsmörderinnenthema hat bekanntlich im Sturm und Drang eine eminente Rolle gespielt; es sei nur auf Goethes Faust und H. L. Wagners Kindermörderin verwiesen (vgl. Bd. I/1, S. 226 f.). Dort wie im Falle der Rose Bernd ist ein Strafprozeß die unmittelbare stoffliche Anregung des Dramas gewesen. Zugleich weist Rose Bernd mehr als die anderen Sozial- und Familiendramen Hauptmanns auf Hebbels Maria Magdalena zurück – neben Büchners Woyzeck das wichtigste deutsche Vorbild des naturalistischen Dramas. Bei Hebbel wie Hauptmann gerät ein Mädchen durch Liebe, Leidenschaft und (im Falle [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2239 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 214 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] Rose Bernds) durch verhängnisvolle erotische Ausstrahlung in ausweglose Not. In beiden Fällen bildet ein Kleinbürgerhaus, beherrscht von der starken, doktrinären Frömmigkeit und Ehrvorstellung des Vaters, den sozialen Hintergrund und den verhängnisvollen Schicksalsraum des Geschehens. Hauptmanns Sozialdramen sind als solche stets Schicksalsdramen; die ›Fatalität‹ der gesellschaftlichen Verhältnisse wird nicht oder nur peripher – als veränderbar – sozialkritisch angeklagt, vielmehr ist sie eine Erscheinungsform »der unsichtbaren Macht, die wir mit dem Namen ›Schicksal‹ getauft haben«, so äußert Hauptmann in einem Vortrag von 1930. Auf der Bühne des »höheren Dramas« sei »am Ende nicht mehr der Mensch des Menschen Feind. Vielmehr erkennt er sich selbst und erkennt den andern und weiß unter der Hellsicht des Schmerzes meistens, daß sie beide schuldig-schuldlos sind«. Sich dem Schmerz ergeben sei »hier die einzige Form, sich über das Schicksal zu erheben«. Hauptmanns Metaphysik des Leidens und Mitleidens ist deutlich von Schopenhauer geprägt. Das Wort von der »Hellsicht des Schmerzes« gemahnt an einen anderen großen Schopenhauerianer und Leidensdramatiker, zu dem Hauptmann sich im Alter mehr und mehr hingezogen fühlte, an Richard Wagner und die ›Passionsgeschichte‹ des Parsifal, der »durch Mitleid wissend« wird. Dieses Wissen durch Mitleid, die Hellsicht des Schmerzes ist für Wagner und Hauptmann das Höchste, wozu ein Mensch gelangen kann. Dieses Höchste ist freilich nur wenigen erreichbar, daher die entsetzliche Einsamkeit der tragischen Gestalten Hauptmanns, wie sie sich nirgends erschütternder bekundet als im letzten Akt der Rose Bernd: »Ma ist halt zu sehr ei d'r Welt verlass'n! Ma is eemal zu sehr alleene dahier! Wenn ma bloß nich aso alleene wäre! Ma ist zu sehr alleene hier uff d'r Erde!« Dieser viermalige Aufschrei, die Bekundung einer nicht nur zwischenmenschlichen, sondern metaphysischen Trostlosigkeit weist zurück auf das Urbild vollkommener Einsamkeit im Leiden: auf die Gottverlassenheit des Gekreuzigten. »Da hoa ich wull ernt in de Sterne gesehn! Da hoa ich wull ernt geschrien und geruffa! Kee himmlischer Vater hat sich geriehrt.« Der Gekreuzigte als Urbild des ›Gehetzten‹, von einer erbarmungslosen Welt in den Tod Getriebenen scheint in Hauptmanns Leidensdarstellung immer wieder durch: »Ihr tatet dasselbe dem Gottessohn! Ihr tut es ihm heut wie dazumal!« (Michael Kramer an der Bahre seines in den Tod gehetzten Sohnes). Daß Rose in August im letzten Moment doch noch den durch Mitleid Wissenden findet (sein erschüttert- stockender Ausruf »Das Mädel. . . was muß die gelitten han!« beschließt das Drama), dringt nicht mehr in ihr Bewußtsein. »Ihr wißt ebens nischt! Ihr seht ebens nischt! Ihr habt nischt gesehn mit offenen Augen.« Das ist das Urteil über ihre leidensferne Umwelt, welcher der tragische Weltgrund verborgen ist. »O Jees, ei een kleen Kämmerla lebt ihr mitnander!« Die räumliche und moralische Enge des Kleinbürgerhauses wird zum Symbol metaphysischer ›Unwissenheit‹. »Ihr wißt nischt, was außern der Kammer geschieht! Ich wiß! Ei Krämpfen hab ich's gelernt!« Das ist die Hellsicht des Schmerzes! August gelangt zu dieser Hellsicht erst – darin liegt eine tragische Ironie, welche an die entsprechende Motivverschränkung von Blindsein und Sehen im sophokleischen Ödipus gemahnt –, als er auf einem Auge blind ist, während die Sehenden in immer tiefere (Schmerzens-)Blindheit hineintappen. Wenn es bei Hauptmann überhaupt noch eine Katharsis gibt – und wie oft bleibt sie aus, wie in Vor Sonnenaufgang, Fuhrmann Henschel oder Die Ratten, oder sie entwertet sich selbst durch Abgleiten in Sentimentalität, wie in Hanneles Himmelfahrt –, dann durch das Mitleiden eines anderen Schmerzerwählten. So weiß sich Michael Kramer mit dem ihm entfremdeten Sohn nach dessen Tod plötzlich eins, eins in der ›Sympathie‹ im ursprünglichen Sinne des Wortes, in der Gemeinsamkeit und Majestät des Leidens: »Und der dort liegt, das bin ich! das sind Sie! das ist eine große Majestät!« Die meisten Leidenden bei Hauptmann gehen indessen ›klanglos‹ zugrunde, die gloria passionis bleibt der blinden Umwelt verborgen. Zu den eindrucksvollsten Momenten der Hauptmannschen Dramatik gehören die Augenblicke, in denen sich die völlige Unerreichbarkeit des Leidens durch die ›Außenstehenden‹ offenbart: die Hohlheit, Nichtigkeit der Anklagen oder wohlgesetzten Ratschläge, des (zumal ideologisierend) deutenden und wertenden Geredes, gar der ›poetologischen‹ Bestimmung des tragischen Falls (durch die Theatermenschen Hassenreuter und Spitta in den Ratten), ja überhaupt aller begrifflichen ›Benennung‹ des Leidens. Im Griechischen Frühling hat Hauptmann das »Menschenopfer« als »die blutige Wurzel der Tragödie« bezeichnet. Das »Tragische« bedeute »die schaudernde Anerkennung unabirrbarer Blutbeschlüsse der Schicksalmächte«, welche den Menschen nicht den Täter seiner Taten sein, sondern nur ein determiniertes Geschehen ›erleiden‹ lassen. Die blutige Wahrheit der griechischen Tragödie hat Hauptmann vor dem Hintergrund des apokalyptischen Grauens des Zweiten Weltkriegs in seiner Atridentetralogie (Iphigenie in Aulis, Agamemnons Tod, Elektra, Iphigenie in Delphi, entst. 1940-1944) gegen das klassischhumanistische Griechenbild gesetzt. Iphigenie, die nach Elektras Worten (Iphigenie in Aulis, 3. Akt) den »Schmerz der ganzen Welt« verkörpert, stürzt sich am Ende, nachdem die Harmonie der ganzen Welt wiederhergestellt zu sein scheint, in eine Schlucht. »Doch wer zum Opfer einmal ausersehen / von einer Gottheit – ob es auch so scheint, / er habe ihrem Spruche sich entwunden –: / die Moiren halten immer ihn im Blick / und bringen, wo er dann auch sich versteckt, /an den gemiednen Altar ihn zurück.« So heißt es im Epilog Pyrkons. Das ist nicht erst die Erfahrung des späten Hauptmann. Der fast vierzig Jahre zuvor entstandene Olympische Frühling zeigt, daß das Tragische für ihn schon von jeher in der Erfahrung eines blutigen Fatalismus gründet. In seiner Rede zum 90. Geburtstag Hauptmanns (1952) hat Thomas Mann bereits den Fuhrmann Henschel (1899) als eine »attische Tragödie« im Gewand »volkstümlich-realistischer Gegenwart« bezeichnet. Das Kleinbürgerhaus der Rose Bernd ist nicht weniger ein Schicksalsraum, in dem »unabirrbare Blutbeschlüsse der Schicksalsmächte« ausgetragen werden, als das Atridenhaus. Wie im Bahnwärter Thiel das Bild des Netzes, so ist es hier die Metapher der Schlinge, in der sich die Unausweichlichkeit des Geschicks der Rose Bernd ausdrückt: »Hernach bin ich von Schlinge zu Schlinge getreten, daß ich gar ni bin mehr zur Besinnung gekomm.« In Rose Bernd gelangt die Geschichte der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels noch einmal zu einem Höhepunkt und zugleich zu ihrem unwiderruflichen Ende. Das bürgerliche Trauerspiel zwischen Lessing und Hauptmann ist das bevorzugte Substrat einer ethisch motivierten Mitleidsdramaturgie gewesen. Das Lessingsche Mitleid, das als tragischer Affekt und zugleich philanthropische Empfindung den Zuschauer bessern und »zu allen gesellschaftlichen Tugenden« disponieren sollte (vgl. Bd. I/1, S. 130), ist bei Hauptmann durch die philosophische Vermittlung Schopenhauers zur Kardinalempfindung angesichts des tragischen Weltgrundes verabsolutiert worden. Der aufgeklärte Glaube an eine Veränderbarkeit der Welt durch das Mitleid ist also dem mitleidenden Wissen um ihre unveränderbare Leidensgestalt gewichen. Vor dem pessimistischen Hintergrund solcher Mitleidsdramatik gewinnt Brechts Kritik an der »aristotelischen« Bestimmung des Dramas – die nichts anderes ist als die Absage an die bürgerliche Mitleidsdramaturgie, welche sich ja auf die aristotelische Tragödiendefinition gestützt hat – ihr historisches Recht. Was Brecht dem Naturalismus vorgeworfen hat: daß er die gesellschaftlichen Verhältnisse als »natürlich« d. h. unveränderbar betrachte, daß »hier unter dem Deckmantel des Mitleids mit den Benachteiligten die Benachteiligung als natürliche Kategorie menschlicher Schicksale« verewigt werde (Über die Verwertung der theatralischen Grundelemente), das gilt nach seiner Überzeugung im Grunde für jede Art von Mitleids-, d. h. »Einfühlungs«-Dramatik. In den Ratten hat Hauptmann die poetologischen Voraussetzungen des bürgerlichen Trauerspiels und der an dieses anknüpfenden naturalistisch-sozialen Dramatik noch einmal reflektiert: hier bringt das Drama seine eigene Dramaturgie vor. Der abgesprungene Theologe Spitta stellt der morschen Ästhetik des nationalkonservativen Theaterdirektors Hassenreuter seine namentlich auf Diderot und Lessing gestützten sozialdramatischen Maximen gegenüber: Natürlichkeit der Darstellung anstelle des »rhetorischen« Pathos, Personen aus dem kleinbürgerlich-proletarischen Milieu als tragische Hauptfiguren, Degradierung der »Handlung« zum bloßen »Akzidens« des Dramas, Absage an die idealistische Tragödienmetaphysik (»poetische Gerechtigkeit, Schuld und Sühne«), die durch die Handlung der Ratten in der Tat ad absurdum geführt wird. Daß freilich auch der typische naturalistische Ideologe Spitta der Ironie des Autors nicht ganz entgeht, ist kaum zu übersehen. Seine rechthaberische Frage etwa, die er an den durch die erschütternden Ereignisse in der Wohnung des Maurerpoliers John ohnehin ›poetologisch‹ (d. h. hinsichtlich der bisher verkündeten tragischen Ständeklausel) in die Enge getriebenen Hassenreuter richtet: »Finden [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2246 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 217 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] Sie nicht, daß hier ein wahrhaft tragisches Verhängnis wirksam gewesen ist?«, wirkt jedenfalls angesichts des namenlosen, nur durch sprachloses Mitleiden erreichbaren Leids ebenso flach wie die wohlgesetzt-erbaulichen Tiraden des Theaterdirektors, der sich doch deutlich genug von einem verhängnisvollen Geschehen distanziert, dessen unfreiwilliger Zeuge er wird. In keinem Drama Hauptmanns außer Vor Sonnenaufgang wird ein Mensch in seinem ausweglosen Leiden so allein gelassen wie Frau John am Ende der Ratten. Hier, wo von »sittlicher Weltordnung« und »poetischer Gerechtigkeit« so viel die Rede war, fehlt am Ende jeder menschliche Trost, jede Spur einer Katharsis. Es gehe darum, »aus dem Theater allmählich das ›Theater‹ zu drängen«, hat Holz in der Vorrede zu seinen Sozialaristokraten verkündet. In den Ratten kehrt das »Theater« noch einmal aufs naturalistische Theater zurück, freilich nur, um – durch das Mittel der Kontrastierung der Sprachebenen – bezweifelt zu werden: seine ›Diktion‹ erreicht die Tiefen des Weltleids nicht. Nur die dialektgebundene mimisch-expressive Sprache vermag ihm und all dem heimlichen, stummen Elend, den gedrückten und gemarterten Seelen hinter der glänzenden Fassade des Kaiserreichs Ausdruck zu geben. Hauptmann hat die Ratten eine »Tragikomödie« genannt. Diese Gattungsbezeichnung ist vor allem durch die Zweisträngigkeit der Handlung motiviert: die Ereignisse um den ehemaligen und am Ende wiedereingesetzten Theaterdirektor Hassenreuter sind für sich genommen reine Komödie mit einem happy end, das Geschehen um Frau John dagegen ist nicht weniger Tragödie als die Handlung der Rose Bernd. Durch die wechselseitige Durchdringung der beiden Handlungsstränge verlieren diese jedoch ihre eindeutigen Gattungscharaktere und nehmen jene Züge einer tragisch-grotesken Ambiguität an, die weit über den Naturalismus, als dessen verspätetes Produkt man die Ratten anfänglich angesehen hat, hinausweisen und Hauptmann seinem Antipoden Wedekind nähern. Das verfallende, von Ratten – dem vieldeutigen Leitmotiv die Dramas – »unterminierte« Mietshaus, das die Menschen verschiedenster Stände und Schicksale zusammenführt und in ein gemeinsames Geschehen verstrickt, ist die Abbreviatur der Welt, einer gesellschaftlichen Ordnung, hinter deren dünnen Wänden die Kräfte des Verfalls wirken. Drei Jahre nach der Uraufführung der Ratten bricht der Weltkrieg aus und bereitet jenem System ein Ende, als dessen Satiriker und Kritiker Hauptmann in dieser Tragikomödie noch einmal bedeutend in Erscheinung tritt. Mit dem Ende des Kaiserreichs hat Hauptmann seinen künstlerischen Zenith als Epiker wie als Dramatiker überschritten. Keines seiner Werke nach 1914 (auch nicht die einst viel gelesene längere Erzählung Der Ketzer von Soana, 1918, die in ihrer Schilderung des Abfalls eines katholischen Priesters zu einem antik-heidnischen Eroskult die Grenze zum Kitsch überschreitet) hat als Ganzes den Rang der Dichtungen zwischen dem Bahnwärter Thiel und den Ratten erreicht. Dennoch ist Hauptmann der wilhelminische Oppositionsliterat par excellence, zum eigentlichen literarischen Repräsentanten, zum »König der Republik« geworden (so Thomas Mann in der Rede Von deutscher Republik, 1922). Diese Repräsentationsrolle hat Hauptmann sorgfältig gepflegt und durch seine immer mehr die Züge einer eklektizistischen Bildungspoesie annehmende literarische Produktion den universalen, ›repräsentationsfähigen‹ Dichter hervorzukehren gesucht. Die Repräsentationshaltung war Hauptmann so zur Natur geworden, daß er sie auch 1933 nicht abzulegen vermochte und – zum Entsetzen und zur Trauer seiner emigrierten Freunde – eine äußere Solidarität mit dem ›Dritten Reich‹ bekundete, von dessen Machthabern seine Werke dennoch weitgehend boykottiert wurden. In Hauptmanns Nachlaß fand sich ein Einakter aus dem Jahre 1937, Die Finsternisse, bezeichnet als »Requiem«. Das 1947 in New York veröffentlichte Werk ist ein Totengedenken für Hauptmanns jüdischen Freund Max Pinkus, dazu eine eigentümliche Verbindung allegorischer und zeitkritischer Elemente: die Erfahrung des Todes klingt in überzeitlicher Sicht an, ebenso das Problem der jüdischen Integration. In der stellenweise atmosphärisch dichten Darstellung der Verhältnisse im ›Dritten Reich‹ in der Zeit der ersten Judenverfolgungen ist die alte dramatische Kraft des Autors erkennbar. Dieser mag beim Schreiben der Finsternisse auch an zahllose andere verfolgte und ins Exil geflüchtete Deutsche jüdischer Herkunft gedacht haben – so etwa an den Kritiker Alfred Kerr (eigentl. Alfred Kempner, 1867-1948), der nicht unbeträchtlich zu Hauptmanns Ruhm beigetragen hat. Kerr war in den beiden ersten Jahrzehnten nach 1900 der bekannteste Berliner Theaterkritiker, ein bis zur Eigenwilligkeit origineller Beurteiler der zeitgenössischen Szene, einflußreich namentlich durch seine Urteile über die moderne Produktion. Die Größe Gerhart Hauptmanns bezweifelte er niemals, auch nicht angesichts der schwächeren Stücke. Seine Überzeugungen legte er in der Einleitung zu den gesammelten theaterkritischen Schriften dar (Die Welt im Drama, 1917 in fünf Bänden bei S. Fischer erschienen): die Hauptthese vor allem, Kritik sei eine eigentümliche, in manchem allen anderen Gattungen überlegene Form von Kunst (»Fortan ist zu sagen: Dichtung zerfällt in Epik, Lyrik, Dramatik und Kritik«). Diese Auffassung richtet sich polemisch gegen die in Deutschland traditionsgemäße Idolatrie der reinen Kunst (gegenüber dem »Schriftstellertum«), nimmt aber bezeichnenderweise für die Kritik ebenfalls den hierarchischen Begriff der Dichtung in Anspruch. Kerrs kapriziösverspielte, oft sprunghafte und mit Andeutungen den Leser provozierende Schreibweise wurde zumeist einseitig als bloß »impressionistisch« eingestuft; dabei wurde übersehen, daß häufig auch die Bemühung um grundsätzliche ästhetische Kriterien im Vordergrund steht. Nur wenigen naturalistischen Dramatikern ist es gelungen, sich zeitweilig neben Hauptmann zu behaupten. Der erfolgreichste von ihnen war zweifellos Hermann Sudermann (1857-1918), der durch die Verbindung naturalistischer Stilelemente mit den Konventionen des Intrigendramas zumal französischer Provenienz das gleiche Publikum für sich zu gewinnen vermochte, das die Hauptmannschen Sozialdramen verabscheute. Sudermann ist gleichsam der Kotzebue des deutschen Naturalismus, diesen ebenso trivialisierend und den rein affirmativen ästhetischen Erwartungen des bürgerlichen Publikums annähernd wie einst Kotzebue und Iffland die Empfindsamkeit. Das Schauspiel Die Ehre, im gleichen Jahr in Berlin uraufgeführt wie Vor Sonnenaufgang, hat Sudermann, der wie Hauptmann zugleich als Prosaautor hervorgetreten ist (Romane Frau Sorge, 1887, und Der Katzensteg, 1890, Litauische Geschichten, 1917) mit einem Schlage ebenso berühmt wie populär gemacht. Zu den ausgesprochenen Erfolgsstücken des Naturalismus gehören ferner das »Liebesdrama« Jugend (1893) von Max Halbe (1865-1944, der mit dem Titel ein Reizwort der Zeit traf – 1896 begann in München eines der Organe des ›Jugendstils‹ zu erscheinen: die Kulturzeitschrift »Jugend«) sowie die Offizierstragödie Rosenmontag (1900) von Otto Erich Hartleben (1864-1905). Von besonderem zeitgeschichtlichen Interesse sind Hartlebens Ibsenparodie Der Frosch (1889), welche die Irritation der jungen Generation angesichts der Abwendung des Verfassers der Stützen der Gesellschaft und der Gespenster vom Realismus zu »Symbolfaxerei« und »Geheimniskram« dokumentiert, und die ebenfalls sehr erfolgreiche Komödie Hanna Jagert (1893), welche die typische Abkehr der Naturalisten vom Sozialismus nach 1890 thematisiert. Wie sehr trotz aller Polemik auch vom konservativen Publikum der Naturalismus zu Beginn der neunziger Jahre als ›an der Zeit‹ empfunden wurde, zeigt das Beispiel Ernst von Wildenbruchs, der mit seinen Stücken Die Haubenlerche (1891) und Meister Balzer (1892) – ein dramatisches Gegenstück zu Kretzers Meister Timpe, in dem sich freilich das soziale Problem (Bedrohung des Handwerks durch die Fabriken) am Ende in sentimentales Wohlgefallen auflöst – auf der naturalistischen Welle mitzuschwimmen trachtete. Die naturalistische ›Nobilitierung‹ der Umgangssprache und des Dialekts hat auch das Interesse an der – aus wesentlich anderen sozialgeschichtlichen und volkskundlichen Voraussetzungen abzuleitenden – Provinzliteratur gefördert. Dieses Interesse entartete auch bei einigen Naturalisten (so bei M. G. Conrad) zur Heimatkunstideologie, von der doch die genuine Provinzliteratur deutlich zu trennen ist. Diese steht in der naiv-sinnlichen Unmittelbarkeit des Realitätsbezugs der sentimentalisierenden oder ideologisierenden ›Heimatkunst‹ durchaus fern. Das zeigt sich vor allem in ihrem bedeutendsten Zweig, der bayerischen Literatur, die mit dem Werk von Ludwig Thoma, Lena Christ, Heinrich Lautensack, Josef Ruederer, Oskar Maria Graf, Marieluise Fleißer u. a. ein wichtiger Bestandteil der deutschen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts geworden ist. Die angeführten Namen repräsentieren das breite Spektrum der Provinzliteratur zwischen traditionalistisch-affirmativer (Thoma seit dem Ersten Weltkrieg) und aggressivsozialkritischer Heimatdarstellung (Ruederer). Was sie in all ihren Spielarten verbindet, ist die perspektivische Bindung an die dargestellte geographi [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2253 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 220 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] sche Region, die ›Sicht von innen‹ (im Unterschied zur künstlerischen Objektivierung und Verallgemeinerung des Provinziellen zu einem symbolisch-totalen Zeitgemälde wie etwa in Thomas Manns Buddenbrooks). Die sinnlich-realistische Direktheit der Provinzdarstellung läßt bei den genannten – auch den konservativen – Autoren eine Mythisierung und Verklärung der Heimat (vor dem Hintergrund der von der Heimatkunstbewegung verteufelten Großstadt) kaum je zu. Selbst bei einem Autor wie Thoma, der nach dem Weltkrieg mehr und mehr zu einer Idealisierung der altbayerisch-ländlichen Verhältnisse neigt, wird das Heimatliche niemals sentimental entwirklicht oder die Großstadtwelt einseitig verzerrend dargestellt. Die große Resonanz der Dramen Hauptmanns und anderer Naturalisten hat eine überregionale Rezeption auch der Provinzliteratur ermöglicht, ja diese wurde, etwa im Falle Ludwig Thomas (1867-1921), dessen Dialektstücke auch in Berlin mit großem Erfolg aufgeführt wurden, vielfach dem Naturalismus zugezählt. Thomas Bauernromane (z. B. Andreas Vöst, 1906) und seine Volksstücke sind jedoch weitgehend unabhängig von der naturalistischen Bewegung entstanden, weisen eher auf das Vorbild Ludwig Anzengrubers zurück, wenn auch ein Drama wie Magdalena (1912) Hauptmanns Rose Bernd thematisch verwandt ist; wie diese weist sie auf die sozialdramatische, die Lebensfremdheit der herrschenden ›Moral‹ bloßstellende Variante des bürgerlichen Trauerspiels zurück (Wagners Kindermörderin, Hebbels Maria Magdalena – auffallend auch die Motivparallelen zu Lessings Emilia Galotti). Magdalena – der biblische Name ist hier treffender als in Hebbels Stück – ist das Opfer eines Vaters, der mit inhumaner Starrheit die enge bäuerlich-dörfliche Moral vertritt (und seine als Hure angesehene Tochter in einer psychischen Zwangssituation tötet). Dieser thematische Bereich wirkt in der bayerischen Literatur nach bis zu Franz Xaver Kroetz' Hebbel-Adaption Maria Magdalena (1974). Von den oben genannten bayerischen Autoren sind im Grunde nur Josef Ruederer (1861-1915) und Heinrich Lautensack (1881-1919) unmittelbar von der naturalistischen Bewegung geprägt worden. Ruederers sozialkritische Komödie Die Fahnenweihe (1895) zeigt den starken Einfluß Hauptmanns und Ibsens, Lautensacks Komödie Hahnenkampf (1908) weist ebenfalls noch auf die naturalistische Dramatik zurück, verrät aber ebenso wie Die Pfarrhauskomödie (1911) mehr den Einfluß Frank Wedekinds, den er als »Lehrer« verehrte (er gehörte mit ihm dem Kabarett »Die elf Scharfrichter« an). Mit Wedekind verbindet sein Werk die zentrale Rolle der Sexualität, die bei ihm freilich nicht als »Büchse der Pandora«, sondern meist als heiliger Eros in Erscheinung tritt (etwa im Gedicht Die Heiligsprechung der Hetäre). Immer wieder sucht er das Erotische im Sinne eines dionysisch-»ekstatischen« Christentums mit seiner altbayerisch-katholischen Glaubenshaltung (vgl. die KreuzwegKantate und die Sammlung Altbayrischer Bilderbogen) zu vermitteln. Ein radikal antichristlicher Gegenpol zu Lautensack, mit dem gleichen Interesse an der altbayerischen Katholizität wie an einer enttabuisierten Sexualität, ist der Satiriker Oskar Panizza (1853- 1921). Trotz des hin und wieder genialen Witzes und Scharfsinns seiner ätzenden Satiren auf die römische Kirche und das wilhelminische Kaiserreich (die fesselndste davon ist die Psichopatia criminalis von 1898) wäre Panizza vermutlich vergessen, hätte ihn nicht ein Werk schon zu seiner Zeit mehr berüchtigt als berühmt gemacht: seine »Himmelstragödie« Das Liebenskonzil (1894), für die er in München wegen Gotteslästerung mit einem Jahr Gefängnis bestraft wurde, ist trotz ihrer blasphemischen Elemente von vielen Zeitgenossen, so von Theodor Fontane, gleich als eines der überragenden Werke der neueren Literatur erkannt worden. Michael Georg Conrad, in dessen »Gesellschaft« Panizza eine Reihe von Aufsätzen und Satiren veröffentlicht hat, nennt das Liebeskonzil in seinem Sachverständigengutachten vor dem königlichen Landgericht München »eines der stärksten und bedeutendsten Kunstwerke der modernen Dramenliteratur«. Conrad rechnet die »Kunstmittel« dieses schwarzen Mysterienspiels dem »Naturalismus« zu, rückt es anderseits jedoch durch den negativ wertenden Hinweis auf das »Barocke, Geschmacklose, Derb-Groteske«, ja »Krankhafte« von dieser Kunstrichtung wieder ab. In der Tat hat das Liebeskonzil mit dem Naturalismus nur die Verwendung sprachmimischer Mittel gemeinsam, seine phantastische Handlung – die Erfindung der Syphilis im 15. Jahrhundert als göttliches Auftragswerk des Teufels – erhebt sich über alles Naturalistische, ebenso aber auch über den blasphemischsatirischen Anlaß, zu einer grandiosen – in der Geschichte des Dramas beispiellosen – apokalyptischen Groteske. Wedekind hat Thomas Mann gegenüber behauptet, daß Panizza (der sich als Nervenarzt mit dem Problem der Geisteskrankheit in vielen Publikationen beschäftigt hat) »ausdrücklich nur deshalb nackt auf der Straße getanzt habe, um interniert zu werden«. Thomas Mann erinnert daran in seinem Essay Über eine Szene von Wedekind (1914): die vorletzte Szene des Marquis von Keith, in welcher der »gescheiterte Moralist« Scholz den gescheiterten »Genußmenschen« Keith veranlassen will, sich mit ihm in eine Privatheilanstalt zurückzuziehen. Vom »Mysterium der Abdankung« redet Thomas Mann hier, und man darf an den Dichter Spinell in seinem Tristan denken, der dem Leben entsagt und sich, wiewohl gesund, in ein Lungensanatorium zurückzieht. Die Verführung zum Ausscheiden aus einem Leben, dessen Enge und prosaische Niedertracht alle moralische, erotische und ästhetische Unbedingtheit zum Scheitern verurteilt – sie verkörpert sich in Scholz wie zuvor im toten Moritz Stiefel in der Friedhofszene von Frühlings Erwachen. Eine Verführung, ein »Mysterium«, das Wedekind selbst vertraut war und um dessentwillen – jener Szene wegen – er den Marquis von Keith Thomas Mann gegenüber geschrieben zu haben vorgab. Frank Wedekind (1864-1918) ist zweifellos der bedeutendste und erfolgreichste Einzelgänger im Umkreis des Naturalismus, von dessen Programmatik er seine eigenen ästhetischen Maximen rigoros abgesetzt hat, ohne doch auf ihn als seinen Widerpart, dessen Befehdung ein starker Impuls zumal für sein Frühwerk gewesen ist, verzichten zu können. Ohne die naturalistische Folie hätten seine Dramatik und Prosa schwerlich ihre stilistische Eigenart gewonnen. Wedekind hat sich nicht erst wie manche Naturalisten nach Abklingen der Bewegung zu ihrem Gegner emporstilisiert, sondern von Anfang an als Antipode vor allem zu Gerhart Hauptmann empfunden, dem »typisch emsigen Dramatiker der naturalistischen Zeit, der jeden Herbst prompt nach Berlin gereist kam mit einem Milieudrama in der Tasche«. In den Entwürfen zu dem geplanten Drama Niggerjud hat Wedekind tabellarisch die Gegensätze zwischen sich und Hauptmann zusammengestellt: er sieht sich selbst als Keith und Mephisto, als ›rechnenden‹ Schriftsteller, »echt, aber scheußlich«, Hauptmann hingegen als Scholz und Faust, als ›erbauenden‹ Mitleidsdichter, »bezaubernd, aber unecht«. Der vermeintlich altruistischen, herablassenden Mitleidsattitude Hauptmanns hat er von Anfang an mißtraut. Der Altruismus ist für ihn nur eine höhere Spielart des Selbstgenusses, des »Egoismus«, der den Angelpunkt seiner philosophischethischen Theorien bildet. Schon im literarischen Bewußtsein der Zeitgenossen spielte Wedekind die Rolle des einzigen kongenialen Antipoden Hauptmanns. Bereits 1889, im großen Jahr des Naturalismus, schrieb er sein satirisches Lustspiel Kinder und Narren (ersch. 1891, Neufassung unter dem Titel Die junge Welt, 1897), in dem, in der Gestalt des Dichters Meier, die naturalistischen Literaturbestrebungen glossiert werden. Durch eine der Gestalten seines Lustspiels prophezeit Wedekind dem wirklichkeitsstöbernden ›konsequenten Realismus‹: wenn er sich »überlebt« habe, dürften »seine Vertreter ihr Brot als Geheimpolizisten finden«. Dem Realismus wird vorgehalten, er kenne in seiner literarischen Objektfixiertheit das »Leben« und den »Menschen« nicht. Die Mahnung »Kehr zur Natur zurück« wird paradoxerweise gerade gegen die literarische Richtung ausgespielt, welche die exakte Nachbildung der ›Natur‹ auf ihre Fahnen geschrieben hat. Im Erdgeist- Prolog (1898) läßt Wedekind später seinen Tierbändiger die vom Publikum der wilden Natur vorgezogenen »Haustiere« in den üblichen »Lust- und Trauerspielen« schmähen (unverkennbar spielt er hier auf die ersten Dramen Hauptmanns an). »Das wahre Tier, das wilde schöne Tier, / Das – meine Damen! – sehn Sie nur bei mir.« Der Tierbändigerprolog läßt an Wedekinds »Begeisterung für den Zirkus« während seiner Pariser Jahre (1891-1895) denken, die zum erstenmal in seinem Liebestrank (begonnen 1891, Erstausg. 1899) zum Ausdruck kommt: »Eine Verteidigung und Rechtfertigung körperlicher Kunst gegenüber geistiger Kunst« sollte dieses Stück sein, in dessen Mittelpunkt ein Kunstreiter steht; »Verteidigung des Persönlichen in der Kunst gegenüber Engherzigkeit, Schulmeisterei und Unnatur.« Hatte Wedekind sich in der frühen Münchener Zeit vor allem von dem ›seriösen‹ Literatur- und Kulturbetrieb beeinflussen lassen, so entdeckt er in Paris für sich den Bereich der Subkultur: Zirkus, Varieté, Ballett; er sucht die Bekanntschaft mit Clowns und Zirkusartisten und schreibt Pantomimen nach französischem Muster – eine Gattung, der auch die Gestalt [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2260 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 223 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] seiner Lulu entstammt (nämlich einer im »Nouveau Cirque« uraufgeführten Pantomime von Félicien Campsaur, in der Lulu eine »Clownesse Danseuse« ist). Diese artistische Subkultur bildet für Wedekind das Gegengewicht zur Lebensferne des rein ›Literarischen‹, zumal in seiner philiströs-ernsthaften deutschen Spielart. »Das ist der Fluch, der auf unserer jungen Literatur lastet, daß wir viel zu literarisch sind«, so klagt Alwa, der Autor der Lulu-Tragödie, zu deren Personal er selbst gehört, in der Büchse der Pandora. »Wir kennen keine anderen Fragen und Probleme als solche, die unter Schriftstellern und Gelehrten auftauchen [. . .] Um wieder auf die Fährte einer großen gewaltigen Kunst zu gelangen, müßten wir uns möglichst viel unter Menschen bewegen, die nie in ihrem Leben ein Buch gelesen haben, denen die einfachsten animalischen Instinkte bei ihren Handlungen maßgebend sind. In meinem Erdgeist habe ich schon aus voller Kraft nach diesen Prinzipien zu arbeiten gesucht.« Soweit Alwa. Dessen Erdgeist ist also das Werk im Werk, das (verzerrte) Spiegelbild von Wedekinds Drama. Wedekind hat immer wieder versucht, den subliterarischen ›Untergrund‹ seiner Dramatik spürbar werden zu lassen; dieser Tendenz dient auch der ›antiliterarische‹ Zirkusprolog seiner Lulu-Tragödie. Seine Brettl-Tätigkeit bei den Münchener »Elf Scharfrichtern« und anderen Kabaretts, die von ihm selbst zur Gitarre gesungenen Bänkellieder und nicht zuletzt seine satirischen Texte für den »Simplizissimus«, die ihm wegen Majestätsbeleidigung eine siebenmonatige Festungshaft einbrachten, sind für sein Künstlerbild ebenso wesentlich wie seine ›seriöse‹ dramatische Produktion oder die Tätigkeit als Schauspieler in seinen eigenen Stücken. Künstler im spontan-improvisatorischen Sinne will Wedekind sein, nicht ›Literat‹. In dieser Hinsicht, der Tendenz, das Literarische wieder im Subkulturell-Artistischen zu verankern, hat er einen Erben gefunden, der sich schon 1918 in seinem Nekrolog auf Wedekind mit einer Emphase zu ihm bekannt hat, die sich in seinen Äußerungen über andere Schriftsteller kaum je findet: Bertolt Brecht. »Du sollst – drum sprech' ich heute sehr ausführlich – / Natürlich sprechen und nicht unnatürlich! / Denn erstes Grundgesetz seit frühester Zeit / In jeder Kunst war Selbstverständlichkeit!« So schärft der Tierbändiger in seinem »Prolog« Lulu ein. Das ist eine andere Art von ›Naturalismus‹, als ihn dessen literarische Programmatiker nach Meinung Wedekinds verkündeten – sowohl in ästhetischer als auch sozialer Hinsicht. »Man kommt dahinter«, bemerkt 1905 Karl Kraus in seiner Einführungsrede zur Büchse der Pandora, »daß es eine höhere Natürlichkeit gibt als die der kleinen Realität, mit deren Vorführung uns die deutsche Literatur durch zwei Jahrzehnte im Schweiße ihres Angesichts dürftige Identitätsbeweise geliefert hat.« – ›Natürlich‹ soll Lulu sprechen: »Du hast kein Recht, uns durch Miaun und Fauchen/Die Urgestalt des Weibes zu verstauchen« (wie es zu Wedekinds Leidwesen so viele Lulu-Darstellerinnen getan haben)! Lulu muß natürlich spielen, weil sie Natur ›ist‹. Die in ihr verkörperte mythische ›Urgestalt des Weibes‹ tritt der von den Naturalisten propagierten Frauenemanzipation entgegen, mit der Wedekind sich schon in Kincer und Narren auseinandergesetzt hat. Diese Emanzipation besteht für ihn nur darin, die Frau den gleichen naturfremden gesellschaftlichen Zwängen zu unterwerfen, denen zu unterliegen bisher das ›Privileg‹ des Mannes war. Der Widerspruch gegen diese Zwänge, hier gegen die denaturierte Erwachsenenwelt, ist auch das Thema des ersten Dramas, in dem Wedekind ganz zu seinem Stil gefunden hat: der »Kindertragödie« Frühlings Erwachen, entstanden 1890/91, doch erst 1906 von Max Reinhardt in Berlin uraufgeführt – nach zermürbenden Kämpfen mit der Zensur, welche die Veröffentlichung und Aufführung fast aller Wedekind-Stücke begleitet haben. Von den Zeitgenossen ist Wedekinds bizarr-phantastische Tragikomödie als Fanal der Jugendbewegung angesehen worden, die auch die öffentliche Diskussion über die sexuelle Unterdrückung der Jugend ausgelöst hat. Wedekinds Drama zeigt die Pubertätsnöte einer von Schule und Elternhaus mißverstandenen Jugend, die Schäden, welche die Kinder durch die Anpassungsforderungen einer naturfremd-unaufrichtigen Erwachsenenmoral nehmen, wie sie sich vor allem in den grotesken Angst- und Spottgestalten der Gymnasialprofessoren verkörpert. Wedekind hat sich freilich energisch gegen die Rezeption seines Stücks im Sinne einer »bitterbösen, steinernsten Tragödie« gewehrt und aus einem gewissen Widerspruchsgeist die Elemente des »Humors« darin betont. Verächtlich weist er die »spießbürgerlich pedantische« Herabwürdigung seiner Dichtung zu einem »Tendenzstück«, zu einer »Streitschrift im Dienste der sexuellen Aufklärung« zurück. Wedekind verstimmte es mit Recht, daß die vordergründige Aufmerksamkeit auf die vermeintliche inhaltliche Programmatik die poetischen Innovationen seines Stückes vernachlässigte: die exzentrisch-phantastische ›offene‹ Form zumal, die das Aufbrechen des elementaren Lebens inmitten der erstickenden Enge der moralischen Konventionen widerspiegelt. Mehr als der weitgehend noch dem tektonisch-geschlossenen Dramentypus verpflichtete Hauptmann ist Wedekind der Erbe Büchners. Durch die epische Reihung sich wechselseitig spiegelnder und kontrastierender Kurzszenen, die von dunkler Naturpoesie durchwoben sind und sich ins Visionär-Groteske steigern, weist Frühlings Erwachen ebenso auf die Struktur des Büchnerschen Dramas, zumal des Woyzeck, zurück wie auf den Expressionismus voraus, der in Wedekind einen seiner Wegbereiter gesehen hat. Vor allem die surreale Schlußszene des Stücks durchbrach radikal den Horizont des konventionellen wie des naturalistischen Dramas. Der zum Selbstmord bereite Melchior begegnet am Grabe Wendlas seinem verstorbenen Freund Moritz, der »seinen Kopf unter dem Arm« über die Gräber stapft, und läßt sich mit ihm sowie mit einem allegorisch-irrealen »vermummten Herrn«, der – eine Art umgestülpter Hermes Psychagogos – Melchior ins Leben zurückführen will, in ein Gespräch ein. Hier deutet sich in phantastisch- grotesker Verzerrung die Utopie eines neuen Lebens jenseits der bestehenden deformierten Zivilisation an. Moritz ist durch den Tod zum Schopenhauerianer und »erhabenen Humoristen« geworden, der die Maja, den »Trug« der Erscheinungswelt durchschaut hat und Melchior dem Willen zum Leben gänzlich entfremden will. »Dein Leben ist Unterlassungssünde.« Der »vermummte Herr« – den Wedekind in der Uraufführung selbst gespielt und dem er sein Stück gewidmet hat – tritt der Verführung zum Tode entgegen und zieht Melchior ins Leben zurück – eine Allegorie des élan vital, jenes ›Lebens‹, das zum Grundwort und Grundwert der Dichtung um die Jahrhundertwende wird. Lebenspathos steht hier gegen dekadente Sympathie mit dem Tode, auf die das satirische Licht der letzten Zeile des Dramas fällt: Moritz legt sich mit erhaben- humoristischer Gebärde ins Grab zurück, »wärme mich an der Verwesung und lächle . . .« Die Schlußszene gemahnt an das von Thomas Mann so genannte »Mysterium der Abdankung« im vorletzten Auftritt des Marquis von Keith. Hier ist der Verführer zum Lebensverzicht der gescheiterte Idealist Scholz – in beiden Fällen siegt der wie immer auch fragwürdige ›Wille zum Leben‹ über die Sympathie mit dem Tode. Die Lulu-Tragödie, die aus komplizierten entstehungsgeschichtlichen und zensurbedingten Gründen in die beiden Stücke Der Erdgeist (1895) und Die Büchse der Pandora (1904) aufgeteilt ist, knüpft wiederum an die Frage nach der Möglichkeit des elementar-naturhaften Lebens in einer denaturierten Gesellschaft an, die Wedekind sich in Frühlings Erwachen gestellt hat. Im Vorwort zur Büchse der Pandora bezeichnet er den »Unterschied zwischen bürgerlicher Moral, zu deren Schutz der Richter berufen ist, und menschlicher Moral, die sich jeder irdischen Gerechtigkeit entzieht«, als den Angelpunkt der Tragödie. Lulu ist eine quasi mythische Gestalt, die nicht nur außerstande ist, sich selbst zu definieren – wie Wagners »Tor« Parsifal antwortet sie auf alle Fragen (des Malers Schwarz) nach ihrer Identität mit »Ich weiß es nicht« –, die vielmehr überhaupt undefinierbar, auf keinen verbindlichen Nenner zu bringen, mit abstrakten Kategorien nicht fixierbar ist. Individuum est ineffabile! Ihr un-bedingtes Wesen sprengt jede kodifizierte Moral. Der »vorsintflutlich«-atavistische Name Lulu, naturhafte Unergründlichkeit spiegelnd, wird ihr von den Männern vorenthalten: sie geben ihr jeder einen anderen Namen, dem in sie hineinprojizierten Klischeebild entsprechend. Für das, was sie ist, vermag keiner sie zu nehmen. Der einzige Mann, der aufgrund seiner Vorurteilsfreiheit dazu imstande wäre, der von Lulu allein wirklich geliebte Dr. Schön, will sich ihr entziehen, weil er weiß, daß ihre elementare Natur ihm eine bürgerliche Existenz unmöglich machen wird, daß in der bedingten Welt der gesellschaftlichen Konventionen und Zwänge, die er durchschaut und sich dennoch zynisch zunutze macht, die Unbedingtheit Lulus und ihrer Liebe zum Ruin führt. In dieser bedingten Welt kann Lulu nur als »unabwendbares Verhängnis« (Dr. Schön) wirken. Sie wird nach den Worten von Karl Kraus zur »Allzerstörerin«, weil sie in ihrem Eigenstinn »von allen zerstört« wird, weil die bürgerliche Gesellschaft den noch nicht durch Ehe und Familie domestizierten Eros nicht erträgt. »Daß der Freudenquell in dieser engen Welt zur [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2267 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 227 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] Pandorabüchse werden muß: diesem unendlichen Bedauern scheint mir die Dichtung zu entstammen« (Karl Kraus). Wedekind hat sich stets gegen das populäre Mißverständnis Lulus als männerverderbende Kokotte oder im Sinne der Salome-Gestalt der décadence gewehrt – deren Züge hatte Gertrud Eysoldt ihr in der Uraufführung verliehen. Erst im Spiel seiner Frau Tilly Wedekind sah Wedekind jene »Selbstverständlichkeit, Ursprünglichkeit, Kindlichkeit« verwirklicht, die ihm »bei der Zeichnung der weiblichen Hauptfigur als maßgebende Begriffe vorgeschwebt« hatten, sollte Lulu doch gerade das »menschlich Unbewußte« verkörpern, an dem er »das menschlich Bewußte, das sich selbst [. . .] so maßlos überschätzt«, scheitern lassen wollte – wie umgekehrt freilich auch das Unbewußte am Bewußten zugrunde geht, an den Manipulationen der Gesellschaft und der Männerwelt, die sich, als Lulu wegen der Tötung Dr. Schöns in einer Notsituation von den Opfern ihrer erotischen Faszination abhängig wird, durch fortlaufende Erpressungen an ihr rächt. Lulu (unter diesem Titel erscheint das Werk erst 1913) ist die Tragödie des Eros in den Fesseln der Gesellschaft, die ihn zum Banalen und zum ausbeutbaren Objekt verkommen läßt. Lulu wird am Ende zur Prostituierten! Der hier manifeste tragische Riß zwischen menschlicher und bürgerlicher Moral, Eros und Zivilisation wird bei Wedekind nur selten utopisch überbrückt. Eine Erzählung jedenfalls wie Rabbi Esra (1897), der dem Jiddischen abgelauschte Dialog eines liebeserfahrenen Rabbi mit seinem Sohn, könnte von ihrem versöhnlichen Inhalt her – der hier verwirklichten heiteren Synthese von ›heiligem Eros‹ und traditioneller Religiosität – beinahe eher von Lautensack (Pfarrhauskomödie) als von Wedekind stammen. Mit dem Einakter Der Kammersänger (1899) und dem Schauspiel Der Marquis von Keith (1901) tritt ein anderer thematischer Bereich im Werk Wedekinds in in den Vordergrund: die Spannung von Kunst und Gesellschaft. Die Kunst läßt sich ebensowenig wie der Eros ohne Verdinglichung, Entfremdung mit der bürgerlichen Zivilisation vermitteln. Der »Genußmensch« Keith ist ein Hochstapler, in dem, wenngleich in verzerrter Gestalt, noch jene starken Lebenstriebe wirksam sind, welche im Mechanismus der Gesellschaft unweigerlich zuschanden werden. In dieser Hinsicht ist Keith dem hochstaplerischen Erfinder Tobler in Robert Walsers Roman Der Gehülfe nahe verwandt. Urbild des Marquis von Keith ist der genialisch-schwindlerische Kunsthändler Willi Grétor, den Wedekind in Paris als großzügigen Mäzen schätzen gelernt hat. Er hat Grétor auch mit dem Dr. Schön der LuluTragödie in Verbindung gebracht; was Keith und Schön verbindet, ist ihre illusionslose Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft, ihr materialistischideologiekritischer Blick. Keith über die sogenannten »höheren Güter«: sie heißen nur so, »weil sie aus dem Besitz hervorwachsen und nur durch den Besitz ermöglicht werden«; oder über die bürgerliche Ideologie: »Es gibt keine Ideen, seien sie sozialer, wissenschaftlicher oder künstlerischer Art, die irgendetwas anderes als Hab und Gut zum Gegenstand hätten.« Dieser illusionslose Blick durch den ideologischen Schleier der Gesellschaft führt indessen nicht zum Kampf gegen diese oder wenigstens zur Distanzierung von ihr – vom »Mysterium der Abdankung«, vom Rückzug in die Heilanstalt, den Scholz Keith vorschlägt, will er selbst nach seinem Bankrott nichts wissen –, sondern zur Ausnutzung der wohl durchschauten sozialen ›Spielregeln‹ zwecks Steigerung des »Lebensgenusses«. Keith ist am Ende der betrogene Betrüger, weil der vitalistische Egoist sich in einen Widerspruch mit sich selbst verwickelt. Einerseits läßt er sich zynisch auf die Spielregeln der Gesellschaft ein, anderseits ist er zu sehr Künstler und Genußmensch, um sich diesen Genuß, den élan vital, die Spontaneität des Lebens durch dessen konsequente Rationalisierung verderben zu lassen. So betrachtet er es als »unter seiner Würde [. . .], Papiere zu haben«, weigert sich gar, Geschäftsbücher (wenn auch nur gefälschte) zu führen und begibt sich so des Scheins der Legalität wie der moralischen Integrität, auf den doch alles ankommt. So steht er am Schluß als der moralisch Schuldige da – von seinen eigenen materialistischen Prämissen her mit Recht: schuldig ist, wer seine Geschäfte nicht den Mechanismen der »bestehenden Gesellschaftsordnung« gemäß zu kalkulieren vermag; »Sünde ist eine mythologische Bezeichnung für schlechte Geschäfte« (so seine eigenen Worte). Keith ist nach Wedekinds Worten der »Don Quijote des Lebensgenusses« (und als solcher das Gegenbild des »Don Quijote der Moral« Scholz). Der mit allen Mitteln zur Spitze der Gesellschaft emporstrebende kleinbürgerliche Parvenu bleibt der verachtete Außenseiter, dessen genialische Abenteurerphantasie die Gesellschaft sich freilich zunutze macht. Der zwar phantasielose und des genialen Charismas entbehrende, aber eben planmäßig vorgehende und sich den Schein der Moral wie Legalität sichernde Konsul Casimir vereinnahmt schließlich Keiths ingeniöses »Feenpalast«-Projekt. Dem Gegensatzpaar des zynischen Realisten (Keith) und des verschwärmten Idealisten (Scholz) begegnen wir, nun ganz auf den Kunstbetrieb beschränkt, auch in dem grotesken Einakter Der Kammersänger. Dem »k. k. Kammersänger« Gerardo fehlt freilich der gewisse donquijoteske Charme Keiths. Er hat sich gänzlich dem kommerziellen Kunstbetrieb unterworfen: »Wir Künstler sind ein Luxusartikel der Bourgeoisie, zu dessen Bezahlung man sich gegenseitig überbietet.« Diese ideologiekritische Einsicht veranlaßt Gerardo indessen ebensowenig wie Dr. Schön und Keith, sich vom Kunstmarkt zu distanzieren, gegen den Geschäftsprimat über alles Menschliche in der bürgerlichen Konsumgesellschaft zu revoltieren. Im Gegenteil hält er sich zynisch an die Marktgesetze und verwendet die ästhetische Ideologie des Bürgertums nur, wenn es ihm zweckdienlich ist – um etwa die hinter dem Möbelstück seines Hotelzimmers versteckten Verehrerinnen abzuweisen (deren erotisches Ansinnen sei eine Beleidigung der »keuschen Göttin«, der er sein Leben »weihe« u. ä.). Ihm steht der Komponist Dühring gegenüber, der Gerardo vergeblich um Protektion für seine Oper bittet. Dühring ist der romantische Künstler, der sein Leben wirklich einer nicht verdinglichten Kunst ›weiht‹, von ihrem Warencharakter nichts ahnt. Er verkörpert das ›falsche Bewußtsein‹, das Gerardo durchschaut, ohne doch im geringsten daran zu denken, dessen materielle Ursachen zu bekämpfen. Dühring und Keith opfern jeder auf seine Weise das Leben für die ›Kunst‹. »Ich bin in erster Linie Künstler, und dann bin ich Mensch.« Diese Äußerung Gerardos – mit anderer Intention könnte sie auch von Dühring stammen – drückt nichts anderes aus, als daß er sich selbst zur manipulierbaren Ware gemacht hat. Mit jener Maxime weist er die Liebe Helenes ab, die in ihrer Unbedingtheit für ihn ein Geschäftsrisiko sein würde. Obwohl Helene daraufhin Selbstmord begeht, eilt Gerardo nach kurzem Zögern zum Bahnhof – vom wirklichen zum theatralischen Liebestod: »Ich muß morgen abend in Brüssel den Tristan singen.« Das Thema der zynischen Beherrschung des Kunst- und Buchmarkts kehrt auch in späteren Stücken Wedekinds wieder, so in Hidalla oder Sein und Haben (1904) und Oaha (1908). Hier wie in den zuvor repräsentativ gewürdigten Stücken stellte Wedekind die bestehende Gesellschaftsordnung mit einer Radikalität in Frage wie nur wenige dramatische Autoren dieses Jahrhunderts. Schon das unterscheidet ihn von den Naturalisten, die meist einem Status-quo-Pessimismus verfielen. Wedekinds inkommensurable Position innerhalb der Literatur seiner Zeit hat sich merkwürdig bei seiner Beerdigung auf dem Münchener Waldfriedhof widergespiegelt, die wie eine von ihm selbst erdachte Groteske anmutet. Während die seriösen Trauergäste, darunter sehr viele Autoren von Rang, hinter dem Sarg herschreiten, erobern Prostituierte und andere zweifelhafte Gestalten der Münchener Demimonde im Sturmlauf über die Gräber die letzte Ruhestätte des Dichters. Angewidert von der »salbungsvollen Begriffsfalschmünzerei« in der Grabrede seines Bruders, des »Zivilisationsliteraten«, verläßt Thomas Mann vorzeitig die Beerdigung. Heinrich Lautensack, zunächst mit wilden Gesten von einer Leiter herab die Trauergemeinde vor einen Filmapparat dirigierend, erleidet schließlich einen paralytischen Zusammenbruch und stürzt sich fast in Wedekinds Grab hinab. Die offiziellen Kulturrepräsentanten aber: »Sie standen ratlos in Zylinderhüten«, schreibt der anwesende Bertolt Brecht in seinem Tagebuch, »Wie um ein Geieraas. Verstörte Raben. / Und ob sie (Tränen schwitzend) sich bemühten: / Sie konnten diesen Gaukler nicht begraben.« Die Irritation der Zeitgenossen durch die singuläre, kaum klassifizierbare, im Niemandsland zwischen den herrschenden literarischen Strömungen, ja zwischen Literatur und Subkultur stehende Erscheinung Wedekinds läßt sich kaum treffender bezeichnen als durch diese knappen Verse. [Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer (Dieter Borchmeyer). Geschichte der deutschen Literatur, S. 2274 (vgl. Zmegac-GddL Bd. II, S. 230 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag]